aggregatzustände - ein memorandum NORBERT HAAS / HANSJÖRG QUADERER 5. april '33 : Selbstjustiz von 4 liechtensteinischen nationalsozialisten. fritz und alfred schaie, genannt rotter, direktoren eines berliner «theaterimperi- ums», sollten den berliner behörden ans messer ge- liefert werden, obwohl kein rechtshilfebegehren an liechtenstein, und notabene kein rechtskräftiger Schuldspruch vorlagen. die jüdischen theaterdirektoren fritz und alfred schaie-rotter und seine frau gertrud, alle aus berlin, ab 1931 sogenannte neubürger in mauren, sowie eine freundin, j. wolff aus brüssel, werden opfer ei- nes pogroms in liechtenstein. alfred und gertrud schaie-rotter stürzen, in die erblerüfe getrieben, tödlich ab; fritz schaie-rotter und j. wolff überleben schwer verletzt und traumatisiert. es kommt am 7. u. 8. juni '33 zum strafprozess ge- gen die 4 liechtensteinischen attentäter, der durch die präsenz von nazi- wie liberaler presse alle anzei- chen eines eigentlichen schauprozesses trägt, wla- dimir rosenbaum, der durch spektakuläre fälle be- kannt gewordene jüdische anwalt aus Zürich, hat ein energisches plädoyer vorbereitet, das scharfsin- nig den grassierenden antisemitismus als Ursache des Verbrechens und als menetekel der epoche her- ausarbeitet, sein plädoyer jedoch wird vom gericht unterdrückt. die täter kommen mit milden strafen davon, kurz danach wird ein begnadigungsbegehren von 700 bürgerinnen und bürgern an den fürsten gestellt, das seine Wirkung nicht verfehlt, bloss 2 der 4 täter sitzen die ohnehin geringen strafen zur ganze ab. das begnadigungsbegehren mit der liste der 700 un-terzeichnenden
ist bis jetzt merkwürdigerweise un- auffindbar. - von den opfern verliert sich schnell jede spur. Interesselosigkeit macht sich breit, die grabstätte der toten ist unbekannt, dem weiteren Schicksal von fritz schaie-rotter wird erst in jüngster zeit nachgegangen. wir geraten ins fragen, einen wiederholten ausnah- mezustand, der sich in aggregatzuständen des berührtseins und der bewusstwerdung manifes- tiert: wie schreiben am widerstand dieses datums? un- ter welchem blickwinkel? welche Perspektiven zählen in der vermeintlichen rückblende? wie ope- riert das gedenken? in welchem koordinatennetz bewegen wir uns? inwieweit ist die tragweite des delikts erkannt? gelingt es, das datum als gesetztes akut zu vergegenwärtigen? wie wäre die katastro- phe zu bewältigen? ist sie zu bewältigen? gibt es parallelen in der gegenwart? wie wird verdrängt? am 5. april 2002 haben ein paar frauen und männer unterhalb der felsen, über die alfred und gertrud schaie-rotter in den tod stürzten, am weg zwischen dem vorderen und dem hinteren prufatscheng, ei- nen spiegel mit einer inschrift angebracht, ein re- quiem wurde gespielt.* ein spiegel. darin ein jeder das seine lese... «dieses unwahrscheinliche datum hängt weiterhin über un- seren köpfen, seine Wiederkehr ist immer möglich», hat maurice blanchot in solchem spiegel gelesen. 4