len, dass wir uns als Vorarlberger oder Bündner oder St. Galler genauso wohl fühlen würden wie jetzt als Liechtensteiner - wenn eben unsere Ge- schichte anders verlaufen wäre. Wir sind eingebet- tet in einer Kulturregion, in eine Kulturlandschaft, in der wir nicht im eigentlichen Sinne eine eigen- ständige Kultur haben. Alfred Goop: Das ist für mich ein ganz wesentliches Element. Seit dem Mittelalter und bis ins 19. Jahr- hundert herauf, sind der süddeutsche Raum, Vor- arlberg und Österreich, Hauptbeziehungspunkte gewesen für Liechtenstein. Das sieht man heute noch in der Sprache bis in die Grammatik hinein. Im 20. Jahrhundert hat man sich wirtschaftlich der Schweiz zugewendet. Für die liechtensteinische Identität ist dieser Wandel etwas sehr Wichtiges. Deswegen sagt man oft, unser Herz schlage in Österreich und der Geldsäckel liege eher in der Schweiz. Darin zeigt sich einmal mehr, wie sehr unser Selbstverständnis auch von äusseren Fakto- ren mitbestimmt wird. Norbert W. Hasler: Mir scheint eines noch wichtig zu sein. Ich habe heute vielfach das Gefühl, dass man fast die Grössenverträglichkeit aus dem Auge verliert. Wir sind immer noch, praktisch seit dem frühen 16. Jahrhundert, in der gleichen territoria- len Grösse von 160 m2 geblieben. Und das ist in ei- nem grösseren Kontext betrachtet doch sehr be- scheiden. Nur bevölkerungsmässig haben wir be- trächtlich zugelegt, von rund 8 000 Einwohnern um 1900 auf mehr als 32 000 im Jahr 2000. Ich habe oft das Gefühl, dass man gerne die Dimensionen verliert und dass man aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen plötzlich meint, wir seien das Zentrum der Welt. Das sind wir halt letztlich doch nicht. Mehr Augenmass und Bescheidenheit könn- ten oder sollten zu einem Identitätsfaktor für Liech- tenstein werden. Alfred Goop: Wenn ich an meine Grossmutter den- ke, Frieda Goop, die viel von alten Zeiten erzählt hat, so war für sie der Wechsel von Österreich zur Schweiz eine wichtige Erfahrung, der totale Wert-verlust
der österreichischen Währung. Das, was sie auf der Bank hatte, war plötzlich nichts mehr wert. Sie war auch früh Witwe mit acht unmündigen Kin- dern und musste sich in dieser schwierigen Zeit durchschlagen. Die 1920er-Jahre waren für sie die entscheidende Phase. Wenn ich an die Generation meines Vaters denke, so war der Zweite Weltkrieg eine zentrale Erfahrung. Man war sich bewusst, wir haben Glück, wenn wir das überstehen. Und wenn ich uns heute anschaue, was ist für uns heu- tige Liechtensteiner prägend? Ist es der Wohlstand, ist es das viele Geld, das zum Beispiel im Finanz- dienstleistungssektor verdient wird? Im «Spiegel» stand zu lesen: «Geldwäscherei, Geldwaschmaschi- ne». Ich glaube, das hat Liechtenstein gewandelt. Das werden wir wahrscheinlich erst nach einer be- stimmten Zeit sehen. Es gibt bei uns im Land viele reiche Leute, die in diesem Sektor ihr Geld gemacht haben. Ich habe mich oft gefragt, ob es dabei nach ethischen Gesichtspunkten immer mit rechten Din- gen zu und her geht, einmal abgesehen von Geld- wäsche. Die letzten zwei Jahre wurde über dieses Thema viel geredet. In diesem Zusammenhang war auch die Rede von «fehlendem Unrechtsbewusst- sein». Das scheint mir etwas Wesentliches zu sein für unsere Gesellschaft. Ich. frage mich manchmal, ob sich auch breitere Kreise der liechtensteini- schen Bevölkerung genügend bewusst sind, wel- cher Art die finanziellen Fundamente sind, auf de- nen unser Wohlstand aufbaut und die Prosperität unseres Staatswesens beruht. Das sind aktuelle Fragen, die bei der heutigen Suche nach einer liechtensteinischen Identität zwangsläufig mit ein- fliessen müssen, und gerade dabei kann sich dann auch zeigen, dass eine solche Identität sich nicht mehr nur auf lokalen und tradierten Werten auf- bauen lässt. Norbert W. Hasler: Das ist sicher ein stimmiger An- satz, mit dem, was du sagst. Wo ich ein Problem sehe, das ist eine gewisse Gleichgültigkeit, die man feststellt. Wen kümmert es? Es ist fatal, wenn man sagt, uns geht es gut hier, so soll es bleiben, die an- deren sollen selber schauen, dass es ihnen auch bald einmal so gut geht. Ich glaube, so kommt man 306