ZUR ERSTVERÖFFENTLICHUNG DES ROSENBAUM- PLÄDOYERS / URSINA JUD flachenden und wiederkehrenden Antisemitismus gewohnt. Viele gingen deshalb davon aus, dass auch diese Welle wieder abflauen würde. Gerade die älte- re Generation betrachtete den momentanen Antise- mitismus als vorübergehende Begleiterscheinung der wirtschaftlichen und politischen Krise.16 Zwei- tens wurden die antisemitischen Ideen der extre- men Rechten teilweise für zu stupid gehalten, um sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen.17 Ferner gestand die Weimarer Verfassung der Weimarer Re- publik allen Bürgern ungeachtet ihrer Religionszu- gehörigkeit die gleichen Rechte zu, die jüdische Reli- gionsgemeinschaft war der christlichen gleichge- stellt.18 Die jüdische Bevölkerung fühlte sich durch diese neu erworbenen Rechte geschützt und so war die Meinung, dass das «wirkliche» Deutschland nicht antisemitisch sei, trotz den Erfolgen der Natio- nalsozialisten von 1929 und 1930, weitverbreitet.19 Der Aufstieg der Nationalsozialisten begann Ende der 1920er Jahre. Der erste nationale Erfolg war der Einzug von 106 Nationalsozialisten in den Reichstag im September 1930. Obgleich für viele Zeitgenos- sen ein Schock, war der nationalsozialistische Wahlerfolg nicht ganz unerwartet eingetreten, wie sich im historischen Rückblick zeigt.20 So hatten ei- nige jüdische Organisationen bereits seit längerer Zeit vor dem Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gewarnt.21 1) Wladimir Rosenbaum, clor spätere Anwalt von Fritz Rottor, be- schrieb das Einbürgerungsmotiv der beiden Brüder in seinem Plä- doyer folgendermassen: «Diese Tendenzen der nationalsozialisti- schen Führer und ihrer immer mehr anschwellenden Gefolgschaft sahen die Rotter seit Jahren und mussten sie in immer steigendem Masse - ungeachtet ihrer der Gesamtheit dienenden Tätigkeit - am eigenen Leben erfahren. Diesem Zustand wollten die Geschwister irgendwann einmal entgehen können ... So haben sie beizeiten, als sie noch auf der Höhe des Erfolges standen und ihr grosses Unter- nehmen in keiner Weise gefürchtet war. dafür gesorgt, dass sie im Falle der von ihnen befürchteten weiteren antisemitischen Verschär- fung eine Stätte der Ruhe und Befriedigung hatten. Sie erwarben zu einer Zeit, wo sie auf der Höhe ihres Ruhmes und ihrer Prosperität standen, das liechtensteinische Staatsbürgerrecht, übrigens gestützt auf Führungszeugnisse des Berliner Polizeipräsidiums.». Plädoyer von Wladimir Rosenbaum, S. 53 f. - Das gesamte Plädoyer ist abge- druckt in: JBL 103 (2004), S. 65-92. An dieser Stelle möchte sich die Autorin bei Bernhard Schär für dessen kritische Gegenlektüre be- danken.
2) Zum Forschungsstand siehe Simon, Nationalsozialismus, 2001, S. 181; zu den nationalsozialistisch motivierten Übergriffen in Berlin siehe beispielsweise Walter. Kriminalität, 1999. 3) Richarz, Erfolg, 1988, S. 181. 4) Zur Tätigkeit des Centraivereins siehe Barkai, Centraiverein, 2002. 5) So wuchs die jüdische Bevölkerung Berlins von 144 000 Personen (1910) auf 173 000 Juden im Jahr 1925 an, Richarz, Erfolg, 1988, S.179. 6) Zu Beginn der Weimarer Republik existierten ungefähr 400 völki- sche Organisationen und 700 antisemitische Zeitungen, die - keiner Partei angehörend - propagandistisch tätig waren. Die grösste Grup- pierung war der «Schutz- und Trutzbund», der 1919 gegründet wur- de. Nach Zusammenschlüssen mit anderen völkischen Organisatio- nen kam er 1922 auf rund 200 000 Mitglieder. Nach dem Attentat auf den sozialdemokratischen Aussenminister Rathenau, der Jude war, wurde die Organisation verboten, das antisemitische Potential blieb aber bestehen, Zimmermann, Juden, 1997, S. 40. 7) Walter, Kriminalität, 1999, S. 151. 8) Zimmermann, Juden, 1997, S. 43. 9) Die «Ostjuden» waren einem besonderen Antisemitismus ausge- setzt, da sie andere Traditionen kannten und in der Regel weitge- hend mittellos waren. 10) Walter. Kriminalität. 1999, S. 153. 11) Zimmermann. Juden, 1997, S. 43. 12) Siehe beispielsweise Herzig, Geschichte, 2002, S. 213. Die Epo- che um die Mitte der 1920er Jahre wird gemeinhin als hoffnungsvol- lere Phase der Weimarer Republik beurteilt, siehe dazu Schulze, Weimar. 1984, S. 292 f., und Bering, Notwendigkeit, 1998, S. 320 f. 13) Zimmermann, Juden, 1997, S. 41. So nahm zum Beispiel die «Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft» für wissenschaftliche Forschung nach 1937 keine Juden mehr in ihre Reihen auf. 14) So stellten beispielsweise Firmen bewusst Juden nicht an oder entliossen diese. In einigen Kurorten und bei vielen Hoteliers waren Juden unerwünscht. Zugleich fand auch im Vereinsleben eine auf- fällige Segregation statt, Walter, Kriminalität, 1999, S. 223. Beson- ders lautstark vertraten die Studenten antisemitisches Gedankengut. Zimmermann, Juden, 1997. S. 41. 15) Barkai, Centraiverein. 2002. S. 259. 16) Richarz, Leben, 1982. S. 29. 17) Mosse, Niedergang, 1966. S.31. 18) Herzig. Geschichte, 2002, S. 211. 19) Zimmermann, Juden, 1997. 20) Knütter. Juden, 1971, S. 107. 21) Ebenda, S. 107 f.. sowie Mosse, Niedergang, 1966, S. 17-20. 9