Die DDR ist dafür ein sehr gutes Beispiel, weil sie von ihrer Größe her eigentlich nicht handicapiert wäre. Der Staat gleicht offenbar den meisten Menschen, von denen er schließlich auch getragen wird — er genügt sich in den wenigsten Fällen selbst, er will unter seines gleichen anerkannt werden, er will Glied der Gesellschaft sein, er will möglichst gleichberechtigte Beziehungen pflegen. Ist aber, so möchte ich einwerfen, jener Mensch, der sich selbst genügt, der keine weiteren Ambitionen hat, der sich vielleicht höchstens innerhalb der Bann meile seiner eigenen Familie bewegen möchte, etwa deshalb kein Mensch? Oder soll jenem die Eigenart menschlichen Wesens abge sprochen werden, der selbst schwach ist, der vielleicht über geringe materielle oder geistige Ressourcen verfügt, oder der zur Verwirk lichung seiner Ziele auf die Unterstützung anderer angewiesen ist? Niemand wird diese Fragen bejahen wollen. Gleichermaßen müßte meines Erachtens aber auch bei der Beurteilung kleiner staatlicher Gebilde verfahren werden. Die Frage dürfte somit nicht lauten: Verfügt dieses Staat-sein- wollende Gebilde über ein im Verhältnis zu anderen Staaten genügend großes
Territorium? Sie müßte vielmehr darauf abzielen, ob das vor handene Territorium den darin sich aufhaltenden Menschen genügend Raum zum Wohnen, zur Arbeit, zur Gestaltung der Freizeit bieten kann. Dieses Kriterium sollte in erster Linie als bedeutungsvoll be trachtet werden, läßt es sich doch ableiten aus der Pflicht der Staaten, die Würde des Menschen zu achten und die freie Entfaltung des Einzelnen nach Kräften zu fördern. Eine solche Pflicht ist in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen einerseits, in jener der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wie auch in derjenigen der Europäischen Menschenrechtskonvention anderseits statuiert. Man mag einwenden, eine so formulierte Auffassung des territorialen Staatskriteriums sei insofern höchst gefährlich, als damit jedem Staat zur willkürlichen Aneignung fremden Bodens Tür und Tor geöffnet werden, wenn er nur nachweisen kann, sein Staatsvolk benötige zur adäquaten Entfaltung einen größeren Lebensraum. Dieses Argument zielt aber am Wesen der Sache vorbei: Wenn es nämlich schon all gemeine Überzeugung der Staaten zu sein scheint, daß jeder Staat völkerrechtlich für das Wohl seines Volkes verantwortlich ist, so wird es anderseits in den Verantwortungsbereich der Staatengesellschaft gehören, wenn ein Staat diese Pflicht nicht mehr erfüllen
kann. Zwar erscheint eine solche Überlegung heute reichlich utopisch, weil kaum eine Aktualität darin zu erkennen ist. Bei anhaltendem Wachs tum der Weltbevölkerung könnte das Problem aber eines Tages akut werden. 79