Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL sah sich immer wieder damit konfrontiert, dass be- währte Arbeitskräfte aufgrund des strikten Famili- ennachzugsverbots für «Berufs- und Hilfsarbeiter» abwanderten. Die Industriekammer hielt eine mo- derate Liberalisierung des Familiennachzugs ange- sichts der europäischen Entwicklung für unerläss- lich. Sie befürchtete, dass sich die restriktive Fami- lienzuzugspraxis längerfristig zu einem Standort- nachteil auswachsen und die ohnehin schwierige Arbeitskräfterekrutierung zusätzlich erschweren könnte. Gegen jegliche Liberalisierung Front machte der Arbeitnehmerverband. Er vertrat die Auffassung, dass eine Öffnung des Familienzuzugs eine «Exi- stenzbedrohung für Volk und Heimat» darstelle, die es im «nationalen Interesse» zu verhindern gelte. Der hartnäckige Widerstand des Arbeitnehmer- verbandes, der nicht nur als Gewerkschaft, son- dern gemäss seinem Selbstverständnis auch im Na- men des liechtensteinischen Volkes auftrat, blo- ckierte die Behörden über Jahre hinweg. Obwohl der prinzipielle Entscheid für eine Liberalisierung des Familienzuzugs bereits 1965 gefallen war, konnte in dem auf Konsens angelegten politischen System Liechtensteins das Problem ohne Einver- ständnis des Arbeitnehmerverbandes keiner Lö- sung zugeführt werden. Dies um so mehr als von Seiten der Arbeitnehmerschaft mit einer Volks- initiative gegen die generelle Einführung des Fami- liennachzugs gedroht wurde. Erst auf dem Hinter- grund des zunehmenden aussen- und innenpoliti- schen Drucks signalisierte der Verband 1968 seine Bereitschaft zum Einlenken. Er machte zum glei- chen Zeitpunkt auch klar, dass er eine allfällige Volksinitiative gegen eine Regelung des Familien- zuzugs nicht unterstützen werde. DIE GESETZLICHE REGELUNG DES FAMILIENZUZUGS Am 1. April 1968 erliess Liechtenstein die Verord- nung betreffend die Erteilung von Familienbewilli- gungen an ausländische Arbeitnehmer. Sie schuf die Möglichkeit des Familiennachzugs für Drittaus-länder 
unabhängig von Qualifikation und Nationa- lität nach einer Frist von fünf Jahren. Auch Saison- niers wurden in die Regelung des Familienzuzugs mit einbezogen und konnten analog nach 45 Mona- ten Saisonaufenthalt innert fünf Jahren eine Fami- lienbewilligung beantragen. Die Privilegierung der Hochqualifizierten und der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte wurde über Ausnahmebestimmun- gen zur Herabsetzung der Nachzugsfrist weiterhin gewährleistet. Verheiratete Drittausländerinnen hat- ten keinen Anspruch auf Familiennachzug, für ledi- ge, verwitwete und geschiedene Mütter waren Aus- nahmen vorgesehen. Im internationalen Kontext war die liechtenstei- nische Regelung des Familienzuzugs sehr restriktiv. Die fünfjährige Frist war äusserst hoch, der Kreis der Nachzugsberechtigten, der sich auf die Ehefrau und die Kinder unter 18 Jahren beschränkte, eng gefasst. Schon in der Schweiz lagen die Fristen we- sentlich tiefer: Für Migranten aus West-, Nord- und Südeuropa betrugen sie seit 1967 eineinhalb Jahre, für alle übrigen Staatsangehörigen drei Jahre. In den EWG-Staaten bestand für EWG-Angehörige kei- ne Nachzugsfrist, für die übrigen Staatsangehörigen gab es je nach Land unterschiedliche Regelungen, die aber alle weit liberaler als die liechtensteinische Gesetzgebung waren. Auch der Kreis der Nachzugs- berechtigten war wesentlich grösser. Im liechtensteinischen Kontext stellte die Ver- ordnung über den Familienzuzug eine fortschrittli- che Lösung und einen grossen Schritt dar. Sie be- deutete den Bruch mit dem Rotationsprinzip und auf formaler Ebene die Anerkennung des Nieder- lassungsprinzips. Sie definierte klare Vorausset- zungen für den Familiennachzug und behandelte vom Grundsatz her alle Drittausländer unabhängig ihrer Qualifikation und Nationalität gleich. Sie er- möglichte nicht nur Jahresaufenthaltern, sondern auch Saisonniers einen dauerhaften Aufenthalt und ein Familienleben. Im Gegensatz zum Einwanderungsabkommen zwischen Italien und der Schweiz gewährte die Verordnung von 1968 jedoch keinerlei Rechtsan- sprüche. Letztlich hing also alles von der fremden- polizeilichen Praxis ab. 171
	        

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