Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

Moderne Zeiten Film ist in seiner Massenwirkung ein dezidiert mo- dernes Medium. In ihm verkörpert sich technologi- scher Fortschritt ebenso wie eine Ästhetik, die den Erfahrungen eines neuen Zeitalters geschuldet ist. Das Lesen der flackernden, schnell vorbeihuschen- den Bilder erforderte eine neue Wahrnehmungs- struktur. Kino ist von Beginn an in seiner Verbreitung grenzüberschreitend und international. Der Stumm- film sprach eine Sprache, die alle verstehen konnten, übersetzt werden mussten lediglich die Zwischenti- tel. Die Themen und Phantasien der Filme verban- den das Publikum weltweit, die ersten Kinostars in den 1910er Jahren weckten Sehnsüchte von Men- schen in verschiedensten Ländern. Kino entstand in den Metropolen und bewegte sich von dort aus in die Provinzen. Die Landbevölkerung konnte an densel- ben kulturellen Erzeugnissen teilhaben wie die Stadt- bevölkerung, in unzähligen Kopien erreichte dersel- be Film auch die entlegensten Winkel. Film konnte die Massen erreichen und verringerte den Abstand von der Peripherie zum Zentrum. Dieses Teilhaben an der Welt, welches das noch nicht im heutigen Aus- mass mobile Publikum erlebte, fand seinen Nieder- schlag auch im Programm der frühen Kinozeit. Stras- senszenen aus verschiedenen Städten gehörten zu je- dem Filmprogramm. Die Kino-Pioniere Lumiere schickten Kameramänner in die ganze Welt, um be- lebte Strassenzüge, flanierende Passanten, Ereignis- se und Sensationen aufzuzeichnen. Auffällig oft sind diese Aufnahmen von fahrenden Zügen oder Stras- senbahnen aus gefilmt, womit sich die moderne Er- fahrung der beschleunigten Fortbewegung in der Be- wegung des Kameraauges manifestiert. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Ki- nos war das Aufkommen von Freizeit. Diese konnte erst durch eine veränderte Arbeitswelt entstehen. Durch die Industrialisierung erfolgte eine Trennung der Lebensbereiche Arbeit und Ruhezeit, wie es sie im vorindustriellen und bäuerlichen Leben nicht gab. Zudem hatten nun die Menschen (geringe) Geldbe- träge zur freien Verfügung. Parallel zum Bedürfnis nach Entspannung und Gestaltung der freien Zeit entwickelte sich die Unterhaltungsindustrie. Filmproduktion wurde schnell zu einer industriel- len Angelegenheit. Grosse Firmen wie die französi-sche 
Pathe beherrschten den Markt, schufen mit Ka- pitalkonzentration und technischer Rationalisierung eine Massenware.50 In den Städten verdankt sich die Erfolgsgeschich- te des Kinos den «kleinen Leuten», den Arbeitern, La- denmädchen und Angestellten, die massenhaft ins Kino gingen und sich dort in eine aufregendere Welt hineinträumten, sich mit Flelden, eleganten Damen und Abenteurern identifizierten. Gleichzeitig mit den Errungenschaften der Moderne, den Möglichkeiten der Technologie und der Erfahrung von Mobilität und Beschleunigung des Lebens entstand eine Abwehr- haltung gegen diese auch als zerstörerisch angese- henen Kräfte. Diese Ambivalenz gegenüber der Mo- derne spiegelt sich auch im oben beschriebenen Wi- derstand gegen das Kino. Liechtenstein, wenngleich noch weit entfernt von den grossen Zentren, hat zu der Zeit des ersten fest- en Kinos gewaltige Veränderungen erlebt. Die Ab- wendung von Österreich und die Hinwendung zur politisch modernen Schweiz nach dem Ersten Welt- krieg und die Bildung einer fortschrittlichen Verfas- sung 1921 brachte einen Demokratieschub ins Land. Demokratie ist nicht möglich ohne den Zugang zu In- formationen durch breite Bevölkerungsschichten. Erst Massenmedien wie Zeitungen, später auch Ra- dio und Kino, machten diese Teilnahme möglich. Es wäre natürlich übertrieben, dem Kino im «Rössle» eine Rolle im Demokratisierungsprozess Liechten- steins zuzusprechen, hier soll lediglich das Kino im historischen Raum situiert werden. 168
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.