FÜRST JOHANN IL UND SEINE SAMMLUNG DER WIENER BIEDERMEIERMALEREI / ROSWITHA FEGER bürgertum - im Versuch, sich gesellschaftlich in den Adel zu integrieren oder diesem zumindest an Bedeutung gleichzukommen - durch seine Institu- tionen wie Rathaus oder Parlament geschichtliche Legitimation verschaffen und diese in der Verwirk- lichung der Ringstrasse manifestieren. Geschichte wurde also verfügbar gemacht, aber nicht in dem Sinne, dass Vergangenes aktualisiert wurde, sondern das Vergangene wurde als Wert verstanden. Die Geschichtsbetrachtung verpflichte- te zur Erkenntnis der den Epochen zugeordneten Werten, man versuchte, diese nachzuvollziehen.242 Dass auf diese Weise die Geschichtlichkeit überbe- wertet und mancher sogar soweit ging, die Ge- schichte zur Aufwertung der eigenen Persönlich- keit zu missbrauchen, scheint unvermeidlich: «Die Geschichtlichkeit wird hier zu einem Wert, mit dem sich die Person wie mit einem Nimbus umgibt».'43 Diesem - aus heutiger Sicht gesehenen - ahisto- rischen Geschichtsverständnis wollte Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben», die er bereits 1874 geschrieben hatte, entgegenwirken.244 In drei Imperativen forderte er, dass die Frage nach der Herkunft gestellt werde («Der Ursprung der histori- schen Bildung muß selbst wieder historisch er- kannt werden»), dass das Individuelle eines Zeital- ters oder einer Epoche erkannt werde («Die Histo- rie muß das Problem der Historie selbst auflösen») und dass das Vergangene der Gegenwart gegen- übergestellt werde («Das Wissen muß seinen Stachel gegen sich selbst richten»).245 Damit wies Nietzsche dem Verständnis der Geschichte einen anderen Weg. Durch diese Art der Geschichtsbetrachtung wurde der Blick auf die jüngere Vergangenheit er- möglicht. Die Geschichtsbetrachtung wurde diffe- renzierter und sollte sich nicht mehr nur auf die wie Schlagworte gebrauchten, grossen Epochenbe- zeichnungen beschränken.246 Erst etwa zehn Jahre nachdem Nietzsche ein neues Geschichtsverständnis vorbereitet hatte, wurde das Historisieren in der bildenden Kunst und Literatur zunehmend abgelehnt. Besonders die Schriftenreihe «Gegen den Strom. Flugschriften ei- ner literarisch-künstlerischen Gesellschaft», von
1884 bis 1894 in Wien erschienen, macht dies deutlich. Verschiedene Autoren, an der Spitze der Wiener Kunsthistoriker und Kulturreferent der «Presse», Albert Hg, lieferten eine kritische Analyse des gesellschaftlichen und künstlerischen Lebens der Zeit.247 Besonders Ilg machte immer wieder darauf aufmerksam, dass historischer Sinn und ausgeprägte Vaterlandsliebe die Grundvorausset- zungen für die notwendige Erneuerung der Gesell- schaft seien. Er plädierte für eine lokale Kunst, die sich aus sich selbst erneuern und österreichische Künstler zum Vorbild nehmen sollte. Im ersten Heft «Nur nicht Österreichisch!» be- klagte sich Ilg darüber, dass man sich in der bilden- den Kunst und Literatur erst ausschliesslich nach Frankreich gerichtet habe, heutzutage aber alles deutsch sein müsse. Die österreichische Kultur sei nie als gleichberechtigt angesehen worden.248 Wah- re Verfechter der österreichischen Kunst und Kul- tur sah Ilg in den Malern des Vormärz. So lobte er zum Beispiel Peter Fendi, der in einem Aquarellzy- klus zu Schillers («also eines nichtösterreichischen Dichters!») «Glocke» die Figuren als Bauern des 236) Mlnarik (wie Anm, 231). S. 42. 237) Ebenda. 238) Zitiert nach Mlnarik. S. 51. Aus: A. F. Seligman. In: Neue Freie Presse vom 6. März 1907. 239) Mlnarik, S. 52. 240) N.N.: Das fürstliche Geschenk. Neues Wiener Tagblatt vom 3. August 1894. 241) Fillitz, Hermann: Der Traum vom Glück. In: Der Traum vom Glück. Kat. Ausst. Bd. I. Wien. 1997, S. 16 f. - Im Folgenden zitiert als: Fillitz. 242) de Capitani (wie Anm. 227), S. 35. 243) Hamand. Jost; Hermann. Richard: Gründerzeit. 2. Aufl. Mün- chen. 1971, S. 25. 244) Dankl. S. 43. 245) Ebenda. 246) Ebenda, S. 44. 247) Ebenda. S. 43. 248) Ilg. Albert: Nur nicht Österreichisch! In: Gegen den Strom. Heft 1. Wien. 1884, S. 8 f. 61