Wirtschaftswachstum
Trilemma zwischen Wachstum,
Umwelt und Lebensqualität
Stiftung Zukun.li
Wirtschaftswachstum
Trilemma zwischen Wachstum,
Umwelt und Lebensqualität
Oktober 2022
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort 6
Das Wichtigste in Kürze 8
Grundlagen, Methodik und Aufbau 10
TEIL 1 – WACHSTUM IM INTERNATIONALEN KONTEXT
1. Warum uns Wachstum beschäftigt 14
2. Das Wachstum im Rückblick 17
2.1 BIP – die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 17
2.2 BNE – die Entwicklung des Bruttonationaleinkommens 21
2.3 Fazit zur Entwicklung von BIP und BNE 23
3. Die Quellen des Wachstums 25
3.1 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren des Arbeitspotenzials 26
3.1.1 Arbeitszeiten und -entwicklung im Ländervergleich 26
3.1.2 Die Erwerbsquote 28
3.1.3 Der Altersquotient 31
3.1.4 Die Entwicklung der Beschäftigung in Liechtenstein 32
3.1.5 Zwischenfazit zum Arbeitspotenzial 33
3.2 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität 33
3.2.1 Produktivitätsentwicklung im Ländervergleich 33
3.2.2 Bestimmungsfaktor technischer Fortschritt 36
3.3 Haupttreiber des Wachstums: Arbeitsstunden oder
Produktivität? 37
3.3.1 Zwischenfazit zu Arbeitsproduktivität und Arbeitsstunden 40
3.4 Die Bedeutung der Rahmenbedingungen, der Wirtschaftspolitik
und der natürlichen Ressourcen 40
3.5 Unendliches Wachstum wünschbar und möglich? 41
3.6 Marktversagen bei Umweltgütern 43
4. Die Wirkungen des Wachstums auf Umwelt und Lebensqualität 46
4.1 Ein Trilemma in der Wirtschaftspolitik? 46
4.2 Zielbeziehung Wachstum und Umwelt 48
4.2.1 Treibhausgasemissionen 48
4.2.2 Entkopplung zwischen Wachstum und THG-Emissionen 50
4.2.3 Fazit zu Wachstum und Umwelt 60
4.3 Zielbeziehung zwischen Wachstum und Lebensqualität 60
4.3.1 Die Entwicklung der Zufriedenheit 61
4.3.2 Wachstum und Ungleichheit 66
4.3.3 Wachstum und Armut 70
4.3.4 Fazit zu Wachstum und Lebensqualität 72
4.4 Zielbeziehung Umwelt und Lebensqualität 73
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5. Wachstumskonzepte und Wohlfahrtsmessung 76
5.1 Von Wachstum bis zu aktiver BIP-Reduktion 76
5.1.1 Growth 77
5.1.2 Green Growth 77
5.1.3 Beyond Growth 78
5.1.4 Postgrowth 79
5.1.5 Degrowth 80
5.1.6 Fazit zu den Wachstumsmodellen 81
5.2 BIP und alternative Massstäbe 82
5.2.1 Was das BIP kann – und was nicht 82
5.2.2 Alternativen und Ergänzungen zum BIP 83
5.2.3 Messsystematik in Liechtenstein 87
5.2.4 Zwischenfazit 88
TEIL 2 – LIECHTENSTEINISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IM
RÜCK- UND AUSBLICK
6. Wirtschaftspolitik in Liechtenstein im Rückblick 90
6.1 Wirtschaftspolitische Programme 90
6.2 Zielerreichung 91
6.2.1 Soll-Ist-Vergleich 91
6.2.2 Wirtschaftliche Entwicklung als Resultat der Wirtschaftspolitik 101
6.3 Auswirkungen auf Verkehr, Raumentwicklung und
Nachhaltigkeitsaspekte 102
6.3.1 Verkehr 102
6.3.2 Raumentwicklung 104
6.3.3 Nachhaltige Entwicklung 106
6.4 Fazit zur Wirtschaftspolitik 108
7. Wachstumsperspektiven Liechtenstein 110
7.1 Grundkonzeption 110
7.2 Grundlegende Annahmen 111
7.3 Beschreibung der Szenarien 112
7.3.1 Szenario 1: Growth ( G ) 112
7.3.2 Szenario 2: Green Growth ( GG ) 115
7.3.3 Szenario 3: Degrowth ( DG ) 119
7.4 Grobe Quantifizierung 122
7.5 Trade-offs 125
8. Empfehlungen und Zusammenfassung 129
8.1 Empfehlungen 129
8.1.1 Empfehlungen zu Wachstum 129
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8.1.2 Empfehlungen zu Produktivität 132
8.1.3 Empfehlungen zu Umwelt 134
8.1.4 Empfehlungen zu Lebensqualität 141
8.2 Zusammenfassung 146
8.2.1 BIP und BNE 146
8.2.2 Wachstumsquellen 146
8.2.3 Wirkungen des Wachstums 149
8.2.4 Wachstumskonzepte und Wohlfahrtsmessung 151
8.2.5 Liechtensteinische Wirtschaftspolitik im Rückblick 152
8.2.6 Drei Wachstumsperspektiven 152
Anhang 155
Abkürzungsverzeichnis 156
Literatur 157
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Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser
Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ( BIP ) hat sich nach dem Zweiten
Weltkrieg als wichtiges Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik etabliert. Das Ziel
des Wachstums ist es, für Wohlstand, Beschäftigung, soziale Sicherheit und
Lebensqualität in mittel- und längerfristiger Perspektive zu sorgen. Dabei
wird das Wachstumsziel des BIP in den letzten Jahren oft von Adjektiven
begleitet, die ihm eine Richtung vorgeben, wie zum Beispiel angemessen,
qualitativ oder nachhaltig.
Diese Adjektive spiegeln eine gewisse Kompromissbereitschaft gegenüber
der zunehmenden Kritik an weiterem wirtschaftlichen Wachstum wider.
Für die echten Wachstumskritiker werden sie allerdings den anstehenden
Herausforderungen nicht gerecht. Angesichts der Erderwärmung, der
Übernutzung von natürlichen Ressourcen, der weltweiten Ungleichvertei-
lung des Wohlstandes, der Zersiedelung der Landschaft oder der Zunahme
stressbedingter Krankheiten lautet ihre Überzeugung: « Weniger ist mehr! »
In der vorliegenden Studie überprüfen wir in einem ersten Teil wirtschaft-
liches Wachstum im internationalen Kontext. Wir analysieren dessen
Quellen und Wirkungen mit einer grossen Fülle von empirischen Daten
und ordnen die Ergebnisse anhand verschiedener Wachstumskonzepte und
Wohlfahrtsindikatoren ein.
In einem zweiten Teil richten wir den Fokus auf Liechtenstein. Wir unter-
suchen die Zielsetzung und Zielerreichung der wirtschaftspolitischen
Programme der letzten 20 Jahre. Schliesslich präsentieren wir Entwick-
lungsperspektiven für Liechtenstein in drei unterschiedlichen Szenarien und
geben abschliessend Empfehlungen für die liechtensteinische Wirtschafts-
politik ab.
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Um Ihr Interesse an der Lektüre zu wecken, folgt eine kleine Auswahl von
Fragen, die wir in der Studie beantworten:
Aus welcher Quelle stammt das Wirtschaftswachstum in Liechtenstein
hauptsächlich?
Ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoss
möglich?
Hat das Wachstum in den letzten Jahren unsere Lebensqualität erhöht?
Welches Wachstum empfehlen wir Liechtenstein für die Zukunft?
Die Debatte um das Wachstum und die daraus abgeleiteten Konzepte ist
im Kern eine Diskussion um die Zukunftsgestaltung und deshalb auch für
Liechtenstein von hohem Interesse.
Wir möchten mit der vorliegenden Publikation einen Beitrag zu dieser
Debatte leisten und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.
Peter Eisenhut, Stiftungsratspräsident
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Das Wichtigste in Kürze
Diese Studie widmet sich diversen Aspekten des Wirtschaftswachstums.
Ausgelöst durch negative, dem Wirtschaftswachstum angelastete Ent-
wicklungen wird Systemkritik laut. Die Studie analysiert in einem ersten
Teil Wachstum im internationalen Kontext, beleuchtet die relevanten
Wachstumsquellen und zeigt verschiedene durch die Wachstumskritik
ausgelösten Wachstumskonzepte auf. Der zweite Teil legt den Fokus auf
Liechtenstein: auf die Wirtschaftspolitik, die Entwicklungsperspektiven und
auf konkrete Empfehlungen für die zukünftige wirtschaftspolitische Aus-
richtung.
Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen:
1 Wachstumspotenzial sinkt
Liechtensteins Wachstum der vergangenen Jahrzehnte basiert in erster
Linie auf einem Ausbau der geleisteten Arbeitsstunden. Dieser ist auf
einen starken Zuwachs von zupendelnden Arbeitskräften zurück-
zuführen. Die zweite wichtige Wachstumsquelle – die Arbeitsproduk-
tivität – war in einzelnen Jahren sogar negativ. Das zukünftige Produk-
tivitätswachstum wird für Liechtenstein und auch für andere Länder
gemäss Prognosen relativ bescheiden ausfallen. Gleichzeitig stagniert
demografisch bedingt die Altersgruppe der Erwerbstätigen. Deshalb
bleibt auch das zukünftige Wachstumspotenzial für Liechtenstein auf
geringem Niveau. Zur Steigerung dieses Potenzials kann eine Erhö-
hung der Erwerbstätigenquote und der Anzahl Grenzgängerinnen und
Grenzgänger beitragen. Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen besteht in
Liechtenstein im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch erhebliches
Potenzial.
2 Wachstum – Umwelt – Lebensqualität: Ein magisches Dreieck
Wachstum, Umwelt und Lebensqualität sind drei unser Leben
bestimmende Dimensionen. Sie stehen in direkter Beziehung – teil-
weise harmonisch, teilweise auch konkurrierend – zueinander. Es kann
deshalb nicht darum gehen, bei den einzelnen Zielen ein Maximum zu
erreichen, sondern es geht um ein Optimum, das für einen gesellschaft-
lich gewünschten und nachhaltigen Ausgleich sorgt. Die Zielbeziehung
« Wachstum – Umwelt » ist in erster Linie von der Klimaproblematik
geprägt. Um die Klimaziele zu erreichen, ist eine rasche Entkopplung
zwischen CO2-Ausstoss und BIP-Wachstum auf globaler Ebene zu
erzielen. Wirtschaftliches Wachstum korreliert bis zu einem bestimmten
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Niveau mit Lebensqualität, weil höhere Einkommen zu weniger Armut,
besserer Gesundheit, höherem Bildungsniveau usw. führen. Auf einem
Wohlstandsniveau wie in Liechtenstein trägt ein alleiniger Anstieg des
Einkommens allerdings kaum noch zu einer höheren Zufriedenheit bei.
3 Wirtschaftspolitik: Note « gut »
Die liechtensteinische Wirtschaftspolitik war in der Vergangenheit in
vielen Aspekten sehr erfolgreich. Das gilt allerdings nicht für den Ver-
kehrs- und Raumplanungsbereich. Dort hat das starke Wachstum zu
unerwünschten Entwicklungen geführt, denen bis anhin nicht adäquat
begegnet wurde.
4 « Optimales Wachstum » für Liechtenstein
Wachstum ist kein Selbstzweck. Die Wirtschaftspolitik in Liechtenstein
soll sich daher primär an einer Steigerung der Lebensqualität und einer
intakten Umwelt ausrichten. Daraus resultiert ein « optimales Wachs-
tum », nicht zu viel und nicht zu wenig, abgestützt auf die Präferenzen
der Bevölkerung.
5 Effizienz: Prioritäres Kriterium in der Klimapolitik
Die Klimapolitik wird das Wirtschaftswachstum der nächsten Jahr-
zehnte stark beeinflussen. Als globales Problem lässt es sich nicht durch
isolierte nationale Massnahmen lösen. Gerade weil der Beitrag Liech-
tensteins zur Problemlösung so gering ist, sollten sich die Massnahmen
an den Kriterien Effizienz, Effektivität und Kostenwahrheit orientieren.
Die Definition eines maximalen Auslandsanteils von 10 % am gesamten
Reduktionsziel von 50 % bis 2030, wie ihn die aktuelle Strategie vor-
sieht, schränkt die Effizienz der eingesetzten Mittel unnötig ein.
6 Verfassungsauftrag: « Wohlfahrt » gezielt umsetzen
Die Förderung der Wohlfahrt stellt ein in der liechtensteinischen Ver-
fassung verankertes und hohes Ziel dar. Entsprechend sollte es Priorität
in der politischen Agenda erhalten. Mit dem vorhandenen Indikatoren-
system für eine nachhaltige Entwicklung besteht bereits ein Instrument,
das genutzt werden sollte, um die Volkswohlfahrt als eigenständiges
politisches Ziel zu definieren.
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Grundlagen, Methodik und Aufbau
Grundlagen
Grundlage dieser Publikation bildet die im Auftrag der Stiftung Zukunft.li
erarbeitete Studie « Wirtschaftswachstum Liechtenstein – Grundlagen-
bericht » des Forschungsunternehmens Infras in Zürich ( von Stokar, Peter,
Weber & Wick, 2022 ). Die Studie ist unter www.stiftungzukunft.li abrufbar.
Methodik und Aufbau
In den Kapiteln 2 bis 4 werden neben einzelnen globalen Entwicklungen auch
Ländervergleiche zu verschiedenen Indikatoren angestellt, um Entwick-
lungen und Wirkungen mit Bezug auf das Wirtschaftswachstum aufzu-
zeigen. Die Analysen fokussieren in der Regel – je nach Verfügbarkeit der
Daten – auf den Zeithorizont zwischen 1990 und 2020. Sie umfassen die
folgenden Länder:
Internationaler Vergleich mit Dänemark, Deutschland, Europa ( EU-27 ),
Finnland, Italien, Österreich, Schweden, Schweiz,
USA
Kleinstaatenvergleich mit Andorra, Estland, Island, Luxemburg, Malta
Die Auswahl wurde bewusst so getroffen, damit – bei aller Einschränkung
aufgrund der Kleinheit und anderer Besonderheiten – Vergleiche zur
Entwicklung in Liechtenstein gezogen werden können.
In den diversen Abbildungen werden aus Gründen der Datenverfügbarkeit
und der Lesbarkeit nicht immer alle angeführten Länder dargestellt. Leider
stehen gerade für Liechtenstein verschiedene relevante Daten nicht zur
Verfügung. Bei Ländern mit einer ähnlichen Entwicklung wird eine Aus-
wahl getroffen. Zu Besonderheiten für die Interpretation der Entwicklun-
gen in einzelnen Staaten und verwendete Datenquellen siehe von Stokar,
Peter, Weber & Wick ( 2022 ). Die Zeiträume sind – vor allem durch die
eingeschränkte Verfügbarkeit von Daten für Liechtenstein – nicht durch-
gehend einheitlich und wo nötig den vorhandenen Möglichkeiten angepasst.
Wenn Vergleiche notwendig waren, wurden die Werte in PPP-$1 umgerech-
net. Dadurch werden Unterschiede in der Kaufkraft des jeweiligen Landes
berücksichtigt.
1 PPP: Purchasing Power Parity. Es
handelt sich um eine Korrektur des BIP
bzw. BIP pro Kopf aufgrund von Unter-
schieden in der Kaufkraft des jeweiligen
Landes. Die Umrechnung dient der
internationalen Vergleichbarkeit.
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Der erste Teil der Studie beleuchtet in den Kapiteln 2 bis 5 Wirtschaftswachs-
tum im internationalen Kontext.
Kapitel 2 wirft einen Blick auf die Entwicklung des BIP und des für Liechten-
stein wichtigen Bruttonationaleinkommens ( BNE ).
In Kapitel 3 widmen wir uns den Quellen des Wachstums – Arbeitsstunden
und Produktivität. Wir beschreiben die zentralen Bestimmungsfaktoren
der beiden Quellen und analysieren, welche davon in der Vergangenheit
den entscheidenden Wachstumsbeitrag geleistet hat. Zudem befassen wir
uns mit den Rahmenbedingungen, den natürlichen Ressourcen sowie der
Bedeutung der Wirtschaftspolitik im Kontext zu Wirtschaftswachstum.
Daraus wird abgeleitet, welchen Einfluss verschiedene Entwicklungen auf
zukünftiges Wachstum haben können.
Kapitel 4 analysiert die Wirkungen des Wachstums auf die Umwelt und die
Lebensqualität. Zielkonflikte zwischen Wirtschaftswachstum, Umwelt-
schutz und Lebensqualität erhalten ein besonderes Augenmerk: Zeigt sich
dabei ein mögliches Trilemma für die Wirtschaftspolitik? Wachstum wird in
diesem Kapitel in Beziehung zur Umwelt ( insbesondere zum CO2-Ausstoss )
und zu einzelnen Aspekten der Lebensqualität gestellt.
Ausgelöst durch die negativen Begleitaspekte des Wirtschaftswachstums
haben sich verschiedene Wachstumskonzepte entwickelt. Das Spektrum
reicht von einem klaren Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum bis zu einer
fundamentalen Ablehnung mit der Forderung, Wachstum zu reduzieren.
Diese Konzepte werden in Kapitel 5 beschrieben. Das BIP ist seit Langem
das anerkannte Mass für die Messung von Wirtschaftswachstum. Weil es
gesellschaftlich zentrale Wohlfahrtsaspekte nicht abdeckt, sind alternative
Messkonzepte entstanden. Einzelne davon sowie der liechtensteinische
Ansatz zur Wohlfahrtsmessung werden in diesem Kapitel beschrieben.
Im zweiten Teil – Kapitel 6 bis 8 – rückt Liechtenstein in den Fokus.
Die liechtensteinische Wirtschaftspolitik ist Inhalt von Kapitel 6. Welches
waren die wirtschaftspolitischen Ziele in den vergangenen 20 Jahren und
inwiefern sind sie erreicht worden? Die Erreichung zu messen ist schwer,
wenn die Ziele nicht konkret formuliert sind. Wir versuchen trotzdem,
einige zentrale Ziele der Wirtschaftspolitik zu bewerten.
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Kapitel 7 trägt die Überschrift « Wachstumsperspektiven Liechtenstein ». Was
wäre, wenn die Wirtschaftspolitik weiterhin auf Wachstum ausgerichtet
würde ( Growth )? Was wäre, wenn Umweltaspekte stärker als heute
berücksichtigt würden ( Green Growth ), und was wäre, wenn ein radikaler
gesellschaftlicher Wandel einträte und negatives Wachstum zum Ziel
würde ( Degrowth )? Das Kapitel zeichnet mögliche Entwicklungen auf –
unter den Annahmen dieser drei Szenarien, die abschliessend grob quanti-
fiziert werden.
In Kapitel 8 fassen wir das Wichtigste zusammen und schliessen mit Emp-
fehlungen für die Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre. Diese sind geprägt
von der Überzeugung, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung in den
kommenden Jahrzehnten in wesentlichen Aspekten deutlich von derjeni-
gen der letzten Dekaden unterscheiden wird.
TEIL 1 – WACHSTUM IM INTERNATIONALEN KONTEXT
1. Warum uns Wachstum beschäftigt
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1 | Warum uns Wachstum beschäftigt
Die wirtschaftliche Entwicklung Liechtensteins ist beeindruckend. Noch
vor einigen Jahrzehnten ein ärmlicher Agrarstaat, gehört das Land heute
zu den globalen Spitzenreitern, gemessen am BIP pro Kopf. Die Nachfra-
ge nach Arbeitskräften ist anhaltend hoch. Sie hat gerade in den Jahren
vor der Pandemie noch einmal stark zugelegt. In Kombination mit einer
restriktiven Zuwanderungspolitik führt sie dazu, dass neue Stellen vorwie-
gend durch zupendelnde Arbeitskräfte aus dem Ausland besetzt werden
müssen. Mittlerweile arbeiten mehr Menschen in Liechtenstein als dort
wohnen.
Hoher Wohlstand bei geringer Steuerbelastung sind – neben anderen – die
für einen grossen Teil der Bevölkerung positiven Folgen dieser Entwicklung.
Es zeigen sich aber auch zunehmend negative Begleiterscheinungen. Sicht-
und spürbar sind das hohe Verkehrsaufkommen und der Landverbrauch
im Kleinstaat. Global dominiert der durch umweltschädliche Emissionen
verursachte Klimawandel die Diskussion darüber, wie Wachstum, Umwelt
und Gesellschaft nachhaltig in Einklang gebracht werden können. Es ist
also nicht nur ein liechtensteinisches Phänomen, dass zunehmend Kritik an
den heutigen Wirtschaftssystemen laut wird und neue oder zumindest an-
gepasste wirtschaftliche und gesellschaftliche Konzepte gefordert werden.
Angesichts der aktuellen Herausforderungen
ist eine zielgerichtete Neuorientierung der
Wirtschaftspolitik notwendig.
Kurz nach der Gründung der Stiftung Zukunft.li führte das Liechten-
stein-Institut in ihrem Auftrag eine Expertenumfrage zu den Zukunftsper-
spektiven Liechtensteins und der Region durch ( Marxer, Brunhart, Büsser
& Märk-Rohrer, 2015 ). Zur Frage des Wirtschaftswachstums äusserten
sich viele Befragte einerseits zuversichtlich, weil Unternehmertum, stabi-
le Sozialpartnerschaft, hohe Flexibilität und kurze Wege wirtschaftliches
Wachstum förderten. Andererseits warnten viele vor einem ungebremsten
quantitativen Wachstum, das auf Kosten von Natur oder Gesellschaft gehe
und deshalb nicht nachhaltig sei.
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Die demografische Entwicklung, die Klimapolitik und die zunehmenden
Möglichkeiten der Digitalisierung werden die wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Veränderungen der nächsten Jahrzehnte prägen. Liechten-
stein ist aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur stark von der internationalen
Entwicklung abhängig. Gerade deshalb ist es von zentraler Bedeutung,
dass das Land in Bereichen, in denen es überhaupt über eigenen Hand-
lungsspielraum verfügt, eine möglichst klare und zielgerichtete Wirtschafts-
politik verfolgt. Aufgrund der erwähnten Trends wird sie aber in grösserem
Rahmen zu denken sein, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Diese Fragen und Herausforderungen haben zur Entscheidung geführt,
diese Studie zu verfassen – mit dem Ziel, Zusammenhänge aufzuzeigen,
alternative Wachstumskonzepte zu thematisieren, mögliche Entwicklungs-
pfade zu skizzieren und schliesslich Empfehlungen für die mittel- und lang-
fristige Wirtschaftspolitik Liechtensteins zu erarbeiten.
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2. Das Wachstum im Rückblick
2.1 BIP – die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
2.2 BNE – die Entwicklung des Bruttonationaleinkommens
2.3 Fazit zur Entwicklung von BIP und BNE
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Abbildung 1:
Entwicklung Welt-BIP
ab 1500 ( real )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2 | Das Wachstum im Rückblick
2.1 BIP – die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
Das BIP dient als Messgrösse für das Wirtschaftswachstum von Volkswirt-
schaften. Einleitend werfen wir deshalb einen kurzen Blick auf die BIP-Ent-
wicklung in Liechtenstein und im Ländervergleich. Das BIP entspricht dem
Wert der gesamten Produktion von Gütern und Dienstleistungen ( abzüg-
lich Vorleistungen ), die während eines Jahres in einem Land produziert
werden. Nimmt dieser Wert zu, wächst die Wirtschaft in einem Land.
Historisch betrachtet ist globales Wachstum ein relativ junges Phänomen.
Die Menschheit ist ca. 300´000 Jahre alt. Während der ersten 99.9 %
dieses Zeitraums lebten die Menschen in wirtschaftlicher Stagnation. Vor
dem 18. Jahrhundert wuchsen Volkswirtschaften von Zeit zu Zeit, aber es
gab nie längere Phasen mit Wirtschaftswachstum. Der Normalzustand war
keine wachsende, sondern vielmehr eine stationäre Wirtschaft. Erst mit der
industriellen Revolution gelang es Unternehmen und Ländern, Kapital in
grösserem Umfang zu akkumulieren und gewinnbringend zu investieren.
Sie führte ab dem 19. Jahrhundert zu enormem wirtschaftlichem Auf-
schwung, der sich seither – ausgehend von England – auf grosse Teile der
Welt ausgeweitet hat.
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Wachstum ist ein junges Phänomen: Erst in
den letzten rund 250 Jahren haben sich das
BIP und das BIP pro Kopf stark erhöht.
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Abbildung 2:
Durchschnittliches jährliches
BIP-Wachstum, 1990 – 2019
( real, lokale Währung )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
In Liechtenstein ist das BIP in den letzten 30 Jahren um durchschnittlich
2.5 % jährlich gestiegen. Ein Vergleich mit den ausgewählten grossen und
sehr kleinen Volkswirtschaften zeigt einen Anstieg des realen BIP in allen
Ländern. Allerdings verzeichneten fünf Kleinstaaten in dieser Ländergruppe
das stärkste Wachstum.
Abbildung 3 zeigt, dass – über einen noch längeren Zeitraum und in Dekaden
betrachtet – die meisten Staaten in den vergangenen 20 Jahren zum Teil
deutlich tiefere BIP-Wachstumsraten ausgewiesen haben als vor der Jahr-
tausendwende. Das schweizerische Staatssekretariat für Wirtschaft schätzt
auf Basis eines Referenzszenarios zur Bevölkerungsentwicklung ( rückläu-
figes Wachstum der Erwerbsbevölkerung ), dass das jährliche Potenzial-
wachstum für die Schweiz bis 2040 auf 1.1 % sinkt. Der Rückgang des
Potenzialwachstums ist die Folge der Stagnation der Erwerbsbevölkerung.
Zukünftig kann in diesem Szenario Wachstum nur noch durch die Produk-
tivitätsentwicklung entstehen. Für Liechtenstein sind keine entsprechenden
Schätzungen verfügbar, aber durch die starke Exportorientierung ist davon
auszugehen, dass das liechtensteinische Potenzialwachstum dem interna-
tionalen bzw. globalen Trend folgen wird.
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Abbildung 3:
Durchschnittliches jährliches
BIP-Wachstum, 1971 – 2019
( real, Basisjahr 2019 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1971 – 1980
1981 – 1990
1991 – 2000
2001 – 2010
2011 – 2019
Abbildung 4a:
Grössere Staaten
BIP pro Kopf, 1990 – 2020 ( real,
indexiert, Basisjahr 2010 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Schweden
Dänemark
Deutschland
Schweiz
Italien
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2011-2019
2001-2010
1991-2000
1981-1990
1971-1980
SchwedenFinnlandDeutschlandÖsterreichLuxemburgSchweizLiechtenstein
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2011-2019
2001-2010
1991-2000
1981-1990
1971-1980
Das BIP wird auch durch eine Zunahme der Bevölkerung angetrieben. Um
den Wohlstand einer durchschnittlichen Person in einem Land zu messen,
dividiert man das BIP durch die Bevölkerungszahl ( BIP pro Kopf ). Das BIP
pro Kopf ist im Ländervergleich in den letzten 30 Jahren bei der Mehrzahl
der kleineren Staaten stärker gestiegen als bei den grösseren Volkswirt-
schaften, allen voran in Malta ( +173 % ) und Estland ( +111 % ). In Liechten-
stein hat der Pro-Kopf-Wert um 53 % zugelegt ( Abbildung 4 b).
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Der sogenannten Konvergenz-Hypothese2 folgend, wäre zu erwarten, dass
das BIP pro Kopf in Ländern mit einem tiefen Ausgangswert schneller
ansteigt als in Ländern mit einem höheren Ausgangspunkt. Abbildung 5
stellt das BIP pro Kopf im Jahr 1990 dem durchschnittlichen jährlichen
Wachstum von 1990 bis 2019 gegenüber. Tatsächlich weist das Land mit
dem tiefsten Ausgangswert das stärkste Wachstum auf ( Estland ). Die
bedingte Konvergenz ist – mit Ausnahmen – sichtbar: Die meisten euro-
päischen Länder sowie die USA konvergieren zu einem ähnlichen Wert.
Liechtenstein und Luxemburg verzeichnen relativ zu den bereits höchsten
Ausgangswerten zusätzlich hohe Wachstumsraten. Die ähnlichen Rahmen-
bedingungen ( u. a. viele zupendelnde Arbeitskräfte ) dieser beiden Länder
dürfte eine ( Teil- )Erklärung für diese ähnliche Entwicklung sein.
2 Das BIP pro Kopf konvergiert in der
längeren Frist in allen Ländern zu einem
bestimmten Wert. Heute geht man
nicht mehr von einer absoluten, son-
dern von einer bedingten Konvergenz
aus: Länder mit ähnlichen Rahmen-
bedingungen konvergieren in der
langen Frist zum selben BIP pro Kopf.
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Estland
Luxemburg
Malta
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Andorra
Liechtenstein
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Abbildung 4b:
Kleinere Staaten
BIP pro Kopf, 1990 – 2020 ( real,
indexiert, Basisjahr 2010 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Malta
Estland
Luxemburg
Island
Liechtenstein
Andorra
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Abbildung 5:
BIP-pro-Kopf-Wachstum
1990 – 2019 im Vergleich zu
BIP pro Kopf 1990 ( kaufkraft-
bereinigt )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
0 20'000 40'000 60'000 80'000 100'000
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Estland
LuxemburgIsland
USA
Schweiz
Schweden
Liechtenstein
Italien
Deutschland
Finnland
Dänemark
Österreich
in
%
BIP pro Kopf
Aufgrund der Datenverfügbarkeit wurde für Estland das Jahr 1995 statt 1990 verwendet. Für Liechtenstein
sind die Daten nicht kaufkraftbereinigt verfügbar. Deshalb wird der für die Schweiz verwendete Faktor an-
gewendet. Dies kann zu einer gewissen Verzerrung der Werte führen.
2.2 BNE – die Entwicklung des Bruttonationaleinkommens
Aufgrund seiner besonderen Arbeitsmarktstruktur ist für Liechtenstein das
international weniger verwendete BNE das geeignetere Wohlstandsmass.
Es bildet das Gesamteinkommen aus Löhnen und Kapitaleinkommen ab,
das der inländischen Bevölkerung zufliesst ( Inländerprinzip ), während das
BIP das in einem Land generierte Gesamteinkommen ( Inlandprinzip ) misst.
Zu Vergleichszwecken wird das BNE pro Kopf der Bevölkerung berechnet.
Die Arbeitseinkommen der Zupendelnden reduzieren das BNE gegenüber
dem BIP. Umgekehrt erhöhen die Netto-Kapitaleinkommen aus dem Aus-
land das BNE gegenüber dem BIP ( z. B. Beteiligungserträge eines liechten-
steinischen Unternehmens an einer ausländischen Tochtergesellschaft oder
Vermögenserträge von Privaten aus ausländischen Finanzanlagen ).
In vielen Ländern liegen BIP und BNE pro Kopf nicht weit auseinander. Aus-
nahmen zeigen sich dort, wo der Arbeitsmarkt durch einen hohen Anteil
von Zupendelnden geprägt ist und damit ein relevanter Teil des Arbeits-
einkommens ins Ausland abfliesst. Oder dort, wo prozentual hohe Kapital-
einkommen aus dem Ausland zufliessen bzw. ins Ausland abfliessen. Zu
solchen Ländern zählen insbesondere Liechtenstein und Luxemburg mit
Zupendlerquoten von 56 % bzw. 41 %. Aus diesem Grund ist ein Vergleich
des BNE pro Kopf vor allem unter kleineren Staaten aufschlussreich. Die
Schweiz wird im Folgenden ebenfalls für Vergleiche herangezogen.
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Das liechtensteinische BNE ist im internatio-
nalen Vergleich sehr hoch. In der Schweiz ist
das BNE pro Kopf nur rund halb so hoch.
Das liechtensteinische BNE hat sich in jüngster Zeit stark dem BIP angenä-
hert bzw. es 2017 und 2018 sogar übertroffen. Gemäss Brunhart ( 2020 )
sind neben finanzmarktbedingten höheren Vermögenseinkommen auch
das starke Auslandswachstum liechtensteinischer Unternehmen sowie
Produktionsauslagerungen Gründe für diese Entwicklung. Letztere be-
wirken höhere Einkommen der liechtensteinischen Stammhäuser aus dem
Ausland. Aufgrund der schwankenden Kapitaleinkommen verläuft die Ent-
wicklung des BNE in Liechtenstein generell volatiler als diejenige des BIP.
Abbildung 6 illustriert die Entwicklung des BNE pro Kopf für die betrachteten
Kleinstaaten und die Schweiz. Liechtenstein weist wiederum das grösste
BNE pro Kopf mit einem starken Anstieg zwischen 2015 und 2019 auf. In
Luxemburg und der Schweiz ist das kaufkraftbereinigte BNE pro Kopf nur
rund halb so hoch.
Abbildung 6:
BNE pro Kopf, 2010, 2015
und 2020, ( Basisjahr 2020,
kaufkraftbereinigt )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2010
2015
2020
0
20'000
40'000
60'000
80'000
100'000
2020
2015
2010
EstlandMaltaIslandLuxemburgSchweizLiechtenstein
BN
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P
PP
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2020
2015
2010
Liechtenstein: 2019 statt 2020
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2.3 Fazit zur Entwicklung von BIP und BNE
Wachstum ist ein junges Phänomen: Erst in den letzten rund 250 Jah-
ren haben sich das BIP und das BIP pro Kopf stark erhöht.
In den letzten 30 Jahren ist das BIP in Liechtenstein um rund 2.5 % pro
Jahr gewachsen.
Die BIP-Wachstumsraten liegen in den meisten Vergleichsländern nach
der Jahrtausendwende deutlich tiefer als in den 30 Jahren davor.
Die kleineren Länder verzeichnen höhere BIP-Zuwachsraten als die grös-
seren Volkswirtschaften.
Das liechtensteinische BNE ist im internationalen Vergleich sehr hoch.
Sogar in der Schweiz liegt das BNE pro Kopf nur bei rund der Hälfte.
24
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3. Die Quellen des Wachstums
3.1 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren des Arbeitspotenzials
3.1.1 Arbeitszeiten und -entwicklung im Ländervergleich
3.1.2 Die Erwerbsquote
3.1.3 Der Altersquotient
3.1.4 Die Entwicklung der Beschäftigung in Liechtenstein
3.1.5 Zwischenfazit zum Arbeitspotenzial
3.2 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität
3.2.1 Produktivitätsentwicklung im Ländervergleich
3.2.2 Bestimmungsfaktor technischer Fortschritt
3.3 Haupttreiber des Wachstums: Arbeitsstunden oder Produktivität?
3.3.1 Zwischenfazit zu Arbeitsproduktivität und Arbeitsstunden
3.4 Die Bedeutung der Rahmenbedingungen, der Wirtschaftspolitik
und der natürlichen Ressourcen
3.5 Unendliches Wachstum wünschbar und möglich?
3.6 Marktversagen bei Umweltgütern
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3 | Die Quellen des Wachstums
Woher kommt das Wirtschaftswachstum grundsätzlich? Abbildung 7 ver-
deutlicht zunächst, dass es zwei direkte Quellen des Wachstums gibt:
Entweder es werden mehr Arbeitsstunden geleistet oder die Produktion
pro geleistete Arbeitsstunde – die Arbeitsproduktivität – steigt.3 Die Abbil-
dung zeigt auch, dass Arbeitsstunden und Produktivität von den Rahmen-
bedingungen, den wirtschaftspolitischen Entscheidungen sowie den natür-
lichen Ressourcen abhängen und damit einen Einfluss auf das Wachstum
haben.
Wir analysieren vorerst die Entwicklung der Arbeitsstunden und der
Produktivität und gehen am Ende des Kapitels auf die übergeordneten
Einflussfaktoren ein.
3 Üblicherweise wird die Arbeitsproduk-
tivität berechnet, indem das reale BIP
durch die Anzahl geleisteter Arbeits-
stunden dividiert wird.
Abbildung 7:
Bestimmungsfaktoren des
Wirtschaftswachstums
Quelle: Eisenhut & Sturm ( 2022 ),
eigene Darstellung
Rahmenbedingungen, Wirtschaftspolitik, natürliche Ressourcen
Wachstum BIP pro Kopf
Mehr Arbeitsstunden Höhere Produktivität
Technischer
Fortschritt
Mehr
Human-
kapital
Mehr
Sachkapital
Mehr
Arbeitsstunden
pro Erwerbstätigen
Mehr
Erwerbstätige
Abbildung 7 gliedert die beiden direkten Wachstumsquellen in ihre Bestim-
mungsfaktoren. Eine Zunahme von Arbeitsstunden kann durch mehr Er-
werbstätige ( z. B. höhere Erwerbsquote, Zuwanderung, Zupendelnde ) oder
durch einen Anstieg der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen ( z. B. höhere
Arbeitspensen, Erhöhung der Arbeitszeit ) erreicht werden.
Die Bestimmungsfaktoren für die Arbeitsproduktivität sind das Sach-
bzw. Realkapital pro Arbeitskraft ( z. B. Maschinen, Fahrzeuge ), das Human-
kapital ( Wissen und Fähigkeiten der Erwerbstätigen ) sowie der technische
Fortschritt ( z. B. smarte Vernetzung und künstliche Intelligenz ).
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3.1 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren des Arbeitspotenzials
Die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden beeinflusst die Wirtschafts-
leistung wesentlich. Die Anzahl erwerbstätiger Personen und die durch-
schnittliche Wochen- bzw. Jahresarbeitszeit sind dafür die bestimmenden
Determinanten.
In diesem Kapitel sind folgende Indikatoren interessant:
Die Erwerbsquote eines Landes misst den Anteil Erwerbspersonen
an der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter und schliesst im
Gegensatz zur Erwerbstätigenquote auch die Personen auf Arbeits-
suche mit ein.4
Die Anzahl Arbeitsstunden, gemessen als Normalarbeitsstunden oder
tatsächliche Arbeitsstunden, pro Woche oder pro Jahr.
In fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die Erwerbstätigen- bzw.
Erwerbsquote der Frauen eine wichtige Grösse, weil die Mobilisie-
rung der Frauen für den Arbeitsmarkt oft das grösste Potenzial zur
Steigerung der geleisteten Arbeitsstunden im Markt aufweist.
Der Altersquotient zeigt das Verhältnis der über 65-Jährigen zu den
15- bis 64-Jährigen.
Die Entwicklung der Beschäftigung in Liechtenstein.
3.1.1 Arbeitszeiten und -entwicklung im Ländervergleich
Weltweit betrachtet ist eine deutliche Tendenz bei den Arbeitszeiten fest-
zustellen: Sie werden kürzer, je reicher die Länder sind. Dieser Zusammen-
hang zeigt sich nicht nur im Ländervergleich, sondern auch im Zeitverlauf
für die einzelnen Länder. Seit der industriellen Revolution hat sich in früh
industrialisierten Ländern die durchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstäti-
gen etwa halbiert ( von 3´000 auf 1´500 Stunden pro Jahr ( Owid, 2022c ).
4 Unter Annahme einer einigermassen
stabilen Erwerbslosenquote verläuft die
Entwicklung der Erwerbstätigenquote
gleich wie diejenige der Erwerbsquote.
Die folgenden Ausführungen und Dar-
stellungen beziehen sich schwerpunkt-
mässig auf die Erwerbsquote.
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Abbildung 8:
Jahresarbeitsstunden und BIP
pro Kopf, 2017, ( kaufkraft-
bereinigt )
Quelle: Owid ( 2022c )
Kreisgrösse = Bevölkerung
0 10'000 20'000 30'000 40'000 50'000 60'000 70'000 80'000 90'000
1'000
1'200
1'400
1'600
1'800
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bs
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tig
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BIP pro Kopf
2'000
2'200
2'400
2'600
Kambodscha
Myanmar
Bangladesch
China
Indien
Nigeria
USA
Deutschland
Niederlande
Schweiz
Luxemburg
Norwegen
Irland
Singapur
Der britische Ökonom John Maynard Keynes prophezeite 1930, dass im
frühen 21. Jahrhundert 15 Stunden Arbeit pro Woche zum Leben reichen
würden. Lag Keynes mit seiner Prognose falsch? Hinsichtlich des Produkti-
vitätswachstums lag er richtig. Und richtig lag er auch mit der Annahme,
dass man sich mit steigendem Einkommen mehr Freizeit leistet. Über-
schätzt hat er aber die Opportunitätskosten des Verzichts auf Arbeit – oder
anders formuliert: Offenbar sind die materiellen Ansprüche an ein « gutes »
Leben stark gestiegen.
Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit liegt bei Vollzeiterwerbs-
tätigkeit für die in Abbildung 9 betrachteten Länder zwischen 38 Stunden
( Dänemark ) und 44 Stunden ( Liechtenstein und Island ) und war in den
meisten Ländern über die letzten zehn Jahre relativ konstant bis leicht
rückläufig ( v. a. Österreich und Deutschland ). Die wöchentliche Norm-
Arbeitszeit vermag allerdings die unterschiedliche Wirtschaftsleistung ( BIP )
der Länder kaum ( allein ) zu erklären. Länder mit einem hohen BIP können
sowohl hohe Wochenarbeitszeiten wie in Liechtenstein als auch tiefe wie
in Luxemburg aufweisen.
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Abbildung 9:
Wöchentliche Arbeitsstunden
bei Vollzeiterwerbstätigkeit,
2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
3.1.2 Die Erwerbsquote
In den Nullerjahren prägte vor allem die Finanzkrise die Entwicklung und
führte zu einem starken Rückgang der Erwerbsbeteiligung. Bis 2018 stieg
sie in den meisten Ländern wieder auf ein ähnliches Niveau wie vor der
Finanzkrise an. Allerdings arbeiteten mehr Beschäftigte als zuvor – freiwillig
oder unfreiwillig – in Teilzeitanstellungen. Verschiedene Länder können
zudem die Potenziale wegen Fachkräftemangels nicht ausschöpfen.
In Liechtenstein stieg die Erwerbsquote zwischen 2006 und 2019 um
vier Prozentpunkte auf 74.8 % an. Seit 1990 erhöhte sie sich in den
meisten betrachteten Ländern. Ausnahmen sind die USA, Dänemark und
Schweden.
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38
40
42
44
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Abbildung 10:
Erwerbsquote 15- bis
64-Jährige, 1990 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
1990 / 2006
2019
Island: 1991 statt 1990
0
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80
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2019
1990/2006
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2019
1990/2006
Die Erwerbsquote der Frauen
In Liechtenstein lag die Frauenerwerbsquote im Jahr 2019 bei 68 % und
damit 6.6 Prozentpunkte höher als im Jahr 2000. Trotz dieses Anstiegs
liegt sie im hinteren Mittelfeld der betrachteten Länder. Zukunft.li schätzt
in einer Publikation vom März 20215, dass das inländische Potenzial einer
Erhöhung der Erwerbstätigkeit der Frauen bei 680 Vollzeitstellen liegt,
wenn man die Schweiz als Referenz heranzieht. Das entspricht rund 2 %
der Beschäftigten ( in VZÄ ).
Wie bei der Gesamterwerbsquote weist Italien 2019 auch bei den Frauen
die tiefste ( 57 % ) und Island die höchste Erwerbsquote ( 84 % ) auf. Sie ist
in den letzten Jahren in vielen Ländern erheblich gestiegen, am stärksten
in Ländern mit einem tiefen Ausgangsniveau. Die Entwicklung wurde vor
allem durch das höhere Ausbildungsniveau und die bessere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie begünstigt. Zudem hat sich das Rollenverständnis
der Frauen wesentlich gewandelt.
Die Frauenerwerbsquote in Liechtenstein
liegt im hinteren Mittelfeld der betrachteten
Länder.
5 « Frauenerwerbstätigkeit. Ver-
gleich – Entwicklung – Hintergründe. »
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Abbildung 11:
Frauenerwerbsquote 15- bis
64-Jährige, 1990, 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1990 / 2000
2019
0
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60
80
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Nehmen die Erwerbsquoten zu, steigt in der Regel die Anzahl geleisteter
Arbeitsstunden. Durch die gleichzeitige Zunahme der Teilzeitarbeit sind die
Arbeitsstunden allerdings nicht in gleichem Masse gestiegen. Die Schweiz
weist mit 26.7 % den zweithöchsten Teilzeitstellenanteil der Welt auf. In
Malta ( 8.7 % ) und Estland ( 9.6 % ) ist Teilzeiterwerb dagegen vergleichs-
weise wenig verbreitet. Da vor allem Frauen in Teilzeit arbeiten ( in der
Schweiz 44 % der erwerbstätigen Frauen ), wirken sich höhere Erwerbsquoten
von Frauen unterproportional auf geleistete Arbeitsstunden aus. Im Ver-
gleich zur Schweiz weisen Beschäftigte in Liechtenstein zwar einen höhe-
ren durchschnittlichen Beschäftigungsgrad auf ( 2019: 86 % gegenüber
78 % in der Schweiz ). Es zeigt sich aber in beiden Ländern eine Abnahme
über die letzten 20 Jahre.
Die Erhöhung der Erwerbsquote und des Beschäftigungsgrads der Frauen
stellt in Ländern mit einer bereits hohen Quote einen wesentlichen Pfeiler
für die Steigerung der Anzahl geleisteter Arbeitsstunden dar.
Die Erwerbsquote und das BIP
Der Vergleich mit der BIP-Entwicklung zeigt, dass Länder wie Malta und
Luxemburg, in denen die Erwerbsquote am stärksten gestiegen ist, gleich-
zeitig auch am stärksten wirtschaftlich gewachsen sind. Länder mit einer
höheren Erwerbsquote weisen zudem in der Tendenz ein höheres BIP pro
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Abbildung 12:
BIP pro Kopf real und
Erwerbsquote, 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Kopf auf. Liechtenstein und Luxemburg stellen mit einem ausserordent-
lich hohen BIP pro Kopf und einer eher tiefen Erwerbsquote Ausnahmen
dar. Beiden Ländern ist gemeinsam, dass ein hoher Anteil der geleisteten
Arbeitsstunden durch zupendelnde Arbeitskräfte erbracht wird.
Erwerbsquote in %
50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
0
20'000
40'000
60'000
80'000
100'000
120'000
140'000
160'000
Liechtenstein
Luxemburg
Schweiz
Island
Dänemark
Österreich
Schweden
DeutschlandFinnland
Europa (EU-27)
Italien
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3.1.3 Der Altersquotient
Die alternde Gesellschaft lässt in fortgeschrittenen Volkswirtschaften den
Altersquotienten in den meisten Ländern ansteigen. Ohne Kompensation
durch Zuwanderung oder durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frau-
en und Älteren sinkt die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden und – bei
ansonsten gleichbleibenden Bedingungen – die Wirtschaftsleistung.
Der Altersquotient liegt in Liechtenstein gegenüber den Vergleichsländern
im unteren Bereich, verzeichnete aber zwischen 2005 und 2019 einen
starken Anstieg von 14 % auf 27 %. Der Anteil der über 65-Jährigen hat
zwischen 2007 und 2017 in keinem der EU- / EFTA-Staaten so stark zuge-
nommen wie in Liechtenstein. Er ist in den letzten 30 Jahren in den meis-
ten Vergleichsländern auch stark gestiegen ( mit Ausnahme von Luxemburg
und Schweden ). In Italien und Finnland liegt er am höchsten. Luxemburg
ist das einzige Land mit einem stabilen Verhältnis auf tiefem Niveau.
Die Alterung der erwerbstätigen Bevölkerung kann die Arbeitsproduktivität
beeinflussen. Sie nimmt in jüngeren Jahren zuerst dank mehr Erfahrung,
grösserem Wissensschatz etc. zu, ab einem gewissen Alter beginnt sie hin-
gegen zu sinken ( abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit, verringerte
32
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Lernfähigkeit, Lohnrigidität etc. ). Da ein grosser Anteil der in Liechtenstein
geleisteten Arbeitsstunden von Zupendelnden erbracht wird ( siehe fol-
gendes Kapitel ), hat der Altersquotient einen geringeren Einfluss auf die
Arbeitsproduktivität.
Abbildung 13:
Altersquotient, 1990 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1990
2019
0
5
10
15
20
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35
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1990
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nt 2019
1990
3.1.4 Die Entwicklung der Beschäftigung in Liechtenstein
Der liechtensteinische Arbeitsmarkt hat sich in der Vergangenheit sehr
dynamisch entwickelt. Die Anzahl der Beschäftigten ist von 1998 bis 2020
( Abbildung 14 ) um 69 % auf über 40´000 ( +16´473 ) gestiegen ( AS 2022l ).
Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften konnte vor allem durch Zu-
pendelnde gedeckt werden. Deren Zahl stieg von 8´900 auf 22´500 an. Der
gesamte Zuwachs der Beschäftigten ist somit zu rund 83 % auf Einstellun-
gen von Erwerbspersonen aus dem Ausland zurückzuführen.
Der Anteil der Zupendelnden an den Beschäftigten lag 2020 bei 56 % mit
weiter ansteigender Tendenz, und dieser Personenkreis ist im Vergleich zu
den inländischen Erwerbstätigen jünger.
Die wichtigste Quelle für das Wirtschafts-
wachstum in Liechtenstein sind die Arbeits-
kräfte aus dem Ausland.
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Abbildung 14:
Beschäftigte in Liechtenstein,
1998 – 2020
Quelle: AS ( 2022l )
Zupendler
Inländer
Die wichtigste Quelle für den Anstieg der Arbeitskräfte in Liechtenstein
sind somit die Erwerbspersonen aus dem Ausland. Seit 2017 zählt Liech-
tenstein deshalb mehr Beschäftigte als Einwohner.
0
5'000
10'000
15'000
20'000
25'000
30'000
35'000
40'000
45'000
Zupendler
Inländer
20
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17
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09
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20
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19
99
19
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3.1.5 Zwischenfazit zum Arbeitspotenzial
Die Arbeitszeiten werden kürzer, je reicher die Länder sind.
Die Erwerbsquote ( v. a. auch diejenige der Frauen ) ist in vielen Ländern
gestiegen und hat zu Wachstum geführt.
Liechtenstein weist eine im Vergleich zu anderen Ländern eher tiefere
Erwerbsquote ( vor allem der Frauen ) auf und zeigt damit höheres Stei-
gerungspotenzial auf. Gleiches gilt für den durchschnittlichen Beschäf-
tigungsgrad.
In Ländern mit einer bereits hohen Erwerbsbeteiligung von Frauen und
Männern sowie angesichts der demografischen Entwicklung ist ein An-
stieg der jährlich geleisteten Arbeitsstunden nicht zu erwarten – ausser
durch Zuwanderung, wie in den vergangenen Jahren in Liechtenstein.
Die wichtigste Quelle für den Anstieg der Arbeitskräfte in Liechtenstein
sind die Erwerbspersonen aus dem Ausland.
3.2 Entwicklung und Bestimmungsfaktoren der
Arbeitsproduktivität
3.2.1 Produktivitätsentwicklung im Ländervergleich
Abbildung 15 zeigt die deutlich unterschiedliche Arbeitsproduktivität ( BIP pro
Arbeitsstunde ) im Ländervergleich. Liechtenstein weist kaufkraftbereinigt
34
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Abbildung 15:
BIP pro Arbeitsstunde, 2019
( real, Basisjahr 2015, kauf-
kraftbereinigt )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Für Liechtenstein sind Daten zur Arbeitsproduktivität nicht verfügbar. Deshalb wurde der Indikator nomina-
les BIP pro Arbeitsstunde in lokaler Währung basierend auf dem Deflator für die Schweiz umgerechnet.
Für das wirtschaftliche Wachstum ist nicht das Produktivitätsniveau, son-
dern der Produktivitätsanstieg relevant. Ein Vergleich der ausgewählten
Kleinstaaten zeigt, dass Liechtenstein und Luxemburg zwar eine hohe
Arbeitsproduktivität aufweisen, diese aber zwischen 2000 und 2020 kaum
mehr steigern bzw. nicht einmal halten konnten. Den höchsten Anstieg ab
2001 weisen Estland und Island auf ( Abbildung 16 ).
Das abnehmende Wachstum der
Arbeitsproduktivität stellt für Liechtenstein
eine Herausforderung dar.
Es fällt zudem in vielen Ländern der starke Unterschied zwischen den
Zehnjahresperioden auf. Das durchschnittliche Produktivitätswachstum
zwischen 1980 und 2000 liegt in den meisten Fällen deutlich höher als
nach 2000. Für Liechtenstein sind zwar keine vergleichbaren Daten vor
2005 verfügbar, aber gemessen am BIP pro VZÄ trifft diese Aussage auch
für Liechtenstein zu. Von 2001 bis 2020 ist das Produktivitätswachstum
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nach Luxemburg den zweithöchsten Wert auf, gefolgt von Dänemark und
der Schweiz.
35
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Abbildung 16:
Durchschnittliches jährliches
Produktivitätswachstum,
1980 – 2020
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1980 – 1990
1991 – 2000
2001 – 2010
2011 – 2020
gar negativ. Eine Studie des Liechtenstein-Instituts stellt anhand des BIP pro
erwerbstätige Person auch für Liechtenstein ein stark abnehmendes reales
Arbeitsproduktivitätswachstum fest. In der Schweiz ist der Wert über die
Zeit konstant geblieben ( auf vergleichsweise tiefem Niveau ).
-2
-1
0
1
2
3
4
5
6
2011-2020
2001-2010
1991-2000
1980-1990
Es
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%
2001-2010
1991-2000
Für die Schweiz sind keine Daten für das Jahr 2020 verfügbar. Daher wird der Durchschnitt 2011 – 2019
gezeigt. Für Liechtenstein sind Daten erst ab 2005 verfügbar. Die Daten für Liechtenstein beziehen sich auf
das reale BIP pro VZÄ anstatt auf das reale BIP pro Stunde, um eine längere Zeitreihe abbilden zu können.
Deshalb sind die Entwicklungen in Liechtenstein nur begrenzt mit denen der anderen Länder vergleichbar.
In den meisten Ländern der OECD ist die Produktivität seit der Finanzkrise
nur schwach gewachsen. Als Gründe werden die geringe Unternehmens-,
Investitions- und Innovationsdynamik sowie der Fachkräftemangel ge-
nannt. Die Wirtschaftsstruktur eines Landes ist ein weiterer Einflussfaktor
für Produktivitätsentwicklung und Wirtschaftswachstum. Der Dienstleis-
tungssektor weist im Durchschnitt ein tieferes Produktivitätswachstum
auf, weil Produktivitätsgewinne durch technischen Fortschritt in der Regel
geringer sind. Das heisst: Länder mit einem höheren Industrieanteil zeigen
in der Regel ein höheres und Länder mit einer stärkeren Tertiarisierung
ein tieferes Produktivitätswachstum. Im Finanzsektor dürften verschärfte
Regulierungen ( z. B. Eigenkapitalvorschriften, Meldung von Kundendaten
ins Ausland ) das Produktivitätswachstum gedämpft haben.
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Abbildung 17:
Ausgaben für Forschung und
Entwicklung in % des BIP,
2005 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2005
2019
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2019
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2019
3.2.2 Bestimmungsfaktor technischer Fortschritt
Der technische Fortschritt ist der wesentliche Treiber des Wachstums und
der Arbeitsproduktivität. In den letzten Jahren kam dabei der Digitalisie-
rung ein besonderer Stellenwert zu. Wegen Fachkräftemangel konnten die
Potenziale allerdings oft zu wenig ausgeschöpft werden. Steigert ein Land
sein wirtschaftliches Wachstum über zupendelnde Arbeitskräfte, reduziert
dies tendenziell den Druck zu Innovation und technologischem Fortschritt.
Allerdings spielen Investitionen in Forschung und Entwicklung eine zentrale
Rolle als Treiber des Arbeitsproduktivitätswachstums. In Abbildung 17 fallen
die hohen Investitionen in Liechtenstein auf.
Aussergewöhnlich ist der hohe Anteil von 98 %, den die privaten Unter-
nehmen an den gesamten Ausgaben für Forschung und Entwicklung
beitragen ( AS, 2020 ). Der Staat als Forschungsförderer spielt somit in
Liechtenstein im Gesamtkontext eine äusserst geringe Rolle.
Wie in Abbildung 18 dargestellt, ist eine leicht positive Korrelation zwischen
der Höhe der Investitionen in Forschung und Entwicklung und der Entwick-
lung der Arbeitsproduktivität ersichtlich ( Ausreisser Estland ). Für Liechten-
stein sind keine vergleichbaren Daten verfügbar.
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Abbildung 18:
Investitionen in F&E in % des
BIP ( Durchschnitt 2005 – 2010 )
und Arbeitsproduktivitäts-
wachstum ( real, Durchschnitt
2001 – 2020 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Für Liechtenstein liegen keine vergleichbaren Daten vor. Für die Schweiz waren bei den Investitionen in F&E
nicht alle Jahre verfügbar. Es wurde mit den vorhandenen Werten gerechnet.
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4
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Estland
Luxemburg
Europa (EU-27)
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%
F&E-Investitionen in % des BIP
3.3 Haupttreiber des Wachstums: Arbeitsstunden oder
Produktivität?
Die liechtensteinische Wirtschaft ist in erster Linie durch Arbeitsstunden
gewachsen, das heisst durch einen starken Ausbau der Beschäftigung.
1998 waren rund 24´000 Personen beschäftigt, 2020 mit über 40´000
rund 70 % mehr ( AS, 2022h ). Die wichtigste Quelle für diesen Anstieg der
Beschäftigten sind die Arbeitskräfte aus dem Ausland. Der Wachstums-
beitrag der Produktivität ( gemessen als reales BIP pro VZÄ ) war dagegen
deutlich geringer. Auch das Trendwachstum6 der beiden Komponenten
verlief deutlich unterschiedlich. Seit 2015 zeigen die beiden Kurven in
unterschiedliche Richtungen: bei der Beschäftigung nach oben, bei der
Produktivität nach unten.
Abbildung 19 illustriert die Wachstumsbeiträge von Beschäftigung ( VZÄ ) und
Arbeitsproduktivität für die Jahre 2000 bis 2019. Der Beitrag der Arbeits-
produktivität ist deutlich volatiler als derjenige der Beschäftigung und
teilweise stark negativ.
Diese Entwicklung bereitet Sorge, denn langfristig bestimmt die Produk-
tivität den Lebensstandard. Dem bekannten amerikanischen Ökonomen
Paul Krugman wird folgende Aussage zugeschrieben: « Productivity isn’t
everything, but in the long run it is almost everything. » Anders formuliert:
Die Zahl der Arbeitsstunden, die zur Herstellung aller von uns produzier-
6 Mehrjähriger Durchschnitt der Wachs-
tumsrate
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ten Güter und Dienstleistungen benötigt wird, ist für den Lebensstandard
ausschlaggebend. Je weniger Stunden wir dazu brauchen, desto höher ist
unser Wohlstand.
Abbildung 19:
Wachstumsbeiträge Beschäfti-
gung und Produktivität
zum BIP in Liechtenstein,
2000 – 2019 ( real )
Quelle: Liechtenstein-Institut ( Preis- / Struk-
turbruchbereinigung ) basierend auf
AS ( 2022l )
Wachstumsbeitrag Produktivität
Wachstumsbeitrag Beschäftigung
( VZÄ )
Wachstumsrate reales BIP
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Wachstumsbeitrag Beschäftigung (VZÄ)
Wachstumsbeitrag Produktivität
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Wachstumsrate reales BIP
Abbildung 20 veranschaulicht die Quellen des Wachstums von 2010 bis 2019
im internationalen Vergleich. In der langen Frist zeigt sich eine Produktivi-
tätsverlangsamung.
Diese Verlangsamung bzw. Stagnation wird als Produktivitätsparadox
bezeichnet, weil sie in einer Zeit stattfand, in der wesentliche technische
Entwicklungen erfolgten. Folgende Aspekte werden als die wichtigsten
Erklärungen für das Paradoxon angesehen ( OECD, 2022b ):
Die transformative Natur der heutigen digitalen Technologien ist bislang
deutlich kleiner als bei der Erfindung der Elektrizität, der Verbrennungs-
motoren oder von Telefon und Radio.
Technologische Fortschritte in Bereichen wie zum Beispiel künstliche
Intelligenz, Internet der Dinge, Nano- oder Biotechnologie benötigen
mehr Zeit, bis sie implementiert und vollständig umgesetzt sind.
Der Strukturwandel von der Industrie zu den Dienstleistungen,
insbesondere zu den persönlichen Dienstleistungen, dient als weitere
Erklärung. Die Produktivität im Dienstleistungsbereich ist insgesamt
tiefer als in der Industrie.
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Abbildung 20:
BIP-Wachstumsbeiträge,
2010 – 2019 ( nominal )
Quelle: OECD ( 2022b )
Beschäftigung
Ø Arbeitsstunden pro
Beschäftigten
BIP pro Arbeitsstunde
BIP-Wachstum 2010 – 2019
Auch Messprobleme bei neuen Geschäftsmodellen wie beispielsweise
Plattformökonomien werden teilweise als mitverantwortlich angesehen.
Die damit verbundene, zunehmende Internationalität und Komplexität
von Unternehmensaktivitäten erschweren die Erfassung im BIP.
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BIP pro Arbeitsstunde
Durchschnittliche Arbeitsstunden pro Beschäftigten
Beschäftigung
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BIP-Wachstum 2010 – 2019
In 36 der 43 angeführten Volkswirtschaften sind die durchschnittlichen
Arbeitsstunden pro Beschäftigten gesunken.
Die Wachstumskomponente « Arbeitsstunden » wird durch die abseh bare
demografische Entwicklung in Liechtenstein zukünftig nicht mehr das
gleiche Potenzial aufweisen wie in der Vergangenheit. Zwischen 1960
und 2010 nahm die Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Jahren
im Jahresdurchschnitt um 1.9 % zu ( AS, 2021c ). Nach den vom Amt für
Statistik publizierten « Bevölkerungsszenarien für Liechtenstein. Zeitraum
2015 – 2050. » stagniert diese Altersgruppe allerdings in den nächsten
Jahrzehnten ( AS, 2016 ). Sollte die Produktivität – wie im Durchschnitt der
letzten Jahre – auch in Zukunft nicht ansteigen, bleibt als einzige Wachs-
tumsquelle in Liechtenstein nur eine weitere Zunahme der Grenzgänge-
rinnen und Grenzgänger.
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3.3.1 Zwischenfazit zu Arbeitsproduktivität und Arbeitsstunden
Liechtenstein weist auf hohem Niveau ein tiefes Wachstum der Arbeits-
produktivität auf.
Technologie, Innovation und Bildung sind wichtige Treiber der Arbeits-
produktivität und damit zusammenhängend Investitionen, die diese
Faktoren begünstigen.
Das Produktivitätswachstum hat sich in der Tendenz verlangsamt.
Das wirtschaftliche Wachstum in Liechtenstein und auch in Luxemburg
ist zu wesentlichen Teilen nicht auf Produktivitätssteigerungen, sondern
auf einen Anstieg der geleisteten Arbeitsstunden zurückzuführen,
vorwiegend erreicht durch die Zunahme von Zupendelnden.
3.4 Die Bedeutung der Rahmenbedingungen, der
Wirtschaftspolitik und der natürlichen Ressourcen
Die Wachstumstheorie und die darauf aufbauende empirische Literatur
sind sich weitgehend einig, dass die von der Politik gesetzten Rahmen-
bedingungen für die beiden Wachstumstreiber « Produktivität » und
« Arbeitsstunden » entscheidend sind. Wichtige Faktoren sind das politische
System bzw. seine Stabilität sowie das Vertrauen in das Rechts- und Wirt-
schaftssystem. Diese Aspekte sind meist nur langfristig gestaltbar. Direkter
und kurzfristiger wirkt der Staat auf die Wachstumstreiber durch die Ge-
staltung einzelner Politikbereiche ein.
Die Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik beeinflussen den Einsatz
des Kapitals und der Arbeitskräfte und damit nicht nur den Umfang, son-
dern auch die Art des Wachstums.
Beim Produktionsfaktor « Arbeit » beeinflussen beispielsweise die Arbeits-
marktregulierung, die Sozial- und die Steuerpolitik die Arbeitsmarkt-
partizipation. Wettbewerbspolitik, Aussenwirtschaft, Bildungs- und
Forschungspolitik sowie staatliche Infrastruktur wirken sich auf die Arbeits-
produktivität aus. Eine hohe Regulierungsdichte und zunehmende Regu-
lierungskomplexität werden in verschiedenen Studien als Gründe für das
international sinkende Produktivitätswachstum genannt.
Auch im Umweltbereich setzt der Staat Rahmenbedingungen mit Einfluss
auf das Wachstum. Wenn er nicht dafür sorgt, dass die Preise sämtliche
( externen ) Kosten widerspiegeln und es dadurch zu einer Übernutzung
von Ressourcen kommt, beeinträchtigt das die Wachstumspotenziale in der
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Zukunft. Das aktuell am stärksten diskutierte Beispiel sind die nicht in den
Energiepreisen enthaltenen Kosten, die durch die Klimaveränderungen von
zukünftigen Generationen zu tragen sein werden.
Güter und Dienstleistungen sind das Ergebnis eines Produktionsprozes-
ses, bei dem verschiedene Mittel – die Produktionsfaktoren – eingesetzt
werden. Drei Produktionsfaktoren und ihre Bedeutung haben wir bereits
analysiert: Arbeit ( Arbeitskräftepotenzial ), Kapital ( Sach- und Human-
kapital ) und technischen Fortschritt. Als vierter Produktionsfaktor spielen
die natürlichen Ressourcen ( Boden, Rohstoffe ) eine zentrale Rolle. Der
derzeitige Höhenflug der Rohstoffpreise ist eine Erinnerung daran, dass der
Boden und seine Schätze die Grundlage des Wirtschaftens sind. Für das
rohstoffarme Liechtenstein ist die Knappheit des Bodens bzw. die Raum-
entwicklung eine permanente Herausforderung, sei das für die Bedürfnisse
als Wohn-, Verkehrs-, Produktions- oder Freizeitraum.
Die Kombination der vier Produktionsfaktoren bestimmt, wie viel produ-
ziert werden kann, wie gross also das gesamtwirtschaftliche Angebot ist.
Die Rahmenbedingungen und die Wirtschaftspolitik in Liechtenstein sowie
ihre Wirkungen beleuchten wir in Kapitel 6.
3.5 Unendliches Wachstum wünschbar und möglich?
Sind die Quellen des Wachstums gemäss Abbildung 7 unerschöpflich? Kann
also die Wirtschaft immer weiter wachsen? Die Antwort darauf wird in
jüngerer Zeit vor allem im Kontext einer alternden Bevölkerung und stei-
gender Treibhausgasemissionen ( THG ) zunehmend diskutiert. Der einfluss-
reiche US-Makroökonom Robert Gordon verneint die Frage und prognosti-
ziert Nullwachstum in der mittleren Frist. Nach seiner Einschätzung verfügt
die Digitalisierung nicht über dasselbe Innovationspotenzial wie frühere
technologische Wellen. Er geht deshalb von einem zu Ende gehenden
Produktivitätswachstum aus, das in den weiterentwickelten Staaten aus
demografischen Gründen auch nicht durch ein Arbeitskräftewachstum
kompensiert werden kann.
Andere Ökonomen widersprechen: Das durch die Digitalisierung ausge-
löste Produktivitätswachstum werde sich erst noch manifestieren, wenn
der technologische Fortschritt anhalte und die Unternehmen den Umgang
mit den neuen Technologien zunehmend in ihre Geschäftsprozesse einflies-
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sen liessen. Vertreter dieser Ansicht argumentieren, dass historisch gesehen
die Erfindung neuer Technologien meist zu einer J-Kurve in der Produktivität
geführt hat7.
In diese beiden « Muster » lässt sich der Diskurs über das zukünftige Wachs-
tumspotenzial aufgrund von Produktivitätsfortschritten einordnen.
Ein anderer Diskurs findet in der Beurteilung der Wirkungen des Wachs-
tums auf die Umwelt statt, der grob in zwei Denkrichtungen unterteilt
werden kann: « Die Grenzen des Wachstums » oder « Das Wachstum der
Grenzen ». Ihr zentraler Unterschied bezieht sich auf die Frage der An-
passungsfähigkeit der Wirtschaft zur Lösung der Herausforderungen im
Umweltbereich. Konkret: Ist eine Entkopplung von Wachstum und Res-
sourcenverbrauch möglich?
Unterstützer von « Grenzen des Wachstums » bezweifeln, dass nach-
haltiges Wirtschaftswachstum überhaupt möglich ist. Der Club of Rome
beschrieb schon in den 1970er-Jahren die durch Wachstum verursachten
Umweltschädigungen und warnte davor, dass diverse, für die wirtschaft-
liche Entwicklung wichtige Ressourcen endlich seien. Weil die Autoren den
tech nischen Fortschritt unterschätzten, stellen sich die Prognosen im Nachhi-
nein als zu pessimistisch heraus. Dennoch adressierten sie mit der Endlichkeit
nicht erneuerbarer Ressourcen ein Problem des Wirtschaftswachstums.
Die zweite Denkrichtung geht davon aus, dass dank der Erfindungskraft
der Menschen « das Wachstum der Grenzen » immer weiter ausgelotet
werden kann. Mittels technischen Fortschritts und der unbegrenzten Akku-
mulation von Humankapital und Wissen wird der Ressourcenverbrauch
zunehmend von der Kapital- und Einkommensentwicklung entkoppelt und
generiert so nachhaltiges und qualitatives Wachstum. Erreicht wird das Ziel
durch die Reduktion von ressourcenintensiven und umweltschädigenden
Produktionsprozessen und einen generellen Strukturwandel, in dem Sekto-
ren mit hoher Ressourcenintensität an Bedeutung verlieren.
Der Erfindergeist des Menschen ist eine
unendliche und unerschöpfliche Ressource.
7 J-Kurve: Nach der Erfindung einer bahn-
brechenden neuen Technologie sinkt
die Produktivität zwar zunächst leicht,
steigt aber nach einigen Jahren stark
an. Begründung: Neben der eigent-
lichen Erfindung sind Investitionen in
Prozesse und Fähigkeiten nötig, damit
die Innovation die volle Wirkung auf die
Produktivität entfaltet.
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Der Erfindergeist des Menschen ist eine unendliche und unerschöpfliche
Ressource, oder – wie es der Ökonom Julian Simon formuliert – die ultima-
tive Ressource ( Simon, J. L., 1996 ). Menschen wollen Fähigkeiten einsetzen
und sie weiterentwickeln. Auch in jenen Fällen, in denen es darum geht,
die problematischen Nebenwirkungen des Wachstums beheben zu kön-
nen. Wachstum heisst Entwicklung. « Was Bildung für den Einzelnen ist, ist
Wachstum für eine Gesellschaft », sagte der amerikanische Ökonom und
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ( Stiglitz, 2008, S. 233 ).
3.6 Marktversagen bei Umweltgütern
Wie wir bereits erläutert haben, bestimmen die Quellen des Wachstums
bzw. die Kombination der vier Produktionsfaktoren das gesamtwirtschaft-
liche Angebot. Dabei spielen die Preise eine zentrale Rolle. Sie vermitteln
Informationen über Knappheiten und sorgen dafür, dass die Produktions-
faktoren dort eingesetzt werden, wo die grösste Knappheit herrscht. Die
Knappheitssignale der Preise zeigen auch an, wo sich technischer Fort-
schritt lohnt, und sie lösen damit Investitionen und Innovationen aus.
Schliesslich koordinieren die Preise die Entscheidungen der Anbieter und
Nachfrager und sorgen insgesamt dafür, dass die knappen Ressourcen
effizient eingesetzt werden.
Welches sind die Konsequenzen, wenn die Preissignale nicht funktionieren
und Knappheiten falsch angezeigt werden? Dann führt der Markt zu einer
ineffizienten Allokation der Ressourcen und damit nicht zu einer Optimie-
rung der Wohlfahrt. In diesen Fällen liegt ein Marktversagen vor.
Nirgends tritt das Problem des Marktversa-
gens deutlicher zutage als im Umweltbereich.
Nirgends tritt das Problem des Marktversagens deutlicher zutage als im
Umweltbereich, denn in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen
bleiben die Kosten der Umweltbelastung weitgehend unberücksichtigt. Als
Folge davon werden diese Kosten nicht von den Verursachern, sondern
von der Allgemeinheit getragen. Die Preise von umweltbelastenden Gütern
sind zu tief und senden schliesslich falsche Signale aus, die zu einer Über-
nutzung der Umweltgüter führen. Damit wird das wichtige ökonomische
Prinzip der Kostenwahrheit verletzt: Kostenwahrheit ist « das Grün » der
Ökonomen.
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Der hauptsächliche Grund für das Marktversagen bei Umweltgütern –
insbesondere beim Klima – ist, dass es sich bei ihnen um sogenannte
« Allmendegüter » handelt. Bei Allmendegütern ist es kaum möglich,
jemanden von dessen Konsum auszuschliessen. Zugleich hat der Konsum
durch eine Person Auswirkungen auf den Konsum desselben Gutes durch
andere. Die Tragik der Allmende ( Tragedy of the Commons ) wird bei Treib-
hausgasen deutlich. Die « Benutzung » der Atmosphäre ist nicht ausschliess-
bar. Gleichzeitig ist ihre Kapazität, Treibhausgase aufzunehmen, beschränkt.
Um das Weltklima innerhalb eines bestimmten Korridors zu halten, darf
ein bestimmtes Kontingent an Emissionen nicht überschritten werden. Es
besteht deshalb eine Rivalität um den verbliebenen Treibhausgas-Ausstoss.
Die Gefahr der Übernutzung ist gross, weil es nur schwer möglich ist, je-
manden vom Konsum auszuschliessen. Bei Treibhausgasen ist diese Gefahr
besonders relevant, weil sich die Auswirkungen global verteilen. Weder
einzelne « Verschmutzer » noch einzelne Staaten haben einen direkt spür-
baren Nutzen von Reduktionsmassnahmen. Daraus ergibt sich das rationale
Verhalten als « Trittbrettfahrer ».
Beim Klimaschutz existiert das Allmende-Problem also auf der Ebene der
Weltgemeinschaft, ohne globale Instanz, die Massnahmen beschliessen
und durchsetzen könnte. In ihrer Publikation zu einer wirkungsvollen
Klimapolitik stellen die Autoren des Schweizer Thinktanks Avenir Suisse
fest: « Erschwerend kommt hinzu, dass fast die gesamten Kosten des THG-
Ausstosses gar nicht in der Gegenwart anfallen, sondern erst zukünftige
Generationen treffen. » ( Dümmler & Rühli, 2021, S. 19 ).
Bei der Wachstumsdebatte sind sich alle einig, dass es bei Umweltgütern
zu einem Marktversagen kommt und die Preise deshalb falsche relative
Knappheiten anzeigen. Uneinig ist man sich hingegen bei den daraus
abgeleiteten Forderungen. Sie reichen denn auch von Verboten und
Regulierungen über marktwirtschaftliche Umweltschutzinstrumente bis
zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemänderungen. Den unter-
schiedlichen Wachstumskonzepten widmet sich das Kapitel 5. Vorerst wen-
den wir uns dem « magischen Dreieck » in der Wirtschaftspolitik zu.
3. Telecom
3.1.1. Unternehmensportrait
4 Die Wirkungen des Wachstums auf Umwelt und
Leb squalität
4.1 Ein Trilemma in der Wirtschaftspolitik?
4.2 Zielbeziehung Wachstum und Umwelt
4.2.1 Treibhausgasemissionen
4.2.2 Entkopplung zwischen Wachstum und THG-Emissionen
4.2.3 Fazit zu Wachstum und Umwelt
4.3 Zielbeziehung zwischen Wachstum und Lebensqualität
4.3.1 Die Entwicklung der Zufriedenheit
4.3.2 Wachstum und Ungleichheit
4.3.3 Wachstum und Armut
4.3.4 Fazit zu Wachstum und Lebensqualität
4.4 Zielbeziehung Umwelt und Lebensqualität
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4.1 Ein Trilemma in der Wirtschaftspolitik?
Im Folgenden zeigen wir die Wirkungen des Wachstums und ihre Zielbezie-
hungen zueinander auf. Dabei stehen zwei Fragen im Zentrum der aktuel-
len Wachstumsdebatte:
Nützt oder schadet Wachstum der Umwelt? Ist also eine Welt, die
wächst und das Klima schont, überhaupt möglich?
Erhöht oder beeinträchtigt Wachstum die Lebensqualität?
Die Diskussion um die Zukunftsgestaltung dreht sich primär um das « ma-
gische Dreieck » in der Wirtschaftspolitik: Wachstum, Umwelt und Lebens-
qualität.
Bei der Wahl aus den drei grundsätzlichen Eckpunkten des Dreiecks be-
stehen unterschiedliche Beurteilungen über die Zielbeziehungen ( bzw. die
Trade-offs ) zwischen den drei Grössen, sodass sich die Frage eines Trilem-
mas in der Wirtschaftspolitik stellt: Lässt sich das eine Ziel ( z. B. Wachstum )
verfolgen, ohne dass man sich von den anderen beiden Zielen ( z. B.
Lebensqualität und Umwelt ) entfernt? Ein Nein auf diese Frage bestätigt
das Vorliegen eines Trilemmas. Ein Ja hingegen bedeutet, dass kein Trilem-
ma vorliegt: Wachstum dient demnach der Umwelt und erhöht die Lebens-
qualität.
4 | Die Wirkungen des Wachstums auf Umwelt
und Lebensqualität
Abbildung 21:
Trilemma zwischen Wachstum,
Umwelt und Lebensqualität
Quelle: Eisenhut & Sturm ( 2022 )
Lebensqualität
Wachstum
Umwelt
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enbedingungen
Kritiker gehen davon aus, dass BIP-Wachstum der Umwelt vor allem durch
stetig steigende Treibhausgasemissionen, Übernutzung der natürlichen
Ressourcen, Verschmutzung der Meere usw. schadet und deshalb eine
Abkehr vom heutigen Wachstumskonzept zwingend ist. Und nicht nur
die Umwelt, auch die Lebensqualität leide durch einen systembedingten
Wachstumszwang, der zu höherer Ungleichheit und einem Anstieg der
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relativen Armut führe. Wachstum löse demnach keine Probleme, sondern
verursache sie. Deshalb soll eine hohe Lebensqualität das oberste gesell-
schaftliche Ziel sein und damit gleichzeitig die ökologische Tragfähigkeit
der Erde gesichert werden. Als Voraussetzung dafür sehen Wachstumskriti-
ker eine grundlegende Reform der wirtschaftspolitischen und gesellschaft-
lichen Ordnungssysteme und damit der vom Staat festgelegten Rahmen-
bedingungen.
Für die Vertreter einer grünen Wirtschaft besteht hingegen kein Trilemma.
Sie argumentieren, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wirt-
schaft davon profitiert, wenn die Umweltschutzziele konsequent verfolgt
werden. Der effiziente Einsatz von natürlichen Ressourcen und Energie
gilt für sie als Kernstrategie und Quelle des Wachstums. Und umgekehrt
mache nur wirtschaftliches Wachstum es möglich, die notwendigen Inves-
titionen zum Schutz der Umwelt zu finanzieren, und die richtigen Markt-
und Preismechanismen würden für einen innovativen Strukturwandel in
Richtung grüne Wirtschaft sorgen. Der technologische Fortschritt ermög-
liche die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch.
Eine zentrale Rahmenbedingung dafür sei, dass negative externe Effekte
internalisiert werden, dass also der Preis eines Gutes sämtliche Kosten – in-
klusive sämtlicher Umweltkosten – deckt.
Kostenwahrheit ist «das Grün» der Ökonomen.
In eine ähnliche Richtung gehen Ansichten, dass durch die oben beschrie-
bene « Internalisierung » sämtlicher Kosten die richtigen Anreize geschaffen
und die notwendigen Effekte erzielt werden. Zudem bedeutet Wachstum
für sie nicht einfach « immer mehr », es wird sich zu « immer besser » wan-
deln: leistungsfähigere Handys, bessere medizinische Versorgung, effizi-
entere Heizsysteme, umweltschonende Antriebssysteme usw. Wachstum
bedeutet so gesehen also weder Zwang noch Naturgesetz, sondern das
Ergebnis eines funktionierenden Marktsystems, das der optimalen Befrie-
digung der menschlichen Bedürfnisse dient und damit sehr wohl die drei
Dimensionen unter einen Hut bringt.
In den Kapiteln 2 und 3 haben wir Wirtschaftswachstum und seine Quellen
beschrieben. Im Folgenden wollen wir die Zielbeziehungen von Wachstum,
Umwelt und Lebensqualität unter die Lupe nehmen. Dabei gehen wir den
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Zusammenhängen mit ausgewählten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und ökologischen Indikatoren empirisch nach.
Die Datenanalyse umfasst je nach Indikator die ganze Welt, einzelne
Regionen und insbesondere die schon eingangs angeführten Länder und
Kleinstaaten ( siehe Kapitel Grundlagen, Methodik und Aufbau ).
4.2 Zielbeziehung Wachstum und Umwelt
Dass zwischen der vergangenen wirtschaftlichen Entwicklung und den
Belastungen für die Umwelt ein Zusammenhang besteht, ist mittlerweile
weitgehend unbestritten. In « Beyond Growth: Towards a New Economic
Approach » beschreibt die OECD einerseits die positiven Auswirkungen von
Wirtschaftswachstum, unter anderem steigende Haushaltseinkommen und
Lebensstandards. Sie hält andererseits auch fest, dass die dominierenden
Wachstumsmuster zu Umweltschäden geführt haben.
Der Resilienzforscher und Erdsystemwissenschaftler Johan Rockström hat
zusammen mit anderen Wissenschaftlern 2009 das Konzept der pla-
netaren Grenzen ( Planetary Boundaries ) veröffentlicht. Es definiert die
wichtigsten Dimensionen für die Widerstandsfähigkeit der Erde8 und stellt
eine Abschätzung an, ab welcher Veränderung es zu nicht mehr korrigier-
baren Schäden an der Umwelt kommen kann. Die Autoren kommen zum
Schluss, dass – verursacht durch menschliche Aktivitäten – vier der neun
wichtigsten Dimensionen der planetaren Grenzen in einem besorgniserre-
genden Zustand sind, darunter die Klimastabilität und die Biodiversität.
Biodiversität gilt als eine unverzichtbare Grundlage für funktionsfähige
Ökosysteme und damit als Voraussetzung dafür, dass die Ökosysteme
grundlegende Leistungen für Wirtschaft und Gesellschaft erbringen
können9. Der generelle Nutzen von Biodiversität für die Gesamtwirtschaft
ist hoch. Das WEF schätzt, dass über die Hälfte des globalen BIP mässig
oder stark von der Natur und ihren Ökosystemleistungen abhängig ist.
4.2.1 Treibhausgasemissionen
Wirtschaftswachstum geht bis anhin mit steigendem THG-Ausstoss einher.
Allein zwischen 2000 und 2020 hat sich der weltweite CO2-Ausstoss um
annähernd 40 % erhöht ( Owid, 2022a ). Der Klimawandel durch Treibhaus-
gase stellt eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit dar. Die Frage
des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Treib-
hausgasemissionen ist deshalb von zentraler Bedeutung. Dass die Verbren-
8 Biodiversität, Klimastabilität, bio-
chemische Kreisläufe, Abhol-
zung / Änderung der Landnutzung,
Ozeanversauerung, Süsswassernutzung,
Belastung der Atmosphäre mit Aerosolen
und Freisetzung von neuartigen Stoffen.
9 Darunter fallen etwa Trinkwasser und
Atemluft, Nahrung für Mensch und
Tier, Rohstoffe, Schutz vor Naturkata-
strophen oder attraktive Landschaften
für die Erholung, das Wohlbefinden
und die Gesundheit der Menschen.
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nung fossiler Brennstoffe die CO2-Konzentration in der Atmosphäre stark
ansteigen und das Klima verändern würde, hatte der Club of Rome 1972
prognostiziert und 43 Jahre vor dem Pariser Klimatreffen Maximalgrenzen
gefordert. So falsch er in Bezug auf die langfristige Verfügbarkeit von Roh-
stoffen lag, bei diesem Thema sollte er recht behalten ( Schneider & Müller,
2022 ).
Das Emissionswachstum war bis Mitte des 20. Jahrhunderts gering. 1950
wurden weltweit etwa 6 Milliarden Tonnen CO2 emittiert. Nach dem Zwei-
ten Weltkrieg ist der Ausstoss rasant gestiegen und liegt heute bei rund
35 Milliarden Tonnen pro Jahr. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren
die USA und Europa hauptverantwortlich für die weltweiten Emissionen.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein starker Anstieg der
Emissionen in Asien ( v. a. in China und Indien ) zu beobachten. Asien ist
gegenwärtig für mehr als 50 % der weltweiten CO2-Emissionen pro Jahr
verantwortlich ( Owid, 2022a ).
Abbildung 22:
CO2-Ausstoss, global,
1850 – 2020
Quelle: Owid ( 2022a )
Internationaler Transport
Ozeanien
Indien
China
Übriges Asien
Südamerika
USA
Übriges Nordamerika
EU-28
Europa ohne EU-28
Afrika0
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Internationaler Transport
Ozeanien
Indien
China
Übriges Asien
Südamerika
USA
Übriges Nordamerika
EU-28
Europa ohne EU-28
Afrika
2000195019001850
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Kumuliert wurden weltweit seit 1750 rund 1.5 Trillionen Tonnen CO2
ausgestossen. 25 % davon stammen historisch aus den USA. Den zweiten
Platz belegt China mit einem Anteil von 13 %.
Es erstaunt nicht, dass bevölkerungsreiche Länder einen hohen Ausstoss
aufweisen. Entscheidend ist jedoch auch der CO2-Ausstoss pro Person.
Dabei zeigt die Weltkarte ein starkes Nord-Süd-Gefälle. Südamerika, Afrika
und Südostasien weisen pro Kopf der Bevölkerung einen Ausstoss von we-
niger als fünf Tonnen aus. In den USA beläuft er sich auf rund 16 Tonnen.
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In der Regel sind die Pro-Kopf-Emissionen dort besonders gross, wo das
Einkommen ebenfalls hoch ist. Das BIP und die Höhe der Emissionen sind
also miteinander verknüpft ( Owid, 2022a ).
Bei den obigen Daten handelt es sich um produktionsbasierte Emissionen.
Die THG werden in folgende Arten unterschieden:
Weisse THG umfassen Emissionen, die im Land selbst emittiert werden
( produktionsbasiert ).
Graue THG entstehen bei der Produktion und beim Transport der aus
dem Ausland importierten Waren und Dienstleistungen. Ihr Anteil an
den gesamten THG eines Landes kann sehr hoch sein. In der Schweiz
betrug er im Jahr 2018 65 % der gesamten – weissen und grau-
en – Emissionen. Diverse Studien haben aufgezeigt, dass die Reduktion
der statistisch ausgewiesenen landesweiten ( weissen ) Emissionen oft
auch darauf zurückzuführen ist, dass emissionsintensive Tätigkeiten ins
Ausland verlagert wurden.
Konsumorientierte Emissionen: Aufschlussreich ist daher die Betrach-
tung der konsumorientierten Emissionen, also weisse Emissionen plus
Saldo aus Import und Export ( Emissionstransfers ).
BIP-Entwicklung und Klimawandel beeinflussen sich gegenseitig. Einerseits
erhöht Wachstum den THG-Ausstoss und beschleunigt den Klimawandel.
Andererseits können die Folgen des Klimawandels, etwa Dürren, Brände
oder Hochwasser, die Entwicklung des BIP bremsen.
4.2.2 Entkopplung zwischen Wachstum und THG-Emissionen
Wie schon erwähnt, ist die relevante Frage, ob Wirtschaftswachstum lang-
fristig mit abnehmender oder sogar ohne weitere Klimabelastung möglich
ist. Lassen sich also Wachstum und THG-Emissionen entkoppeln? Und
wenn ja, wie stark und wie schnell?
Relative Entkopplung bedeutet, dass die Emissionen weniger ansteigen als
das BIP. Bei einer absoluten Entkopplung sinken sie bei steigender Wirt-
schaftsleistung.
Die Umwelt-Kuznets-Kurve beschreibt folgenden Zusammenhang: Zu Be-
ginn der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes steigen die Emissionen
stark an, weil die Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse decken muss und die
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Umweltregulierung schwach ist. An einem gewissen Wendepunkt verän-
dert sich die Wirtschaftsstruktur und die Bevölkerung misst dem Schutz der
Umwelt einen höheren Stellenwert bei. Der Ansatz beschreibt also einen
Übergang von einem umweltbelastenden Wachstum hin zu einer Entkopp-
lung von Wirtschaftswachstum und seinen negativen Umweltwirkungen.
Gemäss dem Thinktank Avenir Suisse lässt sich die Umwelt-Kuznets-
Kurve auch durch die Tertiarisierung in weiter fortgeschrittenen Ländern
und die Verlagerung von emissionsintensiven Industrietätigkeiten in Entwick-
lungs- und Schwellenländern erklären ( Dümmler & Rühli, 2021 ).
Lässt sich die Kuznets-Kurve durch die reale Entwicklung bestätigen? Wie
Abbildung 23 zeigt, ist die Korrelation des weltweiten CO2-Ausstosses und
der Entwicklung des BIP hoch. Die Grafik zeigt allerdings auch, dass das
BIP-Wachstum höher ist als der Anstieg der CO2-Emissionen. Dies gilt nicht
erst seit dem abgebildeten Zeitraum, sondern bereits ab 1960. Zwischen
Wachstum und CO2-Ausstoss ist global betrachtet zwar eine relative Ent-
kopplung erreicht, aber keine absolute.
Abbildung 23:
Entwicklung BIP und CO2-
Emissionen, global, seit 1990
Quelle: Owid ( 2022a )
BIP
CO2-Emissionen
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BIP
CO2-Emissionen
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Entkopplung ist abhängig vom Wohlstand
Bei genauerer Betrachtung zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen in
Abhängigkeit vom Wohlstandsniveau. Während in vielen reicheren Län-
dern eine absolute Entkopplung sowohl bei den produktions- als auch den
konsumorientierten CO2-Emissionen stattfindet, ist dies in vielen weniger
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wohlhabenden Ländern wie zum Beispiel China oder Indien bis anhin nicht
festzustellen.
Trotz der Entkopplung bei wohlhabenden Ländern sei daran erinnert, dass
in der Regel die Pro-Kopf-Emissionen dort besonders gross sind, wo das
Einkommen ebenfalls hoch ist. Auch innerhalb von Ländern und Regionen
verursachen die oberen Einkommensschichten meistens einen höheren
CO2-Ausstoss als die Tieflohnbezüger.
Produktionsbasiert: weisse THG-Emissionen
Liechtenstein gehört im aufgezeigten Ländervergleich zu den Staaten mit
den tiefsten THG-Emissionen pro Kopf. Am höchsten waren sie 2019 in
den USA. Zwischen 1990 und 2019 sind sie in allen Ländern ( zumindest
leicht ) gesunken ( Abbildung 24 ). Die Kleinstaaten zeigen im Vergleich hohe
Reduktionen ( Luxemburg -48 %, Estland -58 %, Liechtenstein10 -39 %, Mal-
ta -40 % ). Dennoch liegen die Emissionen derzeit noch deutlich über den
angestrebten Werten des Übereinkommens von Paris ( Netto-Null bis 2050,
ein bis zwei Tonnen pro Kopf ).
10 Die für Liechtenstein gezeigten THG-
Emissionen pro Kopf sind tiefer als die
in der offiziellen Umweltstatistik des
Amts für Statistik. Die Differenz liegt
in den THG durch veränderte Land-
nutzung ( LULUCF, Land-Use, Land-Use
Change und Forestry ). Diese sind im
Ländervergleich nicht enthalten.
Abbildung 24:
Produktionsbasierte
THG-Emissionen pro Kopf,
1990 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1990
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Zwischen 1990 und 2019 entwickelten sich das BIP und die weissen
THG-Emissionen in fast allen betrachteten Ländern in unterschiedliche
Richtungen: Das BIP stieg an, die THG-Emissionen sanken – BIP und weisse
THG-Emissionen haben sich absolut entkoppelt, jedoch in unterschied-
lichem Mass.
Konsumbasiert: Einbezug von grauen THG-Emissionen
Die Bedeutung der grauen Emissionen hängt vom Konsummuster und der
Wirtschaftsstruktur eines Landes ab. Der Anteil der grauen Emissionen bei
Industrieprodukten ist höher als bei Dienstleistungen.
Für eine konsumbasierte Sichtweise werden die weissen THG-Emissionen
und der handelsbereinigte Saldo der grauen THG-Emissionen addiert.
Wie Abbildung 25 zeigt, konnten die meisten Länder der Vergleichsgruppe
zwischen 1990 und 2019 ihre konsumbasierten Pro-Kopf-Emissionen sen-
ken, allen voran Estland ( -42 % ), Deutschland ( -36 % ), Schweden ( -34 % ),
Dänemark ( -30 % ) und Finnland ( -30 % ). Für Liechtenstein liegen keine
vergleichbaren Daten vor. Werden pro Kopf die gleichen Zuflüsse von grauen
THG-Emissionen wie in der Schweiz unterstellt, haben sich die konsum-
basierten THG-Emissionen pro Kopf in diesem Zeitraum nicht verändert.
In drei der untersuchten Länder sind die konsumbasierten Pro-Kopf-
Emissionen in der gleichen Zeitspanne gestiegen: Schweiz ( +4 % ), Malta
( +16 % ) und Luxemburg ( +14 % ). In der Schweiz ist der konsumbasierte
Ausstoss rund dreimal so hoch wie der produktionsbasierte. Aufgrund des
starken Anstieges des Imports haben sich die konsumbasierten Emissionen
seit 1990 leicht erhöht, im Vergleich zum Jahr 2000 sind sie jedoch stabil
geblieben. Luxemburg weist auch den höchsten Pro-Kopf-Ausstoss auf.
Dafür dürfte vor allem der Strassenverkehr verantwortlich sein, dem rund
die Hälfte aller Emissionen zugeschrieben werden. Es ist anzunehmen, dass
emissionsintensive ( industrielle ) Tätigkeiten ins Ausland verlagert und deren
Produkte vermehrt aus dem Ausland importiert wurden.
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Abbildung 25:
Konsumbasierte THG-Emissio-
nen pro Kopf, 1990 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
1990
2019
Für Liechtenstein fehlen Daten zu den grauen CO2-Emissionen. Als Schätzwert für die grauen Emis-
sionen / Emissionstransfers werden die Daten der Schweiz verwendet. Da für die produktionsbasierten
Emissionen / weissen Emissionen Daten von Liechtenstein verwendet werden, unterscheiden sich die Werte
von Liechtenstein und der Schweiz.
Die folgenden zwei Abbildungen stellen die BIP-Entwicklung den konsum-
basierten THG-Emissionen gegenüber. In den Kleinstaaten scheint die
Entkopplung in der Tendenz weniger fortgeschritten als in den grösseren
Ländern. Die Daten zu Liechtenstein sind mit Unsicherheiten behaftet. Es
ist aber zumindest zwischen 1990 und 2000 keine Entkopplung erkenn-
bar. Zwischen 2000 und 2010 ist zwar eine relative Entkopplung ersicht-
lich, seither steigen die Emissionen aber wieder ähnlich stark wie das BIP.
In Estland zeigt sich als einzigem Land der betrachteten Kleinstaaten eine
absolute Entkopplung über einen längeren Zeitraum.
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2019
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Abbildung 26:
Konsumbasierte THG-Emissio-
nen / reales BIP, Kleinstaaten,
1990 – 2019 ( indexiert,
1990 = 100 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Liechtenstein BIP
Liechtenstein THG-Emissionen
Luxemburg BIP
Luxemburg THG-Emissionen
Estland BIP
Estland THG-Emissionen
Abbildung 27a:
Konsumbasierte THG-Emis-
sionen / reales BIP, grössere
Staaten 1990 – 2019
( indexiert, 1990 = 100 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Schweiz BIP
Schweiz THG-Emissionen
USA BIP
USA THG-Emissionen
Italien BIP
Italien THG-Emissionen
Für Liechtenstein sind keine Daten zu den grauen CO2-Emissionen verfügbar. Als Schätzwert für die grauen
Emissionen / Emissionstransfers werden die Daten der Schweiz verwendet.
In den grösseren Staaten ist das BIP deutlich stärker gestiegen als die
THG-Emissionen. Bei der Mehrheit der Länder sind die Emissionen seit
1990 gesunken. Sie sind damit auch absolut von der Wirtschaftsentwick-
lung entkoppelt. Für die USA und die Schweiz ist zum Ausgangsjahr 1990
höchstens eine relative Entkopplung erkennbar.
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Estland THG-Emissionen
Estland BIP
Luxemburg THG-Emissionen
Luxemburg BIP
Liechtenstein THG-Emissionen
Liechtenstein BIP
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0
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Italien THG-Emissionen
Italien BIP
USA THG-Emissionen
USA BIP
Schweiz THG-Emissionen
Schweiz BIP
2019201020001990
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Abbildung 27b:
Konsumbasierte THG-Emis-
sionen / reales BIP, grössere
Staaten 1990 – 2019
( indexiert, 1990 = 100 )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Schweden BIP
Schweden THG-Emissionen
Dänemark BIP
Dänemark THG-Emissionen
Deutschland BIP
Deutschland THG-Emissionen
Abbildung 28:
BIP pro Kopf ( real, kaufkraft-
bereinigt, Basisjahr 2015 ) und
konsumbasierte THG-Emissio-
nen pro Kopf, 1990 – 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
Abbildung 28 stellt die Entwicklung des BIP und der konsumbasierten THG-
Emissionen pro Kopf der Bevölkerung für ausgewählte Länder im zeitlichen
Verlauf gegenüber. In Liechtenstein und der Schweiz war ein steigendes
BIP von einem leichten und in Luxemburg von einem starken Anstieg der
Emissionen begleitet. In den USA11, in Deutschland und Schweden ging der
BIP-Anstieg mit einer Reduktion der Emissionen pro Kopf einher.
11 In den USA hat das Bevölkerungswachs-
tum offensichtlich zu einer Entkopplung
auf Pro-Kopf-Basis geführt, während
dies beim Gesamtausstoss nicht der Fall
war ( vgl. Abbildung 27 a).
Für Liechtenstein sind keine Daten zu den grauen CO2-Emissionen verfügbar. Als Schätzwert für die grauen
Emissionen / Emissionstransfers werden die Daten der Schweiz verwendet.
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Deutschland THG-Emissionen
Deutschland BIP
Dänemark THG-Emissionen
Dänemark BIP
Schweden THG-Emissionen
Schweden BIP
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LI 1990
USA 2019
CH 2019
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DE 1990
DE 2019
SWE 2019
SWE 1990
USA 1990
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THG-Emissionen pro Kopf in Tonnen CO2
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Warum findet in vielen wohlhabenden Regionen und Ländern eine abso-
lute Entkopplung statt? Folgende Gründe sind dafür massgeblich:
Effizienzsteigerungen durch technische Innovationen ( Produktionspro-
zesse, Verkehr, Wohnen, Konsum ).
Der Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs-
gesellschaft reduziert den Ressourcenverbrauch. Zudem wurden im
Zuge des Strukturwandels emissionsintensive Produktionsprozesse in
Tieflohnländer ausgelagert.
Wohlhabende Länder betreiben eine aktivere Klimapolitik als arme
Länder. Das führt zu Verhaltensänderungen bei Haushalten und Unter-
nehmen und steigert das Bewusstsein für Umwelt- und Klimaprobleme.
Die Preise für Sonnen- und Windenergie werden immer günstiger im
Vergleich zu fossilen Energien ( Substitution ). Der Einsatz von erneuer-
baren Solar- und Windenergien ist auf Lebenszykluskostenbasis bereits
billiger als der Bau fossiler Kraftwerke.
Global betrachtet findet zwar eine relative,
aber keine absolute Entkopplung zwischen
BIP und CO2-Ausstoss statt.
Warum ist eine absolute Entkopplung auf globaler Ebene bisher nicht
gelungen? Im Folgenden die wesentlichen Gründe:
Aus Kostengründen ( inkl. Umweltkosten ) findet weltweit eine
Verlagerung der Produktion an kostengünstigere Standorte statt,
sodass global keine Entkopplung stattfindet.
Rebound-Effekte: Effizienzgewinne umweltschonender Technik füh-
ren zu mehr Konsum – entweder des gleichen Produkts oder anderer
Produkte. Denn Kosteneinsparungen lösen einen Einkommenseffekt
aus. Das « zusätzliche » Einkommen führt zu zusätzlichem Konsum, der
wiederum mehr oder weniger klimaschädigend ist. Ein Beispiel aus der
Klimastrategie der Regierung: « Durch die Senkung der Zielwerte für
CO2-Emissionen sind die Fahrzeuge zwar effizienter geworden, doch
gibt es gleichzeitig mehr Autos, die zudem grösser und schwerer sind,
was den positiven Effekt wieder aufhebt. » ( Regierung, 2022, S. 9 ).
Carbon-Leakage-Effekt: CO2-Einsparungen in einer Region führen zu
einem Anstieg der Emissionen in einer anderen Region, der sonst nicht
erfolgt wäre. Eine solche Verlagerung kann zum Beispiel eintreten,
wenn die Unternehmen in der EU für ihre CO2-Emissionen einen Preis
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bezahlen müssen und deshalb ihre Produktion in ein Land ausserhalb
der EU verlagern. Ein Carbon-Leakage-Effekt tritt aber auch dann ein,
wenn zum Beispiel ein Nachfragerückgang nach fossilen Energien in
der EU zu tieferen Weltmarktpreisen führt und deshalb der Konsum in
anderen Regionen ansteigt. Dieser Effekt ist umso stärker, je unelas-
tischer das Angebot an fossilen Energien ist. Die Anstrengungen « grü-
ner » Länder entfalten so keine Klimawirksamkeit, sie fungieren einzig
als Ölpreis-Subventionen für die « nichtgrünen » Länder.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass eine absolute Entkopplung dank
technischer Fortschritte in Zukunft auf globaler Ebene möglich sein wird,
bleibt es für einzelne Länder und die Welt sehr herausfordernd, das Netto-
Null-Ziel bis 2050 zu erreichen. Gegenwärtig ist die Welt nicht auf Kurs.
Aktuell bewegen wir uns auf eine weltweite Erderwärmung von 2.7 Grad
Celsius zu statt auf die geforderten 1.5 Grad Celsius ( Wenger, Ziegler,
Wulkop & Keberle, 2022 ).
Die folgende Abbildung zeigt, dass zur Zielerreichung ein aussergewöhn-
lich starker und schneller Trendbruch notwendig wäre. Zwei Grössen, die
während der letzten 60 Jahre stark korrelierten, sollten – spätestens
« morgen » – in entgegengesetzte Richtungen verlaufen. Ausgehend von
der effektiven Entwicklung bis 2019 wird für das BIP-Wachstum eine jähr-
liche Wachstumsrate von 1 % angenommen und für die CO2-Emissionen
eine lineare Reduktion auf 0 bis 2050 im Sinne eines groben Zielpfades
unterstellt.
Abbildung 29:
Entwicklung BIP und CO2-Emis-
sionen, global, 1940 – 2050
( 1940 – 2019 reales BIP, Basis-
jahr 2011, 2020 bis 2050 An-
nahme )
Quelle: Owid ( 2022d ), eigene Berech-
nungen
CO2
BIP
0
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CO2
20502040203020192010200019901980197019601950
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Ob diese globale Herausforderung bewältigt werden kann, hängt unter
anderem von den Antworten auf folgende Fragen ab:
Technischer Fortschritt: Gelingt die absolute Entkopplung mit tech-
nischen Innovationen sowohl genügend schnell als auch in genügen-
dem Ausmass?
Politische Steuerung: Gelingt die Bepreisung von Treibhausgasen auf
globaler Ebene in naher Zukunft – in Demokratien, Autokratien und
anderen Staatsformen?
Werte- und Strukturwandel: Gelingt der notwendige Werte- und
Strukturwandel in der Produktion und im Konsum genügend schnell?
Unterschiedliche Antworten auf diese Fragen führen naturgemäss zu
unterschiedlichen Wachstumskonzepten, mit welchen wir uns in Kapitel 5
beschäftigen werden.
Einfluss auf Emissionen von wohlhabenden Ländern unterschätzt
Die Schweiz ist ein gutes Beispiel dafür, dass wohlhabende Länder einen
weitaus grösseren Einfluss auf die CO2-Emissionen haben können als
gemeinhin angenommen. Bekannt ist, dass die Schweiz innerhalb ihrer
Grenzen pro Jahr 46 Megatonnen CO2-Äquivalente ausstösst, was einem
Anteil von 0.1 % an den globalen Emissionen entspricht. « Wir können
also kaum etwas ausrichten », heisst es deshalb oft in politischen Diskus-
sionen. Zudem verursacht die Schweiz nicht nur im Inland Emissionen,
sondern – durch den Import von Gütern – auch im Ausland ( 69 Mega-
tonnen CO2 ), wie wir beim konsumbasierten Ausstoss (S. 53 ff.) aufgezeigt
haben. Eine neue Studie von McKinsey zeigt nun, dass zudem Schweizer
Firmen, die im Ausland und für das Ausland produzieren, CO2-Emissionen
im Umfang von 300 bis 400 Megatonnen verursachen. Durch den Schwei-
zer Finanzplatz, der Kredite und andere Finanzgeschäfte im Ausland tätigt,
ergeben sich Emissionen von 700 bis 900 Megatonnen. Laut McKinsey
hat die Schweiz einen « zumindest indirekten Einfluss auf 2 % bis 3 % der
weltweiten Emissionen, was ihre Einflusssphäre in die Grössenordnung der
inländischen Emissionen von Indonesien, Japan und Brasilien setzt ». Der
Hebel zur Dekarbonisierung ist für die Schweiz als globaler Wirtschaftsplatz
deshalb mehr als 25-fach grösser als die inländischen Emissionen vermuten
lassen ( Wenger, Ziegler, Wulkop & Keberle, 2022 ).
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Für Liechtenstein sind keine vergleichbaren Informationen verfügbar.
Dennoch ist durch die hohe Anzahl international tätiger Unternehmen und
die starke Stellung des Finanzplatzes davon auszugehen, dass der indirekte
Einfluss des Landes auf den Treibhausgas-Ausstoss ebenfalls ein Mehr-
faches des inländischen Potenzials ausmacht.
4.2.3 Fazit zu Wachstum und Umwelt
Das weltweite BIP-Wachstum korreliert eng mit dem weltweiten CO2-
Ausstoss. Auf globaler Ebene ist eine relative Entkopplung im Gange.
Eine absolute Entkopplung ist hingegen erst in wohlhabenden Regio-
nen und Ländern zu beobachten.
Die Entkopplung ist meist abgeschwächt, wenn auch die konsum-
basierten THG-Emissionen betrachtet werden.
Liechtenstein, die Schweiz und Luxemburg konnten ihr Wachstum nicht
von den konsumbasierten THG-Emissionen entkoppeln.
Der Einfluss von wohlhabenden Ländern auf die CO2-Emissionen wird
unterschätzt, weil ihre Firmen im Ausland und der Finanzplatz in der
Analyse vernachlässigt werden.
4.3 Zielbeziehung zwischen Wachstum und Lebensqualität
Die Frage, wie es der Bevölkerung eines Landes geht, ist von zentraler
politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedeutung. Als Indikator
zu deren Beantwortung wird oft von Lebensqualität, Lebenszufriedenheit
oder Wohlfahrt gesprochen.
Dabei kann Wohlfahrt mit Lebensqualität gleichgesetzt werden.
Wohlfahrt bzw. Lebensqualität wird vom schweizerischen Bundesamt für
Statistik folgendermassen beschrieben: « Wohlfahrt bedeutet, dass die
Bevölkerung über genügend Mittel verfügt, damit sie ihre Bedürfnisse
decken, ihr Leben selbständig gestalten, ihre Fähigkeiten einsetzen und
entwickeln sowie ihre Ziele verfolgen kann. » ( BFS, 2021b ). Lebensqualität
umfasst sowohl die materielle als auch die immaterielle Situation der Bevöl-
kerung. Als Indikator für den internationalen Vergleich der Lebensqualität
dient vor allem der Better Life Index der OECD. Dieser teilt die Lebensquali-
tät in folgende elf Themenfelder auf: Wohnverhältnisse, Einkommen, Be-
schäftigung, Gemeinsinn, Bildung, Umwelt, Zivilengagement, Gesundheit,
Lebenszufriedenheit, Sicherheit und Work-Life-Balance.
61
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ha
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ac
hs
tu
m
Bei dieser breiten Betrachtung der Lebensqualität spielt nicht nur die
objektive Lebenssituation, sondern auch deren subjektive Einschätzung
eine Rolle. So ist beispielsweise die Lebenszufriedenheit ein Bestandteil
der Lebensqualität, deren Bewertung durch eine subjektive Einschätzung
der Befragten zustande kommt.
Da für Liechtenstein der Better Life Index nicht erfasst wird, verzichten wir
auf eine detaillierte internationale Analyse. Wirtschaftswachstum führt
in der Regel durch den Einkommenseffekt unmittelbar zu einer höheren
Lebensqualität und reduziert die Armut. Empirische Daten und Studien
belegen zudem, dass Wirtschaftswachstum die Kindersterblichkeit ver-
ringert, die Lebenserwartung erhöht, das Bildungsniveau anhebt und die
soziale Sicherheit stärkt.
Alle diese Indikatoren sind wichtige Faktoren der Lebensqualität und hän-
gen direkt oder indirekt vom zur Verfügung stehenden Einkommen ab. Es
erstaunt somit nicht, dass Wirtschaftswachstum und Lebensqualität in der
Regel eine hohe Korrelation aufweisen.
4.3.1 Die Entwicklung der Zufriedenheit
Ein globaler Vergleich zeigt, dass die Bevölkerung von Ländern mit einem
höheren BIP pro Kopf auch zufriedener mit ihrem Leben ist. Der Anstieg
flacht allerdings ab einem bestimmten Niveau ab, weil der Grenznutzen –
also der zusätzliche Gewinn durch die Steigerung auf bereits hohem
Niveau – abnimmt12.
Bei der Beurteilung der Lebenszufrieden-
heit nimmt Liechtenstein im OECD-Vergleich
einen Spitzenplatz ein.
12 Dieser Umstand ist als Zufriedenheit-
Einkommens-Paradox nach Easterlin
bekannt.
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13 Die befragten Personen werden an-
geleitet, an eine Leiter zu denken, auf
welcher ganz oben das bestmögliche
( 10 ) und ganz unten das schlimmst-
mögliche Leben ( 0 ) liegt. Die Befragten
beurteilen, wo auf dieser Leiter sie sich
befinden ( 0 – 10 ).
14 Der aktuelle Lie-Barometer 2022 war
zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser
Publikation noch nicht veröffentlicht,
weshalb dessen Erkenntnisse nicht ein-
fliessen konnten.
Abbildung 30:
Lebenszufriedenheit und BIP
pro Kopf, 2020 ( kaufkraft-
bereinigt )
Quelle: Owid ( 2022b ), Frommelt ( 2020 )
Kreisgrösse = Bevölkerung
9
8
7
6
5
4
3
2
1'000
Afghanistan
Niger
Äthiopien Indien
China
Türkei
10'000 100'000
Deutschland
Österreich
Finnland
Schweiz
Liechtenstein
USA
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)
BIP pro Kopf in PPP-$
Die Erhebung der Lebenszufriedenheit gemäss dem Better Life Index der
OECD folgt der Methode der Cantril Ladder13.
Abbildung 31:
Lebenszufriedenheit
OECD-Staaten ( 2018 ) und
Liechtenstein ( 2019 )
Quelle: OECD ( 2022a ), Frommelt ( 2020 )
Die Zufriedenheit der liechtensteinischen Bevölkerung wird erst seit 2019
systematisch abgefragt. 2020 erschien der zweite « Lie-Barometer » des
Liechtenstein-Instituts ( Frommelt, 2020 )14. Mit einem Zufriedenheitswert
von 7.8 Punkten belegt Liechtenstein im OECD-Vergleich einen Spitzen-
platz. Nur in Finnland ist der Wert noch etwas besser. Dabei ist die Zufrie-
0
1
2
3
4
5
6
7
8
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) Ø OECD 6.6
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m
15 Hier wird zu Vergleichszwecken der
Wert aus der ersten Erhebung ( 2019 )
verwendet.
16 Zur Entwicklung in Liechtenstein ist
keine Aussage möglich, da die Zufrie-
denheit erstmals im Jahr 2019 erhoben
wurde.
denheit bei den über 65-Jährigen in Liechtenstein besonders hoch. Der
Autor stellt auf individueller Ebene einen signifikanten Zusammenhang
zwischen Faktoren wie der finanziellen und beruflichen Situation sowie
der Gesundheit und der Lebenszufriedenheit fest. Auf die Frage nach den
wichtigsten Problemen Liechtensteins wurden die Gesundheitskosten und
der Verkehr mit deutlichem Abstand am häufigsten genannt.
Die Zufriedenheit der Bevölkerung im nachfolgenden Ländervergleich liegt
2019 auf einer Skala von 0 bis 10 zwischen 6 ( Estland ) und 7.8 ( Finnland )
( Abbildung 32 ). Die Zufriedenheit der Bevölkerung in Liechtenstein ist im Ver-
gleich zu den anderen betrachteten Ländern mit 7.4 durchschnittlich bis
hoch.15
Estland verzeichnete – ausgehend von einem relativ tiefen Niveau – den
stärksten Anstieg. Auch in Deutschland zeigt sich eine überdurchschnittlich
positive Veränderung. Auf bereits hohem Niveau fühlt sich auch die Bevöl-
kerung in der Schweiz, in Andorra und Finnland im Durchschnitt zufriedener
als noch 2005. Demgegenüber sank die Zufriedenheit in Italien, den USA
und in Dänemark.16
Abbildung 32:
Entwicklung der Zufriedenheit
2005 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2019
2005
Estland: 2007 statt 2005. Österreich, Schweiz, Andorra und USA: 2006 statt 2005.
Andorra: 2018 statt 2019.
5
6
7
8
9
2019
2005
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2019
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17 In den letzten Jahren hat sich das
BNE pro Kopf stark dem BIP pro Kopf
angenähert und es sogar übertroffen
( vgl. Kapitel 2.2 ).
Wird die gemessene Zufriedenheit mit dem BIP pro Kopf verknüpft, zeigt
sich – wie schon in Abbildung 30 auf globaler Ebene dargestellt – auch in die-
sem Ländervergleich deutlich, dass die Zufriedenheit mit höherem BIP pro
Kopf zunimmt. Allerdings fällt sie in Liechtenstein und Luxemburg ( trotz
deutlich höherem BIP pro Kopf ) nicht höher aus als in anderen Ländern mit
vergleichsweise hohen BIP-pro-Kopf-Werten. Zusätzlich zu dem zu Beginn
des Kapitels beschriebenen Effekt des abnehmenden Grenznutzens kann
ein weiterer Erklärungsansatz im hohen Anteil der zupendelnden Arbeits-
kräfte an der Gesamtbeschäftigung liegen. Trotz sehr hohem BIP pro Kopf
liegt das effektive Einkommen der Bevölkerung aufgrund der Einkommens-
abflüsse ins Ausland tiefer.17
Abbildung 33:
Zufriedenheit und BIP pro
Kopf, 2019 ( real, Basisjahr
2015, kaufkraftbereinigt )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
0 25'000 50'000 75'000 100'000 125'000 150'000
5
6
7
8
9
10
Zufriedenheit
LiechtensteinLuxemburgSchweiz
Österreich
Schweden Island
USA
Dänemark
Deutschland
Estland
Italien
Finnland
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BIP pro Kopf in PPP-$
Abbildung 34 zeigt für ausgewählte Länder die Entwicklung der beiden Kenn-
grössen ( BIP pro Kopf, Zufriedenheit ) zwischen 2005 und 2019: In Estland,
Deutschland und der Schweiz ging der Anstieg des realen BIP pro Kopf mit
höherer Zufriedenheit einher. In Italien sanken sowohl das BIP pro Kopf
als auch die Zufriedenheit. In anderen Ländern fiel der Anstieg des BIP pro
Kopf mit einer leichten Reduktion der Zufriedenheit zusammen ( Däne-
mark, USA ).
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Abbildung 34:
Zufriedenheit und BIP pro
Kopf, 2005 und 2019 ( real,
Basisjahr 2015, kaufkraft-
bereinigt )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
20'000 30'000 40'000 50'000 60'000 70'000 80'000
5
6
7
8
9
x2019
x2005
DK 2019
IT 2005
IT 2019
USA 2019
CH 2019CH 2005
DE 2005
DE 2019
EST 2019
EST 2007
USA 2005
DK 2005
Le
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de
nh
ei
t
(C
an
tr
il
La
dd
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)
BIP pro Kopf in PPP-$
Erklärungen für das scheinbare Paradox einer stagnierenden oder sogar
sinkenden Lebenszufriedenheit trotz steigenden Einkommens sind – neben
abnehmendem Grenznutzen – folgende:
Individuell betrachtet weisen reichere Personen in einem Land eine
höhere Lebenszufriedenheit auf. Das ist ein Hinweis darauf, dass die
Zufriedenheit stärker an das relative ( im Vergleich zum eigenen Umfeld )
als an das absolute Einkommen gekoppelt ist und damit soziale Verglei-
che eine Rolle spielen. Wächst die gesamte Volkswirtschaft und steigen
alle Einkommen, ohne dass die Ungleichheit stärker wird, verändert
sich die ( relative ) individuelle Situation nicht und die Zufriedenheit
bleibt konstant. Lebenszufriedenheit ist also ein relatives Konzept.
Die Menschen passen zudem ihre Erwartungen an den jeweiligen
Lebensstandard an. Dieses Phänomen wird von Binswanger auch als
« Tretmühlen des Glücks » bezeichnet ( Binswanger, 2019 ). Auf einer
Tretmühle kann man immer schneller laufen, doch man bleibt am
selben Ort.
Wächst die Volkswirtschaft und die Ungleichheit nimmt gleichzeitig zu,
verändert sich für viele die relative Situation und die Zufriedenheit kann
sinken.
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4.3.2 Wachstum und Ungleichheit
Schmälert oder vergrössert Wachstum die Ungleichheit?
Es gehört zur Standardkritik an der Marktwirtschaft, dass Wachstum die
Ungleichheit erhöhe. Diese Kritik beruht oft auf der falschen Annahme,
dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei, bei welchem der eine ge-
winnt, was der andere verliert. Eine wachsende Wirtschaft bedeutet eine
permanente Vergrösserung des zu verteilenden Kuchens. Wie wurde
bzw. wie wird dieser Kuchen verteilt? Analysiert man den Zusammenhang
auf globaler Ebene, stellt man fest, dass im 19. Jahrhundert die Ungleich-
heit klein war. Allerdings lebte die Mehrheit der Menschen – mehr als
80 % – unter materiellen Bedingungen, die wir heute als extreme Armut
bezeichnen würden. Bis ins Jahr 1975 ist die Einkommensverteilung
ungleicher geworden. Die Welt hatte sich in eine arme und eine um ein
Vielfaches reichere Welt geteilt. Die nachfolgende Entwicklung veränderte
die Einkommensverteilung wiederum massiv. In vielen ärmeren Ländern,
insbesondere in Südostasien, sind die Einkommen schneller gewachsen als
in reichen Ländern. Die Einkommen der ärmsten Einwohner der Welt sind
gestiegen und die extreme Armut ist schneller gesunken als je zuvor in der
Menschheitsgeschichte ( vgl. Kapitel 4.3.3 ). Die Welt ist reicher geworden,
aber nicht alle haben gleichermassen davon profitiert ( Owid, 2022f ).
Welche Wirkung hat das Wirtschaftswachstum auf die generelle Einkom-
mensverteilung? Die 80 / 20-Quote misst das Verhältnis zwischen dem
Gesamteinkommen der 20 % der Bevölkerung mit dem höchsten Ein-
kommen und demjenigen der 20 % mit dem niedrigsten Einkommen. Bei
einem Wert von 4 verfügen die obersten 20 % über viermal so viel Einkom-
men als die untersten 20 %.
Im Ländervergleich liegt das Verhältnis 2019 zwischen 3 in Island und 6
in Italien. In Liechtenstein wird die Quote im Rahmen der Nachhaltigkeits-
indikatoren gemessen und ist zwischen 2009 und 2019 von 11.8 auf 13.3
gestiegen. Diese Werte basieren jedoch nicht auf dem verfügbaren Äquiva-
lenzeinkommen, das normalerweise verwendet wird, sondern auf Steuer-
daten und beinhalten keine Vermögenseinkommen. Daher ist das Ergebnis
nicht mit den Werten der anderen Länder vergleichbar.
Mit Ausnahme von Island und Estland ist die Quote von 2005 bis 2019 in
allen Ländern gestiegen. Das heisst: Die 20 % der höchsten Einkommen
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sind stärker gewachsen als die 20 % der tiefsten. Für den Zusammenhang
zwischen dem BIP pro Kopf und der 80 / 20-Quote ergibt sich über die Zeit
betrachtet kein einheitliches Bild ( Abbildung 35 ): Zwar sind in den meisten
Ländern sowohl das BIP pro Kopf als auch die Einkommensungleichheit
gestiegen. Es zeigen sich aber Ausnahmen. In Italien stieg die Ungleichheit
bei sinkendem BIP, in Island und Estland sank sie bei steigendem BIP. Es ist
somit in der betrachteten Ländergruppe kein klarer Zusammenhang zwi-
schen wirtschaftlichem Wachstum und Einkommensverteilung ersichtlich.
Abbildung 35:
Entwicklung BIP pro Kopf und
Einkommensverteilung, 2005
und 2019 ( real )
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2 3 4 5 6 7
0
20'000
40'000
60'000
80'000
100'000
120'000
x2019
x2005
ISL 2019
IT 2005
IT 2019
SWE 2019
LUX 2019
LUX 2005
DE 2005
DE 2019
EST 2019
EST 2005
SWE 2005
ISL 2005
80/20-Quote
BI
P
pr
o
K
op
f
in
P
PP
-$
Abschliessend gilt es, bei der Analyse der Wirkungen des Wachstums auf
die Einkommensverteilung einige Punkte zu beachten. Erstens sollte man
sich bewusst sein, dass Ungleichheit ein relatives Phänomen ist. Wenn
Volkswirtschaften oder Individuen wohlhabender werden, werden andere
relativ zu ihnen ärmer, selbst wenn ihr Wohlstand ebenfalls ansteigt.
Zweitens ist wichtig, dass Wachstum grundsätzlich die Verminderung von
Armut ermöglicht ( vgl. Kapitel 4.3.3 ).
Drittens ist entscheidend, dass Ungleichheit kein statisches, sondern ein
temporäres Phänomen ist. Wachstum schafft Aufstiegsmöglichkeiten für
Volkswirtschaften und Individuen.
Viertens gilt es hervorzuheben, dass zwischen Wachstum und Ungleichheit
kein eindeutiger, direkter Kausalzusammenhang besteht. Sowohl Ungleich-
heit als auch Wachstum werden von einer Vielzahl von Rahmenbedingun-
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gen und politischen Massnahmen geprägt. Dazu gehören die Bildungspoli-
tik, die Steuerpolitik, die Sozialpolitik, die Wettbewerbspolitik und vieles
mehr. Gemäss dem World Inequality Report ist denn auch die wachsende
Einkommensungleichheit weniger eine Folge des Wachstums per se,
sondern mehr eine Folge der unterschiedlichen nationalen, politischen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Zwischen Wachstum und Ungleichheit be-
steht kein eindeutiger, direkter Kausalzusam-
menhang.
Fördert oder hemmt Ungleichheit das Wachstum?
In der Wissenschaft ist in den letzten Jahren ein Diskurs darüber entstan-
den, ob Ungleichheit das Wachstum hemme oder fördere. Analysiert man
dazu die Studienlage, stellt man fest, dass es keinen allgemeinen Konsens
in der wissenschaftlichen Literatur gibt. Die Diskrepanz in den Resultaten
der Forschungen hängt dabei massgebend von den Ungleichheitsindika-
toren, den betrachteten Ländern, dem Zeitraum und den angewendeten
statistischen Methoden ab.
Ein negativer Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum wird
beispielsweise damit begründet, dass in Ländern mit einem hohen Anteil
von Bezügern von tiefen Einkommen auch das Niveau an Investitionen in
Sach- und Humankapital geringer sei. Dies wirke sich wiederum negativ
auf die Produktion und die Arbeitsproduktivität aus. Zusätzlich befeure ein
hohes Mass an Ungleichheit Verteilungskonflikte, gefährde die politische
Stabilität und die Investitionsanreize für Unternehmen. Diese Argumente
treffen besonders für einkommensschwache Länder mit instabilem politi-
schem und ökonomischem Umfeld zu.
Einen positiven Zusammenhang erkennen einige Studien in Ländern, die
einkommensstark sind, ein stabiles politisches System haben, über ein
gutes ökonomisches Umfeld verfügen, ein hohes Niveau im Humankapi-
tal aufweisen und Armut nahezu inexistent ist. Insbesondere in solchen
Ländern wurde festgestellt, dass eine Wirtschaftspolitik, die auf « zu viel »
Gleichheit setzt, die Wachstumskräfte schmälert. Ungleichheit kann die
Anreize für Leistung und Innovation stärken und zu einer höheren Spar-
quote führen, die wiederum die notwendige Basis für Investitionen bildet.
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Aus den Studien lässt sich weder klar ableiten, dass Gleichheit noch
Ungleichheit das Wachstum fördere. Denn sowohl Ungleichheit als auch
Wachstum sind Ergebnisse einer Vielzahl von beeinflussbaren Faktoren.
Zudem ist das Ausmass der Einkommensungleichheit für die zu beobach-
tenden Folgen entscheidend.
Die KOF / ETH hat im August 2021 eine Umfrage bei akademisch for-
schenden Ökonominnen und Ökonomen über die Wirkungen der Ein-
kommensverteilung in der Schweiz durchgeführt ( KOF, 2021 ). Dabei fallen
die Meinungen differenziert aus: Gut ein Viertel der Befragten findet,
dass die heutige Einkommensungleichheit der langfristigen Entwicklung
zuträglich ist. Ein Drittel sieht keinen Zusammenhang und im Urteil von
40 % der Ökonominnen und Ökonomen überwiegen die wachstumshem-
menden Effekte.
Besteht ein Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und
Zufriedenheit?
Schliesslich betrachten wir, ob im Ländervergleich ein Zusammenhang
zwischen Einkommensverteilung ( sekundär, nach Sozialtransfer ) und
Zufriedenheit erkennbar ist ( Abbildung 36 ). In der Tendenz zeigt sich zwar,
dass höhere Ungleichverteilung mit geringerer Zufriedenheit der jeweiligen
Bevölkerung einhergeht. In der Längsschnittbetrachtung ist dieser Zusam-
menhang aber nicht zu erkennen. So stieg beispielsweise in Deutschland
die Zufriedenheit bei wirtschaftlichem Wachstum trotz einem Anstieg der
Einkommensungleichverteilung an.
In der Tendenz zeigt sich, dass Länder mit
einer höheren Einkommensungleichheit eine
tiefere Zufriedenheit ausweisen.
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Abbildung 36:
Einkommensverteilung und
Zufriedenheit, 2018
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
6 6.5 7 7.5 8
0
2
4
6
8
Inequality (80/20-Quote)
Luxemburg
Schweiz
Österreich
Schweden
Island
Malta Dänemark
DeutschlandEstland
Italien
Finnland80
/2
0-
Q
uo
te
Lebenszufriedenheit (Cantril Ladder)
Für Liechtenstein sind keine vergleichbaren Daten zur Einkommensverteilung verfügbar.
4.3.3 Wachstum und Armut
Armut ist zweifellos ein wesentlicher Indikator für die Lebensqualität. Es
bestehen verschiedene Konzepte und Definitionen von Armut18, und sie
kann absolut oder relativ betrachtet werden. Absolut arm sind Menschen,
deren Einkommen unter einer definierten Grenze liegt und die damit über
zu wenig Mittel verfügen, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Grund-
bedürfnisse zu decken. Relative Armut beschreibt die Situation im Verhält-
nis zum gesellschaftlichen Umfeld eines Menschen. Demnach gilt als relativ
arm, wer in einem Haushalt mit einem Einkommen deutlich unterhalb
des Medianeinkommens des jeweiligen Landes lebt. Damit richtet sich der
Fokus stärker auf die Ungleichheit innerhalb eines Landes als auf die Armut
selbst.
Die absolute Armut in der Welt ist in den
letzten Jahrzehnten dank des wirtschaftlichen
Wachstums stark zurückgegangen.
Die absolute Armut auf der Welt ist in den letzten Jahrzehnten dank des
wirtschaftlichen Wachstums stark zurückgegangen. Lebten 1820 schät-
zungsweise noch über 84 % der Weltbevölkerung in extremer Armut ( mit
weniger als USD 1 pro Tag ), fiel der Anteil bis in die 1990er-Jahre auf 24 %
18 Während früher vor allem auf die
monetären Aspekte fokussiert wurde,
versteht man heute Armut eher als ein
multidimensionales Konzept, das die
Entbehrung von Grundbedürfnissen
wie Wasser, Nahrung, Gesundheit,
Bildung und Unterkunft und / oder die
Entbehrung gewisser Möglichkeiten
( z. B. Sicherheit, Wahlfreiheit, soziale
Beziehungen ) beinhaltet.
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19 Die Weltbank definiert die Grenze bei
USD 1.9 pro Tag.
20 Das verfügbare Äquivalenzeinkommen
beschreibt das Gesamteinkommen
eines Haushalts nach Steuern und
anderen Abzügen, das zum Ausgeben
oder Sparen zur Verfügung steht, ge-
teilt durch die Anzahl der Haushaltsmit-
glieder.
( Bourguignon & Morrisson, 2002 ). Aber auch in den letzten Jahrzehnten
hat sich die Entwicklung fortgesetzt. Nach Erhebungen der Weltbank sank
der Anteil von Menschen in extremer Armut19 von 42.6 % in 1981 auf
8.7 % in 2018 ( World Bank, 2022a ). Allerdings dürfte die Covid-19-Pande-
mie den Erfolg in der Beseitigung der Armut zurückgeworfen haben. Der
entsprechende Bevölkerungsanteil dürfte in 2020 und 2021 wieder über
9 % liegen ( World Bank, 2022b ).
Abbildung 37:
Entwicklung absolute Armut,
Anteil an Weltbevölkerung,
1981 – 2018
Quelle: World Bank ( 2022a )
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
20
18
20
17
20
16
20
15
20
14
20
13
20
12
20
11
20
10
20
09
20
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07
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20
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20
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20
03
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02
20
01
20
00
19
99
19
98
19
97
19
96
19
95
19
94
19
93
19
92
19
91
19
90
19
89
19
88
19
87
19
86
19
85
19
84
19
83
19
82
19
81
A
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W
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öl
ke
ru
ng
in
%
42.6
36.3
27.7
15.7
8.7
Folgt man dem Konzept der relativen Armut, wird der Anteil der armuts-
gefährdeten Personen ( nach Sozialtransfer ) berechnet. Als armutsgefährdet
gilt eine Person, wenn ihr verfügbares Äquivalenzeinkommen20 bei weniger
als 60 % des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens liegt.
Der entsprechende Personenanteil liegt 2019 in den betrachteten Ländern
zwischen knapp 12 % ( Finnland ) und 22 % ( Estland ) ( Abbildung 38 ). Das Ar-
mutsrisiko ist in allen Ländern in der Zeit zwischen 2000 und 2019 grösser
geworden, in Schweden hat es sich sogar verdoppelt. Es ist jedoch unklar,
auf welche Faktoren das steigende Armutsrisiko zurückzuführen ist.
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Abbildung 38:
Anteil armutsgefährdeter
Personen nach Sozialtransfers,
2000 und 2019
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )
2000
2019
0
5
10
15
20
25
2019
2000
Es
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7)
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nd
Pe
rs
on
en
an
te
il
in
%
Für Liechtenstein sind keine entsprechenden Daten verfügbar. Der einzige
Anhaltspunkt stellt der Armutsbericht aus dem Jahr 2008 dar. Dort wurde
das Armutsrisiko nach Sozialtransfers ( ohne Vermögenseinkommen ) auf
11 % der Haushalte geschätzt. Die Anzahl Bezüger wirtschaftlicher Sozial-
hilfe ist einer von 55 Indikatoren im Messsystem für eine nachhaltige Ent-
wicklung. Sie ist aktuell mit « Rot » bewertet. Das heisst, die Entwicklung
verläuft nicht wie gewünscht. Die Anzahl Haushalte, die wirtschaftliche
Sozialhilfe beziehen, ist von 286 im Jahr 1995 auf 570 im Jahr 2020 ge-
stiegen.
4.3.4 Fazit zu Wachstum und Lebensqualität
Die Lebensqualität und die Zufriedenheit steigen in der Regel mit höhe-
rem Einkommen.
Neben dem Einkommen sind die Gesundheit, soziale Sicherheit, Be-
schäftigung und der Bildungszugang weitere zentrale Aspekte der
Lebensqualität, die ebenfalls direkt oder indirekt vom Einkommen mit-
bestimmt werden.
Tendenziell gilt: Je höher der materielle Wohlstand eines Landes ist,
umso weniger trägt ein weiterer Anstieg zur Steigerung der durch-
schnittlichen Lebenszufriedenheit bei.
Zwischen Ungleichheit und Wachstum gibt es keine einfache mecha-
nische Beziehung, weder aus theoretischer noch aus empirischer Sicht.
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Entscheidend sind die politischen und ökonomischen Rahmenbedin-
gungen und Massnahmen.
Im Allgemeinen weisen Länder mit einer höheren Einkommens-
ungleichheit eine tiefere Zufriedenheit aus.
Die absolute Armut auf der Welt konnte dank des wirtschaftlichen
Wachstums stark reduziert werden.
4.4 Zielbeziehung Umwelt und Lebensqualität
In den Kapiteln 4.2 und 4.3 haben wir festgestellt, dass steigende Einkommen
und eine höhere Zufriedenheit in der Regel Hand in Hand gehen und dass
zwischen wirtschaftlichem Wachstum und der Belastung der Umwelt auf
globaler Ebene ein bisher ungelöster Zielkonflikt besteht.
Nun wenden wir uns dem Zusammenhang zwischen Umwelt und Lebens-
qualität zu. Grundsätzlich steht eine zunehmend « beschädigte » Umwelt
in Konflikt mit einem Anstieg der Lebensqualität. Wie ist es demnach zu
erklären, dass trotz zunehmender Umweltbelastung die Lebensqualität im
Allgemeinen gestiegen ist?
Offenbar haben andere Faktoren und insbesondere das steigende Einkom-
men stärker zu einem Anstieg der Lebenszufriedenheit beigetragen, als
sie durch den Umweltverbrauch gemindert wurde. Wie bereits erwähnt,
umfasst die Lebensqualität viele Indikatoren, die durch einen Anstieg der
Einkommen positiv beeinflusst werden, etwa die Gesundheit, die soziale
Sicherheit, die Beschäftigung, die Wohnverhältnisse, der Bildungszugang
oder die Armut.
Zudem weisen Umweltgüter häufig einen Langzeitcharakter aus, das
heisst, die Kosten der Umweltbelastung schmälern nicht so sehr die
Lebensqualität der gegenwärtigen, sondern vielmehr diejenige der zukünf-
tigen Generationen. Die Gegenwart schreit lauter als die Zukunft, auch
wenn dadurch Probleme entstehen, die möglicherweise in einigen Jahr-
zehnten irreversibel sind.
Weil eine Steigerung der Umweltqualität unter den gegebenen Bedingun-
gen nur durch einen Verzicht auf andere Güter möglich ist, kann diese
harmonische Beziehung zwischen intakter Umwelt und Lebensqualität an
ihre Grenzen stossen. Es kann also – auch beim Umweltschutz – nicht um
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das Maximum gehen, sondern um das Optimum. Ökonomie ist die Wis-
senschaft der Trade-offs und der Optima.
Fazit zu Umwelt und Lebensqualität
Trotz zunehmendem Umweltverbrauch ist die Lebensqualität gestiegen.
Eine intakte Umwelt und Lebensqualität stehen in einem harmonischen
Verhältnis. Allerdings geht es auch beim Umweltschutz um das Opti-
mum und nicht um das Maximum.
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5. Wachstumskonzepte und Wohlfahrtsmessung
5.1 Von Wachstum bis zu aktiver BIP-Reduktion
5.1.1 Growth
5.1.2 Green Growth
5.1.3 Beyond Growth
5.1.4 Postgrowth
5.1.5 Degrowth
5.1.6 Fazit zu den Wachstumsmodellen
5.2 BIP und alternative Massstäbe
5.2.1 Was das BIP kann – und was nicht
5.2.2 Alternativen und Ergänzungen zum BIP
5.2.3 Messsystematik in Liechtenstein
5.2.4 Zwischenfazit
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5 | Wachstumskonzepte und
Wohlfahrtsmessung
5.1 Von Wachstum bis zu aktiver BIP-Reduktion
Trotz derselben empirischen Grundlagen werden wirtschaftliches Wachs-
tum und seine Auswirkungen auf die Umwelt und die Lebensqualität
unterschiedlich beurteilt. Für die zukünftige Entwicklung besteht ein
entsprechend breites Spektrum von Wachstumskonzepten und wirtschafts-
politischen Empfehlungen. Während die einen darauf vertrauen, dass
Wachstum auch die anstehenden Probleme zu lösen vermag, verlangen an-
dere einen radikalen Systemwechsel und Wertewandel. Die in Abbildung 39
gezeigte Auswahl wird in diesem Kapitel steckbriefartig beschrieben.
Abbildung 39:
Wachstumskonzepte
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
( 2022 )BIP-Wachstum BIP-Rückgang
Growth DegrowthPostgrowthBeyond
Growth
Green
Growth
Diese verschiedenen Wachstumskonzepte können wieder in das Trilemma-
Schema eingeordnet werden. Dabei sind drei Hauptstossrichtungen er-
kennbar:
Konzepte, die Wachstum bejahen und es als Mittel sehen, den Wohl-
stand und damit weitere Aspekte der Lebensqualität zu verbessern
( Growth und Green Growth ). Dabei legt Green Growth den Fokus
konsequenter auf den Schutz der Umwelt.
Konzepte, die Umwelt und Lebensqualität ins Zentrum stellen und
Wachstum als Nebeneffekt akzeptieren ( Beyond Growth ) oder als un-
nötig erachten ( Postgrowth ), und
Ansätze, die Wachstum als eigentliches Problem definieren und ein
Schrumpfen des BIP als Lösung zur Steigerung der Lebensqualität sehen
und auch zum Schutz der Umwelt als notwendig erachten ( Degrowth ).
Abbildung 40:
Wachstumskonzepte und
Wachstumstrilemma
Quelle: Eisenhut & Sturm ( 2022 ), eigene
Darstellung
Ra
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enbedingungen
Lebensqualität
Wachstum
Umwelt
Growth
De-
growth
PostgrowthBeyond Growth
Gre
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5.1.1 Growth
Kurzbeschrieb
Wachstum entsteht aus den Bedürfnissen und dem Streben der Men-
schen und wird zusammen mit freien Märkten als Lösung für wirt-
schaftliche Probleme betrachtet.
Technologischer Fortschritt und Innovationen sind die Quellen des
Wachstums. Sie ermöglichen es, durch Entkopplung von Wachstum
und Ressourcenverbrauch kommende Herausforderungen wie den
Klimawandel zu meistern und damit negative Nebenwirkungen zu
reduzieren oder zu kompensieren.
Nur anhaltendes globales Wachstum, technologischer Transfer und
gute institutionelle Rahmenbedingungen ermöglichen es auch Entwick-
lungsländern, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und
den Wohlstand und damit die Lebensqualität zu heben.
Rolle des Staates
Zurückhaltende, aber griffige Regulierung
Bei Marktversagen wird korrigierend eingegriffen, sofern mit Regulie-
rung ein besseres Ergebnis erzielt wird.
Wohlstandsmass
Das BIP ist ein suboptimales, jedoch weiterhin das geeignetste Wohl-
standsmass, das mit weiteren Indikatoren ergänzt werden muss.
5.1.2 Green Growth
Im Kontext der Finanzkrise und der wachsenden Umwelt- und Gesell-
schaftskrise sind Konzepte wie Green Economy, Green Growth oder Green
Industry entstanden.
Kurzbeschrieb
Wachstum ist notwendig, um die Lebensqualität zu halten bzw. zu
erhöhen. Gleichzeitig muss der Erhalt von Naturkapital und Umwelt-
dienstleistungen langfristig gewährleistet werden.
Der Fokus auf technische Innovationen führt längerfristig zur Entkopp-
lung von Wachstum und Ressourcenverbrauch.
Fünf Quellen werden das grüne Wachstum antreiben: Produktivität
( dank höherer Effizienz ), Innovation ( getrieben durch Massnahmen und
Rahmenbedingungen ), neue Märkte ( Nachfrage nach grüner Techno-
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logie, Gütern etc. wird stimuliert ), Vertrauen ( Investoren wissen, wie
Staaten mit Umweltthemen umgehen ) und Stabilität dank ausgewoge-
ner makroökonomischer Bedingungen.
Wichtig für die nationale und internationale Akzeptanz ist, auch die
Aspekte zu thematisieren, die zu Umverteilungen führen könnten.
Entschädigende Massnahmen, vor allem für Entwicklungsländer, und
Umschuldungen sind deshalb ein wichtiges Instrument.
Rolle des Staates
Zwei Hauptstossrichtungen: Erstens Rahmenbedingungen, die Wirt-
schaftswachstum und den Erhalt von Naturkapital gewährleisten und
Innovation fördern. Zweitens gezielte Massnahmen, die sowohl den
Anreiz bieten, natürliche Ressourcen effizient zu nutzen als auch Um-
weltverschmutzung teurer zu machen ( Internalisierung ).
Diese zusätzlichen Kosten für Umweltbelastungen können wiederum
zu Innovationen und / oder effizienterem Ressourcenverbrauch und
Wettbewerbsvorteilen führen.
Wohlstandsmass
Das BIP vernachlässigt den Beitrag von Naturkapital auf Wohlstand, Ge-
sundheit und Wohlergehen. Um Green Growth zu messen, hat die OECD
deshalb ein Set an Indikatoren erarbeitet ( Better Life Index, siehe Kapi-
tel 5.2.2 ).
5.1.3 Beyond Growth
Kurzbeschrieb
Zunehmend globale Herausforderungen machen die Grenzen bisheriger
Wachstumskonzepte erkennbar. « Strategien von gestern » haben oft
lediglich zum Ziel, negative Auswirkungen der Wirtschaft zu vermeiden
oder auszubügeln.
Grundsätzliche Änderungen im Wirtschaftsgeschehen sind notwendig,
um das Wohlergehen der Menschheit unter den aktuellen und kom-
menden Herausforderungen ( Klimawandel, technischer Wandel, neue
Globalisierungsmuster, Alterung der Bevölkerung ) zu sichern.
Da die aktuellen Herausforderungen als Folge der heutigen Wirtschafts-
struktur verstanden werden, sind tiefgreifende, strukturelle Verände-
rungen nötig.
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Die Entkopplung von Ressourcen und Wachstum, ob relativ oder ab-
solut, wird nicht erwähnt.
Rolle des Staates
Der Staat nimmt eine aktive Rolle ein und steuert Wachstum so, dass
die folgenden vier Ziele erreicht werden: ökologische Nachhaltigkeit,
steigendes Wohlbefinden, sinkende Ungleichheiten und höhere Wider-
standskraft des Systems bei Störungen ( Resilienz ).
Diese aktive Rolle besteht unter anderem darin, Innovation in die
« richtige Richtung » zu lenken, um Lösungen zum Klimawandel etc. zu
finden, den Finanzmarkt zu regulieren, um seine Stabilität zu stärken
u.v.m.
Wohlstandsmass
Es wird ein breiteres Set an übergeordneten Wohlfahrtsmassen ( Beyond
GDP ) geschaffen, das zusätzlich zu Wirtschaftswachstum auch mensch-
liches Wohlergehen, ökologische Nachhaltigkeit und Ungleichheit
umfasst.
5.1.4 Postgrowth
Kurzbeschrieb
Eine Postgrowth-Gesellschaft ist nicht auf Wirtschaftswachstum ange-
wiesen, die Institutionen und Strukturen werden umgebaut.
Ziel ist die Unabhängigkeit der Sozialsysteme, der Produktion und der
Lebensstile von Wirtschaftswachstum, damit kein Wachstumszwang
mehr besteht und der Ressourcenverbrauch innerhalb der planetaren
Grenzen bleibt.
Das aktuelle Wirtschaftssystem ist wegen der angebots- und nachfrage-
seitigen Wachstumszwänge, dem Geld-Zeit-Dilemma21 der Bevölkerung
und der Verunmöglichung der Wohlstandssteigerung für Länder des
globalen Südens unhaltbar.
Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch können aufgrund der
finanziellen und materiellen Rebounds22 nicht entkoppelt werden. Nö-
tig wird ein Wandel in der Produktionsweise und im Konsumverhalten.
Postgrowth-Ökonomie fordert einen sozialverträglichen Rück- und Um-
bau der Wirtschaftsstruktur. Dies soll nach den Prinzipien der Suffizienz,
Subsistenz, Regionalwirtschaft und dem stofflichen Nullsummenspiel
21 Arbeit und Verdienst sind für Konsum-
aktivitäten nötig. Diese sind oft sym-
bolischer Art und basieren auf Prestige
und sozialer Zugehörigkeit. Schliesslich
wird die Zeit knapp, um die Konsum-
aktivitäten voll auszuschöpfen.
22 Effizienzeffekte kommen nicht oder
nicht gänzlich zum Tragen, weil Kosten-
einsparungen wiederum zu ressourcen-
intensiverem Verhalten führen. Beispiel:
Nach dem Kauf eines emissionsärmeren
Autos werden mehr Kilometer als zuvor
gefahren.
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als Produktionsmodus geschehen. Im neuen System stehen der Mensch
und die Umwelt im Zentrum.
Die Bedeutung der Erwerbsarbeit soll verringert, diejenige von Freiwilli-
gen-, Care- und Gemeinschaftsarbeit gefördert werden.
Wirtschaftlicher Erfolg wird am Ausmass der Bedürfnisbefriedigung, der
Lebensqualität und des Gemeinwohls gemessen. Die Wirtschaft dient
dem Gemeinwohl.
Es gibt verschiedene Strömungen: institutionenorientierte, suffizienz-
orientierte, commonsorientierte23, feministische, kapitalismus- und
globalisierungskritische Strömungen.
Verwandte Ansätze: Gemeinwohlökonomie, solidarische Ökonomie,
Care-Ökonomie, soziale Innovationen
Rolle des Staates / Wohlstandsmass
Das gesellschafts- und wirtschaftspolitische System wie auch ein neues
Wohlstandsmass nach dem Umbau bleiben offen.
5.1.5 Degrowth
Kurzbeschrieb
Der Ansatz sieht eine fundamentale Veränderung des Wirtschafts-
systems und der Gesellschaft als unabwendbar an. Sie wird « by Design
or by Desaster » erfolgen, also entweder von Menschen geplant oder
erzwungen durch eine Katastrophe. Eine Entkopplung von Wachstum
und Ressourcenverbrauch wird als nicht möglich angesehen.
Die Verringerung von Konsum und Produktion führt zu mehr Wohl-
befinden, sozialer Gerechtigkeit und löst das Problem der Umwelt-
schäden. Dies unter anderem, weil man sich vom materiellen Überfluss
befreit und auch überflüssige Aufgaben und Arbeitsstress entfallen.
Wohlbefinden wird in konsumunabhängigen Dingen gefunden. Dies
verringert wiederum den Druck auf die Umwelt und das Sozialsystem.
Der Unterschied zur Postgrowth-Ökonomie besteht in der Schrump-
fung – dem geforderten Degrowth des BIP. Dies ist aber nicht das
Hauptziel, sondern eine Folge der veränderten Wirtschafts- und
Lebensstrukturen. Zudem wird Degrowth charakterisiert als eine
Sammlung von Denkrichtungen und Ideen für Massnahmen, welche
die veränderten Strukturen sozial tragbar gestalten. Zum Beispiel: Alter-
nativwährungen, Allmenden, Arbeitsumverteilung, Grund- und Höchst-
23 Orientierung am Gemeinwohl
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einkommen. Degrowth hat folglich ein breiteres Bild und fordert mehr
als die Unabhängigkeit von Wirtschaftswachstum.
Durch die Umverteilung von Arbeit und Freizeit, etwa über die Re-
duktion der Wochenarbeitszeit, sollen Probleme des Sozialstaates wie
zum Beispiel die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen gelöst
werden.
Es wird aber nicht für alle Sektoren ein Schrumpfen gefordert. Sektoren
wie Bildung, Pflege etc. sollen wachsen.
Es besteht nicht der Anspruch auf eine globale Umsetzung. Sie soll in
Industriestaaten und dort in spezifisch ressourcenschädigenden Sekto-
ren erfolgen.
Rolle des Staates / Wohlstandsmass
Das gesellschafts- und wirtschaftspolitische System wie auch ein neues
Wohlstandsmass nach dem Umbau bleiben offen.
5.1.6 Fazit zu den Wachstumsmodellen
In erster Linie sind es grosse Unterschiede in der Einschätzung der Pro-
blemlösungskraft des technischen Fortschritts, die das breite Spektrum
der Ansätze charakterisieren.
Davon abgeleitet resultieren stark differierende Wertvorstellungen, was
den Umgang mit natürlichen Ressourcen, die Lebensqualität und die
Zufriedenheit der Menschen betrifft.
Dennoch ist allen Richtungen gemeinsam, dass sie die Umweltbelas-
tung beenden und die Wohlfahrt der Bevölkerung insgesamt steigern
möchten, dies aber mit fundamental anderen Mitteln und Wegen.
Ein zentraler Unterschied liegt in den Rahmenbedingungen und der
Rolle des Staates. Während die einen Modelle auf die Demokratie und
die Marktwirtschaft setzen, verlangen andere einen radikalen System-
wechsel.
Unterschiede sind auch im Konkretisierungsgrad festzustellen. Die
wachstumsbejahenden Ansätze beschreiben die notwendigen Mass-
nahmen genauer. Anders bei der Postgrowth-Ökonomie und beim
Degrowth-Konzept. Dort bleibt weitgehend offen, wie in demokratisch
geführten Staaten der beabsichtigte Wertewandel erfolgen und ein
Umbau der Wirtschaft geschehen könnte.
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5.2 BIP und alternative Massstäbe
5.2.1 Was das BIP kann – und was nicht
Das BIP ist im Kontext des Wirtschaftswachstums von zentraler Bedeutung.
Was kann mit dem BIP gemessen werden und was nicht?
Ein Leben in Würde und Wirtschafts- und Meinungsfreiheit, eine nachhal-
tige Nutzung der Umweltressourcen in einer Gesellschaft mit einem sozialen
Auffangnetz für benachteiligte Menschen. So kann man kurz zusammen-
gefasst die Wohlfahrtsziele einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft
beschreiben. Der Begriff « Wohlfahrt » bezieht sich nicht nur auf materielle
bzw. finanzielle Dimensionen. Er ist breiter gefasst und beinhaltet auch die
immaterielle Situation der Bevölkerung, etwa die Möglichkeit, die eigenen
Fähigkeiten einsetzen zu können. Auch die liechtensteinische Verfassung
beschreibt in Art. 14 die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt als die
oberste Aufgabe des Staates.
Oft nehmen Menschen in Wohlstandsländern subjektiv keine oder nur
eine geringe Steigerung ihrer Wohlfahrt wahr, obwohl der wirtschaftliche
Wohlstand – eben das BIP pro Kopf – gestiegen ist ( siehe ausführlicher in
Kapitel 4.3 ). Daraus entstand die Kritik, dass das BIP kein geeignetes Mass
für die Wohlfahrt sei. Es vernachlässige viele für die Lebensqualität rele-
vante Aspekte wie Glück, Umweltqualität, Gesundheitszustand, Sicherheit,
sozialer Zusammenhalt usw. Ein weiteres BIP-Manko wird darin gesehen,
dass es – was Durchschnitten und aggregierten Grössen inhärent ist – die
Einkommensverteilung nicht wiedergibt und ökologische und soziale
Kosten kaum einbezieht. Schliesslich wird kritisiert, dass sich das BIP auf
Markttransaktionen beschränkt und damit beispielsweise Hausarbeit inner-
halb der Familie und den informellen Sektor24 nicht erfasst.
Das BIP wurde dafür konzipiert,
marktwirtschaftliche Wertschöpfung zu
messen, nicht mehr und nicht weniger.
Stimmen diese Feststellungen? Ja. Ist die Kritik am BIP damit gerecht-
fertigt? Nein, denn das BIP wurde dafür konzipiert, marktwirtschaftliche
Wertschöpfung zu messen, nicht mehr und nicht weniger. Das BIP bleibt
also die beste Kennzahl zur international vergleichbaren Messung der
24 Teil einer Volkswirtschaft, dessen wirt-
schaftliche Aktivitäten nicht staatlich
erfasst werden. Beispiele: Direktverkauf
von Produkten aus eigener Herstellung,
Transportdienstleistungen, kleine Hand-
werksarbeiten.
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marktwirtschaftlichen Wertschöpfung. Es ist damit unbestritten eine gute
Kenngrösse für den Wohlstand, aber kein Mass zur Messung von Wohl-
fahrt bzw. der Lebensqualität. Wobei nicht zu verkennen ist, dass auch
immaterielle Werte wie Gesundheit, Bildung oder Sicherheit von der BIP-
Entwicklung mitbestimmt werden.
Das BIP ist und bleibt eine zentrale Orientierungsgrösse. Aus der Erkenntnis
seiner Grenzen wurden Indikatoren entwickelt, welche die Wohlfahrt abbil-
den bzw. messen sollen. Auf eine Auswahl davon gehen wir im Folgenden
ein.
5.2.2 Alternativen und Ergänzungen zum BIP
Vorab gilt es, zwischen Kompositindikatoren und Indikatorensystemen
zu unterscheiden. Während Erstere verschiedene Indikatoren zu einer
umfassenden Kennzahl aggregieren, werden in Indikatorensystemen die
Messgrössen einzeln ausgewiesen. Vier oft genannte Messsysteme werden
nachfolgend kurz beschrieben, bewertet und in Bezug auf ihre Eignung für
Liechtenstein eingeschätzt.
Better Life Index ( BLI )
💡
Ursprung
– Jahr: 2011
– Organisation: OECD
📑
Kurzbeschrieb
– Hauptfokus: Lebensqualität
– Wurde für die Better Life Initiative der OECD erarbeitet.
– Indikatoren in elf Themenfeldern in den Bereichen Lebens-
umstände und Lebensqualität: Wohnverhältnisse, Einkom-
men, Beschäftigung, Gemeinsinn, Bildung, Umwelt, Zivil-
engagement, Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Sicherheit,
Work-Life-Balance und zwischen verschiedenen Personen-
gruppen ( Geschlecht, Alter, Wohnort, Einkommen ).
– Kompositindikator, bei dem die Gewichtung der elf Themen
in einem interaktiven Tool selbst bestimmt werden kann.
– Abdeckung in 35 Ländern ( OECD-Länder sowie Brasilien,
Russland und Südafrika ) und verschiedenen Regionen.
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25 https://www.oecdbetterlifeindex.org/
Human Development Index ( HDI )
💡
Ursprung
– Jahr: 1990
– Organisation: UNO
📑
Kurzbeschrieb
– Hauptfokus: Entwicklungsstand
– Grundidee: Menschen und deren Fähigkeiten sollten neben
Wirtschaftswachstum in die Bewertung einbezogen werden.
– Drei Dimensionen werden bewertet: Langes und gesundes
Leben ( Lebenserwartung bei Geburt ), Bildung ( durchschnitt-
liche Anzahl Schuljahre und erwartete Anzahl Schuljahre bei
Schuleintritt ), ein angemessener Lebensstandard ( BNE pro
Kopf ).
– Kompositindikator, der jedes Jahr für 189 Länder berechnet
wird.
– Seit 2020 gibt es eine Variation des ursprünglichen Index,
der den Umweltaspekt ( produktionsbasierte CO2-Emissio-
nen und Ressourcen-Fussabdruck pro Kopf ) integriert: der
Planetary-Pressures-Adjusted HDI (PHDI).
+
Vorteile
– Hoher Bekanntheitsgrad, lange Tradition, v. a. im Entwick-
lungskontext.
– Hohe Datenverfügbarkeit, auch für Liechtenstein und andere
Kleinstaaten.
– BNE als wichtige Grösse für Liechtenstein.
– Nachweislich starke positive Korrelation mit der durch die
Bevölkerung wahrgenommenen Lebenszufriedenheit.
Better Life Index ( BLI )
+
Vorteile
– Zeigt auf, dass Wohlergehen von vielen Faktoren beeinflusst
wird und beinhaltet Aspekte aus allen Bereichen ( Wirtschaft,
Umwelt, Gesellschaft ).
– Möglichkeit der eigenen Gewichtung25. Fokus des Index ist
geeignet für industrialisierte Länder.
– Ermöglicht Ländervergleiche und bietet Information zu Teil-
aspekten innerhalb eines Landes.
– Durch OECD-Ursprung und die Verbindung zur Beyond-
GDP-Debatte relativ bekannt. Es erscheint ein jährlicher
Rapport ( « How’s Life » ) zur Entwicklung des Index.
–
Nachteile
– Den sozialen Aspekten wird mehr Gewicht gegeben als den
wirtschaftlichen und ökologischen. Dadurch wird seine Aus-
sagekraft in diesen Bereichen geschmälert.
Einschätzung
Eignung für
Liechtenstein
– Derzeit nicht verfügbar für Liechtenstein.
– Für einige Themenfelder kommen sehr spezifische Indika-
toren zum Einsatz, die für Liechtenstein eher nicht zur Ver-
fügung stehen ( z. B. Gemeinsinn, Indikator: Bevölkerungs-
anteile, die Freunde oder Verwandte haben, auf die sie sich
im Notfall verlassen können ).
– Kann Anhaltspunkte für eine umfassendere Wohlfahrtsmes-
sung liefern ( Definition des gesellschaftlichen Wohlergehens
und Aufteilung in Themenfelder ).
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Human Development Index ( HDI )
–
Nachteile
– Veränderung bei fortgeschrittenen Volkswirtschaften eher
klein, da die Lebenserwartung und die Anzahl ( erwarteter )
Schuljahre konstant hoch bleiben.
– Folglich eher geeignet für einzelne Entwicklungsländer oder
für den Vergleich zwischen unterschiedlich weit entwick elten
Volkswirtschaften.
– Der Umweltaspekt war bis zur Erweiterung im Jahr 2020
gänzlich ausgeschlossen und wurde bis anhin nicht retro-
spektiv berechnet.
Einschätzung
Eignung für
Liechtenstein
– Aufgrund der Datenverfügbarkeit wäre zwar eine Nutzung
möglich, aber die Aussagekraft ist für fortgeschrittene Volks-
wirtschaften aus den erwähnten Gründen nur beschränkt
aussagekräftig.
Happy Planet Index ( HPI )
💡
Ursprung
– Jahr: 2006
– Organisation: New Economics Foundation and Friends of the
Earth ( GB )
📑
Kurzbeschrieb
– Hauptfokus: Nachhaltiges Wohlergehen für alle.
– Der HPI misst, wie lange, glücklich und nachhaltig Menschen
in verschiedenen Ländern leben.
– Der Ursprung liegt in Erhebungen in den USA und Europa.
Darin gaben viele Menschen an, trotz steigenden BIP nicht
das Gefühl zu haben, dass sich das Leben verbessert hat.
– Basis bilden Berechnungen / Messungen zu Wohlbefinden,
Lebenserwartung, Ungleichheitsfaktor und ökologischem
Fussabdruck. Zur Berechnung wird die Summe der ersten
drei Faktoren durch den ökologischen Fussabdruck geteilt.
Daraus entsteht ein Kompositindikator für die ökologische
Effizienz, mit der ein Land Wohlbefinden generiert.
– Länder mit hohem Durchschnittseinkommen erreichen
wegen des grossen ökologischen Fussabdrucks tendenziell
einen eher tiefen Rang.
+
Vorteile
– Der HPI kombiniert objektive ( Lebenserwartung, Ungleich-
heitsfaktor, ökologischer Fussabdruck ) und subjektive ( Wohl-
befinden ) Indikatoren und berücksichtigt damit sowohl
ökologische als auch soziale Aspekte.
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Dashboard for the New Economy
💡
Ursprung
– Jahr: 2020
– Organisation: WEF
📑
Kurzbeschrieb
– Starker Bezug zur Covid-Krise, vor allem in Verbindung mit
der ( Markt- )Erholung.
– Indikatorensystem für makroökonomische Ziele jenseits des
BIP-Wachstums mit den vier Dimensionen Wohlstand ( über-
arbeitetes BIP, finanzielle Ungleichheiten, soziale Mobilität
und Finanzkapital ), Bevölkerung ( Bildungsniveau, Fähig-
keiten und Gesundheit, Zugang zu Bildung und Gesund-
heitswesen, nichtfinanzielle Aspekte der Ungleichheit und
Sozialkapital ), Erde ( THG-Emissionen, Indikatoren zum
Zustand der Natur, Naturkapital, Auswirkung und Aufwand
der Anpassung ) sowie Institutionen ( institutioneller Kontext,
u. a. Vertrauen in Regierung ).
+
Vorteile
– Sowohl Wirtschafts-, Gesellschafts- als auch Umweltaspekte
fliessen ein.
– Es werden Vorschläge zur Messung der Indikatoren gemacht
bzw. dazu, welche bestehenden Messungen genutzt werden
könnten.
– WEF als Organisation hat eine lange Tradition und hohes
Ansehen.
–
Nachteile
– Aktuell nur als Konzeptvorschlag vorhanden. Es ist unge-
wiss, ob der Index umgesetzt wird.
Happy Planet Index ( HPI )
–
Nachteile
– Daten werden nur alle vier Jahre aktualisiert, letztmals im
Oktober 2021.
– Die Einschränkung auf die erwähnten Aspekte und die Aus-
klammerung der wirtschaftlichen Entwicklung unterschlägt
möglicherweise weitere wichtige Faktoren.
– Der ökologische Fussabdruck ist für ärmere Länder – ins-
besondere für solche mit Exportindustrie – eher ungeeignet,
um den Druck auf die Umwelt zu messen. Dadurch gehören
Länder wie z. B. Bangladesch oder Nicaragua zu den Top
Ten.
Einschätzung
Eignung für
Liechtenstein
– Daten für Liechtenstein sind bis anhin nicht verfügbar, der
Index müsste eigenständig berechnet werden.
– Die Vergleichbarkeit ist deshalb allenfalls schwierig.
– Der Indikator kann Hinweise dazu liefern, welche Themen
als Ergänzung zum BIP miteinbezogen werden könnten.
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Dashboard for the New Economy
Einschätzung
Eignung für
Liechtenstein
– Es ist eher unwahrscheinlich, dass alle Indikatoren für Liech-
tenstein verfügbar sind.
– Da der Index aktuell noch nicht klar definiert und berechnet
ist, müsste er eigenständig berechnet werden.
– Die Vergleichbarkeit mit anderen Ländern wäre kaum gege-
ben, entweder weil sie ihn nicht umsetzen oder unterschied-
lich anwenden.
– Das Dashboard thematisiert viele für Liechtenstein relevante
Punkte. Zukunftsperspektiven und strategische wirtschafts-
politische Entscheidungen könnten auf dieser Grundlage
diskutiert werden.
– Die Publikation kann als relevanter Grundlagenbericht zur
Erweiterung der Wohlfahrtsmessung herangezogen werden
und bietet neben den relevanten einzubeziehenden Aspek-
ten auch Hinweise zu konkreten Indikatoren.
5.2.3 Messsystematik in Liechtenstein
Unter dem Titel einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik begann vor rund
20 Jahren auch in Liechtenstein die Diskussion über eine umfassendere
Messung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung
( Regierung, 2000; Regierung, 2008a ). Sie mündete in der Schaffung eines
Indikatorensystems, deren Auswertung 2010 erstmals veröffentlicht wurde
( AS, 2010 ). Es umfasst derzeit 55 Indikatoren und ist wie folgt konzipiert:
Themenbereich
Anzahl
Indikatoren
Beispiele
Lebensbedingungen 5 Wohnkosten, Bezieher wirtschaftlicher Hilfe
Gesundheit 4 Sterberate, Lebenserwartung bei Geburt
Sozialer
Zusammenhalt
4
Ungleichheit der Erwerbsverteilung, frühzeitige
Schulabgänger nach Staatsangehörigkeit
Internationale
Zusammenarbeit
2
Öffentliche Entwicklungshilfe, Mitgliedschaft in
internationalen Organisationen
Bildung und Kultur 6
Lesefähigkeit der 15-Jährigen, Bevölkerung mit
tertiärer Ausbildung
Arbeit 8 Erwerbsquote, Pendleranteil
Wirtschaft 7 BNE pro Einwohner, Arbeitsproduktivität
Mobilität 3
Motorisierungsquote, umweltfreundlicher
Personenverkehr
Energie und Klima 5
Energieintensität der Volkswirtschaft, Treibhaus-
gasemissionen
Natürliche
Ressourcen
11
Siedlungsfläche pro Einwohner, ökologische
Qualität des Waldes, Feinstaubkonzentration
Tabelle 1:
Systematik der Indikatoren für
eine nachhaltige Entwicklung
in Liechtenstein
Quelle: AS ( 2022k )
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Die Indikatorensysteme des schweizerischen Bundesamts für Statistik und
von Eurostat dienten als Vorlagen für die Konzeption und wurden durch
liechtensteinspezifische Indikatoren ergänzt.
Obwohl es in Liechtenstein seit über
zehn Jahren ein umfassendes Indikatoren-
system für eine nachhaltige Entwicklung gibt,
findet es bisher in politischen Programmen
kaum Beachtung.
Die Grundlage für eine Erfassung von Wohlfahrtsindikatoren ist also ge-
schaffen. Allerdings lässt sich deren Wirkung bzw. die Anwendung durch
die Politik nur schwer überprüfen. Denn obwohl die Systematik im Hin-
blick auf eine nachhaltige Wirtschaftspolitik eingeführt wurde, nehmen die
Regierungsprogramme oder wirtschaftspolitischen Strategiepapiere nicht
explizit Bezug darauf. Dies mag allenfalls daran liegen, dass es sich um
ein viele Aspekte umfassendes Indikatorensystem handelt, das gegenüber
einem zusammenfassenden Kompositindikator in der politischen Umset-
zung in einzelnen Bereichen ( z. B. Gewässerschutz ) zwar angewendet wird,
in einer Gesamtzielsetzung aber weniger praktikabel ist.
5.2.4 Zwischenfazit
Die vier beleuchteten, international bekannten Wohlfahrtsmasse wer-
den für Liechtenstein entweder nicht berechnet oder sind aufgrund der
Ausgangslage wenig geeignet.
Das 2010 implementierte Indikatorensystem ist umfassend und soll neu
auch in Richtung der UN-Nachhaltigkeitsziele ( SDG ) ausgebaut werden.
Obwohl es seit über zehn Jahren ein umfassendes Set an Daten liefert,
findet es in den politischen Programmen bis anhin kaum Berücksich-
tigung. Der Einfluss des Indikatorensystems auf die politische Arbeit
in den einzelnen Ministerien und Amtsstellen kann nicht eingeschätzt
werden.
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TEIL 2 – LIECHTENSTEINISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IM
RÜCK- UND AUSBLICK
6. Wirtschaftspolitik in Liechtenstein im Rückblick
6.1 Wirtschaftspolitische Programme
6.2 Zielerreichung
6.2.1 Soll-Ist-Vergleich
6.2.2 Wirtschaftliche Entwicklung als Resultat der Wirtschaftspolitik
6.3 Auswirkungen auf Verkehr, Raumentwicklung und
Nachhaltigkeitsaspekte
6.3.1 Verkehr
6.3.2 Raumentwicklung
6.3.3 Nachhaltige Entwicklung
6.4 Fazit zur Wirtschaftspolitik
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6 | Wirtschaftspolitik in Liechtenstein im
Rückblick
Wie in Kapitel 5 aufgezeigt, kann Wirtschaftspolitik nach verschiedenen
Grundüberlegungen und Wachstumskonzepten ausgerichtet werden. Be-
vor wir in Kapitel 7 mit drei Szenarien den Blick auf eine mögliche Zukunft
richten, beleuchten wir in diesem Kapitel die von der liechtensteinischen
Politik in den letzten Jahren formulierten wirtschaftspolitischen Ziele und
Konzepte. Auch versuchen wir aufzuzeigen, ob und wie die verfolgten
Ziele erreicht wurden.
6.1 Wirtschaftspolitische Programme
Die liechtensteinische Wirtschaftspolitik war in den vergangenen 20 Jah-
ren von drei Hauptstossrichtungen geprägt, die sich als roter Faden durch
Koalitionsverträge und Regierungsprogramme ziehen: die Schaffung und
Erhaltung attraktiver Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, die Siche-
rung eines möglichst diskriminierungsfreien Zugangs zu internationalen
Märkten und die Anpassung der Finanzplatzgesetzgebung an internatio-
nale Standards ( Geldwäscherei, Steuerkonformität usw. ). Daneben wurden
das Ziel einer möglichst diversifizierten Wirtschaftsstruktur, die Ansiedlung
wertschöpfungsstarker Unternehmen sowie eine geringe Regelungsdichte
bei gleichzeitig effizienten Verwaltungsstrukturen thematisiert. Das über-
geordnete Ziel, wenn auch nicht explizit so formuliert, lautete stets, ein
« nachhaltiges » oder « angemessenes » Wachstum der Wertschöpfung im
Inland zu erreichen, um den Wohlstand und die Lebensqualität zu erhö-
hen, die Arbeitslosigkeit tief zu halten und die Staatsausgaben finanzieren
zu können.
Ausführliche wirtschaftspolitische Programme sind nicht selten die Folge
parlamentarischer Interpellationen, so zum Beispiel die Antwort der Re-
gierung auf eine Interpellation zu den Zielvorstellungen über eine nach-
haltige Politik für die liechtensteinische Volkswirtschaft aus dem Jahr 2000
( Regierung, 2000 ) oder die ausführliche Regierungsantwort auf eine fast
gleichlautende Interpellation aus dem Jahr 2008 ( Regierung, 2008a ). Um-
fassender wurde die Wirtschaftspolitik 2014 mit der « Standortstrategie
Fürstentum Liechtenstein » ( Regierung, 2014 ), 2016 mit der daraus weiter-
entwickelten « Standortstrategie 2.0 » ( Regierung, 2016 ) und 2019 – auf-
bauend auf der 2013 beschlossenen ( nicht veröffentlichten ) Finanzplatz-
strategie – analysiert und formuliert. Und stärker als in den sonst üblichen
Regierungsprogrammen sind wirtschaftspolitische Aspekte in die Agenda
2020 der Regierung eingeflossen ( Regierung, 2010 ).
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6.2 Zielerreichung
6.2.1 Soll-Ist-Vergleich
Einen direkten Bezug der wirtschaftlichen Entwicklung zu den politischen
Programmen herzustellen, ist allein schon deshalb schwierig, weil diese in
der Regel nicht auf die Messbarkeit der Zielerreichung ausgerichtet sind.
Die Ziele sind meist allgemein formuliert. Einzig 2010 hat die Regierung
mit der Agenda 2020 einige Indikatoren definiert, deren Entwicklung
durch regelmässige Monitoringberichte überprüft werden sollte. Nach den
Landtagswahlen 2013 führte die neue Regierung den Ansatz allerdings
nicht weiter.
In diesem Kapitel wird versucht, die wirtschaftliche Entwicklung mit Blick
auf die wichtigsten wirtschaftspolitischen Aussagen und Ziele der letz-
ten 20 Jahre einzuordnen und zu bewerten.26 Es handelt sich dabei um
eine rückblickende Analyse und Bewertung. Die Herausforderungen und
Rahmenbedingungen der Zukunft werden sich in vielen Bereichen mit Be-
stimmtheit anders darstellen und der Politik veränderte Ziele abverlangen.
Ziel: Attraktive Rahmenbedingungen
Attraktive Rahmenbedingungen werden als Ziel in allen wirtschaftspoli-
tischen Programmen genannt. Laut einer 2011 durchgeführten Umfrage
bei Führungskräften in liechtensteinischen Unternehmen wirken sich
folgende Faktoren positiv auf den Wirtschaftsstandort aus: tiefe fiskalische
Belastung, Rechtssicherheit, gute rechtliche Rahmenbedingungen ( liberale
Wirtschaftsordnung und Arbeitsmarktregelungen ), Aus- und Weiterbil-
dungsmöglichkeiten sowie Stabilität, Effizienz und Wirtschaftsfreund-
lichkeit von Politik und Verwaltung. Als essenziell für die Wirtschaft wird
zudem die Einbettung in den Schweizer Wirtschaftsraum und die Mitglied-
schaft im EWR angesehen ( Regierung, 2014 ).
Wir werfen im Folgenden einen Blick auf zwei der genannten Faktoren,
nämlich die Arbeitsmarktregelungen und die Steuerbelastung für Unter-
nehmen.
Arbeitsmarkt
Das liechtensteinische Arbeitsrecht ist liberal ausgestaltet und unterstützt
damit eine positive Wirtschaftsentwicklung. Es wird keine gesetzliche
Normalarbeitszeit vorgeschrieben, die gesetzlichen Kündigungsfristen
26 Dass in den folgenden Kapiteln für ver-
schiedene Kennzahlen und Entwick-
lungen unterschiedliche Zeiträume dar-
gestellt werden, ist der eingeschränkten
Verfügbarkeit der statistischen Daten
geschuldet.
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schränken den Arbeitsmarkt nicht ein und es existiert kein gesetzlicher
Mindestlohn. Die Lohnnebenkosten sind mit den umliegenden Ländern
konkurrenzfähig. Reformbedarf besteht in Bezug auf neue Arbeitsmodelle
wie zum Beispiel plattformbasierte Selbstständigkeit oder zunehmende
Teilzeitarbeit, denen die heutigen Regelungen zu wenig Rechnung tragen
( Beck, Eisenhut & Lorenz, 2018 ).
Das liechtensteinische Arbeitsrecht ist liberal
ausgestaltet und unterstützt damit eine
positive Wirtschaftsentwicklung.
Potenziell gefährdet ist die Standortattraktivität durch die Regelungen bei
grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen. Die geltenden sozialversiche-
rungsrechtlichen Regelungen schränken den Spielraum für das Arbeiten im
Homeoffice für Grenzgängerinnen und Grenzgänger deutlich ein, vor allem
für die rund 5´000 in der Schweiz lebenden und in Liechtenstein arbeiten-
den EU-Bürgerinnen und -Bürger ( Quaderer & Lorenz, 2020 ). Denn für sie
wird die sonst bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen geltende
25 %-Grenze nicht angewendet. Schon bei einem kleinen Homeoffice-
Pensum müssten die im Homeoffice gearbeiteten Stunden sozialversiche-
rungsrechtlich in der Schweiz abgerechnet werden.
Mit den heutigen Regelungen ist es für rund ein Viertel der Grenzgänge-
rin nen und Grenzgänger – nämlich für alle in der Schweiz lebenden und
in Liechtenstein arbeitenden Personen aus einem EU- / EWR-Staat – nicht
ohne sozialversicherungsrechtliche Risiken möglich, im Homeoffice zu
arbeiten.
Die hohe Beschäftigung korreliert mit geringer Arbeitslosigkeit. Zwischen
2006 und 2021 lag die Arbeitslosenquote im Mittel bei tiefen 2.3 %
mit Jahresdurchschnitten zwischen 3.2 % ( 2006 ) und 1.5 % ( 2019 )
( AS, 2022f ).
Unternehmenssteuern
Mit dem 12.5 %igen Ertragssteuersatz und dem zusätzlichen Eigenkapital-
zinsabzug ist Liechtenstein im regionalen und internationalen Steuerwett-
bewerb gut aufgestellt. 2020 kannten von allen OECD-Staaten lediglich
Ungarn und Chile eine geringere Belastung für Unternehmensgewinne
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( Brunhart, Geiger & Prater, 2021 ). Die Auswirkungen der laufenden Dis-
kussionen über die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes sind für
Liechtenstein noch nicht abschätzbar. Allerdings wird die Standortattrak-
tivität für bestimmte Unternehmen dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit
negativ beeinflusst.
Neben den direkten Unternehmenssteuern ist die Fiskalquote ein Indikator
dafür, wie stark eine Volkswirtschaft durch Steuern und Sozialabgaben im
Verhältnis zum BIP belastet wird. 2019 lag die Quote für Liechtenstein bei
20.7 %. Im Vergleich mit den OECD-Staaten war dies der drittniedrigste
Wert ( Schweiz: 28.5 %, Österreich: 42.4 % ) ( AS, 2021d ). Allerdings lag die
Quote 2013 noch bei 17 %, sie ist also in den letzten Jahren nicht unwe-
sentlich gestiegen ( AS, 2022d ).
Ziel: Marktzugang
Die Mitgliedschaft im EWR und der Zollanschlussvertrag mit der Schweiz
bilden zwei zentrale Pfeiler zur Erreichung des Ziels, liechtensteinischen
Unternehmen den Zugang zu europäischen Märkten zu sichern. Ausser-
halb des EWR-Raums sind es in erster Linie die Freihandelsabkommen der
EFTA ( FTA ), die für Liechtenstein als EFTA-Mitglied zum Tragen kommen.27
Von 2000 bis 2021 ist die Zahl der EFTA-Freihandelsabkommen von zuvor
vier auf 31 angewachsen.
27 Aktuell bestehen 31 Freihandels-
abkommen, die 40 Länder und
Territorien ausserhalb der EU abdecken
( EFTA, 2022 ).
Abbildung 41:
Bestand Freihandelsabkom-
men im Rahmen der
EFTA-Mitgliedschaft, 2022
Quelle: EFTA ( 2022 )
0
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Ein Blick auf die Aussenhandelsdaten zeigt, dass die Abkommen zu einem
überdurchschnittlichen Austausch mit den beteiligten Staaten geführt
haben. Die Entwicklung des Aussenhandels von 2000 bis 2019 mit den
34 Staaten, mit denen in diesem Zeitraum ein entsprechendes Abkommen
abgeschlossen wurde, zeigt Tabelle 2 im Vergleich mit allen übrigen Handels-
partnern.
Tabelle 2:
Aussenhandel mit EFTA-FTA-
Vertragsstaaten im Vergleich
mit übrigen Handelspartnern,
2000 und 2019
Quelle: AS ( 2022e )
Länder mit FTA
ab 2000
Übrige Länder
2000 2019 2000 2019
Import
in Mio. CHF 15 83 1’441 1’896
Anteil an Gesamtvolumen 1.0 % 4.2 % 99.0 % 95.8 %
Durchschnittliche Wachstumsrate 9.4 % 1.5 %
Export
in Mio. CHF 219 449 2’813 3’251
Anteil an Gesamtvolumen 7.2 % 12.1 % 92.8 % 87.9 %
Durchschnittliche Wachstumsrate 3.9 % 0.8 %
Handelsbilanzsaldo
in Mio. CHF 206 366 1’370 1’355
Anteil an Gesamtvolumen 13.1 % 21.3 % 86.9 % 78.7 %
Durchschnittliche Wachstumsrate 3.1 % -0.1 %
Sowohl das Import- als auch das Exportvolumen mit diesen FTA-Vertrags-
staaten sind prozentual deutlich stärker gestiegen als diejenigen mit den
übrigen Ländern. Mit 21 % des Handelsbilanzüberschusses (2019) hat die
Ländergruppe mittlerweile einen relevanten Anteil am liechtensteinischen
Aussenhandel erreicht. Die Ziele der Abkommenspolitik sind also nicht nur
durch die Anzahl abgeschlossener Verträge, sondern auch durch die über-
durchschnittliche Handelsentwicklung erreicht.
Für die regionalen Wirtschaftsaktivitäten
sind die administrativen Hürden im
grenzüberschreitenden Dienstleistungs-
verkehr vor allem mit der Schweiz störend.
Für die regionalen Wirtschaftsaktivitäten sind die administrativen Hür-
den im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr vor allem mit der
Schweiz störend. Die Problematik wird in den Regierungsprogrammen
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Abbildung 42:
Bestand bilaterale Doppel-
besteuerungsabkommen und
Steuerabkommen über den In-
formationsaustausch ab 2009
Quelle: STV (2022)
TIEA
DBA
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TIEA
DBA
2021202020192018201720162015201420132012201120102009
Be
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regelmässig angesprochen. Bisher ist allerdings noch keine zufriedenstel-
lende Lösung erreicht worden (Lorenz, Eisenhut & Beck, 2020).
Ziel Finanzplatz: Übernahme internationaler Regulierungserforder-
nisse, gute Rahmenbedingungen und Sicherung des Marktzugangs
Die Schaffung optimaler Rahmenbedingungen und die Anpassung an
internationale Erfordernisse (Geldwäscherei, Steuerkonformität usw.) ist
durchgängiges Hauptziel der Finanzplatzstrategie. Eine grundsätzliche Neu-
ausrichtung leitete die Regierung 2009 mit der « Liechtenstein-Erklärung »
und dem Bekenntnis zu den OECD-Standards bezüglich Transparenz und
Informationsaustausch in Steuerfragen ein. Obwohl in den vergangenen
Jahren Fortschritte erzielt wurden, sind sowohl in Europa als auch weltweit
noch immer Einschränkungen oder Diskriminierungen für liechtenstei-
nische Unternehmen im grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr vorhanden
(Regierung, 2019). Ebenfalls Teil der Strategie ist der Ausbau des Netzes
an Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) und Steuerabkommen über den
Informationsaustausch (TIEA, Tax Information Exchange Agreement). In den
vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl der DBA und TIEA auf 21 bzw. 29
gestiegen, jeweils 17 davon mit europäischen Abkommenspartnern (STV,
2022).
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28 Aktuell bestehen 31 Freihandels-
abkommen, die 40 Länder und Territo-
rien ausserhalb der EU abdecken ( EFTA,
2022 ).
29 Lebens-, Rück- und Schadenversiche-
rungen
30 Finanz- und Versicherungsdienstleis-
tungen, Rechts- und Steuerberatung,
Wirtschaftsprüfung
31 Eine Analyse nach Wertschöpfungs-
anteilen ist mangels verfügbarer Daten
(Systembrüche) über einen längeren
Zeitraum nicht möglich.
Einige ausgewählte Kennzahlen zeigen, dass sich der Finanzplatz in eine
positive Richtung entwickelt:
Das betreute Kundenvermögen der Banken erhöhte sich von
CHF 122 Mrd. im Jahr 2005 auf CHF 201 Mrd. im Jahr 202128
(FMA, 2011; FMA, 2022);
Das Volumen der Fondsindustrie betrug 2000 noch CHF 3 Mrd., 2020
belief es sich auf CHF 70 Mrd. (Liechtenstein Finance, 2022);
Das Prämienvolumen liechtensteinischer Versicherungen29 entwickelte
sich von CHF 2.6 Mrd. im Jahr 2004 auf CHF 5.6 Mrd. im Jahr 2021
(FMA, 2011; FMA, 2022);
Die Anzahl der Arbeitsplätze in den finanzplatzbezogenen Wirtschafts-
zweigen30 ist von 2008 bis 2020 um 24 % auf 7´346 gestiegen (AS,
2022c).
Dieser Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit. So wurden beispielsweise vom Finanzplatz ausgehende
volkswirtschaftliche Risiken nicht berücksichtigt. Durch die Einbettung in
den EWR-Regulierungsrahmen profitiert das Land in Bezug auf die Finanz-
platzrisiken zwar von europäischen Standards. Die gleichzeitige Zugehörig-
keit zum Schweizer-Franken-Währungsraum bringt aber Herausforderun-
gen durch unterschiedliche Regulierungsinhalte und -geschwindigkeiten
mit sich (Lorenz, Eisenhut & Beck, 2020). Trotz hoher Regulierungskosten
ist diese Zweigleisigkeit jedoch die beste Lösung – denn kein anderes Land
hat uneingeschränkten Zugang sowohl zum Schweizer als auch zum euro-
päischen Wirtschaftsraum.
Nach wie vor eine relevante Rolle für die Stabilität eines gerade auf Vermö-
gensverwaltung spezialisierten Finanzplatzes spielen die mit Geldwäscherei
verbundenen Reputationsrisiken (FMA, 2020).
Ziel: Diversifikation
Eine diversifizierte Volkswirtschaft ist krisenresistenter und daher ebenfalls
ein oft genanntes wirtschaftspolitisches Ziel. Nach Sektoren betrachtet
zeigt sich auch in Liechtenstein eine Verschiebung in Richtung Dienstleis-
tungsgesellschaft. Der Anteil an Arbeitsplätzen (in VZÄ) im Industriesektor
ist von 45 % im Jahr 2008 auf 40 % im Jahr 2020 gesunken. Im Gegenzug
wuchs der Dienstleistungsbereich von 54 % auf 59 % (AS, 2022b)31 an.
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Abbildung 43:
Anteil Arbeitsplätze (VZÄ)
nach Sektoren, 2008 – 2020
Quelle: AS (2022b)
Dienstleistung
Industrie
Landwirtschaft
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Industrie
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Positiv zu bewerten ist, dass es innerhalb der einzelnen Sektoren keine
dominanten Wirtschaftszweige gibt. Dies reduziert volkswirtschaftliche
Klumpenrisiken. Im Industriesektor stellten Ende 2020 der Maschinenbau
(20%), das Baugewerbe (17%) und der Fahrzeugbau (17%) die meisten
Arbeitsplätze. Seit 2008 hat eine Verlagerung vor allem vom Maschinen-
zum Fahrzeugbau stattgefunden. Dabei dürften einzelne Wirtschafts-
zweige von grossen, global tätigen Unternehmen dominiert sein und
innerhalb eines Zweiges ein gewisses Klumpenrisiko bilden. Je kleiner eine
Volkswirtschaft ist, desto unvermeidlicher ist zwar die Bedeutung grosser
Arbeitgeber, die aber auch Stabilitätsfaktoren bilden können. Die doch
bemerkenswerte Konzentration international ausgerichteter Unternehmen
auf kleinem Raum spricht für attraktive Rahmenbedingungen.
Bei den Dienstleistungen sind Finanz- und Versicherungsdienstleistungen
(18%), Rechts-/Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung (12%) sowie Han-
del, Instandhaltung und Reparaturen von Fahrzeugen (12%) die arbeits-
platzstärksten Wirtschaftszweige. Die Anzahl der Arbeitsplätze in der
Klasse «Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung; Buchführung», die auch
den Treuhandsektor enthält, hat sich – eher überraschend angesichts der
umfangreichen regulatorischen Veränderungen – kaum verändert. Einen
starken Zuwachs mit über 200 VZÄ von 2008 bis 2020 verzeichnete der
Public-Relations- und Unternehmensberatungsbereich (AS, 2022a).
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Abbildung 44:
Diversifikation Arbeitsplatz-
struktur (VZÄ) total und nach
Sektoren (Herfindahl-Hirsch-
man-Index, HHI), 2008 – 2020
Quelle: AS (2022b), eigene Berechnungen
Industrie
Dienstleistung
Total
0
0.02
0.04
0.06
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Total
Dienstleistungen
Industrie
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2011201020092008
Abbildung 44 zeigt die Diversifikation bzw. Konzentration der Beschäfti-
gungsstruktur, berechnet nach dem Herfindahl-Hirschman-Index (je tiefer
der Wert, desto diversifizierter die Struktur). Über den betrachteten Zeit-
raum blieb die Diversifikation sowohl für die gesamte Arbeitsplatzstruktur
als auch für die beiden Hauptsektoren stabil bzw. sie erhöhte sich leicht.
Deutlich wird auch die unterschiedliche Konzentration zwischen den
Sektoren. Der Dienstleistungsbereich ist klar diversifizierter als der Indus-
triesektor. Insgesamt ist das Ziel erreicht.
Im Vergleich mit der Schweiz zeigt Liechtenstein eine deutlich stärkere
Diversifikation im Industriesektor. Sie ist in erster Linie im hohen Arbeits-
kräfteanteil (in VZÄ) des Bausektors in der Schweiz begründet, der in den
letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist (BFS, 2021a; eigene Berechnun-
gen).
Ziel: Wertschöpfungsstarke Unternehmen und Branchen
Technologie- und wissensintensive Unternehmen und Branchen tragen in
der Regel überproportional zur Wertschöpfung bei. Ein hoher Anteil der
Beschäftigten in diesen Branchen weist höhere Bildungsabschlüsse auf und
die Unternehmen investieren überdurchschnittlich in Forschung und Ent-
wicklung. Gerade für Hochlohnländer wie Liechtenstein sind diese Aspekte
relevant für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum.
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Insgesamt ist der Anteil der Arbeitsplätze in technologie- und wissensinten-
siven Branchen im Zeitraum von 2007 bis 2020 um 6.1 Prozentpunkte ge-
stiegen. Der Zuwachs ist allerdings ausschliesslich in den wissensintensiven
Wirtschaftszweigen erfolgt.32 2020 haben diese beiden Kategorien knapp
zwei Drittel der Arbeitsplätze (VZÄ) gestellt. Demnach korrespondiert die
eingetretene Entwicklung mit dem politischen Ziel. Zum Vergleich: In der
Schweiz lag 2019 der Beschäftigungsanteil der technologieintensiven
Branchen im Landesdurchschnitt bei 7.5 % (im Nachbarkanton St. Gallen
bei 10 %), in den wissensintensiven Dienstleistungsbereichen schweizweit
bei 45 % (St. Gallen: 37 %) (SG-Statistik, 2022).
Ziel: Schlanker Staat
Die Staatsquote misst die öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum BIP und
ist ein Mass dafür, welchen Anteil der Wirtschaftsleistung der Staat (alle
Staatsebenen: Land, Gemeinden, Sozialversicherungen) für seine Auf-
gabenerfüllung in Anspruch nimmt. Mit einer Quote von 26.3 % erreicht
Liechtenstein im europäischen Vergleich (EU- / EFTA-Staaten) den tiefsten
Wert vor Irland (27.3 %) und der Schweiz ( 37.8 % ) (AS, 2022j). Wie in den
anderen Ländern hat die Covid-Krise die öffentlichen Ausgaben ansteigen
lassen. Gleichzeitig ist das BIP eingebrochen. Als Folge ist die Staatsquote
auch in Liechtenstein stark gestiegen, 2019 lag der Wert noch bei 21.8 %.
Zudem gilt es zu beachten, dass sowohl die Schweiz als auch Liechtenstein
zu den wenigen Ländern gehören, die wesentliche Teile der sozialen Siche-
rung über private Krankenkassen und Pensionskassen abwickeln, während
diese Ausgaben in anderen Ländern Teil des Staatshaushaltes sind und sich
Abbildung 45:
Entwicklung Arbeitsplätze
(VZÄ) in technologie- und
wissensintensiven Wirtschafts-
zweigen, 2007 – 2020
Quelle: AS (2022i)
weitere
wissensintensiv
technologieintensiv
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
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weitere
wissensintensiv
technnologieintensiv
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44
21
32 Die Zuordnung der Wirtschaftszweige
zu « wissensintensiv » und « technologie-
intensiv » basiert auf der Methodologie
von Eurostat und umfasst folgende
Wirtschaftszweige nach NOGA08:
technologieintensiv (20, 21, 25.4, 26,
27 – 29, 30, 32.5), wissensintensiv (50,
51, 58 – 66, 69 – 75, 78, 80, 84 – 93).
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33 Der Ausreisser 2012 ist vor allem auf
die Sanierung der staatlichen Pensions-
versicherung durch öffentliche Mittel
zurückzuführen.
in der Staatsquote niederschlagen. Avenir Suisse beziffert diesen Effekt für
die Schweiz mit rund 11 Prozentpunkten (Salvi, 2017). Aufgrund der weit-
gehend ähnlichen Systeme dürfte diese Grössenordnung auch für Liech-
tenstein gelten. Auch wenn dieser Umstand berücksichtigt wird, rangiert
Liechtenstein auf einem Spitzenplatz.
Die Covid-Krise hat zwar die Staatsquote
auch in Liechtenstein stark ansteigen lassen.
Das Land belegt aber im europäischen Ver-
gleich die Spitzenposition.
Der Staatsquoten-Vergleich hinkt allerdings, weil die vielen Zupendelnden
einerseits wesentlich zum hohen BIP beitragen. Andererseits belasten sie
die öffentlichen Ausgaben nicht wesentlich. Das Verhältnis von öffent-
lichen Ausgaben zum BNE – also dem ausschliesslich den Inländern aus dem
In- und dem Ausland zufliessenden Einkommen – wäre demnach aussage-
kräftiger. Allerdings hat sich das BNE-Niveau in jüngerer Vergangenheit dem
BIP angenähert. Dies dürfte neben den von den Finanzmärkten beeinfluss-
ten Vermögenszuflüssen aus dem Ausland auch strukturelle Gründe haben
(siehe dazu Brunhart, 2020).
Abbildung 46:
Staatsquote in Liechtenstein,
2011 – 201933
Quelle: AS (2021b)
0
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6.2.2 Wirtschaftliche Entwicklung als Resultat der
Wirtschaftspolitik
Wesentlich ist nun die Frage, inwiefern die in Kapitel 6.2.1 behandelten
Entwicklungen sich auch volkswirtschaftlich niedergeschlagen haben. Die
Antwort ist nicht einfach zu ermitteln, denn Kennzahlen wie das BIP als
Summe der Wertschöpfung einer Volkswirtschaft oder das BNE als Total
aller Einkommen der Inländer (Private, Unternehmen, Staat) sind keine
alles umfassenden Indikatoren zur Beurteilung des Resultats wirtschafts-
politischer Rahmenbedingungen. Institutionen wie das WEF oder die IMD
Business School in Lausanne beurteilen die Wettbewerbsfähigkeit von
Volkswirtschaften nicht ohne Grund mit langen Listen von Kriterien. Eine
solche Gesamtbeurteilung kann diese Studie nicht leisten. Zwar ist das
liechtensteinische BIP nicht durch natürliche Standortfaktoren wie beispiels-
weise Bodenschätze beeinflusst. Es wird aber durch die Kleinheit und die
starke Export orientierung wesentlich von internationalen Entwicklungen
und Ereignissen mitbestimmt.
Trotz Liechtensteins starkem Wirtschafts-
wachstum hat die Bevölkerung nur wenig
vom Wohlstandszuwachs profitiert.
In Kapitel 2 haben wir die BIP- und BNE-Entwicklung aufgezeigt und in
Kapitel 3 beschrieben, dass das liechtensteinische BIP in erster Linie durch
mehr Arbeitsstunden und nicht durch höhere Produktivität gewachsen ist.
Das (reale) BNE pro Kopf der Bevölkerung lag Ende 2019 nur leicht über
dem Niveau von 2000. Trotz Liechtensteins starkem Wirtschaftswachs-
tum hat die Bevölkerung davon also nur wenig in Form von Wohlstands-
zuwachs profitiert. Man mag einwenden, dass ohne dieses Wachstum der
Wohlstand sogar zurückgegangen wäre. Oder dass eine Steigerung auf
dem welthöchsten Niveau schwierig ist und es bereits als Erfolg gewertet
werden kann, wenn der Spitzenplatz verteidigt wird. Jedenfalls wird die
Entwicklung nicht dem erwähnten wirtschaftspolitischen Ziel gerecht,
durch « nachhaltiges » und « angemessenes » Wachstum den Wohlstand der
Bevölkerung zu erhöhen.
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6.3 Auswirkungen auf Verkehr, Raumentwicklung und
Nachhaltigkeitsaspekte
Wirtschaftspolitik kann indessen nicht isoliert betrachtet werden. Sie tan-
giert und beeinflusst andere Bereiche, und die Politik ist gefordert, negative
Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung zu erkennen und allen-
falls zu verhindern. In den räumlich engen Grenzen Liechtensteins geht es
hauptsächlich um den Verkehr und die Raumentwicklung. Im Folgenden
werden einige Einzelaspekte dieser beiden Bereiche untersucht, ob dabei
das Ziel einer nachhaltigen (wirtschaftlichen) Entwicklung erreicht wurde.
6.3.1 Verkehr
Die Verkehrspolitik war stets relevanter Bestandteil der Regierungs-
programme der letzten Jahre. Thematisiert wurde eine breite Palette von
Massnahmen. Durchgängig ist die Hauptstossrichtung erkennbar, die durch
Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsentwicklung ständig wachsende
Mobilitätsnachfrage vor allem durch den öffentlichen Verkehr zu bedienen
und auch den Langsamverkehr als Alternative attraktiver zu gestalten.
Schon 1997 hielt die Regierung unter anderem als drei von zehn Grundsät-
zen fest (Regierung, 1997):
(2) « Die Verkehrsmittel müssen besser ausgenutzt werden. Insbesondere
muss vermieden werden, dass Pkws mit nur einer Person besetzt sind, oder
dass Lkws Leerfahrten ausführen. »
(4) « Aus Gründen der Lebensqualität und der Gesundheit der Bevölkerung,
des Umweltschutzes und der Kapazitätsengpässe auf dem Strassennetz
müssen der öffentliche und nichtmotorisierte Verkehr gegenüber dem
motorisierten Individualverkehr bevorzugt werden. Die Bevorzugung
der Verkehrsteilnehmer geschieht in folgender Reihenfolge: Fussgänger
vor Radfahrern, vor öffentlichem Verkehr, vor motorisiertem Individual-
verkehr. »
(6) « Das bereits bestehende Angebot des öffentlichen Verkehrs ist auf dem
hohen, heutigen Niveau zu halten und den sich ändernden Rahmenbedin-
gungen anzupassen. Es sind Massnahmen zu fördern, die die Akzeptanz
des öffentlichen Verkehrs erhöhen und das Umsteigen vom Individual-
verkehrsmittel zum öffentlichen Verkehrsmittel erleichtern. Für Liechten-
stein ist der Bus das geeignetste öffentliche Verkehrsmittel […]. »
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Erst neun Jahre später erfolgte mit dem Mobilitätskonzept « Mobiles Liech-
tenstein 2015 » eine aktualisierte Gesamtkonzeption der Verkehrspolitik
(Regierung, 2008b), die jüngst mit dem « Mobilitätskonzept 2030 » aktuali-
siert und erweitert wurde (Regierung, 2020a).
Der Motorisierungsgrad und der Modal Split für den Arbeitsweg geben
Hinweise darauf, inwiefern diese Ziele erreicht wurden.
Motorisierungsgrad
1970 1980 1990 2000 2010 2021
Personenwagen je
1'000 Einwohner
297 487 594 672 749 782
Tabelle 3:
Motorisierungsgrad in
Liechtenstein, 1970 – 2021
Quelle: AS (2022k)
Tabelle 4:
Entwicklung der Verkehrs-
mittelwahl für den Arbeits-
weg, 1990 – 2015
Quelle: Beck & Lorenz (2019)
Entgegen den verkehrspolitischen Zielen nimmt in Liechtenstein die Nut-
zung des Autos für den Arbeitsweg zulasten des ÖV zu. Dessen Zuverläs-
sigkeit ist in den Spitzenstunden nicht mehr gegeben. Der Verkehrsbetrieb
LIEmobil stellt fest: « Durch das permanent hohe Verkehrsaufkommen mit
häufigen Staus zu Hauptverkehrszeiten kommt es immer wieder zu An-
schlussbrüchen und grossen Verspätungen. » (LIEmobil, 2020).
Höhere Staukosten sind vorprogrammiert,
und die Arbeitsplatzattraktivität wird
durch die schlechtere Erreichbarkeit für
Zupendelnde beeinträchtigt.
1990 2000 2010 2015
Motorisierter Individualverkehr (MIV) 66 % 72 % 72 % 75 %
Öffentlicher Verkehr (ÖV) 21 % 17 % 15 % 13 %
Langsamverkehr (LV) 13 % 11 % 13 % 12 %
Liechtenstein ist europäischer Spitzenreiter punkto Motorisierungsgrad. Ein
hoher PKW-Bestand pro Kopf führt tendenziell zu vermehrter Nutzung.
Auch der PKW-Besetzungsgrad ist mit 1.04 Personen auf dem Arbeitsweg
rekordtief (Beck & Lorenz, 2019).
Verkehrsmittelwahl für den Arbeitsweg
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Das von der Politik anvisierte Hauptziel wurde mit den getroffenen Mass-
nahmen nicht erreicht und bleibt angesichts des bis anhin unveränderten
Arbeitsplatzwachstums eine zentrale Herausforderung. Die Verkehrs-
modelle der Regierung zeigen, dass sich bis 2030 die Verkehrsbelastung
an diversen neuralgischen Punkten, vor allem bei den Rheinbrücken Vaduz
und Bendern, nochmals deutlich verschlechtern wird. Höhere Staukosten
sind vorprogrammiert, und die Arbeitsplatzattraktivität wird durch die
schlechtere Erreichbarkeit für Zupendelnde beeinträchtigt. Zukunft.li hat
mit « Fokus Road Pricing. Ein System zur effizienten Nutzung der Strassen-
infrastruktur. » einen möglichen Lösungsweg dazu in Diskussion gebracht
(Beck, Eisenhut & Lorenz, 2020).
6.3.2 Raumentwicklung
Ähnliches wie für den Verkehrsbereich gilt für die Raumentwicklung. Die
Regierungsprogramme haben das Thema stets angesprochen. In einzelnen
Strategiedokumenten (Raumordnungsberichte 2008 und 2012, Raum-
konzept Liechtenstein 2020) wurde es umfassend analysiert und mit politi-
schen Zielen und Massnahmen versehen.
Wegen der zahlreichen Verknüpfungen der Ziele mit anderen Politikberei-
chen ist es an dieser Stelle nicht möglich, die Zielerreichung in der Raum-
politik umfassend zu beleuchten. Ein wichtiger Indikator ist die Entwick-
lung der Siedlungsfläche. Als Kleinstaat muss Liechtenstein dem Verbrauch
und der Nutzung der wenigen Flächen ein besonderes Augenmerk schen-
ken. Durchgängig ist in den politischen Programmen der letzten Jahre die
« Verdichtung nach innen » als Ziel zu finden. Als Aspekte dieses Zieles
werden unter anderem die Steigerung der Siedlungsqualität, die Siedlungs-
begrenzungen und die Erhöhung der Ausnutzung im mehrheitlich über-
bauten Gebiet beschrieben (Regierung, 2020b).
Während die qualitativen Aspekte schwer zu greifen sind, lässt sich eine
höhere Ausnutzung anhand verfügbarer Daten eher messen. Diese Ver-
dichtung gelingt, wenn mehr Menschen auf der gleichen bebauten Fläche
leben, also zum Beispiel durch höhere Gebäude oder eine geringere
Wohnfläche pro Person. Die Siedlungsfläche pro Kopf der Bevölkerung ist
seit Jahren relativ konstant und betrug 2019 470 m2. Sie umfasst neben
den Gebäudeflächen auch jene für den Verkehr, für Erholungs- und Grün-
anlagen sowie besondere Siedlungsflächen34. Die auf den ersten Blick
positive Feststellung wird relativiert, wenn man die Siedlungsfläche in ihre
34 Beispielsweise Deponien, Abbau, Bau-
stellen
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Abbildung 47:
Nutzung Siedlungsfläche in m2
pro Einwohner, 1984 – 2019
Quelle: BFS (2022), eigene Berechnungen
Nicht spezifiziertes Gebäudeareal
Öffentliches Gebäudeareal
Landwirtschaftliches
Gebäudeareal
Besondere Siedlungsflächen
Erholungs- und Grünanlagen
Verkehrsflächen
Industrie- und Gewerbeareal
Wohnareal
Komponenten unterteilt und feststellt, dass die Pro-Kopf-Fläche für das
Wohnareal35 von 1984 bis 2019 um 25 m2 oder 16 % gestiegen ist, auch
wenn der Zuwachs durch eine Reduktion der Industrie-, Gewerbe- und
Verkehrsflächen kompensiert wurde (BFS, 2022).
Die politisch anvisierte Innenverdichtung im
Sinne einer höheren Ausnutzung hat nicht
stattgefunden.
35 Ein- und Zweifamilienhäuser, Reihen-
und Terrassenhäuser, Mehrfamilien-
häuser inkl. Umschwung
0
50
100
150
200
250
300
350
400
450
500
Nicht spezifiziertes Gebäudeareal
Öffentliches Gebäudeareal
Landwirtschaftliches Gebäudeareal
Besondere Siedlungsflächen
Erholungs- und Grünanlagen
Verkehrsflächen
Industrie- und Gewerbeareal
Wohnareal
201920142008200219961984
m
2
pr
o
Ei
nw
oh
ne
r
158 170 177 183 188 183
53
57 54 50 47 45
141 128 125 125 120 119
Analysiert man das reine Wohnareal, wird erst recht klar, dass die politisch
anvisierte Innenverdichtung im Sinne einer höheren Ausnutzung nicht
stattgefunden hat. Im Gegenteil stieg die durchschnittliche Pro-Kopf- Fläche
bei dem für reine Wohnzwecke genutzten Areal kontinuierlich
(Abbildung 48).
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Abbildung 48:
Nutzung Wohnareal in m2 pro
Einwohner, 1984 – 2019
Quelle: BFS (2022), eigene Berechnungen
Umschwung von Mehrfamilien-
häusern
Mehrfamilienhäuser
Umschwung von Ein- und Zwei-
familienhäusern
Ein- und Zweifamilienhäuser
36 Bei der Interpretation ist zu berück-
sichtigen, dass die Arealstatistik
aus methodischen Gründen den
Arealverbrauch – vor allem des Dienst-
leistungssektors – nicht ganz korrekt
abbildet. Gebäude mit Mischnutzungen
Arbeit / Wohnen und deren Um-
schwung, bei denen sich nicht eindeu-
tig eine gewerbliche Nutzung erkennen
lässt, werden nicht dem Industrie- und
Gewerbeareal zugeteilt und dieses so
systematisch unterschätzt.
Positiv entwickelt sich der Flächenbedarf für die Wirtschaft. Das Indust-
rie- und Gewerbeareal beanspruchte 1984 noch 141 ha oder 90 m2 pro
Beschäftigten. Bis 1996 stieg der Wert auf 177 ha (79 m2) und sank bis
2019 wieder leicht auf 174 ha bzw. 43 m2.36 Dies dürfte zu einem beträcht-
lichen Teil auf den Strukturwandel zurückzuführen sein: Von 1984 bis 2019
stieg die Zahl der Beschäftigten im Industriesektor um 5´800 (+64 %). Im
Dienstleistungsbereich betrug der Zuwachs hingegen fast 18´000 (+232 %)
(AS, 2022h).
Die Siedlungsstruktur und -entwicklung wird nicht zuletzt durch Bauzonen
beeinflusst, die Platz für deutlich über 100´000 Personen inklusive der
dazugehörigen Arbeitsplätze bieten. Während die Wohnzonen über er-
hebliche, noch nicht genutzte Reserven verfügen, bestehen in den Arbeits-
zonen (Wohn- und Gewerbezone, Gewerbe und Industrie) praktisch keine
Baulücken (Beck & Lorenz, 2019).
6.3.3 Nachhaltige Entwicklung
62-mal wird die « Nachhaltigkeit » in den Regierungsprogrammen seit 2001
erwähnt, davon alleine 36-mal im Regierungsprogramm für die laufende
Legislatur. Seit 2010 wird sie mit über 50 Indikatoren statistisch gemessen.
Wirtschaft bildet dabei einen von zehn Themenbereichen. Die ihr zuge-
ordneten Indikatoren sind BNE pro Kopf, Fiskalquote, umweltbezogene
Steuern, Arbeitsproduktivität, Patentanmeldungen, Siedlungsabfälle und
Abfall-Recyclingquote.
0
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
Umschwung von Mehrfamilienhäusern
Mehrfamilienhäuser
Umschwung von Ein- und Zweifamilienhäusern
Ein- und Zweifamilienhäuser
201920142008200219961984
m
2
pr
o
Ei
nw
oh
ne
r
27 31 33 36 36 34
109
4
15
109
8
18
109
9
20
113
9
20
116
10
20
108
12
23
107
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Abbildung 49:
Indikatoren für eine nachhal-
tige Entwicklung – ausgewählte
Bereiche, 2010 und 2022
Quelle: AS (2010), AS (2022k)
negativ
neutral
positiv
Die Zahl in Klammer nach den einzelnen Bereichen entspricht der Anzahl Indikatoren.
0%
20%
40%
60%
80%
100%
negativ
neutral
positiv
2010 20222010 20222010 20222010 2022
Mobilität
(3)
Energie/Klima
(5)
Natürliche
Ressourcen
(11)
Arbeit
(8)
Wirtschaft
(7)
A
nt
ei
l a
n
In
di
ka
to
re
n
pr
o
Be
re
ic
h
2010 2022
Von den sieben Indikatoren im Wirtschaftsbereich wird die aktuelle Ent-
wicklung bei dreien positiv37, bei einem neutral38 und bei dreien negativ39
bewertet. Im Vergleich zur ersten Erhebung im Jahr 2010 haben sich drei
Indikatoren verschlechtert: Fiskalquote, umweltbezogene Steuern und
Arbeitsproduktivität. Der Indikator für Patentanmeldungen hat sich hin-
gegen verbessert und bei den restlichen Indikatoren wird die Entwicklung
heute gleich beurteilt wie vor zwölf Jahren. Über den gesamten Zeitraum
betrachtet haben sich die Nachhaltigkeitsindikatoren in diesem Bereich also
verschlechtert. Die Indikatoren der anderen vier gezeigten Bereiche haben
zumindest teilweise Wechselwirkungen zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Negativ fällt die Bewertung bei der Mobilität aus. Das bestätigen die Aus-
führungen in Kapitel 6.3.1. Hingegen entwickelten sich die Messgrössen für
Arbeit, natürliche Ressourcen und Energie / Klima in den letzten Jahren
mehrheitlich positiv. Allerdings ist auch hier ein kritischer Blick angebracht.
Demnach führt der hohe Pendleranteil der Beschäftigten in Kombination
mit der geringen ÖV-Nutzung für den Arbeitsweg zu Treibhausgasemissio-
nen, die durch die liechtensteinische Wirtschaft verursacht werden, aber
nicht in die inländische Emissionsbilanz einfliessen, wenn der Verbren-
nungsmotor im Ausland betankt wird. Auch wenn die so angestellten Mes-
sungen der international definierten Regelungen korrekt folgen, schneidet
Liechtenstein in der Beurteilung systematisch zu gut ab.
37 BNE pro Einwohner, Patentanmel-
dungen, Abfall-Recyclingquote
38 Arbeitsproduktivität
39 Fiskalquote, umweltbezogene Steuern,
Siedlungsabfälle
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6.4 Fazit zur Wirtschaftspolitik
Auf den Punkt gebracht:
Die meisten wirtschaftlichen Kennzahlen belegen eine positive Ent-
wicklung, die jedoch durch die über einen längeren Zeitraum unver-
änderte Produktivität und einen nur leichten Anstieg des BNE pro Kopf
an Glanz verliert. So beurteilt, resultierten für die Bevölkerung in den
vergangenen Jahren kaum Wohlstandsgewinne.
Die Ziele, attraktive Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen
und ungehinderte Zugänge zu relevanten Märkten zu sichern, werden
erreicht.
Den negativen Folgen des Wachstums wurde in der Verkehrs- und
Raumplanungspolitik nicht adäquat begegnet. Vor allem im Verkehrs-
bereich ist es nicht gelungen, das Ziel einer deutlich höheren Nutzung
des öffentlichen Verkehrs für den Arbeitsweg zu erreichen. Vielmehr ist
das Gegenteil eingetreten. Die Entwicklung beeinträchtigt sowohl die
Lebensqualität der Bevölkerung durch Staus und Umgehungsverkehr
als auch die Standortattraktivität der Unternehmen, wenn der Arbeits-
weg immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Verstärkt wird dieser Aspekt
durch einschränkende Homeoffice-Regelungen für ausländische Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer.
Positiv zu werten ist der leicht abnehmende Flächenverbrauch pro Kopf
für den Wirtschaftsbereich.
Die Nachhaltigkeitsindikatoren für die Wirtschaft und die von ihr mit-
beeinflussten Bereiche entwickeln sich insgesamt mehrheitlich positiv,
klare Ausnahme bildet auch hier der Verkehrsbereich.
3. Telecom
3.1.1. Unternehmensportrait
7 Wachstumsperspektiven Liechtenstein
7 Grundkonz ption
7.2 Grundlegende Annahmen
7.3 Beschreibung der Szenarien
7.3.1 Szenario 1: Growth ( G )
7.3.2 Szenario 2: Green Growth ( GG )
7.3.3 Szenario 3: Degrowth ( DG )
7.4 Grobe Quantifizierung
7.5 Trade-offs
110
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7.1 Grundkonzeption
Wir haben in den vorangehenden Kapiteln alternative Konzepte beschrie-
ben, die das BIP-Wachstum als wirtschaftspolitische Orientierungsgrösse
und die von ihm ausgelösten negativen externen Effekte vor allem im Um-
weltbereich kritisieren. Als Ziel dieses Kapitels wird anhand einer Szenario-
analyse hergeleitet, wie sich die Wirtschaft Liechtensteins auf Basis unter-
schiedlicher Wachstumskonzepte entwickeln könnte.
Die Autorinnen und Autoren unserer Projektpartnerin Infras Zürich haben
auf Basis verschiedener Annahmen für drei ausgewählte Konzepte Be-
schreibungen einer möglichen Entwicklung erarbeitet. Die Szenarien stellen
aber keinesfalls Prognosen dar. Sie zeigen mögliche Wachstumspfade auf
und sollen der Leserin bzw. dem Leser eine Vorstellung vermitteln, welche
Chancen und Herausforderungen sich ergeben, wenn eine Gesellschaft
unterschiedliche Wertvorstellungen und Prioritäten für ihr Leben definiert.
Auch die getroffenen Annahmen und Bewertungen der einzelnen Indi-
katoren unterliegen keiner Unterscheidung zwischen Richtig oder Falsch,
sondern sind die selbst definierte Grundlage für die skizzierten Entwick-
lungspfade und können je nach individueller Gewichtung anders ausfallen.
Zur Methodik: Aufbauend auf den Merkmalen, die das jeweilige Szena-
rio beschreiben, wurden in sich möglichst kohärente Zukunftsbilder für
einen langfristigen Zeitraum bis 2050 in qualitativer Form skizziert. Wo die
Datenlage es zulässt, wurden die beschriebenen Merkmale, ausgehend
vom Stand 2019, grob quantifiziert. Ansonsten wurden basierend auf der
Datenanalyse in den Kapiteln 3 und 4 und verfügbarer Literatur plausible An-
nahmen getroffen. Tabelle 11 im Anhang fasst die zentralen Annahmen für
die wichtigsten Indikatoren zusammen.
Die drei Szenarien orientieren sich im Kern an den in Kapitel 5 beschriebenen
Ansätzen. Zwei davon sind « wachstumsfreundlich », das Dritte setzt deut-
lich andere Prioritäten.
Ausgangspunkt bildet ein Growth-Szenario als Referenzpunkt: Das BIP
bleibt ein zentraler Leitindikator, daneben wird die bisherige Sozial- und
Umweltpolitik im ähnlichen Stil fortgeführt. Diese Entwicklung wird mit
zwei alternativen Szenarien verglichen: Green Growth und Degrowth.
7 | Wachstumsperspektiven Liechtenstein
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Auch Green Growth zielt auf eine Erhöhung des BIP ab, setzt aber auf eine
klima- und umweltverträgliche Transition der Wirtschaft. Degrowth am
anderen Ende des Spektrums ist geprägt durch einen Wertewandel, in dem
die Gesellschaft materiellen (Besitz und Einkommen) weniger und immate-
riellen Aspekten (Freizeit, Familie, intakte Umwelt) mehr Gewicht beimisst.
Abbildung 50:
Übersicht Szenarien
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
weiteres Wirtschaftswachstum
kein weiteres Wirtschaftswachstum
Umweltaspekte
stark gewichtet
Umweltaspekte
wenig gewichtet
Growth
Degrowth
Green
Growth
Die vergleichenden Szenarioanalysen sollen zeigen, in welchen Wirtschafts-
und Lebensbereichen sich die Wachstumskonzepte deutlich unterscheiden
und worin die Trade-offs bestehen, zum Beispiel zwischen Umweltschutz
und sozialer Sicherung oder zwischen Arbeitslast und Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit. Je nach Gewichtung können für Liechtenstein
unterschiedliche Entwicklungspfade im Vordergrund stehen.
7.2 Grundlegende Annahmen
Folgende Annahmen werden allen Szenarien zugrunde gelegt:
Aktuelle Entwicklungen aufgrund von Covid-19 und des Ukrainekrieges
werden nicht miteinbezogen.
Bei der absoluten Anzahl Wegpendelnden wird gegenüber heute keine
Veränderung angenommen.
Das Potenzialwachstum wird ähnlich wie in der Schweiz bis 2050 deut-
lich sinken (in der Schweiz auf 1.1 % bis 2040).
Die Auswirkung der drei Szenarien auf die Einkommensverteilung
hängt stark von der Ausgestaltung der Massnahmen ab. Abgesehen
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vom Armutsrisiko wird in den Szenarien darauf verzichtet, die Vertei-
lungswirkung der Szenarien zu beurteilen.
Namentlich beim Klimaschutz und in verschiedenen anderen Bereichen
ist Liechtenstein stark abhängig von der Politik in anderen Ländern. Bei
Green Growth wird unterstellt, dass die anderen Industrieländer eine
ähnliche Umwelt- und Klimapolitik verfolgen wie Liechtenstein. Im
Vordergrund stehen dabei die globalen Klimaschutzmassnahmen und
es wird vorausgesetzt, dass die Länder ihre nationalen Verpflichtungen
aus dem Pariser Klimaabkommen nach dem Grundsatz der gemeinsa-
men, aber differenzierten Verantwortlichkeiten umsetzen (Common but
Differentiated Responsibility).
Demgegenüber wird im Growth-Szenario angenommen, dass (nur)
bis heute beschlossene oder klar absehbare Massnahmen umgesetzt
werden.
Bei Degrowth wird unterstellt, dass ausschliesslich fortgeschrittene In-
dustriestaaten in Europa denselben Weg einschlagen wie Liechtenstein.
7.3 Beschreibung der Szenarien
7.3.1 Szenario 1: Growth (G)
Annahmen
In diesem Szenario entwickelt sich Liechtenstein wie auch alle anderen
Länder der Welt gemäss aktuellem Kurs. Die grundsätzlichen gesellschaftli-
chen Werte bleiben im Grossen und Ganzen unverändert. Die Bevölkerung
entwickelt sich gemäss dem Trendszenario der publizierten « Bevölkerungs-
szenarien für Liechtenstein. Zeitraum 2015 – 2050 » des Amts für Statistik
(AS, 2016). Sie wächst weiter, das Wachstum schwächt sich kontinuierlich ab.
Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung erhöht sich
stark von 16 % in 2014 auf 29 % bis 2050. Teilzeitbeschäftigung nimmt
weiterhin zu und folgt dem Trend der letzten 20 Jahre. Die Zahl der Be-
schäftigten wächst gemäss bisherigem Trend aufgrund einer weiter stei-
genden Erwerbsbeteiligung der Frauen und einer anhaltend zunehmenden
Zahl von zupendelnden Beschäftigten. Dies gelingt, weil liechtensteinische
Arbeitgeber für zupendelnde Arbeitskräfte attraktiv bleiben – trotz demo-
grafiebedingter Verknappung des Arbeitsangebots in den Nachbarstaaten
und eines damit verbundenen weiterhin bestehenden Lohngefälles.
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Der Anteil der Investitionen am BIP bleibt konstant, die Arbeitsproduktivität
steigt um rund 0.5 % pro Jahr. Zur weiteren Entkopplung von Wirtschafts-
wachstum und Umweltverbrauch wird die Energiestrategie 2030 der
Regierung in moderater Form umgesetzt. Der Anteil der Elektromobilität
im Personenverkehr nimmt zwar leicht, aber stetig zu.
Erwartete Veränderungen
Durch den anhaltenden Zuwachs der Arbeitsproduktivität wächst das BIP
insgesamt und pro Kopf weiter und mit ihm die Beschäftigung. Durch die
moderate Umsetzung der bisher geplanten Klimaschutzmassnahmen in
Liechtenstein (und weltweit) sinken die THG-Emissionen nur mässig. Der
Klimawandel schreitet fort – mit negativen wirtschaftlichen Folgen für
Liechtenstein40. Neben den direkten Implikationen für die Wirtschaft sind
vor allem auch internationale Handelsverflechtungen betroffen. Aufgrund
der Klimaschäden sinkt der Potenzialoutput der Volkswirtschaft, und die
Arbeitsproduktivität steigt leicht schwächer als ohne Klimawandel. Es wird
daher angenommen, dass sich das reale BIP in der langen Frist moderater
als bisher entwickelt. Das BNE pro Kopf, das verfügbare Einkommen und
die Steuereinnahmen wachsen zwar weiterhin, aber leicht schwächer als
bisher und weniger stark als das BIP, weil das Wachstum vor allem auf dem
Anstieg der zupendelnden Beschäftigten basiert.
Die voraussehbare Alterung der Bevölkerung belastet die Finanzierung der
Sozialversicherungen, und die Einnahmen steigen nicht im selben Ausmass
wie die Ausgaben. Es wird angenommen, dass entweder das Rentenalter
oder die Beitragssätze und / oder der Staatsbeitrag erhöht werden. Das
wirtschaftliche Wachstum erleichtert es, die Finanzierungslücke zu decken.
Die demografische Entwicklung hat Konsequenzen für die Pflege und Be-
treuung von älteren Menschen, einerseits in der Finanzierung und anderer-
seits im zusätzlichen Bedarf an Personen für die freiwillige und professio-
nelle Alterspflege und -betreuung. Das Armutsrisiko verändert sich nicht.
Der Grenzverkehr durch zupendelnde Arbeitskräfte und der Binnenverkehr
nehmen weiter zu. Damit steigt die Verkehrs- und Lärmbelastung, auch
wenn sich Elektrofahrzeuge langfristig durchsetzen. Um das zunehmende
Verkehrsaufkommen zu bewältigen, müssen entweder Verkehrsinfrastruk-
turen ausgebaut, oder der motorisierte Individualverkehr muss reduziert
und der ÖV muss ausgebaut werden. Durch die Bevölkerungszunahme
und erhöhte Wohnansprüche nimmt der Druck auf den Immobilienmarkt
40 Diese Aussage basiert auf einer Studie
zu Deutschland. Bei den Importen spie-
len durch Stürme, Überschwem mungen
und Hitze beschädigte Gebäude,
Produktionsanlagen und Warenlager in
klimavulnerablen Ländern eine Rolle.
Für Importeure wird es herausfordernd,
kurzfristig Alternativen zu finden. Auch
Ernteausfälle bei global gehandelten
Produkten wirken sich negativ aus. Bei
den Exporten wirkt sich die globale
negative Auswirkung auf das Wirt-
schaftswachstum und dadurch auf die
Kaufkraft und den Konsum negativ
aus. Für Liechtenstein werden ähnliche
Wirkungsketten angenommen.
114
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zu. Immobilienpreise steigen und weiterer Wohnraum wird geschaffen.
Ausgeschiedene Bauzonen werden zulasten von Landwirtschaft und
Naturräumen erschlossen und überbaut. Durch diesen Siedlungsdruck, die
weiter intensivierte landwirtschaftliche Produktion sowie klimatische Ver-
änderungen nimmt die Biodiversität weiter ab.
Wohlfahrt
Das Szenario wirkt sich auf zwei Ebenen unterschiedlich auf die Wohl-
fahrt und die Zufriedenheit der Bevölkerung aus: Einerseits schätzt sie den
weiter zunehmenden materiellen Wohlstand und die tiefe Arbeitslosigkeit.
Andererseits werden die negativen Wirkungen im Bereich des Wohnens
(Preise), des Verkehrs (Stau, Lärm), der Flächennutzung (Überbauung,
Reduktion Natur- / Erholungsräume) und der Artenvielfalt kritisiert. Beide
Effekte wirken auf die Lebensqualität und die Zufriedenheit der Bevölke-
rung ein. Welcher Effekt überwiegt, ist offen und hängt von den jeweiligen
Präferenzen ab. Tabelle 5 fasst die Annahmen und erwarteten Effekte zu-
sammen. Die Wohlfahrt wird nicht separat als Indikator aufgeführt, da sie
eine Folge aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Veränderungen ist.
Das Szenario Growth erhöht den materiellen
Wohlstand weiter und sorgt für tiefe Arbeits-
losigkeit. Negative Wirkungen zeichnen sich
bei der Raumentwicklung, beim Verkehr, bei
der Flächennutzung und der Artenvielfalt ab.
Indikator
Erwartete Veränderung
gegenüber heute
Wirtschaft allgemein
Reales BIP pro Kopf +
Reales BNE pro Kopf +
Verfügbares Einkommen +
Steuereinnahmen +
Wettbewerbsfähigkeit 0
Arbeitsmarkt
Arbeitslosigkeit 0
Beschäftigung +
Tabelle 5:
Szenario Growth:
Erwartete Veränderung
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
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Indikator
Erwartete Veränderung
gegenüber heute
Gesellschaft / Soziales
Finanzierung Sozialversicherungen --
Armutsrisiko 0
Raum / Umwelt / Verkehr
Überbauung, Zersiedelung ++
Verkehrsaufkommen ++
Anteil ÖV am Gesamtverkehr (Modal Split) 0
CO2-Emissionen -
Biodiversität -
7.3.2 Szenario 2: Green Growth (GG)
Annahmen
In diesem Szenario gewichten grössere Teile der Bevölkerung den Um-
welt- und Klimaschutz sehr hoch und setzen sich zum Ziel, Konsum und
Produktion konsequent klima- und umweltfreundlich zu gestalten. Die
Gewichtung findet Eingang in die Politik und wird mit wirksamen und
effizienten Massnahmen umgesetzt: Reduktion der Treibhausgase auf
Netto-Null bis 2050, Steigerung der Ressourceneffizienz, Förderung der
Kreislaufwirtschaft, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Erhalt und
Förderung der Biodiversität. Es werden Programme zur Förderung der
Energieeffizienz, zur Nutzung einheimischer erneuerbarer Energie, zum
Ausbau des öffentlichen Verkehrs und zur Begrenzung und Elektrifizierung
des motorisierten Individualverkehrs umgesetzt. Auch indirekte Emissionen
über den Konsum von importierten Gütern werden reduziert. Vor allem für
den konsequenten Klimaschutz sind weitreichende Veränderungen zusätz-
lich zu den bereits im G-Szenario aufgeführten Massnahmen nötig, so wie
sie die Regierung in ihrer « Klimavision 2050 » skizziert hat.
Weiter wird Mobility Pricing eingeführt, um die Auslastung von Personen-
wagen zu erhöhen und Stau zu reduzieren. Die externen Kosten auf die
Umwelt werden internalisiert. Die Veränderungen werden so ausgestaltet,
dass die Auswirkungen auf die Wirtschaft möglichst günstig ausfallen. Die
Bevölkerungsentwicklung verläuft identisch wie im Szenario G.
++ = starke Zunahme, + = leichte Zunahme, 0 = keine Veränderung, - = leichte Abnahme,
-- = starke Abnahme
Grün: positiv, in die gewünschte Zielrichtung; Rot: negativ, entgegen der gewünschten Zielrichtung
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Um die gesetzten Klima- und Umweltziele zu erreichen, muss mehr in-
vestiert werden, beispielsweise in erneuerbare Energien oder in die Ener-
gieeffizienz von Gebäuden. Verschiedene Studien schätzen den Bedarf der
zusätzlich benötigten jährlichen Investitionen für die Transition zu Netto-
Null auf 1 bis 3 % des BIP pro Jahr. Das Ziel wird durch marktwirtschaft-
liche Instrumente (Lenkungsabgaben, Zertifikate) und ergänzend – wo
nötig und effizient – über Regulierung erreicht. Die daraus resultierenden
höheren Kosten werden durch Produzenten und Konsumenten getragen.
Liechtenstein hat aufgrund seiner finanziellen Ausgangslage (keine Net-
to-Staatsverschuldung) auch die Möglichkeit, einen Teil des Finanzbedarfs
über Fremdkapital zu finanzieren und die Finanzlast auf mehrere Gene-
rationen zu verteilen. Die benötigten Investitionen erhöhen nicht nur die
Energie- und Ressourceneffizienz, sondern tragen über tiefere Energie- und
Ressourcenkosten auch zu einer höheren Arbeitsproduktivität bei. Es ist
somit anzunehmen, dass zwar ein Teil der Investitionen (vorwiegend im Be-
reich der Klimaanpassung) die Produktivität nicht erhöht, aber ein anderer
Teil sie verbessert. Daher wird ein nur leicht tieferes Produktivitätswachs-
tum als im G-Szenario unterstellt.
Erwartete Veränderungen
Durch den anhaltenden Anstieg der Arbeitsproduktivität steigt das BIP
sowohl insgesamt und pro Kopf als auch die Beschäftigung weiter an. Der
grüne Wachstumspfad erfordert zwar höhere Investitionen mit entspre-
chenden Kostenfolgen. Die Investitionen tragen aber über tiefere Energie-
und Ressourcenkosten zu einer höheren Produktivität bei.
Mit seiner hochspezialisierten Industrie und vielen hochqualifizierten
Arbeitskräften befindet sich Liechtenstein wirtschaftlich in einer guten Aus-
gangsposition für die beabsichtigte Strategie. Teile der Industrie und des
Gewerbes profitieren von Investitionen in Umwelt- und Klimaschutzmass-
nahmen und stärken auch international die Wettbewerbsposition.
Höhere Produktionskosten werden zumindest teilweise zu höheren Preisen
und Lebenshaltungskosten führen. Diese schränken den Konsum und das
reale BIP-Wachstum ein. Auch Nutzungseinschränkungen können das BIP
reduzieren, zum Beispiel durch einen stärkeren Naturschutz. Es entstehen
jedoch gegenläufige Effekte: Durch die Transition wird ein Teil der bisher
importierten fossilen Energieträger durch einheimisch produzierte erneuer-
bare Energien und Energiesparprodukte (z. B. Gebäudesanierung) substitu-
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iert. Insgesamt ist anzunehmen, dass sich BIP und BNE pro Kopf in diesem
Szenario ähnlich wie im G-Szenario entwickeln: Einerseits ist mit höheren
Kosten für die Transition und einer Schwächung des Produktivitätswachs-
tums und daher des BIP zu rechnen. Andererseits können Umwelt- und
Klimaschäden reduziert werden, die sich im G-Szenario negativ auf das BIP
auswirken.
Die Verteilungswirkung des Szenarios hängt stark von der Art und Aus-
gestaltung der Massnahmen ab. Einerseits können etwa Gebäudesanie-
rungen zu einer überproportionalen Mehrbelastung der Bevölkerung mit
geringem Einkommen führen. Andererseits belasten höhere Preise, zum
Beispiel in der Mobilität, die wohlhabendere Bevölkerung absolut gesehen
stärker – jedenfalls bei einer Lenkungsabgabe mit einer Pro-Kopf-Rückver-
teilung.
Steigende Steuern zur Finanzierung der notwendigen Investitionen sen-
ken das verfügbare Einkommen der Haushalte im Vergleich zum Growth-
Szenario. Es wird angenommen, dass das verfügbare Einkommen nach
Steuerabgaben und Transfers stagniert oder sich nur leicht positiv im Ver-
gleich zu heute entwickelt. Die Steuereinnahmen steigen, die Arbeitslosigkeit
bleibt insgesamt auf tiefem Niveau. Allenfalls kann es aufgrund des Struktur-
wandels der Wirtschaft zu temporär höheren Arbeitslosenquoten kommen.
Bei den Sozialversicherungen und der Pflege und Betreuung von älteren
Personen ergeben sich aus der zunehmenden Alterung der Bevölkerung
analog zum G-Szenario Herausforderungen in der Finanzierung. Daher
ist es wahrscheinlich, dass entweder das Rentenalter, die Beitragssätze
und / oder der Staatsbeitrag erhöht werden müssen, damit die AHV aus-
reichend finanziert werden kann. Wie beim G-Szenario ermöglicht das
wirtschaftliche Wachstum eine langfristige Sicherung der Finanzierung.
Durch die weitere Zunahme der zupendelnden Arbeitskräfte sowie die
Erhöhung der Binnenmobilität ist auch mit einer Zunahme des Verkehrs-
aufkommens zu rechnen. Verglichen mit dem G-Szenario ist aufgrund
der starken Erhöhung des ÖV-Anteils und einer besseren Auslastung von
Personenwagen im MIV (Sharing) dank Mobility Pricing mit weniger Staus
zu rechnen. Dank der schnelleren Verbreitung von Elektromobilität dürfte
die Lärmbelastung geringer werden. Die Bevölkerungszunahme verläuft
analog zum G-Szenario und löst weiteren Landverbrauch und zunehmende
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Zersiedelung aus. Allerdings werden wirksame raumplanerische Massnah-
men ergriffen, um den weiteren Bodenverbrauch einzudämmen und die
Siedlungsentwicklung nach innen zu richten.
Die Umsetzung der Klimastrategie führt zu einer deutlichen Entkopplung
von Wachstum und THG-Emissionen. Im Unterschied zum G-Szenario wird
durch die weltweit umgesetzte Klimapolitik die Erderwärmung auf 1.5 bis
2 Grad beschränkt und stark negative wirtschaftliche Effekte werden ver-
hindert. Die Biodiversität wird erhalten und gefördert. Das wirkt sich durch
Ökosystemleistungen positiv auf die Gesellschaft und die Wirtschaft aus.
Wohlfahrt
Wiederum ergeben sich in einer umfassenden Wohlfahrtsbetrachtung posi-
tive und negative Effekte mit unterschiedlichem Einfluss auf die Lebens-
zufriedenheit, je nach Präferenzen. Positiv wirkt sich der bessere Zustand
der Umwelt aus (Klima, Naturgefahren, Immissionen, Naturraum, Bio-
diversität). Negativ wirken sich eine temporär höhere Arbeitslosigkeit und
tiefere verfügbare Einkommen aus.
Das Szenario Green Growth hat positive Effekte
auf die Umwelt. Eine zumindest temporär
höhere Arbeitslosigkeit und eine anhaltende
Verkehrszunahme schlagen negativ zu Buche.
Tabelle 6:
Szenario Growth:
Erwartete Veränderung
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
Indikator
Erwartete Veränderung
gegenüber heute
Wirtschaft allgemein
Reales BIP pro Kopf +
Reales BNE pro Kopf +
Verfügbares Einkommen 0
Steuereinnahmen +
Wettbewerbsfähigkeit +
Arbeitsmarkt
Arbeitslosigkeit 0
temporär + möglich
Beschäftigung +
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Indikator
Erwartete Veränderung
gegenüber heute
Gesellschaft / Soziales
Finanzierung Sozialversicherungen --
Armutsrisiko 0
Raum / Umwelt / Verkehr
Überbauung, Zersiedelung +
Verkehrsaufkommen +
Anteil ÖV am Gesamtverkehr (Modal Split) ++
CO2-Emissionen --
Biodiversität +
++ = starke Zunahme, + = leichte Zunahme, 0 = keine Veränderung, - = leichte Abnahme,
-- = starke Abnahme
Grün: positiv, in die gewünschte Zielrichtung; Rot: negativ, entgegen der gewünschten Zielrichtung
7.3.3 Szenario 3: Degrowth (DG)
Annahmen
In diesem Szenario setzen sich wachstumskritische Kräfte durch, ein Werte-
wandel setzt ein: Lebensqualität und Freizeit werden höher gewichtet.
Hingegen nehmen formelle Arbeit, Konsum und materielle Werte eine
geringere Rolle ein. Die Bevölkerung konsumiert insgesamt weniger und
vermehrt lokale Produkte. Sie leistet mehr Freiwilligen-, Care- und Ge-
meinschaftsarbeit und setzt sich für eine intakte Umwelt ein. Regionale
Kreisläufe gewinnen an Bedeutung. Unternehmen achten deutlich mehr
als bisher neben den monetären auf nichtmonetäre Aspekte (Nachhaltig-
keit, Ressourcenschonung). Wirtschaftlicher Erfolg wird am Ausmass der
Bedürfnisbefriedigung, der Lebensqualität und des Gemeinwohls beurteilt.
Die weiteren fortgeschrittenen Staaten Europas entwickeln sich analog zu
Liechtenstein, die übrigen Länder jedoch nicht.
Die Bevölkerung entwickelt sich analog zum G-Szenario. Durch die höhere
Bedeutung von Lebensqualität und Freizeit sowie der weiteren Verbreitung
von Freiwilligen-, Care- und Gemeinschaftsarbeit steigt der Anteil der Teil-
zeiterwerbstätigen, obwohl generell die wöchentliche Sollarbeitszeit redu-
ziert wird. Insgesamt sinkt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit
deutlich. Die Erwerbsquote steigt noch leicht an (v. a. bei den Frauen), die
Anzahl zupendelnder Arbeitskräfte stagniert, die Gesamtbeschäftigung (in
VZÄ) sinkt und damit die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden. Auch die
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Arbeitsproduktivität entwickelt sich unter anderem aufgrund rückläufiger
Investitionen schwächer als im G-Szenario.
Erwartete Veränderungen
Mit dem Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden sinkt das BIP absolut
und pro Kopf in starkem Kontrast zu den zwei anderen Szenarien. Gleiches
gilt für das BNE pro Kopf. Damit reduzieren sich die verfügbaren Einkom-
men und mit ihnen Konsum und Steuereinnahmen. Trotz mehr informeller
Arbeit ergeben sich erhebliche Herausforderungen bei der Finanzierung
der Sozialversicherungen und der öffentlichen Aufgaben (u. a. Bildung,
Gesundheit, Klimaschutz). Diese Probleme können allenfalls durch Budget-
umlagerungen abgeschwächt werden, was wiederum Finanzierungsfragen
für andere Aufgaben auslöst. Unter der Annahme, dass die Entwicklung
in anderen aussereuropäischen Industrieländern nicht wie in Liechtenstein
verläuft, sinkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes (und
Europas). Der Finanzplatz und die exportstarken Unternehmen verlieren an
Bedeutung. Umsätze stagnieren oder sinken, die Beschäftigung nimmt ab
und die Arbeitslosigkeit nimmt zu.
Die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen wird zwar vermehrt
innerhalb der Familie oder durch Bekannte abgedeckt. Private können
die professionelle Pflege aber nicht ersetzen, weshalb das Finanzierungs-
problem erheblich bleibt. Aufgrund eines sinkenden BNE pro Kopf gerät ins-
besondere die Altersvorsorge in grössere Schwierigkeiten. Tiefere Steuer-
einnahmen erhöhen den Druck auf die soziale Sicherheit, das Armutsrisiko
nimmt zu.
Da die Anzahl zupendelnder Arbeitskräfte nicht mehr ansteigt, kommt
zwar verglichen mit dem G-Szenario ein höherer Anteil des BIP der einhei-
mischen Bevölkerung zugute. BIP und BNE pro Kopf liegen aber deutlich
tiefer als in den beiden anderen Szenarien.
Durch das Bevölkerungswachstum werden auch in diesem Szenario weitere
Flächen überbaut und die Landschaft zersiedelt. Wertewandel und sinkende
verfügbare Einkommen führen jedoch dazu, dass pro Person weniger
Wohnfläche beansprucht wird. Neue flächensparende Wohnkonzepte
entstehen durch eine zunehmende Präferenz für Gemeinschaft oder durch
die Entwicklung hin zu kleineren Wohnungen. Sie ersetzen die bis anhin
dominierenden Einfamilienhäuser. Insgesamt steigt deshalb die überbaute
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Fläche weniger stark als im G-Szenario, Naturräume und Biodiversität wer-
den dadurch eher geschont.
Die Verkehrsemissionen bleiben stabil. Zwar sinkt der Berufspendlerverkehr
aufgrund des Rückgangs der geleisteten Arbeitsstunden, aber der Freizeit-
verkehr nimmt wegen der höheren Freizeitpräferenz zu. Das gestiegene
Umweltbewusstsein führt hingegen zu einem höheren ÖV- und Langsam-
verkehrs-Anteil.
Fazit für die Umwelt: Sie wird einerseits durch die rückläufige Wirtschafts-
leistung und das erhöhte Umweltbewusstsein grundsätzlich entlastet.
Andererseits stehen der Wirtschaft und dem Staat weniger Mittel für Inves-
titionen im Umwelt- und Klimaschutz zur Verfügung. Die THG-Emissionen
sinken zwar, aber es fehlt das Geld, um ausreichend in die Transition zu
einer dekarbonisierten Wirtschaft zu investieren und Netto-Null-Emissionen
bis 2050 zu erreichen.
Wohlfahrt
Die Wirkung des Szenarios auf Wohlfahrt und Zufriedenheit der Bevöl-
kerung ist zwiespältig: Einerseits werden die Menschen gegenüber dem
G-Szenario durch die stärkere Fokussierung auf Freizeit, Wohlbefinden
und immaterielle Werte und durch die bessere Umweltqualität zufriedener.
Andererseits wirken sich das tiefere verfügbare Einkommen, die geringeren
Mittel für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben und die soziale Sicherung
negativ auf das Wohlbefinden aus. Rückläufige Investitionen mindern das
wirtschaftliche Entwicklungspotenzial und Innovationen.
Das Szenario Degrowth hat eine tiefere Wert-
schöpfung zur Folge mit Auswirkungen auf
die Staatsfinanzen und die soziale Sicherung.
Tiefere CO2-Emissionen stehen auf der positi-
ven Seite.
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Indikator
Erwartete Veränderung
gegenüber heute
Wirtschaft allgemein
Reales BIP pro Kopf -
Reales BNE pro Kopf -
Verfügbares Einkommen -
Steuereinnahmen --
Wettbewerbsfähigkeit --
Arbeitsmarkt
Arbeitslosigkeit +
Beschäftigung -
Gesellschaft / Soziales
Finanzierung Sozialversicherungen +
Armutsrisiko +
Raum / Umwelt / Verkehr
Überbauung, Zersiedelung 0
Verkehrsaufkommen 0
Anteil ÖV am Gesamtverkehr (Modal Split) +
CO2-Emissionen - / --
Biodiversität 0
Tabelle 7:
Szenario Degrowth:
Erwartete Veränderung
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
++ = starke Zunahme, + = leichte Zunahme, 0 = keine Veränderung, - = leichte Abnahme,
-- = starke Abnahme
Grün: positiv, in die gewünschte Zielrichtung; Rot: negativ, entgegen der gewünschten Zielrichtung
Internationale Perspektive
Ein solches Szenario hätte voraussichtlich erhebliche und unerwünschte
internationale Implikationen zur Folge. Durch die Konzentration auf lokale
Kreisläufe und den Konsum von lokalen Gütern (in den europäischen
Ländern) verliert der internationale Handel an Bedeutung und die Export-
einkommen in den Ländern des Südens sinken. Dadurch sind die materi-
ellen Grundlagen gerade in jenen Regionen negativ tangiert, die auch vom
Klimawandel stark betroffen sind, und der Migrationsdruck steigt.
7.4 Grobe Quantifizierung
In diesem Abschnitt werden die volkswirtschaftlichen Wirkungen der drei
Szenarien unter bestimmten Annahmen grob geschätzt (zu den Annahmen
siehe Tabelle 11 im Anhang). Wir legen an dieser Stelle noch einmal Wert auf
die Feststellung, dass die Resultate von den getroffenen Annahmen abhän-
gen und als grobe Schätzungen zu verstehen sind.
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Die Resultate zeigen für das G- und das GG-Szenario ein sehr ähnliches
Bild: Arbeitsproduktivität, BIP und Beschäftigung steigen im ähnlichen
Ausmass. Das BIP liegt 2050 real um rund 40 % höher als heute. Die
BIP- Einbussen beim GG-Szenario werden gesamthaft als eher gering ein-
gestuft, weil zwar Transitionskosten für den Klima- und Umweltschutz ent-
stehen, aber gleichzeitig geringere Schadenskosten anfallen. Unter Einbe-
zug externer Kosten kann das GG-Szenario bis 2050 wirtschaftlich besser
ausfallen. Ähnlich dürfte sich das BNE pro Kopf entwickeln. In Bezug auf
das Klima und die Umwelt schneidet das GG-Szenario definitionsgemäss
besser ab. Die THG-Emissionen sinken auf Netto-Null, im Growth-Szenario
bleiben sie auf dem heutigen Niveau.
Wesentlich andere Kenndaten entstehen beim DG-Szenario. Das BIP sinkt
aufgrund des geringeren Produktivitätswachstums und Arbeitseinsatzes bis
2050 um 5 %. Gegenüber den anderen Szenarien liegt das BIP beim DG-
Szenario CHF 2.7 Mia. bzw. ein Drittel tiefer. Die Beschäftigung (VZÄ) geht
um 12 % zurück, die Zahl der zupendelnden Arbeitskräfte stagniert.
Die Bevölkerung entwickelt sich in allen drei Szenarien gleich. Entspre-
chend liegt auch das BIP pro Kopf im DG-Szenario um ein Drittel tiefer.
Das BNE pro Kopf dürfte zwar ebenfalls tiefer liegen, aber aufgrund der
stagnierenden Zahl der zupendelnden Arbeitskräfte etwas weniger stark.
Die THG-Emissionen sinken zwar gegenüber dem G-Szenario, aber weni-
ger stark als bei GG.
Tabelle 8:
Grobe quantitative Auswir-
kungen der drei Szenarien,
2019 – 2050
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
Szenario
Growth
(G)
Green
Growth
(GG)
Degrowth
(DG)
Indikator 2019 Δ 19 – 50 Δ 19 – 50 Δ 19 – 50
Bevölkerung 38´747 +14 % wie G wie G
Bevölkerung 20 – 65 Jahre 24´006 -1 % wie G wie G
Wegpendler 2´052 0 % wie G wie G
Zupendler 22´715 +38 % wie G 0 %
Beschäftigte (Anzahl) 40´611 +22 % wie G 0 %
Beschäftigte (VZÄ) 34´581 +22 % wie G -12 %
Arbeitsproduktivität
(CHF / VZÄ)
171´293 +16 % +15 % +8 %
Reales BIP (Mio. CHF) 5´923 +41 % +40 % -5 %
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Szenario
Growth
(G)
Green
Growth
(GG)
Degrowth
(DG)
Indikator 2019 Δ 19 – 50 Δ 19 – 50 Δ 19 – 50
Produktionsbasierte
THG-Emissionen (kt CO2 eq)
187 -24 % -100 % -62 %
Unter Einbezug einer Bewertung der externen Kosten
Externe Kosten Klima*
(Mio. CHF)
130 -15 % -100 % -57 %
Reales BIP inkl. Abzug externe
Kosten Klima (Mio. CHF)
5‘794 +42 % +43 % -4 %
Zahlen für 2050 sind gerundet, die Prozentwerte sind nicht gerundet.
* Es werden nur die produktionsbasierten Emissionen berücksichtigt. Es ist daher anzunehmen, dass die
tatsächlichen externen Kosten höher ausfallen. Zudem beinhalten diese Kostensätze keine Kippeffekte und
auch weitere Auswirkungen auf die Umwelt (z. B. im Bereich der Biodiversität) sind nicht berücksichtigt.
Auswirkungen auf die Finanzierung der Sozialversicherungen
Die drei Szenarien wirken sich unterschiedlich auf die Finanzierung der
Sozialversicherungen aus. Durch das in der AHV angewendete Umlage-
verfahren (einbezahlte Beiträge werden direkt für die Auszahlung an die
Leistungsberechtigten verwendet) ist die demografische und wirtschaft-
liche Entwicklung für das Versicherungswerk von grosser Bedeutung.
Auf Basis des versicherungstechnischen Gutachtens der AHV können die
Auswirkungen der Szenarien auf die AHV grob quantifiziert werden. Dazu
wurden anhand der im versicherungstechnischen Gutachten 2018 berech-
neten Beiträge die Lohnsumme und die Lohnquote41 im Szenario G ge-
schätzt. Unter der Annahme, dass die Lohnquote in den Szenarien DG und
GG identisch ausfällt, kann anhand der BIP-Entwicklung die Auswirkung
auf die Beitragsseite grob abgeschätzt werden. Die Staatsbeiträge werden
in allen Szenarien als identisch angenommen, die Kapitaleinkommen ent-
wickeln sich abhängig vom Fondsvermögen.
41 Die Beiträge für die AHV betragen in
Liechtenstein 8.1 % des Lohnes. Auf Ba-
sis der prognostizierten Beitragssumme
kann die totale Lohnsumme berechnet
werden. Im Verhältnis zum BIP ergibt
sich die Lohnquote im Szenario G.
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Tabelle 9:
Grobe Skizzierung der Auswir-
kungen auf die AHV,
2019 – 2050
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
Szenario
Growth
(G)
Green Growth
(GG)
Degrowth
(DG)
Indikator 2019 2050 Δ 19 – 50 2050 Δ 19 – 50 2050 Δ 19 – 50
Einnahmen
(Mio. CHF)
366 +69 % +70 % +13 %
Saldo Einnah-
men – Aus-
gaben
55 -192 -188 -398
Stand Fonds
(Mio. CHF)
3‘095 -70 % -68 % -180 %
Verhältnis
Fonds zu Jah-
resausgaben
10 1.2 1.2 -3.1
Es wird deutlich, dass ohne entsprechende Gegenmassnahmen auch in
den Szenarien G und GG mit einer deutlichen Verschlechterung der Finan-
zierung der AHV zu rechnen ist. Im G- und GG-Szenario resultiert im Jahr
2050 eine Deckungslücke von rund CHF 190 Mio. pro Jahr, der AHV-Fonds
sinkt bis dahin um 70 %. Die Deckungslücke entspricht einem jährlichen
Betrag von fast CHF 8´000 pro Einwohner im Alter von 20 bis 64 Jahren.
Im DG-Szenario zeigt sich im Jahr 2050 sogar eine Deckungslücke von
CHF 398 Mio., dem AHV-Fonds fehlen CHF 2.4 Mia.
Notwendige Beitragserhöhungen würden die wirtschaftliche Entwicklung
stark belasten. Auch andere Sozialversicherungen blieben von einer ähn-
lichen Entwicklung nicht verschont (z. B. IV, ALV, Krankenversicherung).
7.5 Trade-offs
Tabelle 10 gibt eine Übersicht über die zu erwartenden positiven und negati-
ven Effekte der drei Szenarien. Sie nimmt Bezug auf die Diskussion zu den
Wachstumsmodellen und zur Wohlfahrt und stellt die wichtigsten Trade-
offs der drei Szenarien gegenüber. Wie sich die Szenarien letztlich auf die
Wohlfahrt und die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung auswirken, lässt
sich nicht eindeutig beantworten und hängt von der Gesamtbewertung
der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekte ab.
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Tabelle 10:
Zusammenfassung der
Trade-offs der drei Szenarien
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
Growth Green Growth Degrowth
+
– Wachstum BIP, BNE pro
Kopf und Steuern
– Möglichkeiten zur
Sicherung der Finan-
zierung der sozialen
Sicherheit und Alters-
vorsorge
– Wachstum von BIP, BNE
pro Kopf und Steuern
– Möglichkeiten zur
Sicherung der Finan-
zierung der sozialen
Sicherheit und Alters-
vorsorge
– Geringere Verkehrs-
und Umweltbelastung
– Umsetzung der Klima-
ziele (Netto-Null bis
2050), Beitrag zur
Begrenzung des Klima-
wandels
– Erhalt und Verbesse-
rung der Biodiversität
– Geringere Verkehrs-
und Umweltbelastung
– Weniger THG-Emis-
sionen, Beitrag zur
Begrenzung des Klima-
wandels
– Mehr Freizeit und we-
niger Arbeits belastung
–
– Verkehrs- und Umwelt-
belastung
– Verminderung der Bio-
diversität
– Kein entschiedener
Rückgang der THG-
Emissionen
– Negative (wirtschaft-
liche) Auswirkungen
des Klimawandels
– Investitionen und
wirtschaftliche Anpas-
sungskosten für den
Strukturwandel
– Tiefere verfügbare
Einkommen als im
Growth-Szenario auf-
grund von höheren
Steuern
– Rückgang von BIP, Ein-
kommen und Steuern
– Weniger Investitionen
(auch für Umweltmass-
nahmen)
– Gefährdung der sozia-
len Absicherung und
der Altersvorsorge
– Erhöhung des
Armutsrisikos
– Erhöhte Arbeits-
losigkeit
Die nachfolgende Abbildung illustriert die Trade-offs zwischen den drei
Szenarien auf indikative Art in einem Spinnendiagramm. Grundlage für die
Bewertung bilden die tabellarischen Bewertungen der Indikatoren in den
vorangehenden Abschnitten. Für die Darstellung wird eine Indikatoren-
auswahl getroffen. Sie bewertet die Entwicklung im Vergleich zu heute.
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Abbildung 51:
Indikative Bewertung der drei
Szenarien im Vergleich zu
heute
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick
(2022)
Degrowth
Green Growth
Growth
Degrowth
Green Growth
Growth
Biodiversität
CO2-Emissionen
Lärm
Verkehr
Zersiedelung
Armutsrisiko Sozialversicherungen
Arbeitslosigkeit
Wettbewerbsfähigkeit
Steuereinnahmen
Einkommen (PVE)
BNE pro Kopf
BIP
-2
-1
1
2
0
-3
Grobe indikative Einschätzung gegenüber heute: +2 = starke Verbesserung,
+1 = Verbesserung, 0 = unverändert, -1 = Verschlechterung, -2 = starke Verschlechterung
Der Trade-off zwischen dem G- und dem GG-Szenario liegt vor allem im
Umweltbereich. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede
sind eher gering und hängen im Wesentlichen davon ab, wie hoch auf der
einen Seite die wirtschaftlichen Umstellungskosten des GG-Szenarios für
den Umwelt- und Klimaschutz und auf der anderen Seite die direkten und
indirekten wirtschaftlichen Einbussen durch den Klimawandel ausfallen.
Das DG-Szenario schneidet bei fast allen Indikatoren schlechter ab als die
anderen beiden Szenarien. Das Grundproblem dieses Szenarios liegt darin,
dass das fehlende Wirtschaftswachstum nicht nur die Finanzierung der
Sozialversicherungen stark erschwert, sondern auch zu wenig Mittel für
Umwelt- und Klimaschutzinvestitionen generiert.
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8. Empfehlungen und Zusammenfassung
8.1 Empfehlungen
8.1.1 Empfehlungen zu Wachstum
8.1.2 Empfehlungen zu Produktivität
8.1.3 Empfehlungen zu Umwelt
8.1.4 Empfehlungen zu Lebensqualität
8.2 Zusammenfassung
8.2.1 BIP und BNE
8.2.2 Wachstumsquellen
8.2.3 Wirkungen des Wachstums
8.2.4 Wachstumskonzepte und Wohlfahrtsmessung
8.2.5 Liechtensteinische Wirtschaftspolitik im Rückblick
8.2.6 Drei Wachstumsperspektiven
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8.1 Empfehlungen
Wir haben uns in den vorhergehenden Kapiteln an den Zielbeziehungen
der drei Eckpunkte der Wirtschaftspolitik orientiert: Wachstum, Umwelt
und Lebensqualität. Diese Struktur halten wir auch bei unseren Empfeh-
lungen bei.
8.1.1 Empfehlungen zu Wachstum
Globales Wachstum weiterhin notwendig
Um für rund 10 % der Weltbevölkerung den Weg aus der absoluten Armut
zu ermöglichen, ist weiteres wirtschaftliches Wachstum notwendig. Der
Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben ist für Hunderte Millionen von
Menschen noch nicht erfüllt. Auch die UN-Nachhaltigkeitsziele erinnern
uns daran, dass der Kampf gegen Hunger und Armut weitergeführt wer-
den muss. Rund drei Milliarden Menschen steht noch immer keine saube-
re Energie in ihren Haushalten zur Verfügung. Der Zugang zu sauberer
Energieversorgung ist nicht nur ein wichtiger Schritt für die Gesundheit,
sondern auch ein Beitrag gegen die Luftverschmutzung und für erhöhte
Energieeffizienz. Bei einem globalen Nullwachstumsszenario könnten wir
die absolute Armut nicht reduzieren und müssten akzeptieren, dass rund
zwei Drittel der Weltbevölkerung mit weniger als kaufkraftbereinigten
USD 10 pro Tag leben müssen (Owid, 2022e).
Eine Angleichung der globalen Lebensverhältnisse wäre in einem Null-
wachstum- und erst recht in einem Degrowth-Szenario nur durch globale
Umverteilung möglich. Anders als in einer wachsenden Wirtschaft kön-
nen in diesem Szenario die einen nur reicher werden, wenn die anderen
ärmer werden. Wie schwierig, ja kontraintuitiv dies sein könnte, ver-
deutlicht Branko Milanovic, einer der profiliertesten Forscher zum Thema
Ungleichheit. Gemäss Milanovic müssten die 27 % Reichsten der Welt auf
rund zwei Drittel ihres Einkommens verzichten, um allen Menschen ein
durchschnittliches Einkommen von USD 5´500 im Jahr zu ermöglichen
(Milanovic, 2017). Solche Umverteilungsvorschläge hätten Auswirkungen
von enormer Tragweite, denn ein Einkommensverlust des Westens um
zwei Drittel würde zu einem Rückgang der Produktion und damit auch zu
schrumpfenden Staatseinnahmen führen, dies mit den entsprechenden
Konsequenzen, z. B. für die Finanzierung der Sozialausgaben.
8 | Empfehlungen und Zusammenfassung
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Optimales Wachstum für Liechtenstein
Für Liechtenstein ist « Wachstum – ja oder nein? » die falsche Frage. Wenn
in einem so wohlhabenden Kleinstaat von Wirtschaftswachstum die Rede
ist, wird damit eigentlich optimales Wachstum gemeint, « … was – unprä-
zis, aber intuitiv verständlich – weder zu viel noch zu wenig Wachstum be-
deutet. Die klare Grenze liegt dort, wo der zusätzliche Nutzen des Wachs-
tums durch die zusätzlichen Kosten (etwa in Form von Umweltbelastung)
übertroffen wird » (Schwarz, 2004).
Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern ein
Mittel zum Zweck – nämlich zur Steigerung
der Lebensqualität.
Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck, der im
Erhalt bzw. in der Verbesserung der Lebensqualität liegt. Wenn Wachstum
nicht mehr dazu beiträgt, das Wohlbefinden zu steigern, dann ist es « un-
ökonomisch », weiter zu wachsen. In Liechtenstein geht es deshalb primär
um die Frage, welche Bereiche der Lebensqualität gesteigert und welche
Massnahmen und Ressourcen zur Zielerreichung eingesetzt werden sollen.
Ob und wie viel Wachstum dabei entsteht, ist die Konsequenz dieser
Entscheidungen. Als Ergebnis resultiert nämlich ein optimales Wachs-
tum – nicht zu viel und nicht zu wenig. Bei der Festlegung der Ziele und
insbesondere bei den dafür zu ergreifenden Massnahmen werden Ziel-
konflikte und Opportunitätskosten offensichtlich: Ökonomie ist die Wissen-
schaft der Optima und der Trade-offs. Ungelöste Zielkonflikte und Trade-
offs sind ein anhaltendes Problem – auch zwischen den Zielen Wachstum
und Umweltschutz. Die Ursache dafür liegt in der Nutzungskonkurrenz um
knappe natürliche Ressourcen.
Ökonomie ist die Wissenschaft der Optima
und der Trade-offs. Es geht um ein optimales
Wachstum – weder zu viel noch zu wenig.
Optimales Wachstum ist auch in Liechtenstein für viele Menschen mit
dem Anspruch auf weiteres Wachstum – im Sinne von mehr und besse-
ren Gütern und Dienstleistungen – verbunden, die weit über die Grund-
versorgung hinausgehen. Die Strategie « Lebensqualität » macht es leider
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nicht einfacher, politische Mehrheiten zu finden. Den einen dürfte selbst
grünes Wachstum zu wenig sein, während andere von « Less is More »
überzeugt sind.
Man kann argumentieren, dass die Strategie « Lebensqualität » alles of-
fenlässt und keinen Pfad vorgibt, was doch für eine zielorientierte Wirt-
schaftspolitik wichtig wäre. Aber diese Strategie ist ein Bekenntnis dazu,
« Wachstum » im Sinne von mehr BIP oder BNE nicht als eigentliches wirt-
schaftspolitisches Ziel zu postulieren, sondern sich auf die Themenbereiche
der Lebensqualität zu fokussieren.
Weil das BIP und das BNE die Aspekte der Lebenszufriedenheit und der
Umweltschäden nur ungenügend zu messen vermögen, müssen weitere
Indikatoren herangezogen werden, um die Entwicklung der Lebenssitua-
tion zu erfassen. Die Grundlage dafür ist in Liechtenstein mit dem Indikato-
rensystem für eine nachhaltige Entwicklung gelegt worden – es hätte mehr
Aufmerksamkeit verdient. Das BNE pro Kopf – als geeignetster Massstab
für die Wohlstandsmessung in Liechtenstein – ist ein Indikator im 55 In-
dikatoren umfassenden Gesamtsystem.
Diese « Lebensqualität-Strategie » erinnert auf den ersten Blick an die Kon-
zepte « Beyond growth » und « Postgrowth ». Sie unterscheiden sich aber
in wesentlichen Teilen davon. Vor allem in der Rolle des Staates zeigen sich
zentrale Differenzen. Je länger und intensiver wir uns mit verschiedenen
Ansätzen befasst haben, desto klarer wurde, dass unsere Vorstellungen
sich nicht in die ideologischen Ausrichtungen dieser verschiedenen Wachs-
tumskonzepte einordnen lassen. Was wiederum nicht heisst, dass mit
unserer Strategie die weltanschaulichen Spannungen überwunden werden
könnten, denn Ziele und Massnahmen bauen auf einem Wertegerüst auf.
Die Wertvorstellungen von Zukunft.li basieren auf den vier zentralen Säu-
len des Liberalismus, der Marktwirtschaft, der Kostenwahrheit (in diesem
Kontext insbesondere in Bezug auf Umweltkosten) und der Demokratie.
Zusammenfassung der Empfehlungen zu Wachstum
Globales Wachstum ist weiterhin notwendig, um Hunderte von Millio-
nen Menschen den Weg aus der Armut zu ermöglichen.
Für den Kleinstaat Liechtenstein mit einem der höchsten Wohlstands-
niveaus der Welt soll Wachstum – im Sinne einer Zunahme des BIP oder
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BNE – nicht als eigenständiges Ziel der Wirtschaftspolitik postuliert
werden.
Für Liechtenstein geht es primär um die Frage, wie, in welchen Berei-
chen und mit welchen Massnahmen die Lebensqualität erhöht werden
soll und kann. Als Ergebnis dieses Prozesses resultiert ein « optimales
Wachstum » – nicht zu viel und nicht zu wenig – abgestützt auf die
Präferenzen der Bevölkerung.
Die Strategie « Lebensqualität » orientiert sich an verschiedenen Berei-
chen der Lebensqualität und insbesondere der Umwelt als einem zen-
tralen Bestandteil davon. Die Grundlage zur Festlegung der Ziele und
der Massnahmen sind das Bekenntnis zu Liberalismus, Marktwirtschaft,
Kostenwahrheit und Demokratie.
8.1.2 Empfehlungen zu Produktivität
Hat Liechtenstein ein Produktivitätsproblem?
Ja, wenn wir die Entwicklung betrachten. Die Daten sind – wie in Kapi-
tel 3.2 analysiert – eindeutig. Das Wachstum der Produktivität stagnierte in
den letzten zehn Jahren und war schon davor kleiner als im Vergleich mit
anderen Ländern.
Liechtenstein ist trotz « Produktivitätsschwäche » ein sehr wettbewerbs-
starkes Land, das viele hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte anzieht
und trotz Frankenstärke im Aussenhandel stets einen Überschuss ausweist.
Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Entweder man bezweifelt die Daten-
qualität oder man anerkennt, dass das Niveau der Produktivität äusserst
hoch ist.
Nein, wenn wir das Niveau betrachten. Die Menschen in Liechtenstein
müssen deutlich weniger arbeiten als die Bevölkerung in anderen Ländern,
um einen gleich hohen Wohlstand zu erreichen. Und weil sie mindestens
so fleissig sind, belegen sie denn auch einen Spitzenplatz im Wohlstands-
ranking.
Hat Liechtenstein ein Produktivitätsproblem?
Ja, wenn man die Entwicklung betrachtet.
Nein, wenn man das Niveau im Fokus hat.
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Das abnehmende Wachstum der Arbeitsproduktivität stellt für Liechten-
stein eine Herausforderung dar. Zwar ist die sinkende Wachstumsdynamik
ein gemeinsames Merkmal der fortgeschrittenen Volkswirtschaften, aber
Liechtenstein schneidet im internationalen Vergleich unterdurchschnitt-
lich ab. Sollte sich die Wachstumsschwäche der Produktivität fortsetzen,
droht der Wohlstand entweder langfristig zu erodieren oder er lässt sich
nur durch immer mehr Arbeitskräfte – d. h. durch Zupendelnde und / oder
Zuwanderung – ausgleichen. Wenn wirtschaftliches Wachstum durch einen
immer grösseren Input von Arbeitskräften gespiesen wird, führt das zu
unerwünschten Folgen, z. B. für den Verkehr, die Raumentwicklung und
die Umwelt. Es ist – von der Inputseite betrachtet – ein rein quantitatives
Wachstum, im Sinne von « immer mehr ». Erfreulicher wäre ein « immer
besser », im Sinne einer Erhöhung der Produktivität.
Mögliche Ursachen für die abgeschwächte Produktivitätsentwicklung sind
unter anderem der Strukturwandel, brancheninterne Gründe, eine In-
vestitionsschwäche, Besonderheiten des Arbeitsmarkts, veränderte Rah-
menbedingungen oder statistische Unebenheiten. Auf eine detaillierte
Auseinandersetzung mit den Gründen für das abgeschwächte Produktivi-
tätswachstum muss im Rahmen der vorliegenden Studie verzichtet werden.
Wer ist verantwortlich für die Produktivitätsentwicklung?
Die Steigerung der Produktivität ist nicht primär eine staatliche Aufgabe.
Protagonisten des Produktivitätsfortschrittes sind innovative Menschen
und Unternehmen. Unternehmen haben ein hohes Interesse daran, ihre
Produktion effizienter zu gestalten und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit
zu steigern oder zumindest zu halten. Die Anreize zur Produktivitäts-
steigerung zeigen sich sowohl in den Forschungs- und Entwicklungsaus-
gaben (vgl. dazu Kapitel 3.2.2) als auch in den vielfältigen Aktivitäten der
Unternehmen in der Lehrlingsausbildung sowie in der Weiterbildung der
Mitarbeitenden.
Produktivitätssteigerungen können zwar nicht staatlich verordnet werden,
aber die Aus- und Weiterbildung sowie die Wissenschaft übernehmen
dabei eine wichtige Rolle. Eine starke Verknüpfung zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft ermöglicht und fördert, dass Forschungsergebnisse zu
kommerziellen Innovationen weiterentwickelt werden. Hingegen ist den in
verschiedenen Ländern immer lauter werdenden Forderungen nach immer
höheren Subventionen zur Innovationsförderung – mit Ausnahme bei
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der Grundlagenforschung – und nach einer Industriepolitik im Sinne von
Förderung bestimmter Wirtschaftszweige zu widerstehen. In erster Linie
muss der Staat Produktivitätswachstum durch gute Rahmenbedingungen
ermöglichen.
Relevante Rahmenbedingungen für ein Produktivitätswachstum
sind:
Eine breite und hohe Bildungs- und Wissenschaftsqualität (eine Studie
zu speziellen Fragen des Bildungssystems ist von Zukunft.li in Bearbei-
tung)
Eine Wettbewerbsordnung, bilaterale und internationale Abkommen,
die für eine hohe Wettbewerbsdynamik und tiefe Markteintrittshürden
sorgen (vgl. dazu auch die Studien von Zukunft.li zum « Service public »
und zu « Liechtenstein und die Schweiz »)
Gesunde öffentliche Finanzen und ein effizientes Steuersystem (vgl. zu
einem Teilaspekt auch die Studie von Zukunft.li zum « Finanzausgleich »)
Unterhalt und Optimierung der öffentlichen Infrastruktur, insbesondere
der Netzwerkinfrastrukturen (eine Studie von Zukunft.li « Sicherheits-
politik / Bevölkerungsschutz » ist in Bearbeitung)
8.1.3 Empfehlungen zu Umwelt
Ausgangslage
Der Themenbereich « Umwelt » umfasst neben dem Klimaschutz zahlreiche
andere Aspekte des Lebensumfeldes der Menschen. Wie schon im Kapi-
tel 4.2 fokussieren wir uns auch bei den Empfehlungen auf die Klimapolitik.
Bei der Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels ist die Welt
nicht auf Kurs. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre steigt weiterhin
an, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Der Bericht des Weltklimarates zeigt
eindrücklich, dass das Netto-Null-Ziel bis 2050 eine Herkulesaufgabe dar-
stellt (IPCC, 2022). Dabei ist das 1.5-Grad-Ziel nicht aus der Luft gegriffen,
sondern beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach bei einer stär-
keren Erwärmung die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Kipppunkte (z. B. Ab-
schmelzen des Meereises, Tauen des Permafrosts) im Klimasystem überschrit-
ten werden – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Menschheit.
Als Kleinstaat ohne Meeresküste in gemässigten Breiten gehört Liechten-
stein nicht zu den Hauptrisikogebieten des Klimawandels. Allerdings ist die
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durchschnittliche Temperatur in Liechtenstein in den letzten 150 Jahren
um knapp zwei Grad angestiegen, doppelt so stark wie im globalen Mittel
(Regierung, 2022).
Liechtenstein hat das Übereinkommen der Vereinten Nationen über
Klima änderungen vom Jahr 2015 in Paris ratifiziert. Mit der « Strategie für
Klimaschutz in Liechtenstein » will die Regierung die THG-Emissionen bis
2030 um 50 % gegenüber 1990 reduzieren. Maximal 10 % des Ausstosses
sollen im Ausland kompensiert werden können. 1990 lag der Ausstoss
bei rund 236´000 Tonnen CO2 eq. Heute produziert Liechtenstein 200´000
Tonnen und 2030 dürfen noch rund 118´000 Tonnen ausgestossen werden
(Regierung, 2022).
Als Kleinstaat ist Liechtenstein für einen verschwindend kleinen Teil des
weltweiten THG-Ausstosses verantwortlich. Allerdings ist seine Wirtschaft
mit bedeutenden Industrieunternehmen und einem grossen Finanzplatz
stark globalisiert. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Einfluss auf
die THG-Emissionen aufgrund von liechtensteinischen Unternehmen mit
Produktionsstandorten im Ausland und den internationalen Finanzgeschäf-
ten deutlich grösser ist, als der produktions- und der konsumorientierte
Ausstoss es annehmen lassen.
Anforderungen an die liechtensteinische Klimapolitik42
Auch wenn Liechtenstein einen grösseren Einfluss auf die THG-Emissionen
hat, als der Ausstoss im Inland nahelegt, bleibt sein Beitrag zur globalen
Problemlösung minim. Zur Veranschaulichung: Ein Kohlekraftwerk mittle-
rer Grösse stösst pro Jahr ca. 10 Millionen Tonnen CO2 aus, Liechtenstein
produziert ca. 200´000 Tonnen pro Jahr. Zurzeit sind rund 2´500 Kohle-
kraftwerke in Betrieb und rund 1´400 in 59 Ländern in Planung (Energie-
zukunft, 2018).
Auch wenn der Beitrag Liechtensteins zur
globalen Problemlösung minim ist,
wäre Untätigkeit die falsche Folgerung.
42 Die Ausführungen und Empfehlungen
zur Klimapolitik stützen sich auf die Stu-
die von Avenir Suisse ab: « Wirkungs-
volle Klimapolitik » (Dümmler & Rühli,
2021).
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Deshalb untätig zu bleiben, wäre allerdings die falsche Folgerung. Neben
den eingegangenen internationalen Verpflichtungen sprechen auch andere
Gründe für ein aktives Handeln beim Klimaschutz. Der Hauptpfeiler für ein
liberales Land wie Liechtenstein ist die Eigenverantwortung. Klimaschutz
verlangt es, Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns zu über-
nehmen, unabhängig von der Grösse des THG-Ausstosses. Als einem der
reichsten Länder der Welt steht es Liechtenstein zudem gut an, als Vorbild
und aus Solidarität mit der Welt voranzugehen – mit dem Bewusstsein,
dass es das Richtige ist.
Eine Vorbildrolle einzunehmen heisst, keine Symbolpolitik auf der Grund-
lage von gesinnungsethischen Appellen zu betreiben, sondern klimapoli-
tische Massnahmen zu ergreifen, die auf ihre Leistungsfähigkeit und Wirk-
samkeit geprüft werden.
Eine wirksame Klimapolitik sollte folgende Anforderungen erfüllen:
Effektivität und Effizienz: Eine Massnahme sollte nach ihrem Aus-
mass zur Reduktion der THG-Emissionen beurteilt werden. Zudem ist das
Kosten-Nutzen-Verhältnis zu berücksichtigen. Gerade weil der Klimaschutz
so dringlich ist, sollte jeder eingesetzte Franken einen möglichst hohen
Reduktionsertrag liefern.
Kostenwahrheit: Ein Kernelement einer wirksamen Klimapolitik ist die
Kostenwahrheit. Werden Kosten nicht vom Verursacher getragen, sondern
der gegenwärtigen oder zukünftigen Gesellschaft aufgebürdet, werden zu
viele THG ausgestossen. Das führt uns die bisherige Entwicklung schmerz-
haft vor Augen. Alle nicht preislichen Massnahmen wie Verbote oder Sub-
ventionen stellen keine Kostenwahrheit her.
Technologieneutralität: Die Politik sollte nur das Ziel vorgeben. Der Weg
dorthin, insbesondere die Wahl der Technologie, ist den betroffenen Ak-
teuren zu überlassen. Damit wird die Chance erhöht, dass sich die effizien-
testen und effektivsten Innovationen durchsetzen.
Empfehlungen an die liechtensteinische Klimapolitik
Welche Klimastrategie ist für Liechtenstein sinnvoll? Um wesentliche
Schritte voranzukommen, ist ein globaler Ansatz notwendig und wirkungs-
voll. Die globale Natur des Problems und die nationale Problemlösungs-
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kompetenz fallen auseinander, sodass internationale Kooperation für einen
wirksamen Klimaschutz essenziell ist (Pritzl, 2022). In Bezug auf Treibhaus-
gase ist die Welt eine globale Allmende (vgl. Kapitel 3.6). In Bezug auf die
Wirkung ist es nicht relevant, ob die CO2-Emissionen aus einem Kohlekraft-
werk in China oder von den Autos in Liechtenstein stammen – es kommt
auf die Menge an. Bei der Auswahl der Massnahmen spielt das Kriterium
« Effizienz » eine zentrale Rolle. Nationale Alleingänge und selbst gemein-
same Massnahmen auf der Ebene EU bringen relativ wenig. Der wichtigste
Grund dafür ist das grüne Paradox bzw. der Carbon-Leakage-Effekt: Der
Rückgang der Nachfrage eines einzelnen Kontinents reduziert den globa-
len Verbrauch und damit den Ausstoss aufgrund von weltweiten Preis-
anpassungen nicht (vgl. Kapitel 4.2.2).
Eine Orientierung der Klimapolitik an
der Kosteneffizienz, also an einer hohen
CO2-Einsparung pro ausgegebenen
Franken, ist notwendig.
Die Situation auf der Angebotsseite darf nicht vernachlässigt werden.
Solange der Marktpreis die Förderkosten übersteigt, werden Länder mit
fossilen Energieträgern die Förderung vorantreiben. Da diese Kosten meist
gering sind, waren in der Vergangenheit keine Auswirkungen des Preises
auf die geförderten Mengen erkennbar. Das Angebot ist so preisunelas-
tisch, dass es kaum vom Konsum beeinflusst wird. Laut Plänen der grös-
sten Erdöl- und Erdgasproduzenten soll bis spätestens 2040 ein weiterer
Ausbau der Fördermengen stattfinden. Selbst bei Kohle wird sich bis dann
kaum ein Förderrückgang einstellen. Was gefördert wird, wird auch ver-
braucht werden. Dieser Angebotsfalle kann nur entgangen werden, wenn
die Produzenten ihre Rohstoffe nicht mehr gewinnbringend auf den Markt
bringen können. Der Weg dahin führt nur über Innovationen bei der Nut-
zung von erneuerbaren Energien oder über Methoden zur Rückholung von
CO2 aus der Atmosphäre.
Die internationale Ebene
Bilaterale Kompensationsabkommen sind eine wichtige Möglichkeit, um
Fortschritte in der Klimapolitik auf internationaler Ebene zu erzielen. Das
Übereinkommen von Paris räumt explizit die Möglichkeit ein, Emissions-
reduktionen im Ausland vorzunehmen und dem eigenen Klimaziel anzu-
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rechnen. Solche Kompensationsabkommen geben einen verbindlichen
Rahmen vor, in dem private Initiativen zur Einsparung von THG-Emissionen
unterstützt werden können. Die Schweizer Abkommen mit Peru und der
Republik Ghana können als Vorlage dienen. Dabei hat man aus früheren
Fehlern gelernt: Diese Abkommen haben den Ruf von « Ablasshandel » und
« Greenwashing » hinter sich gelassen.
Die liechtensteinische Klimastrategie sieht vor, dass maximal 10 % des
Reduktionsziels von insgesamt 50 % bis 2030 im Ausland kompensiert
werden sollen. Dieser maximale Auslandsanteil macht die Strategie unflexi-
bel und setzt dem Kriterium der Effizienz nicht zu rechtfertigende Grenzen.
Denn aus ökonomischer Perspektive ist nicht ersichtlich, weshalb weltweit
unterschiedliche Vermeidungskosten nicht genutzt werden sollten, um eine
möglichst hohe Wirksamkeit der Massnahmen zu erreichen. Die Grenzkos-
ten der Kompensation in Liechtenstein dürften in den meisten Fällen um
ein Vielfaches höher liegen als in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Liechtenstein sollte auf einen maximalen
Anteil des Reduktionsziels im Ausland
verzichten.
Was zusätzlich für Kompensationen im Ausland spricht, ist der Befund,
dass Liechtenstein seinen « THG-Fussabdruck » (wie auch die Schweiz)
vor allem im Ausland hinterlassen dürfte – verlässliche Daten dazu fehlen
allerdings. Das Übereinkommen von Paris stellt nur auf die inländischen
Emissionen ab und vernachlässigt die importbedingten Emissionen. Die
meisten Treibhausgase, die durch den Konsum in Liechtenstein verursacht
werden, fallen jedoch im Ausland an: durch importierte Rohstoffe, durch
Importgüter (z. B. Autos, Nahrungsmittel, Kleider) oder Reisen im Ausland
(vgl. Regierung, 2022, S. 44). Dazu kommen Emissionen, die von liechten-
steinischen Firmen mit Sitz im Ausland und durch die weltweiten Investi-
tionen via Finanzanlagen des liechtensteinischen Finanzplatzes entstehen
(vgl. Kapitel 4.2.2).
Auch die internationalen liechtensteinischen Unternehmen sind ge-
fordert. Dabei können Firmen, die durch Eigeninitiative mit konsequenter
Dekarbonisierung neue Geschäftsmodelle erschliessen, als gutes Beispiel
dienen und ihre Erfahrungen in geeigneter Form weitergeben. Als « Leucht-
139
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turmprojekte » eignen sich auch Unternehmen, welche die Transformation
von linearen Geschäftsmodellen zur Kreislaufwirtschaft bereits vollzogen
haben. Die Verbände sollten dabei eine koordinierende Funktion erfüllen,
z. B. mit Veranstaltungsreihen oder mit « Best-Practice »-Informationen.
Bestehende regulatorische Hürden zur Umsetzung der Kreislaufwirtschaft
sollten abgebaut werden.
Auf Ebene der EU ist das seit 2005 bestehende Emissionshandelssystem
das wichtigste Instrument zur THG-Reduktion. Das Ziel der EU ist es zu-
dem, einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus einzuführen. Dieser soll
Importwaren besteuern, die in EU-Märkten verkauft werden. Und zwar auf
Basis der Emissionen, die bei ihrer Erzeugung anfallen. Diese Abgabe soll
der Verlagerung von EU-Unternehmen in Nichtmitgliedstaaten mit weni-
ger strengen Regeln vorbeugen. Die EU würde damit zu einem Klimaclub,
deren Mitglieder bindende Beschränkungen beim CO2-Ausstoss einzuhal-
ten hätten. Sie böte ihnen aber auch den Vorteil des Freihandels, von dem
Nichtmitgliedstaaten ausgeschlossen würden. Um wirklich attraktiv zu sein
und bedeutende Wirkungen zu erzielen, müssten neben der EU auch die
USA, China und Indien Klubmitglieder werden.
Für den Klimaschutz am effektivsten und effizientesten wäre es, wenn eine
Weltregierung z. B. eine globale Treibhausgassteuer durchsetzen könnte.
Ziel muss es sein, eine weltweit einheitliche CO2-Bepreisung als zentrales
Lenkungsinstrument der Klimapolitik einzuführen. Weil es keine Welt-
regierung gibt, richtet sich der Fokus auf bestehende multinationale
Institutionen, allen voran die UNO. Das wichtigste Instrument ist das von
191 Ländern ratifizierte Übereinkommen von Paris. Trotzdem ist das Zwi-
schenfazit ernüchternd: Die bisher getroffenen Massnahmen genügen bei
Weitem nicht, um das angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu
begrenzen. Ein weiterer Ansatz ist die Agenda 2030 der UNO, die 17 Ziele
der nachhaltigen Entwicklung identifiziert, darunter den Klimaschutz. Alle
193 Mitgliedsstaaten, zu denen auch Liechtenstein zählt, haben die Agen-
da 2030 unterzeichnet und sich zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele
bekannt. Neben einer globalen THG-Steuer wäre ein weltweites Emissions-
handelssystem eine effiziente und marktgerechte Massnahme, um dem
Klimawandel zu begegnen. Die Operationalisierung dieser beiden Ansätze
sollten durch die Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens weiter aus-
gearbeitet werden. Zudem könnte sich die WTO als Betreiber eines Emis-
sionshandelssystems anbieten.
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Die nationale Ebene
Wie schon erwähnt ist der Einfluss Liechtensteins auf den Klimawandel
minim. Limitiert sind auch die Einflussmöglichkeiten auf internationale
Lösungsfindungsprozesse. Weil man mit einem effizienten Mitteleinsatz
im Ausland verhältnismässig viel erreichen kann, erachten wir die vorher
genannten Empfehlungen für eine Reduktion der THG-Emissionen im Aus-
land als zentralen Eckpfeiler für die liechtensteinische Klimapolitik.
Dass die Politik Massnahmen im Inland gegenüber solchen im Ausland
den Vorzug gibt, ist dennoch verständlich, kann sie damit doch die eigene
Klientel bedienen. Von Nutzniessern der E-Mobil-Förderung, der Subventio-
nierung von Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen und Pelletheizungen ist
kein Einspruch und keine Kritik zu erwarten. Dabei sollte die Politik beach-
ten, dass Massnahmen im Inland dann richtig und wichtig sind, wenn die
Vermeidung von Umweltemissionen mit adäquaten Kosten erreichbar ist.
Wir verzichten an dieser Stelle darauf, die vorgeschlagenen Massnahmen
der Regierung im Einzelnen zu würdigen, zumal wir viele der Handlungs-
felder und Massnahmen als plausibel beurteilen. Wichtig ist, dass die
einzelnen Massnahmen auf die bereits erwähnten Kriterien der Effektivität,
der Effizienz, der Kostenwahrheit und der Technologieneutralität über-
prüft werden. Dabei ist zu bedenken, dass Verbote und Subventionen
diesen Kriterien höchstens in Einzelfällen gerecht werden. Klar im eigenen
Kompetenzbereich liegt die Minderung von negativen Auswirkungen des
Klimawandels auf dem heimischen Territorium. Dabei geht es im Wesent-
lichen nicht um Klimaschutz, sondern um den Schutz vor dem Klima, etwa
Schutz vor Gefahren von Extremereignissen, vor Hitzewellen, Trockenperio-
den oder Hochwasser. Neben den Risiken gibt es auch Chancen, die es zu
nutzen gilt.
Zusammenfassung der Empfehlungen zu Umwelt
Auf internationaler Ebene
Bilaterale Kompensationsabkommen sollten als wichtige Massnahme
in der Klimapolitik auf internationaler Ebene in den Fokus genommen
werden.
Eine Orientierung der Klimapolitik an der Kosteneffizienz, also an einer
hohen CO2-Einsparung pro ausgegebenen Franken, ist notwendig.
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Liechtenstein sollte auf einen maximalen Anteil des Reduktionsziels im
Ausland verzichten, da im Ausland die Vermeidungskosten niedriger
sind als im Inland und der eingesetzte Franken dadurch mehr Effektivi-
tät erzielt.
Firmen, die sich durch eine konsequente Dekarbonisierung oder durch
eine Transformation zur Kreislaufwirtschaft auszeichnen, sollten als
« Leuchtturmprojekte » positioniert werden. Dabei kommt neben dem
Staat auch den Verbänden eine wichtige koordinierende Funktion zu.
Liechtenstein sollte enger mit der EU zusammenarbeiten – allenfalls
auch ihre EFTA-Mitgliedschaft nutzen, um die Wirksamkeit von Klima-
schutzmassnahmen zu erhöhen.
Liechtenstein sollte sich – auch im Verbund mit Partnerländern – mit
Ideen zu multilateralen Ansätzen zur Reduktion der THG-Emissionen in
die UNO einbringen und mit gutem Beispiel vorangehen.
Auf nationaler Ebene
Klimaschutz verlangt es, Verantwortung für die Folgen des eigenen
Handelns zu übernehmen, unabhängig von der Grösse des THG-
Ausstosses. Liechtenstein steht es trotz geringen Einflussmöglichkeiten
gut an, als Vorbild und aus Solidarität mit der Welt voranzugehen.
Massnahmen im Inland sind insbesondere dann zu begrüssen, wenn sie
mit adäquaten Kosten zu erreichen sind. Die einzelnen Massnahmen
sind an den Kriterien der Effizienz, der Effektivität, der Kostenwahrheit
und der Technologieneutralität zu überprüfen.
Zu begrüssen sind zudem Massnahmen, die vor den Gefahren des Kli-
mawandels im Inland schützen und die Nutzung sich bietender Chan-
cen erhöhen.
8.1.4 Empfehlungen zu Lebensqualität
Ausgangslage
Wir haben in Kapitel 4.3 festgestellt, dass Lebensqualität nicht allgemein-
gültig definiert werden kann. Wir Menschen beurteilen sie unter anderem
immer auch in Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld und unsere Stellung
darin. Die wirtschaftliche Situation ist zwar ein wichtiges, aber längst nicht
das einzige Merkmal, das in unsere Beurteilung einfliesst. Mitentscheidend
ist, wie sicher sich der Mensch fühlt, inwiefern er seine Vorstellungen an
ein gutes Leben verwirklichen kann, wie gesund er ist, wie seine berufliche
Stellung ist etc.
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Wohlstand ist zweifellos ein entscheidendes Element der Lebensqualität,
wie auch die entsprechenden Statistiken belegen (vgl. Kapitel 4.3.1). Die
Bevölkerung in Ländern mit höherem Wohlstand fühlt sich in der Regel
zufriedener (Abbildung 30, S. 62). Dieser Zusammenhang setzt sich aller-
dings nicht unendlich fort. Ab einem gewissen Wohlstandsniveau lässt sich
das Zufriedenheitsniveau nur noch schwer anheben. Liechtensteins BIP pro
Kopf liegt (kaufkraftbereinigt) rund drei Mal höher als in Österreich,
Dänemark, Finnland, Deutschland, Schweden oder Island, und dennoch
sind die Menschen in diesen Ländern ungefähr gleich zufrieden mit ihrem
Leben wie die Bevölkerung in Liechtenstein.
Höchster Wohlstand und höchste Zufriedenheit: Warum sollte sich die
liechtensteinische Politik überhaupt Gedanken machen über die Lebens-
qualität der Bevölkerung?
Für die Beantwortung der Frage blicken wir noch einmal auf den ersten
Satz des Wohlfahrtsartikels 14 der Verfassung: « Die oberste Aufgabe des
Staates ist die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt. » In seinem Ver-
fassungskommentar stellt das Liechtenstein-Institut klar, dass damit mit-
nichten nur materielle Werte gemeint sind: « ‹Volkswohlfahrt› darf deshalb
nicht gleichgesetzt werden mit finanziellen Vorteilen für den Einzelnen
oder Leistungen, von denen nur eine ‹beschränkte Anzahl von Personen›
profitieren können. Vielmehr verdeutlicht das Adjektiv ‹gesamte›, dass
nicht einzelne Personen, Berufsgruppen, Schichten oder Regionen günstige
Bedingungen oder handfeste materielle Vorteile erhalten sollen, sondern
dass das Wohlergehen aller anzustreben ist. (...) Es muss an anderen Krite-
rien gemessen werden als an den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen.
Als Kriterien bieten sich z. B. gesunde Wohnverhältnisse, eine intakte Um-
welt, Erwerbsmöglichkeiten, der Zugang zu Bildung und zur Gesundheits-
versorgung sowie kulturelle Angebote und die Möglichkeit, Beziehungen
zu pflegen und über die Gestaltung des engeren Umfeldes mitzuwirken,
an. »
Wenn also die Verfassung die Wohlfahrt der Bevölkerung als das wichtigste
Staatsziel definiert, gibt es gute Gründe, diese nicht nur als Summe aller
staatlichen Aktivitäten zu interpretieren, sondern sie bewusst als politisches
Ziel zu definieren.
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Liechtenstein sollte « Lebensqualität »
als eigenständiges wirtschaftspolitisches
Ziel bestimmen.
Nachhaltigkeitsindikatoren zur Wohlfahrtssteuerung
und -messung
Allerdings muss eine entsprechende Zielsetzung auch operationalisiert
werden können. Das dafür notwendige Instrumentarium besteht bereits in
Form der für Liechtenstein definierten Nachhaltigkeitsindikatoren. Für der-
zeit 55 Indikatoren wird jeweils eine gewünschte Entwicklung (Zunahme,
Abnahme, Stabilität) definiert und je nach Ergebnis der Messung wird die
Bewertung mit Grün (positiv, in Richtung Nachhaltigkeit), Rot (negativ, weg
von der Nachhaltigkeit) oder Gelb (neutral) vorgenommen.
Eine Vielzahl der Indikatoren zielt eindeutig auf den Erhalt oder die Verbes-
serung der Lebensbedingungen und damit auf die Lebensqualität der Be-
völkerung ab. Beispielsweise im Bereich « Lebensbedingungen » die Anzahl
begangener Gewaltdelikte oder die Höhe von Wohnkosten, im Bereich
« Gesundheit » die Lebenserwartung oder im « Bildungsbereich » die Anzahl
frühzeitiger Schulabgänger.
2022 stand die Ampel für die Entwicklung bei 35 Indikatoren auf Grün,
bei 13 auf Rot und 7 Indikatoren schnitten neutral ab. Stellt die Politik die
Lebensqualität und Zufriedenheit der Bevölkerung ins Zentrum ihrer Be-
mühungen, bieten die Nachhaltigkeitsindikatoren ein ideales Instrument.
Denn anstatt deren Entwicklung einfach nur zu messen und den Stand
festzustellen, sollten prioritär, aber nicht ausschliesslich, die mit Rot bewer-
teten Indikatoren gezielt in den Fokus rücken, um eine Entwicklung in die
gewünschte Richtung zu bewirken.
Das System der Nachhaltigkeitsindikatoren sollte genutzt werden, um
die « Volkswohlfahrt » bzw. die Lebensqualität der Bevölkerung als eigen-
ständiges politisches Ziel zu definieren. Dabei ist es zielführend, bewusst
diejenigen Indikatoren auszuwählen, die von der Politik beeinflusst werden
können. Den Vorteil dieses Ansatzes sehen wir darin, dass die politischen
Programme transparenter und konkreter formuliert werden und deren
Umsetzung messbar wird. Das macht die Arbeit der Politik nicht unbedingt
einfacher oder angenehmer, aber grundsätzlich sind hohe Transparenz in
144
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der Zielsetzung und die Überprüfbarkeit von politischen Zielen in einer ge-
lebten Demokratie ein hohes Gut.
Wie schon erwähnt sollten die Indikatoren inskünftig stärker auf die Nach-
haltigkeitsziele der UNO ausgerichtet werden. Eine Auswahl der aktuellen
Indikatoren könnte sich beispielsweise wie folgt präsentieren:
Bereich Indikator und aktuelle Bewertung
Lebensbedingungen Gewaltdelikte
Wohnkosten
Bezieher wirtschaftlicher Sozialhilfe
Gesundheit Lebenserwartung bei Geburt
Sozialer Zusammenhalt Ungleichheit in der Erwerbsverteilung
Frühzeitige Schulabgänger
Bildung und Kultur Lesefähigkeit der 15-Jährigen
Arbeit Erwerbsquote
Arbeitslosenquote / Jugendarbeitslosigkeit
Pendleranteil
Wirtschaft BNE pro Einwohner
Fiskalquote der öffentlichen Haushalte
Arbeitsproduktivität
Mobilität Umweltfreundlicher Personenverkehr
Energie und Klima Treibhausgasemissionen (grün)
CO2-Intensität der Volkswirtschaft
Natürliche Ressourcen Siedlungsfläche
Feinstaub-Konzentration
Quelle: AS, 2022k
Die vorgeschlagene Auswahl umfasst jene Indikatoren, die für die Volks-
wohlfahrt von Relevanz und beeinflussbar sind.
Zudem sollten die Indikatoren periodisch auf ihre Bedeutung überprüft und
mit neuen relevanten Indikatoren ergänzt werden. Im Bereich der Mobilität
und der Wirtschaft sind beispielsweise die seit Jahren wachsenden Stau-
zeiten ein Aspekt, der die Wohlfahrt auf vielfältige Weise negativ tangiert
(Zeitverlust, Umweltbelastung, Produktivität usw.).
Zukunft.li hat für einzelne, für die Lebensqualität bedeutende Themen,
bereits Vorschläge gemacht. Zentral ist dabei die Raumentwicklung und
der Verkehr als Teilaspekt davon.
Die Qualität und die Entwicklung des Raums, der uns umgibt, beeinflusst
unsere Zufriedenheit und damit unsere Lebensqualität. Zukunft.li hat
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diverse Aspekte rund um die Raumentwicklung in einer Studie von 2019
beleuchtet (Beck & Lorenz, 2019). Liechtenstein ist stark zersiedelt und die
ausgeschiedenen Bauzonen sind für eine vernünftige Entwicklung deutlich
überdimensioniert. Unter der Annahme, dass Rückzonierungen aufgrund
der verfassungsmässig geschützten Eigentumsgarantie finanziell entschä-
digt werden müssen, ist ein solcher Ansatz auch für das reiche Liechten-
stein nicht zu stemmen. Eine Überbauungspflicht, wie sie beispielsweise in
der Schweiz angewendet wird, würde die Zersiedelung sogar noch fördern
und zu einem gesetzlich erzwungenen Überangebot an Wohnraum führen.
Trotz dieser Einschränkungen müssen Massnahmen umgesetzt werden,
mit denen der Entwicklungsspielraum auch für zukünftige Generationen
möglichst erhalten bleibt. Eine gemeindeübergreifende Raumentwicklung
gelingt nur durch einen breit abgestützten partizipativen Prozess, wie er
beispielsweise mit der Vision 2050 für die Unterländer Gemeinden und
Schaan angestossen wurde. Um der weiteren Zersiedelung und Erschlies-
sung von Bauzonen entgegenzuwirken, sollte das Instrument der Boden-
banken eingesetzt werden. Sie können den Druck reduzieren, ausgeschie-
dene Wohnzonen an den Siedlungsrändern zu erschliessen.
Speziell in Liechtenstein ist die Verkehrsentwicklung mit dem Wirtschafts-
wachstum bzw. dem Wachstum der Arbeitsplätze eng verknüpft. Deshalb
nimmt der Verkehr vor allem in den Stosszeiten am Morgen und Abend
seit Jahren zu. Das wirkt sich auf die Lebensqualität von jenen aus, die im
Stau stehen oder an staureichen Strassen wohnen. Zudem sucht sich der
Verkehr neue Wege und breitet sich so immer stärker auf das Land aus
(Beck & Lorenz, 2019, S. 57). Wie auch im Umweltbereich entstehen durch
Staus externe Kosten (Zeitverlust, Lärm- und Schadstoffemissionen usw.),
die nicht von den Verursachern getragen werden. Zukunft.li hat 2020 in
ihrer Publikation « Fokus Road Pricing – Ein System zur effizienten Nutzung
der Strasseninfrastruktur » einen Ansatz in die Diskussion gebracht, der
diesen Aspekten Rechnung trägt, höhere Selbstverantwortung der Stras-
sennutzer einfordert sowie finanzielle Ressourcen und Bodenressourcen für
zukünftige Generationen schont.
Aktuell bearbeitet Zukunft.li mit den Themen « Sicherheitspolitik / Bevöl-
kerungsschutz » und « Bildungspolitik » zwei weitere Felder, die für die Le-
bensqualität relevant sind. Dazu wird sie in einigen Monaten ihre Erkennt-
nisse präsentieren.
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Zusammenfassung der Empfehlungen zu Lebensqualität
Liechtenstein sollte Lebensqualität als eigenständiges wirtschaftspoli-
tisches Ziel bestimmen, die dafür geeigneten Indikatoren auswählen,
die zur Zielerreichung geeigneten Massnahmen ergreifen und die Ziel-
erreichung periodisch überprüfen.
Die bereits bestehenden Nachhaltigkeitsindikatoren bieten dafür eine
geeignete Grundlage.
8.2 Zusammenfassung
Diese Studie widmet sich verschiedenen Aspekten des Wirtschaftswachs-
tums: von der vergangenen Entwicklung zu den relevanten Wachstums-
quellen, von den Wirkungen des Wachstums auf Umwelt und Lebensquali-
tät zu Wirtschaftspolitik und möglichen Entwicklungsszenarien. In einem
ersten Teil liegt der Fokus auf dem internationalen Kontext, während der
zweite Hauptteil sich auf Liechtenstein und seine vergangene und mög-
liche zukünftige Entwicklung konzentriert.
8.2.1 BIP und BNE
Liechtenstein hat eine im internationalen Vergleich ausserordentliche Ent-
wicklung hinter sich, die es zu den globalen Spitzenreitern beim Thema
Wohlstand werden liess. Anhaltendes Wirtschaftswachstum kennen wir
erst seit der industriellen Revolution. Im angestellten Ländervergleich wie-
sen die kleineren Staaten in den letzten 30 Jahren in der Regel stärkeres
BIP-Wachstum auf als grössere Länder. Allerdings sinken die Zuwachsraten
im Langzeitvergleich. Durch die sich anbahnende Stagnation der Erwerbs-
bevölkerung wird zukünftiges Wachstum in erster Linie durch die Produk-
tivitätsentwicklung entstehen müssen. Bei einer Wirtschaftsstruktur wie
in Liechtenstein, wo ein hoher Wertschöpfungsanteil durch zupendelnde
Arbeitskräfte erbracht wird, ist das BNE die bessere Masszahl, um den
Wohlstand der Bevölkerung zu messen. Auf Gesamt- wie auch auf Pro-
Kopf-Basis weist Liechtenstein beim BIP und BNE mit deutlichem Abstand
die höchsten Werte im Ländervergleich auf.
8.2.2 Wachstumsquellen
Arbeitsstunden und Produktivität sind die zwei grundlegenden Quellen des
Wachstums. Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die in
einem Land verfolgte Wirtschaftspolitik und die verfügbaren natürlichen
Ressourcen haben zudem Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung.
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Arbeitsstunden
Der Umfang der in einer Volkswirtschaft geleisteten Arbeitsstunden wird
massgeblich durch die Erwerbsquote, die durchschnittliche Arbeitszeit
sowie durch den Altersquotienten (Verhältnis über 65-Jährige zu 15- bis
64-Jährigen) bestimmt.
Die Erwerbsquote und im Besonderen diejenige der Frauen stellen in vielen
Volkswirtschaften das grösste Potenzial für eine Steigerung der Gesamtleis-
tung dar. In der Tendenz führt eine höhere Erwerbsquote auch zu höherem
BIP pro Kopf. Die Frauenerwerbsquote in Liechtenstein ist vergleichsweise
tief und bietet damit aus volkswirtschaftlicher Sicht entsprechendes Wachs-
tumspotenzial.
Mit zunehmendem Alter der Arbeitnehmenden wirken sich körperliche
Leistungsfähigkeit, verringerte Lernfähigkeit sowie Aspekte der Lohnrigidi-
tät negativ auf die Arbeitsproduktivität aus. Der Altersquotient in Liech-
tenstein ist im Ländervergleich zwischen 2005 (16 %) und 2019 (27 %)
am deutlichsten angestiegen. Der Effekt wird allerdings durch den hohen
Zupendleranteil abgeschwächt, weil dieser Personenkreis jünger ist als die
inländische Erwerbsbevölkerung.
Global lässt sich die Tendenz feststellen, dass die Arbeitszeiten mit stei-
gendem Wohlstand sinken. Im Ländervergleich zeigt sich für Liechtenstein
nach Island die zweithöchste Anzahl wöchentlicher Arbeitsstunden. Aller-
dings lässt sich die wirtschaftliche Entwicklung der betrachteten Länder
nicht eindeutig mit unterschiedlich hohen Wochenarbeitszeiten in Zusam-
menhang bringen.
Die wichtigste Quelle für das Wachstum in Liechtenstein waren in der
Vergangenheit die Arbeitskräfte aus dem Ausland. Die Anzahl der Zupen-
delnden stieg seit 1998 von 8´900 auf 22´500 (2020) an. Der Zuwachs der
Beschäftigung ist zu rund 83 % auf Einstellungen von Erwerbspersonen mit
Wohnsitz im Ausland zurückzuführen.
Da in Zukunft die demografische Entwicklung das inländische Arbeits kräfte-
potenzial schmälern wird, bleiben als Wachstumsquellen für Liechtenstein
eine weitere Zunahme der Grenzgänger, eine Erhöhung der Erwerbsquote
oder ein Produktivitätswachstum übrig.
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Arbeitsproduktivität
Die Arbeitsproduktivität wird als BIP pro Arbeitsstunde ausgedrückt. 2019
wies Liechtenstein nach Luxemburg im Ländervergleich den zweithöchsten
Wert auf, vor Dänemark und der Schweiz. Wachstum wird allerdings nicht
durch das Produktivitätsniveau, sondern durch den Produktivitätsanstieg
kreiert. Dort musste Liechtenstein zwischen 1980 und 2020 als einziges
Land Einbussen in Form negativer Wachstumsraten in Kauf nehmen.
Grundsätzlich liegen die Produktivitätsfortschritte in vielen Ländern vor
2000 höher als in den Jahren danach. Als Hauptgründe nennt die OECD
geringere Investitionen, tiefere Innovationsdynamik und den Fachkräfte-
mangel.
Technischer Fortschritt ist ein bestimmender Faktor für die Produktivität.
Ein Treiber davon sind Investitionen in Forschung und Entwicklung. In die-
sem Bereich erreicht Liechtenstein im Ländervergleich (F & E-Investitionen
in % des BIP) den Spitzenplatz.
Sowohl in Liechtenstein als auch im internationalen Vergleich verlangsamt
sich die Produktivität in der langen Frist. Weil dies in Zeiten wesentlicher
technischer Errungenschaften (Digitalisierung) erfolgt und damit nicht zu
erwarten ist, spricht man auch vom Produktivitätsparadox. Erklärt wird es
unter anderem damit, dass digitale Technologien eine geringere Transfor-
mationswirkung erzielen als frühere Erfindungen (z. B. Elektrizität, Verbren-
nungsmotor) und dass deren Implementierung (z. B. künstliche Intelligenz,
Nano- oder Biotechnologie) länger dauert, bis die volle Wirkung entfaltet
wird.
Rahmenbedingungen, Wirtschaftspolitik und natürliche Ressourcen
Die Stabilität des politischen Systems und Vertrauen in den Rechtsstaat be-
einflussen Wachstum ebenso wie die direkte Wirtschaftspolitik (z. B. durch
Arbeitsmarktregulierung, Sozial- und Steuerpolitik oder Wettbewerbspoli-
tik). Die Kombination sämtlicher Produktionsfaktoren – also neben Arbeit,
Kapital und technischem Fortschritt auch die natürlichen Ressourcen – be-
stimmen das gesamtwirtschaftliche Angebot.
Zu den Aufgaben der Wirtschaftspolitik gehört auch die Korrektur von
Marktversagen – insbesondere bei Umweltgütern. Die Kosten der Umwelt-
belastung werden nicht eingepreist und damit nicht vom Konsumenten,
sondern von der Allgemeinheit getragen, wodurch das wichtige ökono-
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mische Prinzip der Kostenwahrheit verletzt wird. Zu tiefe Preise signalisie-
ren falsche Knappheiten und führen dazu, dass die knappen Ressourcen
nicht effizient eingesetzt werden. Die Folgen der daraus resultierenden
« Umweltübernutzung » sind offensichtlich und ohne globale oder zumin-
dest internationale Kooperation nicht zu lösen.
8.2.3 Wirkungen des Wachstums
Wirtschaftswachstum – Umwelt – Lebensqualität: Alle drei Dimensionen
prägen unser Leben und unsere Zukunft. Die grundlegende Frage lautet:
Lässt sich das eine Ziel verfolgen, ohne dass man sich von den anderen
beiden entfernt? Hier setzt die Diskussion über unterschiedliche Entwick-
lungspfade ein. Die zwei Hauptstossrichtungen unterscheiden sich vor
allem darin, dass die einen Wachstum als Problemursache (Umweltbelas-
tung, sinkende Lebensqualität, steigende Ungleichheit), die anderen es als
Problemlösung (v. a. technischer Fortschritt zur Entkopplung von Wachstum
und Umweltbelastung) beurteilen.
Zielbeziehung Wachstum – Umwelt
Zwischen 2000 und 2020 hat der globale CO2-Ausstoss um fast 40 %
zugenommen. In der Regel sind die Pro-Kopf-Emissionen in Ländern mit
hohen Einkommen grösser. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen
BIP und Klimabelastung.
Während die weissen Treibhausgasemissionen (THG) den direkten Aus-
stoss in einem Land selbst messen, berücksichtigen die konsumorientierten
Emissionen auch die in importierten Gütern steckenden grauen THG. Das
langfristige Ziel liegt in der « absoluten » Entkopplung von Wachstum und
THG-Ausstoss, also einer Emissionsreduktion bei gleichzeitigem Wirt-
schaftswachstum. Steigen beide Werte, die THG aber geringer als das BIP,
spricht man von einer « relativen » Entkopplung. Seit den 1960er-Jahren
ist global betrachtet eine relative Entkopplung festzustellen. Liechtenstein
weist im angestellten Ländervergleich nach Malta und der Schweiz die
tiefsten weissen THG-Emissionen pro Kopf aus. Mit der konsumbasierten
Sicht (allerdings mit eingeschränkter Datenverfügbarkeit43) liegt das Land
im Mittelfeld und konnte – anders als die meisten anderen Staaten – den
Ausstoss zwischen 1990 und 2019 nicht senken. Bei den betrachteten
Kleinstaaten ist die Entkopplung weniger fortgeschritten als in den grös-
seren Ländern der Vergleichsgruppe. Bei der Mehrheit der grösseren
43 Es fehlen für Liechtenstein Daten zu
den grauen Emissionen. Als Schätzwert
werden die Daten der Schweiz unter-
stellt.
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Länder ist sogar eine absolute Entkopplung erkennbar. Bei den kleineren
Staaten gilt dies nur für Estland.
Auf globaler Ebene ist die Welt von einer absoluten Entkopplung hingegen
noch weit entfernt. Wesentlich dafür verantwortlich sind Kostengründe
(Verlagerung der Produktion an kostengünstigere Standorte), Rebound-Ef-
fekte (Effizienzgewinne umweltschonender Technik führt zu mehr –
klimaschädlichem – Konsum) und der Carbon-Leakage-Effekt (CO2-Einspa-
rungen führen durch Produktionsverlagerung zu CO2-Anstieg in anderen
Regionen, tiefere Energiepreise durch Nachfragerückgang erhöhen den
Energiekonsum in anderen Regionen).
Auch wenn der Anteil kleiner Länder am globalen THG-Ausstoss ver-
schwindend gering ist, darf ihr potenzieller Einfluss zur Problemlösung
nicht unterschätzt werden. Für die Schweiz schätzen die Autoren einer
aktuellen Studie, dass die indirekten Einflussmöglichkeiten rund 20- bis 30-
mal höher liegen als der isoliert betrachtete Anteil am globalen Ausstoss.
Der Grund liegt in der internationalen Verflechtung vieler Unternehmen
mit Sitz in der Schweiz und der Bedeutung des Finanzplatzes. Für Liechten-
stein gilt das gleiche Argument – wenn auch grössenmässig um Faktoren
geringer.
Zielbeziehung Wachstum – Lebensqualität
Höherer Wohlstand geht in der Regel mit höherer Lebensqualität einher.
Nicht verwunderlich belegt Liechtenstein in der Zufriedenheitsmessung
international einen Spitzenplatz. Ab einem gewissen Niveau steigt die
Zufriedenheit trotz zunehmendem Wohlstand nicht mehr, weil der Grenz-
nutzen auf den obersten Sprossen der Zufriedenheitsleiter nur noch wenig
ansteigt.
Ungleichheit in der Einkommensverteilung hat einen Einfluss auf die Zu-
friedenheit. Sie ist allerdings auch stark von den nationalen politischen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Für die betrachteten Ver-
gleichsländer lässt sich kein direkter Zusammenhang zwischen Wirtschafts-
wachstum und Einkommensverteilung ableiten.
Ein weiterer wesentlicher Indikator für Zufriedenheit ist die in einem Land
herrschende Armut. Global betrachtet ist der Anteil der Weltbevölkerung,
der in absoluter Armut lebt, in den letzten Jahrzehnten massiv zurück-
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gegangen. Relative Armut drückt den Anteil an der Bevölkerung aus, deren
Äquivalenzeinkommen unter 60 % des Medians liegt. Im Ländervergleich
liegt der Anteil in Finnland am tiefsten, in Estland am höchsten, und die
Schweiz ist im Mittelfeld platziert. Für Liechtenstein sind keine vergleich-
baren Werte verfügbar. In der Regel führt Wirtschaftswachstum durch
Einkommenseffekte zu höherer Lebensqualität, reduziert das Armutsrisiko,
verringert Kindersterblichkeit, erhöht damit gleichzeitig die Lebenserwar-
tung und hebt das Bildungsniveau an. Diese für die Lebensqualität wich-
tigen Aspekte hängen direkt oder indirekt vom verfügbaren Einkommen
ab. Die hohe Korrelation zwischen Wachstum und Lebensqualität erstaunt
deshalb nicht.
Zielbeziehung Umwelt – Lebensqualität
Eine intakte Umwelt trägt grundsätzlich zu einer höheren Lebensqualität
bei. Trotz zunehmender Umweltbelastung nimmt die Lebensqualität den-
noch zu. Ein Widerspruch? Nur auf den ersten Blick. Offenbar haben stei-
gende Einkommen mehr Zufriedenheit ausgelöst als der Umweltverbrauch
sie reduziert hat. Ausserdem besteht eine zeitliche Komponente: Kosten
der Umweltbelastung tangieren weniger die Lebensqualität der aktuellen,
sondern diejenige der zukünftigen Generationen.
8.2.4 Wachstumskonzepte und Wohlfahrtsmessung
Wachstumskonzepte
Trotz der aufgezeigten Analyse empirischer Daten werden das wirtschaft-
liche Wachstum und seine Wirkungen auf die Umwelt und die Lebensqua-
lität unterschiedlich beurteilt. Die Debatte basiert in erster Linie auf diver-
gierenden gesellschaftlichen und politischen Wertvorstellungen.
Das breite Spektrum von Wachstumskonzepten lässt sich in drei Haupt-
stossrichtungen einordnen:
Wachstumsbejahende Konzepte mit dem Ziel, den Wohlstand wie
auch weitere Aspekte der Lebensqualität zu verbessern (Growth, Green
Growth),
Konzepte, die Umwelt und Lebensqualität ins Zentrum stellen und
dabei Wachstum als Nebeneffekt akzeptieren (Beyond Growth) oder als
unnötig erachten (Postgrowth),
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Ansätze, für die Wachstum das Kernproblem darstellt. Das BIP soll
schrumpfen, dadurch sollen die Umwelt- und Lebensqualität steigen
(Degrowth).
Alle Ansätze möchten grundsätzlich die Wohlfahrt steigern und die
Umweltbelastung beenden, aber mit fundamental anderen Mitteln. Die
Hauptdifferenz liegt in der Einschätzung, wie und ob der technische Fort-
schritt in der Lage ist, vor allem die Umweltprobleme rechtzeitig zu lösen.
Als Folge davon unterscheiden sich die Konzepte auch in den jeweils not-
wendigen Rahmenbedingungen, in der Rolle des Staates und im Konkreti-
sierungsgrad, wie sie schliesslich umgesetzt werden sollen.
BIP und alternative Massstäbe
Das BIP misst, was es messen soll, nämlich marktwirtschaftliche Wert-
schöpfung. Es ist ein Wohlstands-, aber kein Wohlfahrtsmass. Aufgrund
dieser Limitation sind alternative Wohlfahrtsindikatoren entstanden, zum
Beispiel der Better Life Index, der Human Development Index, der Happy
Planet Index oder das Dashboard for the New Economy. Für eine An-
wendung auf Liechtenstein sind die vier betrachteten Indikatoren nicht
geeignet. Liechtenstein führt seit 2010 ein Indikatorensystem für eine
nachhaltige Entwicklung, das bis anhin für die politische Steuerung kaum
Berücksichtigung findet.
8.2.5 Liechtensteinische Wirtschaftspolitik im Rückblick
Das Resultat spricht für sich: Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten
Jahrzehnte in Liechtenstein ist beeindruckend. Im Einzelnen lässt sich nur
schwer überprüfen, ob die politischen Ziele erreicht wurden, weil sie dafür
oft (zu) wenig konkret formuliert wurden.
Feststellen lässt sich, dass die Rahmenbedingungen inklusive Zugang zu
relevanten Märkten für die Wirtschaft attraktiv gestaltet wurden. Weil die
Produktivität über einen längeren Zeitraum stagnierte, sind hingegen für
die Bevölkerung kaum mehr Wohlstandsgewinne erzielt worden. Negative
Spuren hat das Wachstum insbesondere im Verkehrs- und Raumplanungs-
bereich hinterlassen.
8.2.6 Drei Wachstumsperspektiven
Ziel dieses Kapitels ist es, eine grobe Vorstellung davon zu skizzieren, wie
sich Liechtenstein in drei verschiedenen Wachstumsszenarien Growth,
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Green Growth und Degrowth entwickeln könnte. Growth und Green
Growth unterscheiden sich – vor den Hintergrund der getroffenen Annah-
men – vor allem in den Auswirkungen im Umweltbereich (insbesondere in
der Biodiversität). Green Growth führt zu besserer Umwelt- und damit zu
Lebensqualität, bedingt jedoch höhere Investitionen und Anpassungskos-
ten für den Strukturwandel. Eine Konsequenz zeigt sich in tieferen verfüg-
baren Einkommen durch erwartete Preissteigerungen. Bei Degrowth stehen
die geringere Umwelt- und Verkehrsbelastung und höhere Lebensqualität
durch mehr Freizeit auf der positiven Seite. Der mit diesem Weg verbun-
dene Rückgang des BIP, der Einkommen und damit der Steuern ist jedoch
mit erheblichen Einschränkungen verbunden. So stehen grundsätzlich
weniger Investitionen – auch für Umweltmassnahmen – zur Verfügung,
die finanzielle Absicherung der Sozialwerke ist gefährdet, das Armutsrisiko
und die Arbeitslosigkeit steigen gegenüber den anderen Szenarien an.
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
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9 | Anhang
Szenario
Indikator
Growth
(G)
Green Growth (GG)
Degrowth
(DG)
Bevölkerung (Total,
20 – 65)
2021 – 2050: jährliche Wachs-
tumsrate gemäss Bevölkerungs-
szenarien 2015
wie G wie G
Erwerbsquote44 2020 – 2035: linearer Anstieg
von 74.5 % auf 77 %
wie G 2020 – 2050: linearer Anstieg
auf 75 %
Anzahl Wegpendler 2020 – 2050: konstant wie G wie G
Anzahl Zupendler 2021 – 2035: jährliche Wachs-
tumsrate gemäss Szenario 2016
2035 – 2050: lineare Fort-
führung der Wachstumsrate
2021 – 2035
wie G 2021 – 2050: Stagnation
VZÄ 2020 – 2050: Verhältnis VZÄ zu
Beschäftigten bleibt stabil bei
0.8545
wie G 2020 – 2050: Verhältnis VZÄ zu
Beschäftigten sinkt linear von
0.85 auf 0.75
Arbeitsproduktivität
(CHF / VZÄ)
2019: gemäss Szenario 2016
2020 – 2050: jährliche Zunahme
von 0.475 % pro Jahr
2020 – 2050: jährliche Zunahme
von 0.45 % pro Jahr
2020 – 2050: jährliche Zunahme
von 0.25 % pro Jahr
Produktionsbasierte
THG-Emissionen in
tCO2
46
2019: gemäss Common Repor-
ting Framework Tabellen für
Liechtenstein
2020 – 2050: Fortführung linea-
rer Trend gemäss Entwicklung
1990 – 2019
2019: wie G
2020 – 2050:
lineare Reduktion auf 0 bis
2050
2019: wie G
2020 – 2050: Mittelwert aus
Szenario G und GG
Externe Kosten pro
tCO2
2020: EUR 680, Umrechnungs-
kurs in CHF 1.02
wie G wie G
AHV Ausgaben / Einnahmen: gemäss
versicherungsmathematischem
Gutachten 2018
Ausgaben: wie G
Einnahmen: Staatsbeiträge
und Kapitaleinnahmen gemäss
Gutachten AHV 2018. Bei-
träge basierend auf Lohnquote
(Beiträge / 8.1*100 = Löhne,
dividiert durch BIP) analog zu G
Ausgaben: wie G
Einnahmen: Staatsbeiträge
und Kapitaleinnahmen gemäss
Gutachten AHV 2018. Bei-
träge basierend auf Lohnquote
(Beiträge / 8.1*100 = Löhne,
dividiert durch BIP) analog zu G
44 Definition der Erwerbsquote weicht
von der offiziellen Definition ab.
Definition: Einheimische Beschäftigte im
Inland / Einwohner 20 – 65.
Quelle: von Stokar, Peter, Weber & Wick (2022)
Tabelle 11:
Zusammenfassung der Trade-offs der drei Szenarien
45 In der Schweiz blieb der Quotient über
die Zeit 1995 – 2011 konstant. In den
Bevölkerungsszenarien der Schweiz
wird angenommen, dass der Be-
schäftigungsgrad der Frauen steigt und
derjenige der Männer sinkt. Insgesamt
ist also keine grosse Veränderung zu
erwarten. Diese Entwicklung wird auch
für Liechtenstein angenommen.
46 Kostensätze gemäss UBA-Methoden-
konvention 3.1.
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Abkürzungsverzeichnis
AS Amt für Statistik
BFS Bundesamt für Statistik
BIP Bruttoinlandsprodukt
BLI Better Life Index
BNE Bruttonationaleinkommen
CO2 Kohlenstoffdioxid, Kohlendioxid
CO2 eq CO2-Äquivalent
DBA Doppelbesteuerungsabkommen
EFTA European Free Trade Association
(Europäische Freihandelsassoziation)
EU Europäische Union
EWR Europäischer Wirtschaftsraum
F&E Forschung und Entwicklung
FTA Free Trade Agreement (Freihandelsabkommen)
ha Hektar
HDI Human Development Index
HPI Happy Planet Index
ILO International Labour Organization
(Internationale Arbeitsorganisation)
Kt Kilotonne
m2 Quadratmeter
MFP Multifaktorenproduktivität
OECD Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung)
PHDI Planetary-Pressures-Adjusted HDI
PPP Purchasing Power Parity
SDG Sustainable Development Goals
t Tonnen
TIEA Tax Information Exchange Agreement (Abkommen über den steuerlichen Informations-
austausch)
THG Treibhausgasemissionen
UNO United Nations (Vereinte Nationen)
VZÄ Vollzeitäquivalente
WEF World Economic Forum
WTO World Trade Organization
(Welthandelsorganisation)
157
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Literatur
Hauptquelle
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Zu dieser Publikation
Diese Publikation wurde von der Geschäftsstelle der Stiftung Zukunft.li –
namentlich Peter Eisenhut, Thomas Lorenz und Doris Quaderer verfasst. Die
wissenschaftlichen Grundlagen zu den Kapiteln 2 bis 5 und zu Kapitel 7 wur
den grösstenteils von Infras in Zürich, namentlich Thomas von Stokar, Romina
Weber, Martin Peter und Vanessa Angst erarbeitet (Infras, 2021).
Dr. Gerhard Schwarz hat als « Projektgötti » wertvolle Anregungen und
Verbesserungsvorschläge zur Studie beigesteuert.
Den erwähnten Personen gilt unser herzlicher Dank.
Impressum
Autoren / Autorin
Peter Eisenhut, Thomas Lorenz und
Doris Quaderer Stiftung Zukunft.li
Herausgeber
Stiftung Zukunft.li, Ruggell
Zitationsempfehlung
Eisenhut, P., Lorenz, T. &
Quaderer, D. (2022): Wirtschafts
wachstum. Trilemma zwischen
Wachstum, Umwelt und Lebens
qualität. Stiftung Zukunft.li. Ruggell.
Lektorat
Textimum GmbH, Triesenberg
Druckvorstufe
Gutenberg AG, Schaan
Druck, Bindung
Gutenberg AG, Schaan
© Stiftung Zukunft.li 2022
Dieses Werk ist urheberrechtlich
geschützt. Die Stiftung Zukunft.li ist
jedoch explizit daran interessiert,
die Ergebnisse ihrer Studien möglichst
vielen Interessierten zugänglich zu
machen. Die Verwendung des Inhalts
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