Alte, rechtskundige Männer geben auf amtliche An- frage unter Eid eine Aussage über geltende Rechts- gewohnheiten. Auf diesem Weg gefundenes Recht wird als gewiesenes Recht bezeichnet und steht im Gegensatz zum gesetzten Recht, dessen Schaffung durch Satzung oder Gebot zunächst dem Königtum vorbehalten war.66 Das Erscheinen der erwachse- nen Männer einer Gerichtsgemeinde bei der Wei- sung war Pflicht.67 Erst ab dem 13. und 14. Jahr- hundert erfolgte die Aufzeichnung der Weistümer, um im Falle von Streitigkeiten einen schriftlichen Beweis für das geltende Recht zu haben.68 Die schriftliche Fixierung der Weistümer war kein Akt einer selbständigen Rechtssetzung, sondern nur die Feststellung und Verkündung des geltenden Ge- wohnheitsrechts. Selbst wenn das Weistum verbes- sert oder den neuen Verhältnissen angepasst wur- de, verstand man dies nicht als neue Rechtsset- zung.69 Man ging vielmehr von dem Grundsatz aus, dass es für alle Rechtsfälle ein geltendes Gewohn- heitsrecht gab, das nur gewiesen werden musste. Wurde aber durch die Weisung neues Recht ge- schaffen, weil es vorher keine klare Entscheidung gegeben hatte, war das den Beteiligten nicht be- wusst.70 Die Bestimmungen der Weistümer wurden öffentlich verlesen. Die ältesten schriftlichen Weis- tümer stammen aus dem 12. Jahrhundert, die jüngsten waren noch im 19. Jahrhundert, zum Teil auch noch im 20. Jahrhundert in Anwendung.71 Nicht in allen Quellen der deutschsprachigen Ge- biete kommt das Wort «Weistum» vor.72 Es findet sich vor allem in Mittel-, Nord-, Nordwest- und Westdeutschland. In Süddeutschland bezeichnen sich die Quellen als «Ehaft» oder «Ehafttaiding», in Österreich als «Taiding» oder «Banntaiding», in der Schweiz als «Öffnung», «Öffnung» oder «Jahr- ding», im Elsass als «Dingrodel», in Sachsen und Nordböhmen als «Rüge» und in Niederdeutschland als «Holtding». In Liechtenstein, Vorarlberg und seltener auch in der Schweiz ist der Begriff «Lands- brauch» üblich. Ein Schema zur Einteilung der Weistümer bietet Theodor von Inama-Sternegg in seiner Arbeit: «Über die Quellen der deutschen Wirtschaftsge- schichte»:73 Er unterteilt die Weistümer in folgende
Unterkategorien: Gerichtsweistümer, Marktgenos- senschaftsweistümer, Urbarial(Stifts)weistünier, Dorf- weistümer, Bauernschaftsweistümer sowie Hof- rechtsweistümer. Erna Patzelt geht bei ihrer Einteilung der Weis- tümer von der Erkenntnis aus, dass sie das Ver- hältnis zwischen Grundherren und ihren Hinter- sassen regeln. Gemäss ihrer Analyse können Weis- tümer folgende Bereiche abdecken beziehungswei- se beinhalten:74 1. Privilegien; 2. Urkunden, die über die Streitigkeiten zwischen verschiedenen Grundherrschaften handeln; 3. Erläuterungen der Rechte der Hintersassen; 4. Urkunden über eine von der Gemeinde selbst beschlossene Ordnung ihrer inneren Angelegen- heiten, die auf deren Bitte von der Gerichtsob- rigkeit genehmigt und ratifiziert wird; 5. Urkunden, die von den Grundherrschaften selbst ausgestellt sind. Hermann Wiessner teilt die Weistümer in zwei Ka- tegorien ein, nämlich je nachdem, ob im Weistum der Herr oder die bäuerliche Bevölkerung im Vor- dergrund steht.75 Von den verschiedenen Arten von Weistümern zählt Dieter Werkmüller die wichtigs- ten auf76 1. Reichsweistümer: Die deutschen Kaiser des Mit- telalters Uesen durch die Edlen ihres Flofes fest- stellen, was «herkömmlich und rechtens» sei; 2. Landrechte, die in Weisturnsform ermittelt wur- den, die aber häufig eine Mischform zwischen Weistum und Satzung darstellen; 3. Städtische Weistümer; 4. Sendweistümer: Weistümer der Kirche; 5. Bäuerliche Weistümer: Weistümer im engeren Sinn. DIE DEFINITIONEN Auch heute herrscht noch keine Einigkeit darüber, wie ein Weistum zu definieren ist. Die erste umfas- sende Definition stellte Hans Fehr auf, der folgende Merkmale eines Weistums hervorhob: 16