SCHLUSSFOLGERUNGEN Mit der Abgabe des Schlussberichts an die Regie- rung und mit der Publikation des Berichts und der Studien hat die Historikerkommission ihr Mandat abgeschlossen. Der Umfang und die wissenschaftli- che Qualität der Abklärungen erfüllen den seitens der staatlichen Organe und der Wirtschaft mit dem Forschungsauftrag angestrebten Hauptzweck, die vom Land geforderte historische Rechenschaft ab- zulegen und verschiedene, gerade im Verhältnis zur Zeitgeschichte wirksame politisch-gesellschaftliche Tabus, Denkhemmungen und Frageverbote aufzu- heben. Die Historikerkommission erklärt abschliessend zwar, dass ihre Untersuchungen keine Vollständig- keit beanspruchen und nicht alle Fragen beantwor- tet und alle Themen bearbeitet werden konnten (S. 256). Und dennoch ist durch ihre Tätigkeit für Liechtenstein ein charakteristisches Defizit der Zeit- geschichte weitgehend beseitigt worden: die Erfor- schung und Darstellung der der Gegenwart am nächsten liegenden Zeit steht nicht mehr in den An- fängen. Eine Vielzahl von Publikationen zu Einzel- themen und eine grosse Masse an vielfach neuem zeitgeschichtlichem Quellenmaterial sind im Rah- men eines einzigen Forschungsprojekts zusammen- hängend ausgewertet worden. Mit dem Schlussbe- richt und den begleitenden Studien existiert eine Gesamtdarstellung zur jüngsten Geschichte Liech- tensteins mit dem Anspruch, auch späteren Genera- tionen als Wegweiser der Deutung zu dienen. Die Historikerkommission verstand sich nicht als Untersuchungsbehörde, die richtet und Empfehlun- gen abgibt. Denn der Flistoriker ist nicht beauftragt zu moralisieren. Er darf jedoch die Grundsätze der Moral nicht ausser Acht lassen. Und so setzt die Kommission in ihrem Bericht gelegentlich auch Wertungen. Die Schlüsse aus den vorliegenden Er- gebnissen hingegen haben die auftraggebenden staatlichen Behörden und die liechtensteinische Ge- sellschaft selbst zu ziehen (S. 28). Dazu seien an den Schluss dieser Buchbespre- chung wenige allgemein gehaltene Bemerkungen und Gedanken gestellt.
Im Umgang mit der Zeitgeschichte, insbesondere mit den Berichten nationaler Historikerkommissio- nen, ist viel die Rede von Vergangenheitsbewälti- gung. Dieser Begriff wird gerne mit der Vorstellung verbunden, dass eine unaufgearbeitete Vergangen- heit aufgearbeitet und in einen abgeschlossenen Endzustand gebracht werden könne. Eine so ver- standene Vergangenheitsbewältigung wirkt nicht als kritisches Instrument des Erkennens und trägt nicht zur Schärfung des sittlichen Gewissens bei. Sie verkommt vielmehr zum Ritual und dient als eine Art «Mehrzweckwaffe» in der politischen Auseinan- dersetzung der Gegenwart. Alle Standpunkte, die der Mensch einnehmen kann, sind begrenzt und zeitabhängig. Der Blick auf die Vergangenheit ist nichts Statisches, ein für alle- mal Feststehendes. Die Vergangenheit zeigt jeder (Historiker)generation ein anderes Gesicht. Die wechselnden Fragen der wechselnden Gegenwar- ten rufen wechselnde Antworten hervor. Es gibt in der Geschichte keine wirkliche «Stunde Null». Jede Generation und jede Einzelperson ist in den meisten ihrer Motive, Absichten und Zukunftserwartungen von Massstäben und Vorstellungen mitbestimmt, die Menschen schufen, die vorher gelebt haben. Ge- schichte fordert ständig neu zum Urteilen und Wer- ten auf. Die Geschichtsforschung kann einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer kollektiven Erinnerung leisten, ohne die politische Solidarität nur schwer entstehen kann. <Geschichte als Wissenschaft) und <Geschichte als Erinnerung) klaffen jedoch gegen- wärtig weit auseinander. Wissenschaftliche Einsich- ten werden nämlich von der Allgemeinheit zuse- hends nicht mehr aufgenommen und nachvollzo- gen. Die politische Wertung und die Schlussfolge- rungen der liechtensteinischen Regierung tragen diesem Umstand Rechnung. Die Regierung erklärt in ihrem Bericht vom 29. März 2005 zu den Ergeb- nissen der Untersuchungen der Historikerkommis- sion, sie erachte es als unerlässlich, die Bevölke- rung, insbesondere die Jugend zu informieren über das, was geschehen sei. Durch verschiedene Mass- nahmen, vornehmlich durch fortgesetzte öffentliche Bewusstseinsbildung soll das Aufkommen men- 246