Bereichen der Kulturgeschichte und der Wissens- geschichte wird verstärkt nach den materiellen Voraussetzungen, den konkreten Ausformungen und den lokalen Entstehungsbedingungen von For- men des Wissens gefragt, und man beschränkt sich dabei auch nicht nur auf akademisches Wissen. Auf eine paradoxe Weise hängt dies mit der Globa- lisierung unserer heutigen Welt zusammen. Je lo- kaler die Welt selbst, das heisst die Lebenswelt jedes einzelnen war, desto stärker war man auf sinnstiftende übergreifende theoretischen Zusam- menhänge angewiesen. Je mehr sich die übergrei- fenden Beziehungen selbst nun als materielle Netze von Kommunikationszusammenhängen darstellen, wird lokale Identität wieder zum Desiderat. Der Philosoph Walther Zimmerli hat dies neulich in der Neuen Zürcher Zeitung wie folgt ausgedrückt: «Und nun zeigt sich auch, was das Medium ist, in dem sich diese Dialektik der Globalisierung ereig- net: Es ist die Kultur. Ein und derselbe globalisie- rende Trend wird, wenn er auf verschiedene kultu- relle Umwelten trifft, von diesen gebrochen und di- versifiziert. So bedeutet die Tatsache, dass sich überall auf der Welt der Übergang von einer Wa- renproduktion- zu einer Finanz- und Wissens- Dienstleistungsgesellschaft ereignet, eben nicht überall auf der Welt dasselbe. - Anders: Wir brau- chen zum Verständnis der Welt weiterhin nicht nur die Natur-, Ingenieur- und Sozialwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften und - die Philosophie. »2b Neben der Philosophie gehört auch die Ge- schichte zum Kern der Geisteswissenschaften. Vor allem aber gehört dazu die lokale Kulturgeschichte, wenn man Zimmeriis Aussage ernst nimmt. Und wenn man Kultur richtig versteht, dann ist sie Ar- beit am Selbstverständnis einer Gemeinschaft, ist sie etwas Eingreifendes, mitunter auch etwas Unge- maches. Unter diesen Voraussetzungen geschieht es auch, dass lokale Geschichte, ja geradezu auch Ortsgeschichte und Alltagsgeschichte eine ganz neue Aussagekraft, Bedeutung und auch Brisanz gewinnen kann. Gerade der Zugriff auf das lokale Detail hat heute die Chance, eben nicht einfach lo- kal zu bleiben, sondern exemplarische Bedeutung
anzunehmen. Genau darin besteht die Chance ei- nes kleinen Landes wie Liechtenstein. Die Menge an zu erfassenden Einzelheiten ist begrenzt und bewältigbar, und damit sind Mikrostudien möglich, die man trotz ihrer Vollständigkeit doch immer noch lesen kann und die gerade durch ihre Per- spektive aufs Detail auch über das Land hinauswei- sen. Das wird aber nur dann wirksam geschehen können, wenn die Arbeit im ständigen Austausch, vielleicht weniger mit den selbsternannten soge- nannten Universitäten im eigenen Land, dafür aber umso mehr mit den lebendigen Geisteszentren der umliegenden Hochschulen steht, ob in der Volks- kunde, der Sprachkunde, der Kunstgeschichte oder der allgemeinen Geschichte, oder auch der Natur- forschung. Der Forschungsfonds, den die Regie- rung - hoffentlich auch die neue! - einzurichten ge- denkt, könnte hier wunderbar zum Einsatz kom- men. Themen gäbe es in Hülle und Fülle. Mit Span- nung wird auf das Werk von Peter Geiger am Liechtenstein-Institut zum Land Liechtenstein im Zweiten Weltkrieg gewartet. Zeitgeschichte ohne Tabus ist nach den Turbulenzen des letzten Jahres nur noch wichtiger geworden. Wo sind die Histori- ker, die mit allen Details über lokale Treuhandge- schichte, lokale Bankengeschichte, lokale Indus- triegeschichte arbeiten - nicht nur die jeweiligen Gesetze und Verordnungen analysieren, über die es genügend Abhandlungen gibt, die eigenartigerwei- se immer unter dem Stichwort «Wesen» kursieren: so das Treuhandwesen, Bankenwesen, Industrie- wesen? Hier wäre es überall an der Zeit, vom We- sen zum Sein überzugehen. Und wo sind die Be- triebe, die für eine Forschung ohne Sensationshin- tergrund, aber auch ohne Tabus ihre Archive öff- nen? Diese Forschungen haben in der Schweiz begonnen, sie haben in Deutschland begonnen. Liechtenstein könnte hier an vorderster Stelle ste- hen, und mir schiene das eine Aufgabe, die es wert wäre, dass der Historische Verein sie beim Eintritt in sein zweites Jahrhundert nach Kräften förderte. Möge der Verein weiterhin selbst nicht nur an- tiquarisch tätig sein, also
Geschichte schreiben, sondern kritisch, und das heisst vor allem, Ge- schichte machen. Der Historische Verein hat in die 24