Und wie arbeiteten die Rotters? Die Antwort gibt das «Neue Wiener Journal» vom 21. Januar 1933: «Mit einer Besessenheit, die bei den Skeptikern mit- leidiges Lächeln, bei den Enthusiasten aber Bewun- derung hervorrief, stürzten sie sich von einem Pro- jekt ins andere, von einem Theater ins andere. An- fangs überliess Alfred Rotter alle äusseren Ehren den Regisseuren, die auf dem Zettel verzeichnet wa- ren; noch im Vorjahr wurde er nur als künstleri- scher Oberleiter genannt, und erst in der laufenden Spielzeit liess er sich als Regisseur plakatieren. In Wahrheit ist keine der Premieren an den Rotter- Bühnen ohne ihn und seinen unfehlbaren Instinkt für Publikumswirkung herausgekommen; er probte unermüdlich, Tag und Nacht, und riss mit seinem Fanatismus die Stars und die Komparsen in gleicher Weise mit...». Mit dieser Kunstbegeisterung, die sich mit einer unerschöpflichen Arbeitskraft paarte, gelang es den Rotters, musterhafte, künstlerisch hochstehende Aufführungen trotz der soviel beklagten Indolenz des Publikums zu grossen, in solchem Ausmass bis- her nicht gekannten Erfolgen zu führen. Diese Erfol- ge bestanden nicht, wie in der letzten Zeit, aus zug- kräftigen, dem Massengeschmack entgegenkom- menden Operetten, sondern lange Jahre hindurch aus literarisch wertvollen Schauspielen, deren Auf- führung zu jener Zeit ein grosses Wagnis bedeutete. Ich nenne in dieser Hinsicht nur: «Die junge Welt» und «Tod und Teufel» von Frank Wedekind, «Schei- terhaufen» und «Ostern» von Strindberg, «Flyppo- lyt» von Euripi-/-37des, «Amphytrion» von Max Hal- be, «Elektra» von Sophokles, «Agamemnon» und «Opfer am Grabe» von Aeschylos. Ferner aufsehen- erregende Aufführungen von «Faust», «Hamlet», «Julius Cäsar», «Othello», von Lessings «Minna von Barnhelm» und der heute im «Dritten Reich» höchst anrüchige «Nathan der Weise». In die gleiche Reihe gehören noch die Ibsen-Dramen «Gespenster», «Rosmersholm» und «Fledda Gabler», sowie die Dramen von Gerhart Hauptmannn und Bernard Shaw. Mancher junge deutsche Dramatiker wurde von ihnen opfermutig herausgebracht; schliesslich wurde auch das moderne englische Schauspiel, und zwar auf Anregung des ihnen befreundeten engli-schen
Botschafters in Berlin, Lord d'Abernon, für die deutsche Bühne gewonnen. Als sie sich schliess- lich in einer Notzeit ohnegleichen, in der die meisten Jlreaterunternehmer völlig scheiterten, auch dem Singspiel zuwandten, geschah es, um ihre Theater, an denen sie mit grösster Liebe hingen, über die kri- tische Zeit hinweg zu bringen. Selbst in diesem Gen- re sanken sie niemals auf ein wertloses oder gar or- dinäres Niveau herab, sondern sie liessen nur wirk- liche Meisterwerke dieser Gattung aufführen. Hier sind die Werke von Offenbach, Oskar Straus, Abra- ham, Emmerich Kaiman und Lehar zu nennen. Trotz der künstlerischen Höhe dieser Singspiel- und Operettenaufführungen bedeuteten sie für die Brü- der Rotter doch nur eine Stütze der Aufgabe, die sie als ihre eigentlichen ansahen: die Pflege des litera- risch bedeutsamen und künstlerisch wertvollen Schauspiels. Den Beweis bildet die Tatsache, dass/w noch in der letzten Spielzeit bis zum Zusammen- bruch an den Rotterschen Bühnen bedeutsame Dra- men gespielt worden sind. Bei dieser Tätigkeit ha- ben die Rotters eine stattliche Reihe grosser Künst- ler der verschiedensten Gebiete teils entdeckt, teils wesentlich gefördert. Von Schauspielern nenne ich Theodor Loos, Friedrich Kayssler, Ludwig Hartau, Emanuel Reicher, Harry Liedtke, Paul Wegener, Hans Albers, von Schauspielerinnen Rosa Bertens, Irene Triesch, Tilla Durieux, Helene Fendmer, Adele Sandrock und Ida Roland; zur Weltgeltung führten sie die Künstler Käthe Dorsch, Gitta Alpar, Anni Ah- lers und Richard Tauber. Auch an schaffenden Künstlern haben sie unend- lich viel getan. Zum Belege will ich Ihnen einen Brief verlesen, den der bedeutende Operettenkomponist Paul Abraham noch in der letzten Zeit an einen der Brüder Rotter richtete; er lautet folgendermassen: «Berlin, den 28. Dez. 1932 Lieber Herr Direktor Alfred! Ich möchte in diesen wenigen Zeilen meiner un- begrenzten Freude Ausdruck geben, welche der grösste Erfolg meines Lebens, dieser unvergessliche Premierenabend von «Ball im Savoy» mir bereitet hat. Wenn ich heute, nach einigen Tagen daran zurückdenke, kommt es mir noch immer wie ein be- zaubernd schönes Märchen vor, welches erzählen 84