terische Formen und Inhalte werden allerdings nur zum Teil in den Bereich des Aberglaubens verwie- sen; sie gelten auch als neue Möglichkeiten des Glaubens. - Die Volkskunde hat sich immer dem bäuerlichen Brauch, der bäuerlichen Lebensweise zugewandt. Dass auch Arbeiter eine sehr spezifische Form der Lebensbewältigung und der Kultur hatten, ist ei- gentlich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahr- hunderts deutlich geworden, nicht zuletzt dank Ru- dolf Braun, der im Zürcher Oberland detaillierte sozial- und kulturhistorische Untersuchungen an- stellte.13 - Ein letztes Beispiel: Seit langem gibt es in der Volkskunde die Sparte Volksmedizin. Dafür wurde Jahrzehnte lang nur gesammelt und aufbereitet, was an Heilmitteln und Heilmethoden angeblich unbeeinflusst von medizinischem Wissen in Famili- en und Nachbarschaften tradiert wurde. Nur gele- gentlich wurde der Zusammenhang mit früheren Phasen der Schulmedizin hergestellt, und erst sehr spät wurde deutlich gemacht, dass auch die Kon- frontation mit der heutigen wissenschaftlichen Me- dizin zu den populären Umgangsformen mit Krankheit und Gesundheit gehört. Zu den ersten, die in dieser Richtung gearbeitet haben, gehört die Schweizerin Margarete Möckli-von Seggern, die die Einstellung von Industriearbeitern zur Medizin un- tersuchte.14 In Tübingen entstand später eine empi- rische Arbeit «Kranksein im dörflichen Alltag»,15 und vor kurzem kündigte ein junger Volkskundler und Historiker ein Seminar unter dem Titel «Jen- seits der Volksmedizin» an, um neue Fragen zu thematisieren. Vergegenwärtigt man sich die alten Verkürzungen und Verbiegungen der Realität durch die Volkskun- de, dann wird es einigermassen verständlich, dass das Fach eine sehr bewegte kritische Phase durch- machen musste, in der es fast nur darum ging, Hy- potheken abzubauen, ideologische Lasten abzu- werfen. In Deutschland war diese Tendenz beson- ders ausgeprägt, und natürlich gibt es dafür einen einleuchtenden Grund: Der Nationalsozialismus hatte die volkskundlichen Blickweisen übernom-men
und verschärft, und es gab nicht wenige Volks- kundler, die in der Zeit des Nationalsozialismus den inhumanen Vorstellungen von Blut und Boden, von germanischer Prägung und rassischer Überle- genheit auf den Leim gegangen waren. Aber die Kritik blieb keineswegs auf Deutschland be- schränkt. Paul Hugger hat in dem grossen Schwei- zerischen Handbuch ein Kapitel überschrieben: «Ein deutsches Beben hat seinen Nachhall in der Schweiz».16 Dieser Nachhall war unvermeidlich, denn bestimmte Voraussetzungen und Vorurteile hatten - wenn auch in weniger absoluter und weni- ger militanter Form als in Deutschland - auch die Volkskunde in anderen Ländern geprägt. Ja man kann sagen, dass geradezu weltweit ein gewisser Dekonstruktionsprozess einsetzte; selbst in der amerikanischen cultural anthropology und
im fol- klore and folklife research gab es Revisionsbestre- bungen, die parallel zu den deutschen liefen. Eine Zeitlang - ich denke an die 1960er- und 1970er Jahre - wurde sehr viel Energie in diese kritische Auseinandersetzung investiert. Das war die Zeit, in der einer die Glühbirne hielt und sieben dazu eine Theorie ausarbeiteten - einfach deshalb, weil jene Glühbirne immer noch heiss war und weil sich am Gewinde sehr viel Rost angesetzt hatte. Aber ich möchte betonen, dass es falsch wäre, die- se Phase unter der
Flagge «Volkskunde heute» se- geln zu lassen. Es handelt sich um eine Anstren- gung von gestern, welche die vorgestrige Blickwei- se ablöste und die Basis für neue Fragestellungen und Arbeitsweisen schaffte. Sicherlich hat man damals mit der Kritik übers Ziel geschossen; vorsichtiger gesagt: Man hat neue Zusammenhänge entdeckt, ist aber nicht immer der Gefahr entgangen, diese Zusammenhänge zu isolieren und zu verabsolutieren. Ich möchte das an drei Beispielen verdeutlichen, und ich werfe da- bei auch einen Seitenblick auf die Geschichtswis- senschaft, die vor ähnlichen Problemen stand: - Für Peter Kaiser, den bekanntesten älteren His- toriographen Liechtensteins, war - in der an den Forschungen von Volker Press orientierten Formu- lierung von Arthur Brunhart17 - das Volk «das Sub- jekt der Geschichte, nicht die Landesherrschaft». 136