Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

REZENSIONEN / FRAGEN ZU LIECHTENSTEIN IN DER NS-ZEIT UND IM ZWEITEN WELTKRIEG NS-Fluchtvermögen. Liechtenstein war aber auch nicht eine unberührte Insel. Es gab Geschäftsbezie- hungen in den nationalsozialistischen Machtbereich und in den der Alliierten, insbesondere in die Schweiz. Nicht wenige Kunden waren bedrohte Juden. Es ha- ben sich Hinweise auf problematische Gesellschaf- ten und Geschäfte gefunden, jedoch keine stichfes- ten Belege für die Verschiebung von Raub- oder Tätervermögen. Was verschiedene Gesellschaften seinerzeit faktisch unternahmen und wer hinter ih- nen stand, bleibt in vielen Fällen unbekannt. Es ha- ben sich keine nachrichtenlosen Bankkonten gefun- den, die nachweislich Holocaust-Opfern gehörten. 1945 und danach wurde mit deutschen Vermögens- werten in Liechtenstein gleich wie in der Schweiz verfahren, nämlich Sperrung und Unterstellung un- ter das Washingtoner Abkommen. Die Schweizeri- sche Verrechnungsstelle fand keine NS-Vermögens- verschiebungen. Es gab in Liechtenstein keine Re- stitutionsforderungen oder -prozesse. Das Versicherungsgeschäft in Liechtenstein war unbedeutend. Es gibt keine Hinweise, dass Versi- cherungspolicen von in Liechtenstein lebenden Per- sonen oder von hier Versicherten an das NS-Regime ausgeliefert worden wären. In liechtensteinischen Sammlungen sind keine geraubten Kunstwerte festgestellt worden. Es gibt auch keine Hinweise, dass über Liechtenstein Raub- kunst verschoben wurde. Einzelne jüdische Flücht- linge und Neubürger konnten Kunstwerte retten. Die seinerzeit in Wien lagernden Fürstlichen Samm- lungen kauften in der Zeit von 1938 bis zum Kriegs- ende rund 270 Kunstobjekte, darunter eine Reihe von Objekten mit problematischer Provenienz, er- worben von Institutionen oder Händlern, die auch mit Raubgut handelten. Drei liechtensteinische Industriebetriebe, alle im Spätherbst 1941 gegründet, lieferten der deutschen Seite Rüstungsgüter oder kriegswichtige Güter-. Die Press- und Stanzwerke AG produzierte 20 mm-Hül- sen für die Oerlikon Bührle-Flabkanone, die Ma- schinenbau Hilti oHG lieferte Teile für Motoren und Fahrzeuge, die Präzisions-Apparatebau AG stellte Messinstrumente her. Die genannten Exporte ver- letzten keine Neutralitätsregeln. 
Die Flüchtlingspolitik Liechtensteins wurde weit- gehend durch jene der Schweiz bestimmt und mit dieser koordiniert. Zwischen 1933 und 1945 (die Flüchtlingswelle in den letzten Kriegstagen nicht eingerechnet) fanden etwa 400 Flüchtlinge, die grosse Mehrzahl Juden, Zuflucht in Liechtenstein. Rund 250 Personen erhielten Aufenthalt für eine unterschiedlich begrenzte Zeit. Etwa 150 Flüchtlin- ge wurden von Grenzbeamten angehalten und in die Schweiz weitergeleitet. Ausserdem wurden in die- sem Zeitraum 139 jüdische Personen eingebürgert, gegen hohe Gebühren. Insbesondere 1938/39 wur- de aber auch eine unbekannte Anzahl von Flüchtlin- gen an der Grenze zurückgewiesen, teils auch aus Liechtenstein über die Grenze zurückgeschafft. In den letzten Wochen und Tagen des Krieges im April und Mai 1945 konnten rund 8000 Flüchtende durch Liechtenstein in die Schweiz gelangen. Am 3. Mai 1945 wurde eine übertretende russische Wehr- machttruppe mit knapp 500 Personen interniert. Es gab in Liechtenstein keine Enteignung jüdi- schen Besitzes («Arisierung») und keine Zwangsar- beit durch liechtensteinische Unternehmen. Hinge- gen waren auf drei fürstlichen Landwirtschaftsgü- tern in Mähren deportierte ungarische KZ-Juden eingesetzt. Sie wurden nicht unter KZ-Bedingungen gehalten, mussten jedoch Zwangsarbeit verrichten. Insgesamt haben die Ergebnisse, wie der Schluss- bericht und die Einzelstudien zeigen, die Erwartun- gen all derer nicht erfüllt, die auf die Aufdeckung von grossen und schlimmen Sensationen gehofft hatten. Es sind keine spektakulären Fälle zu Tage befördert, wohl aber viele bis anhin unbekannte Fakten, Zusammenhänge und Hintergründe aufge- zeigt worden. Bedeutsam ist vor allem, dass die un- tersuchten Bereiche nunmehr beliebiger Spekulati- on oder losen Behauptungen entzogen sind. Wer sich ein Bild machen will, kann sich auf differenzier- te wissenschaftliche Untersuchungen abstützen. Es sei auch herausgestellt, dass der World Jewish Con- gress, der mit seinen im Sommer 2000 erhobenen öffentlichen Raubvorwürfen die historische Unter- suchung angestossen hatte, die angekündigten do- kumentarischen Beweise trotz mehrfachen Ersu- chens schuldig blieb. 245
	        

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