Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

Graubünden verzögerte Entwicklung von Städten und gewerblich-industrieller Wirtschaft. Für die gesellschaftliche wie die politische Ge- schichte Graubündens zentral war die Entwicklung des Gemeindewesens: Wurden auch in Graubün- den zu Beginn der Neuzeit die Gerichtsvorsitzenden (Ammänner) in der Regel noch von den weltlichen und geistlichen Herren eingesetzt, so «beschleunig- te sich [im 16. Jahrhundert] die Vergesellschaftung der persönlich-feudalen Herrschaftsgewalt».4 Von besonderer Bedeutung waren in diesem Prozess die Ilanzer Artikel von 1526: Sie beförderten u.a. die Verwirklichung kommunaler Selbstverwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Beseiti- gung herrschaftlich-feudaler Rechte, Steuern und Abgaben, die Befreiung des Bodeneigentums und die Einführung des weiblichen Erbrechts, die Ab- schaffung des Kleinen Zehnten und die Reduktion des Grossen Zehnten, die Reduktion der Fronen, den Übergang herrschaftlicher Regale an die Ge- richtsgemeinden und des Weggelds an die Säumer- genossenschaften (Porten) sowie die Entstehung von Kirchgemeinden mit Pfarrwahlrecht - vieles davon wurde in Liechtenstein erst im 19. Jahrhun- dert (oder nie) verwirklicht. Sichtbar werden aber auch die Kehrseiten der Entwicklung vor Graubündens Integration in die Helvetische Republik 1799: So die «aristodemokra- tische»5 Entartung des Gemeindeprinzips, die Par- teienkämpfe, die grassierende Korruption, die Miss- stände im Söldnerwesen und die Verwicklung in die Machtkämpfe der europäischen Grossmächte. Gesondert eingegangen wird auf diese und an- dere Fragen der politischen Geschichte in den Beiträgen von Roger Sablonier (Spätmittelalter), Randolph C. Head (16. Jahrhundert), Silvio Färber (17./18. Jahrhundert) und Martin Bundi (Aussen- beziehungen). Trotz der eingangs erwähnten brei- ten Fächerung der Fragestellungen fällt somit die relativ starke Gewichtung von Politik und Staatlich- keit für die Periode des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit auf. Allerdings zeigt sich, dass eine moderne politische Geschichte weit über die Dar- stellung staatspolitischer Ereignisse und verfas- sungsrechtlicher Strukturen hinausgeht. Durch das 
Aufzeigen des Wandels gesellschaftlicher Eliten und deren politischer Strategien (Stichworte sind etwa: Klientelismus, Heiratsstrategien, Repräsenta- tion), des politischen Alltagshandelns und des ge- sellschaftlichen Hintergrunds politischer Struktu- ren und Ereignisse ist sie auch sozialgeschichtlich angelegt. Um den Aufgaben eines Handbuchs ge- recht zu werden, widmen Head und Färber den bündisch-kommunalen Institutionen und den be- wegten Ereignissen des 16. und 17. Jahrhunderts (Bündner Wirren) dennoch breiten Raum. Eine gewisse Spannung zeigt sich bei den Bei- trägen Sabloniers und Heads hinsichtlich der Be- wertung der Bündner «Gemeindefreiheit»: Sablo- nier räumt mit dem in der Bündner Historiogra- phie lange vorherrschenden Mythos des Übergangs «vom Feudalismus zur Demokratie»6 auf und sieht in den Vorgängen des 15. und 16. Jahrhunderts in erster Linie einen Herrschaftswandel von feudalen zu kommunalen, sich ebenfalls nach unten zu einer neuen Aristokratie abschliessenden Eliten.7 Dem- gegenüber betont Head in Anlehnung an Peter Blickles Kommunalismus-Konzept8 stärker das Prin- zip der Entfeudalisierung, bei der «die Botmässig- keit einem Herrn gegenüber ... der Solidarität von Bürgern [wich], welche als gleichberechtigte Glie- der eines politischen Verbandes galten, nämlich der Gemeinde».9 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch Heads Überblick über die politische Propaganda und Mythenbildung der herrschenden Eliten. Da die spezifischen kirchlichen Verhältnisse in Liechtenstein bisher wenig untersucht sind, das Gebiet aber zum Bistum Chur gehörte, ist der Bei- trag von Ulrich Pfister zu Kirchen und Glaubens- praxis vor 1800 sehr instruktiv, vor allem die Dar- stellung der Katholischen Kirchenreform nach dem Tridentinischen Konzil (1545-1563). Deren Durch- führung erfolgte im ganzen Bistum spät und zag- haft, trug aber zum Beispiel mit der Ersetzung der üblichen General- durch die Individualbeichte zur sozialen Disziplinierung der Pfarrkinder bei. Die 15 Beiträge in Band 3 (19. und 20. Jahrhun- dert) sind nach vier Hauptthemenkreisen grup- 192
	        

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