Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

das alternative Bekenntnis zu sparsamem Kleider- wechsel - wohl mehrere Wochen Urlaub ins Haus standen. Zwei ältere Ehepaare waren im dem Wa- gen, die mit einem Wochenendticket in ihr Ferien- domizil fuhren und die ihre Ferienerfolge im Stil ei- nes Börsenberichts vortrugen: «Lanzarote fünf Tage, vier Sterne, 670.- DM mit Bad und WC». Dar- auf - im Tonfall <Das ist noch gar nichts) - das geg- nerische Paar: «Slowakei, Karpaten, tiptop, vier Übernachtungen unter 500.- DM mit Frühstücks- büfett und allem drum und dran». Schliesslich sass, auf meiner Höhe, aber auf der anderen Seite des Gangs, eine Frau mit zwei Kindern, mit denen sie sich sehr laut auf deutsch unterhielt und die sie noch lauter auf türkisch zurechtwies. Der ältere Junge war still, er hatte ein Computerspiel in der Hand. Die jüngere Schwester quengelte so, dass ich mich während der ganzen Fahrt gestört fühlte. Aber diese Störung und das ganze Ambiente war zugleich ein volkskundliches Lehrstück. Darf die Volkskunde vor solchen Phänomenen die Augen verschliessen, nur weil sie ihr geheiligtes Gerüst ins Wackeln bringen und weil sie in keine der her- kömmlichen Schubladen passen? Solche Ballungen von Mobilitätserscheinungen sind ein Teil unserer Kultur, und es gehört zu den Aufgaben und Mög- lichkeiten volkskundlicher Arbeit, solche Szenen zu beobachten, zu vermessen und zu interpretieren. Szenen, bei denen die Beteiligten wechseln, die aber doch gewisse Strukturen und gewisse Domi- nanten erkennen lassen. Die Szenerie kann eine Disco sein, ein Supermarkt (auch Einkaufen ist ge- normtes kulturelles Verhalten),25 ein Strandab- schnitt am Meer,26 eine Altstadtkneipe, ein Bahn- hofsplatz. Das von Ueli Gyr und seinen Kollegen angebotene Projektseminar «Filmethnographische Recherchen im Zürcher Hauptbahnhof» gehört in diesen Zusammenhang. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass Volks- kundliches nur auf Reisen, nur noch in der Bewe- gung, nur noch in den charakteristischen Aus- drucksformen einer mobilen Gesellschaft zu fassen wäre. Auch wenn ich mich auf die Kultur einer Re- gion oder sogar eines Orts konzentriere, muss ich als Volkskundler die traditionellen Grenzen über-schreiten, 
die herkömmlichen Sparten oft zurück- lassen. Ich habe die beiden Liechtensteiner Zeitun- gen eines einzigen Tages (Montag, 9. November 1998) durchgesehen und möchte den Befund, der sich daraus für mich ergeben hat, skizzieren: Es ist ganz erstaunlich, was an dem vorausge- henden Wochenende an Kulturellem geboten wur- de. Die Klage, mit der Kultur gehe es bergab, zielt zumindest an den quantitativen Gegebenheiten vorbei. Noch nie hat es so viele kulturelle Aktivitä- ten und Angebote gegeben. Das ist keine liechten- steinische Besonderheit; Ähnliches lässt sich auch anderswo feststellen. Volkskundliches im engeren, im herkömmlichen Sinn lässt sich eigentlich nur an einem, allerdings bedeutsamen Ereignis festmachen. Adulf Peter Goop stellte an jenem Wochenende sein neues Buch über die Ostereier im Zarenreich vor, aufgrund seiner einmaligen Sammlung. Das ist ein Stück Volkstums- pflege (um diesen Begriff noch einmal aufzuneh- men) - in diesem Fall aber nicht auf das eigene Volk bezogen: auch die traditionelle Volkskunde bleibt also von Globalisierungstendenzen nicht un- berührt. Abgesehen von diesem einen Ereignis war in den Zeitungsberichten entlang der kanonischen volkskundlichen Einteilung kaum etwas abzuha- ken. Aber wenn man eine vorsichtige Etagentren- nung zwischen Hochkultur und Volkskultur vor- nimmt (mit einem Zwischenstockwerk, in dem <Hoch> und <Volk> ineinander übergehen), kann sehr vieles der Volkskultur zugerechnet werden. Der Gi- tarrenzirkel veranstaltete ein Konzert mit einem kubanischen Gitarristen in der Pfarrkirche Ben- dern; der Handharmonikaclub Schaan hatte sein Jahreskonzert, der Schweizer Verein seine Jahres- versammlung; ein Kurs für Seidenmalerei wurde angekündigt, ein Frühstückstreffen für Frauen wurde angezeigt, und eine Zusammenkunft von Ju- gendunion und Senioren fand in Mauren statt. Aber auch die Aktivferien auf dem Trisunahof mit dem «Turnikantenstadel» (der Anklang ans Fern- sehen ist unverkennbar) gehören dazu. Und auch kommerziell angetönte Ereignisse wie die Weih- nachtsausstellung der Papeterie müssen erwähnt werden, und jedenfalls auch die internationale Kat- 140
	        

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