Bekannte Gedanken neu aufgeworfen zu Liechtenstein Leonhard Paulmichl Geboren 1938 • Dr. phil., Leiter der Abteilung «Kulturelles Wort» beim ORF-Studio Vorarlberg • Gisingen, Flurgasse 73. Beim Durchblättern von fotografierten Fakten ist Liechtenstein jener liebenswürdige Alpengarten, der sowohl im Aostatal, in Tirol oder in Graubünden liegen könnte. Denn, von Bergformationen, «typi schen» Bauweisen und dem Fürstentum als solchem einmal abgesehen, schließt nichts darauf, daß dem nicht so sein könnte. Von den tracht tragenden Musikanten, Sennern, einem dengelnden Bauern, gotischen Gemälden, himmelwärts ragenden Burgen, «heimischen Künstlern», bis zum Denkmal, das das Land «seinem großen Sohne, dem Kom ponisten» gesetzt hat, ist Liechtenstein nicht mehr, als es ist: Ver schneite Hänge mit Liftanlagen, aus dem besten Blickwinkel aufge nommene Fotografie, Kirche am Hang, Nebel im Herbst, Burg mit Fahne, philatelistische Kostbarkeit, brillant in Stand gehaltenes Lan desmuseum mit Gemälden und Prunkwaffen, hochentwickelte Indu strie, sicherlich ausgezeichnete Finanzgebarung (im Ausland würde man alles andere einfach nicht glauben), freundliche Jugend, nicht fotografierte Probleme, kurz: Geschichte, Betrieb, Feuerwerk. Wenn man die Ferien nicht in hohen Bergtälern oder am Meer ver bringt, könnte es auch vorkommen, daß man sie in Liechtenstein ge nießt. Das hätte Folgen. Einmal, daß man dort Menschen begegnet. Allerdings solchen, die das Menschsein eher um sie herum suchen. Das ist wiederum nichts Besonderes. Solche Menschen findet man anders wo genauso, freilich mit anderem Dialekt und anders formulierter Frömmigkeit. Das Verhältnis von Dialekt und Frömmigkeit (Pietas) ergibt jenen Zwiespalt, den man andernorts mit Heimatgefühl (posi tiv) oder mit Hinterwäldlertum (negativ) formuliert. Beide sind in Liechtenstein vorhanden, wie wichtige Institutionen und Briefkasten firmen. Wenn Liechtenstein nicht mehr ist, als es ist, ist das für Liechtenstein zu wenig. (Ich weiß, der Außenstehende hat leicht reden.) Liechten stein kann nur das sein, was es wird. Zuerst aus sich selbst und dann mit seinen Nachbarn. Natürlich ist einer auch ein Nachbar, wenn er vier oder zehn Häuser weiter wohnt. Das sollte ganz besonders betont werden. Wenn der Geist wirklich weht, wo er will, spielen ein paar Dächer wirklich keine Rolle. Hauptsache, der
Geist weht. Er soll ruhig in den Börsen auch wehen, im Gegenteil: Je heftiger er es dort treibt, umsomehr besteht die Chance, daß er diese Stube als Mäzen verläßt und entweder großzügig oder dumm sich der Kultur annimmt. 88