Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM - VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER Ml 
M- den südeuropäischen Ländern. Man sprach von Gastarbeitern in der Erwartung, dass sie bald wie- der zurückwandern würden. Man entwickelte Ro- tationsmodelle, die aber nicht funktionierten, nicht funktionieren konnten. Einige Volkskundler er- kannten das schnell und traten nun für 
die Integra- tion der Zugewanderten ein. Aber was heisst Inte- gration? Es ging um Chancengleichheit - aber zwang das zum Verzicht auf die kulturelle Eigenart in der Religion, der Sprache, den Sitten, der Le- bensweise? Bald machte das Schlagwort von der kulturellen Identität oder 
der ethnischen Identität die Runde: die ethnische Identität müsse bei allen unvermeidlichen Zwängen zur Anpassung bewahrt werden. Einige Zeit schien das die Lösung, bis deutlich wurde, dass damit neue Probleme verbun- den waren. Die Feststellung von Identität ist immer auch eine Machtfrage. Wer definiert ethnische Identität? Wird Identität national codiert, so kann dies die Missachtung der Kultur von Minderheiten bedeuten (man denke an die Unterschiede zwi- schen Türken und Kurden). Und wie verhält es sich mit Angehörigen der zweiten oder dritten Generati- on, also mit jungen Menschen, die streng genom- men keine Türken mehr sind, aber auch noch kei- ne Schweizer oder keine Deutschen. Für sie ist die 
ethnische Identität oft ein Gefängnis und keine Ent- lastung. Vollends deutlich wurde das Dilemma, als im ehemaligen Jugoslawien im Zeichen ethnischer Identität die schlimmsten Bluttaten begangen wur- den. Das Thema ist nicht vom Tisch; das Problem verlangt weiterhin wissenschaftliche Reflexion und fundierte Hilfeleistungen - aber vom Tisch war die aus der Kritik geborene Selbstsicherheit, mit der man glaubte, Patentlösungen parat zu haben. Dieses letzte Beispiel zeigt freilich auch, dass der Wandel in der Volkskunde nicht nur durch eine Reinigung von Perspektiven zustande kam, nicht nur durch einen Blickwechsel. Die Volkskunde musste sich auch verändern, weil sich die Realität veränderte. Als ich die ersten Überlegungen zu die- sem Referat anstellte, sass ich in einem Zugabteil irgendwo in Norddeutschland. In meinem Wagen gab es Geschäftsreisende mit dem Laptop auf dem Schoss und dem Handy in der Tasche; einer war dabei, der das Abteil kontinuierlich damit unter- hielt, dass er seiner Frau oder seiner Freundin Po- sitionsmeldungen durchgab: «Wir sind jetzt in Göt- tingen, nein, keine Verspätung». «Ja, jetzt sind wir in Hannover; ja ja, hier regnet es auch». Aber auch jugendliche Touristen waren im Abteil, mit Ruck- säcken, die so gross waren, dass - bedenkt man 139
	        

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