Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

Soweit der zweifelsfrei festgestellte äussere Her- gang der Ereignisse an jenem 5. April. Die Anklage folgert daraus lediglich das Verbre- chen des versuchten Menschenraubs im Sinne des §90 österr. St.G.B., macht die Angeklagten aber nicht für den Tod von Alfred und Gertrud Rotter verantwortlich. Demgegenüber lässt, wie ich der Vollständigkeit halber bemerken muss, der Sach- verhalt die Möglichkeit offen, dass die Angreifer die Eheleute Rotter herabgestürzt oder bis zu einer ge- fährlichen Stelle mit solcher Gewalt verfolgt haben, dass der tötliche Absturz unvermeidlich war. Man- ches spricht dafür, wie vor allem die Aussage des Jägers Gottlieb Eberle (Blatt 53 d. A.) höchst bela- stend ist. Nach dieser Aussage soll die Hose des Al- fred Rotter völlig unbeschädigt oberhalb der Ab- sturzstelle gelegen haben. Träfe dies zu, so ergäben sich weitere Verdachtsmomente peinlichster Art, die alle darauf hinausliefen, dass einige der Ange- klagten auch noch des Mordes, des Totschlages oder wenigstens der Körperverletzung mit tätli- chem Ausgang schuldig sein könnten. Man überle- ge sich auch: Wie kommt die gefundene Browning Patrone an den Tatort? Keiner der Täter will eine scharfe Waffe mit sich geführt haben. Ich sehe je- doch davon ab, diese Gesichtspunkte weiter zu ver- folgen; ich will nicht diese ohnedies unglückselige Affäre noch mehr belasten und die verblendeten Täter noch mehr ins Unglück stürzen, obwohl sie sich wahrlich nicht darüber beschweren könnten, wenn wir eine wirklich restlose Abklärung anstre- ben 
würden. F° Die Angeklagten sind nicht des Mordes ange- klagt, nicht des Totschlages und auch nicht der Kör- perverletzung mit tötlichem Ausgange. Die Anklage billigt ihnen ferner zu, dass sie auch nicht mit dem sogenannten dolus eventualis gehandelt haben, dass sie die Möglichkeit eines tötlichen Ausganges - trotzdem derselbe eingetreten ist - nicht vorausge- sehen haben und nicht voraussehen konnten. Die Anklage nimmt diese mildeste aller in Frage kom- menden Möglichkeiten an. Sie tut es in weitgehen- der und weitherzigster Anwendung des Grundsat- zes «in dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklag- ten. Wir wollen es mit der Anklage halten. Die An-klage 
ist beseelt von einem Geiste der Milde und der Schonung. Auch sie versucht nicht, vor Ihren Schranken einen Parteistandpunkt zu verfechten; ihr Vertreter, unser verehrter Kollege, Herr Staats- anwalt Dr. Lenzlinger, ist in jener gesunden und schönen Tradition, welche sein grosser Vorgänger, Herr Staatsanwalt Dr. Gmür, zu Ehren seiner Vater- stadt St. Gallen geschaffen hat, geschult worden, je- ner Tradition, welche den Staatsanwalt nicht zum parteilichen Verfolger des Angeklagten herabsinken lässt, sondern auch ihm als würdigen Gehilfen des Richters nur die eine Aufgabe zuweist: das Recht su- chen und nichts anderes. Mögen alle Staatsanwälte sich an Herrn Dr. Lenzlinger ein Beispiel nehmen. Dann wird die leider noch immer erschreckend grosse Zahl der unschuldig Verfolgten und der un- schuldig Verurteilten - denken Sie an die vielen Ju- stizirrtümer gerade der letzten zwei Jahrzehnte - bald sinken. Und wäre die Berliner Staatsanwaltschaft nach den gleichen Grundsätzen gegenüber meinen un- glücklichen Klienten verfahren, sie wären nicht um Ehre und um Namen, um Hab und um Gut und um ihr Leben gekommen. Herr Staatsanwalt Dr. Lenzlinger hat gerecht an- geklagt und hat nicht übermarcht; er erwartet aber und wir erwarten mit ihm von der Verteidigung, dass sie ihm und uns Gerechtigkeit widerfahren las- se und die Milde und Loyalität, mit welcher wir die Angeklagten behandeln, anerkennt. Sollten die Angeklagten - eine Frage, die wir of- fen lassen - ein Mehreres begangen haben als die Anklage ihnen vorwirft, so mögen sie sich vor ihrem Gewissen und vor einem höheren Richter verant- worten. Es entspricht nicht der Geisteshaltung des in seinem Lebensmark getroffenen Privatbeteilig- ten noch meiner eigenen sittlichen Auffassung, dass die Anklage aufs Aeusserste verschärft und dass nach dem uns Juden immer angesonnenen Grund- satz «Auge um Auge, Zahn um Zahn» gerichtet wer- de. Nicht Flass und Rachsucht bewegen Fritz Rotter, sich dem Verfahren als Privatbeteiligter anzu- schliessen - ihm kann kein Urteil einen Ausgleich schaffen für das, was er verloren hat: Bruder und Schwägerin, mit denen er in geschwisterlicher Lie- 78
	        

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