Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

DAS KINO IM WIRTSHAUS «RÖSSLE» IN SCHAAN ANNETTE LINGG Das Kinoerlebnis «Abgeschlossen von allen Nachbarländern ist es direkt ein Bedürfniss für jederman sich von Zeit zu Zeit eine geistige Unterhaltung zukommen zu lassen ...».48 Im Gesuch Carl Schlumpfs und Karl Kaufmanns an die Regierung zur Aufstellung eines kinematographi- schen Apparates im Februar 1918 strichen sie das Bedürfnis der Bevölkerung nach geistiger Unterhal- tung heraus. Zur Zeit der Gesuchseingabe war der Erste Weltkrieg noch im Gange, und Liechtenstein grenzte an ein Kriegsgebiet. Das Land war relativ ab- geschlossen, die Menschen waren in ihrem Alltag auf das Dorf beschränkt. Man war nicht mobil und hatte selten die Gelegenheit, aus dem Dorf oder aus dem Land herauszukommen um etwas anderes zu sehen. Meinrad Lingg erwähnt dieses Gefühl des Abge- schlossenseins. «Man war ja abgeschlossen vom Rest der Welt, hier waren alles Bauern und es gab nur ein wenig Industrie.» Mit dem Kino kam die grosse Welt ins kleine Dorf hinein, hatte man die Möglichkeit, Bil- der von Orten zu sehen, in die man nie kam, und von Ereignissen, die man nie selber erlebte. Für Rudolf Lingg bestand die Attraktivität des Kinos in dessen Neuigkeitsfaktor und im Sehen von vorher nicht ge- sehenen Dingen. Beispielsweise sah man Bilder aus anderen Ländern und konnte Blicke auf Liebessze- nen erhaschen. Für Meinrad Lingg war das Kino ein- fach etwas anderes als das alltägliche Leben und ge- nau dies seine Attraktivität. Adelbert Konrad sagt, dass ihm die Filme gefielen, fügt aber gleich hinzu: «Aber es gab ja auch nichts anderes, es hat einem ja alles gefallen.» Nach Angaben der Zeitzeugen waren eher jünge- re Leute im Kino zu finden, allerdings erinnern sie sich an das strikte Kinoverbot für Jugendliche unter 18 Jahren, das wohl auch eingehalten wurde. Vor den Vorstellungen konnte man Getränke und Süssigkei- ten kaufen, Meinrad Lingg erinnert sich auch an eine Pause, in der Getränke verkauft wurden. An spezielle Filme können die Zeitzeugen sich nur selten erinnern, man sei ohne Vorlieben ins Kino ge- gangen und habe einfach gesehen, was kommt, «man konnte eh nicht auswählen», sagt Meinrad Lingg. Er erinnert sich an einen Film, nämlich Der Glöckner 
von Notre-Dame, den sich auch seine Mutter angese- hen habe und der im «Rössle» 1926 zu sehen war (zu dem Zeitpunkt war Meinrad Lingg allerdings erst 13 Jahre alt!). Auch Herta Frick nennt einen Filmtitel: Ihre Mutter war so vom Film Quo Vadis beeindruckt - der 1927 in einer Annonce für acht Vorstellungen beworben wurde -, dass sie noch Jahrzehnte danach davon erzählen konnte. Damals wie heute geht man nicht nur eines spezi- fischen Films wegen ins Kino. Das Kino ist auch ein- fach der Ort des gemeinsamen Ausgehens und Erle- bens, bei dem die Wahl des Films manchmal keine grosse Rolle spielt. Durch die Dunkelheit in einen an- genehmen Zustand der Passivität und Aufmerksam- keit versetzt, und gleichzeitig in Gemeinschaft, bietet der Kinobesuch zwei Stunden Unterhaltung und Ab- wechslung. Emilie Attenloh, die 1914 die erste sozio- logische Studie zum Kino vorlegte, konstatiert das Bedürfnis nach Zerstreuung: «Früher gab es Volksfeste, festliche Umzüge und ge- legentliche Schaustellungen wandernder Künstler- truppen. Was das Volk da in erster Linie suchte, war das Ausser gewöhnliche, das seinem Ideenkreis Zu- gängliche und doch nicht Alltägliche. Die Freude am Schauen war es, die da auf ihre Rechnung kam, und derselbe Trieb ist es, der die Mehrzahl der Menschen auch heute zu den Schaubühnen, ins Theater und in die Kinematographen führt».49 48) LLA RE 1918/589. 49) Altonloh, Emilie: Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unterneh- mung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Jena, 1914, S. 96. 167
	        

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