Die Hexe vom Triesnerberg.
î
Er rief mit starker Stimine seinen „Alpsegen" über die Alpe,
Die Originalausgabe dieses Nachdruckes
stammt aus der Walserbibliothek des Heimatmuseums
Triesenberg, zusammengetragen von Mdekan
und Pfarrer Engelbert Bücher,
Triesenberg.
Unveränderter Nachdruck der Ausgabe
von 1908, erschienen im Verlag Orell Füßli, Zürich.
© by Verlag HP Gaßner, Vaduz, Liechtenstein
Erstes Kapitel.
das letzte IDtIMjeu war eingebracht.
Rauh und kalt fegte es über die Alp; der Winter
stand vor der Tür. schweres Gewölk hing über den
Bergkuppen; die sagenumwobenen Häupter der „Drei
Schwestern" sahen grau aus dem dunkeln Wolkenmeer
hervor; die zerklüfteten helfen des Kalküls starrten wie
drohend gen Himmel; wildfchäumend stürzte das Wasser
der Gebirgsbäche durch die Schluchten, im jähen Lauf
alles mit sich reißend, was sich ihm hemmend in den
weg stellt.
Die kleine Gemeinde am Triesnerberg rüstete auch
für den Winter, Freie Walliser nennen sich die Leute;
um das Bahr f300 sind sie aus ihrer alten Heimat
Mberwallis vom Furkapaß bei Leuk ausgewandert und
haben sich auf den Halden des Triesnerberges nieder-
gelassen. Sie bewirtschaften die Alpen; ihre Viehzucht
hat einen großen Ruf erlangt bis auf den heutigen Tag.
Die Zeit, in die unsere Erzählung fällt, ist die des
unheimlichen Jahrhunderts der Hexenprozeffe, die so
viel Unheil angerichtet haben.
wir schreiben das Jahr 1636.
6
Aus einem der kleinen, niederen Däuser am Triesner-
berg trat eine Frau heraus, stemmte die roten, festen
Arme in die Seite und sah sorgenvoll in das drohende
Gewölk des Himmels.
„Gs gibt ein Wetter," numnelte sie, und ihre ernste
Stirne versinsterte sich mehr und mehr. ^etzt trat aus
dem nebenanliegenden Schuppen, der teils als Stall für
das Vieh und teils als Scheune für das Heu diente,
auch der Bauer heraus und gesellte sich zu ihr.
„Schaust das Wetter an, Weib?" fragte er kurz.
Sie nickte.
„Es ist um das Gretli, Bauer; der Weg ist weit
und mühsam; die Last ist schwer; und wenn ein Wetter
kommen sollte, tut's mir leid um das schmächtige Ding.
Das Res*) ist schwer und wird die schmalen Schultern
im Ausstieg nicht wenig drücken. Aber es geht nicht
anders, der Aloys muß noch heute das Brot haben.
Gebe Gott, daß das Wetter heute noch gut bleibt und
das Gretli heil auf die Alp kommt I"
Der Bauer brummte etwas von allzu ängstlichem
Weibervolk, das überall Unheil wittere. Uttt einem
großen Wester schnitzte er an einem Holzpflock herum;
die Späne flogen nach rechts und links.
Gs war eine kernige Gestalt, dieser alte Bergbauer
Jakob Stoß am Triesnerberg. Auf den kräftigen,
breiten Schultern ruhte ein ebenso kräftiger Aops; dich-
*) Res = hölzernes Traggestell, das am Rücken getragen wird.
tes, blondes Haar umrahmte die hohe Ltirn; hinter
bauschigen Augenbrauen sahen ein paar große, klar-
blickende Augen hervor. Alan brauchte nur hineinzu-
blicken, um zu wissen, daß ihr Besitzer wohl gar genau
wußte, was er wollte; daß er ein Wann von großer
Tatkraft und festem Willen sei. Araftvoll war der
ganze Aörper, das sah man an der breiten Brust, die
ein weißes Hemd nur eben bedeckte; die Füße steckten
in dicken, nägelbeschlagenen schuhen; Wadenstrümpfe,
von grauer, grober Wolle gestrickt, reichten bis zu den
Amen; die Beine und den Unterkörper bedeckte eine
abgenutzte, graue Lederhose, die um den Leib von einem
Riemen gehalten wurde.
Auch das Weib an seiner Seite war von hohem,
kräftigem Wüchse, wenngleich der Rücken schon gebeugt
war, weniger von der Last der Zahre, als vielmehr
von allzu schwerer Arbeit. Die Bergbewohner schaffen
den ganzen 5>ommer hindurch schwer; was die Alp ihnen
gibt, nmß unter mühsamer Arbeit eingeholt werden.
Das wettergebräunte Gesicht der Bäuerin zeigte
schon viele Falten; unr den Wund lag ein sorgenvoller
Zug; die Augen blickten ernst und verschlossen drein,
wie wenn steter, geheimer Aummer die Besitzerin nie
recht froh werden ließe. Und so war es auch.
Ulan lebte in jener grauenvollen Zeit, da man
seines eigenen Lebens nicht sicher war; während man
heute noch ruhig und ahnungslos seiner Beschäftigung
8
nachging, konnte man morgen schon von rohen fänden
ergriffen, vor ein Gericht geschleppt, böswillig ver-
leumdet, angeklagt und als Hexe auf dem Scheiter-
haufen verbrannt werden.
Wie hatte jene unheimliche Arankheit der damaligen
Zeit auch in dem kleinen Ländchen Liechtenstein, in dem
Triesnerberg gelegen war, gewütet; wie viele Opfer
waren ihr gebracht worden; wieviel Unglück war über
ganze Familien hereingebrochen, wieviel Blut unschuldig
geflossen! Es gab geheime und offene Angeber, die mit-
leidslos oft den besten Freund, den nächsten Nachbar der
Hexerei beschuldigten und dem Gerichte überlieferten.
Wer war da sicher, daß ihn das Unglück verschone?
War es zu verwundern, daß das Volk wie unter
einem Banne seufzte, daß besonders die Frauen unter
der ständigen Angst bebten und litten? Hatte doch noch
vor kaum drei Zähren der Scheiterhaufen mächtig ge-
raucht, war doch da ein Wehruf nach dem andern der
unglücklichen Opfer, die unter den gräßlichsten Qualen
ihren Geist aufgaben, gen Himmel gestiegen!
Anna 5>töß, die Bäuerin, schüttelte sich jedesmal,
wenn ihr der Gedanke daran kam, vor Entsetzen und
Grauen; denn vor ihren eigenen Augen hatte man
auch dort auf dem Scheiterhaufen ein Weib verbrannt,
das Anna als brave, fleißige Person kannte, das schon
über fünf Zahre als Magd treu in ihrem Haufe ge-
dient hatte.
9
Die Lucia sei eine L)exe, hieß die Anklage.
Die Lucia eine Hexe? Zum Lachen wäre es, wenn
es nicht gar so traurig gewesen wäre.
Vor fünf Jahren war sie als abgehärmtes, ehe-
verlaffenes Weib nach dem Triesnerberg gekommen,
ein achtjähriges Töchterchen an der Hand. 5ie bat von
Tür zu Tür uni Arbeit; überall vergebens. Als sie
gänzlich erschöpft au das Haus des Zakob 5töß kam,
erhielt sie dort Einlaß und Arbeit; denn des Bauern
Weib, die Anna, war schwer krank; niemand war da,
der sie pflegte und Haus und Hof in Grdnung hielt.
Der Bauer und sein 5>ohn Alovs, der sechzehnjährige,
waren froh, daß sie in Lucia eine Hilfe bekamen. 5ie
fragten nicht lang nach „Woher" und „Wohin"; das
bläffe, stille Weib tat seine Pflicht und schaffte bald
für zwei. Das Gretli aber mit den glänzendschwarzen
Haaren und dem zarten Gesichtchen, aus dem ein paar
große, blaue Ainderaugen treuherzig hervorleuchteten,
stahl sich bald in aller Kerzen. Der Bauer und die
Bäuerin, die unter Lucias Pflege bald genas, hatten
Freude an ihm, und Aloys, der große, etwas unge-
lenke Bursche, betrachtete das niedliche, kleine Ding als
sein Schwesterchen und tat ihn: viel Liebes an.
Fünf lange Zähre hatte Lucia still ihre Arbeit ge-
tan; von fortgehen war nie mehr die Rede gewesen.
Es war, als wenn die beiden fremden Einwanderer
immer dagewesen wären, als wenn sie immer zum
\0
Hausstand gehört hätten. Das Gretli wuchs heran,
blühend, gesund; zwar blieb es klein und zierlich, war
aber behende und flink. Zwei dicke, glänzendschwarze
Zöpfe baumelten ihm auf dem Rücken; die andern
Triesnerberger Ainder waren alle hellblond, flachs-
haarig; das Gretli flel in der Ainderfchar unter all
den Blondköpfen besonders auf, und es hieß bald im
Dorf „das schwarze Gretli".
Da war denn plötzlich das Verhängnis gekommen I
Lucia, des schwarzen Gretlis Ulutter, wurde als Hexe
bezeichnet; erst still und im geheimen, doch lauter und
lauter wurden die stimmen, immer lauter; und dann
kam plötzlich die Anklage. Lucia wurde beschuldigt,
das Vieh des Nachbars H>eter Schalter verhext zu
haben, indem sie heimlich Hexenkräuter unter das Mutter
gemischt habe, wodurch eine schwere beuche unter dem
ganzen Viehstand ausgebrochen sei.
Wer die Anklage zuerst gegen das unglückliche Weib
erhoben hatte, man wußte es nicht. Genug, sie war
da. Und böse Zungen schürten und stocherten das leise,
glimmende Feuer des ersten Mißtrauens. Der eine
behauptete, das schwarze Weib, die Lucia, schon öfters
gesehen zu haben, wie sie hoch oben aus den verbor-
gensten Felsenklüften das Hexenkraut geholt und sich
an Wensch und Vieh gedrängt habe, um es ihnen als
wirksamstes Heilkraut unter allerlei geheimnisvollen
Sprüchen und Formeln zu geben; ein anderer wollte
u
in einer schauerlich düstern Nacht, als er sich einmal
in den Bergen verirrt hatte, Lucia hoch oben auf dem
„Hahnenspiel" tanzen gesehen haben, umringt von
einer ganzen ^char Hexen, die ein gräßliches Geschrei
gemacht, sodaß die Luft davon erfüllt gewesen sei;
ein dritter gar beschuldigte das unglückliche Weib,
der Zatan selbst zu sein, der sich in ihrer Gestalt
unter das Triesnerberger Volk gemischt habe, um es
ganz in seinen Bann zu ziehen und es dann zu ver-
nichten.
Vergebens beteuerte die also Beschuldigte, daß sie
von alledem nichts wisse; daß sie wohl ein armes, ver-
lassenes Weib, aber brav und fromm fei. Vergebens
auch stellten ihr der Bauer und die Bäuerin das beste
Zeugnis aus. Nie von den Vorurteilen und dem Wahne
der damaligen Zeit umfangene Wenge blieb bei ihrer
Anklage, und Lucia wurde nach Vaduz in das unter-
irdische Gefängnis des alten 5-chloffes gebracht. Auch
die gräßlichsten Folterqualen, die das arme Weib nun
erdulden mußte, um das Geständnis, daß sie wirklich
eine Here sei und ini Bunde mit dem Bösen stehe, ab-
zulegen, vermochten nicht, Lucia von ihren Unschulds-
beteuerungen abzubringen. So kam sie auf den Scheiter-
haufen.
Der Bauer und die Bäuerin waren tiefunglücklich
über das Geschick, das ihrer armen Dienstmagd wider-
fahren war; aber es lag nicht in ihrer Wacht, das
\2
Unheil abzuwenden, schweigen war hier das allerbeste;
denn wer konnte wissen, ob nicht auch sie noch in die
Anklage gezogen würden, weil sie die angebliche Hexe
so lange unter ihrem Dache beherbergt hatten? Die
Bäuerin tröstete wie eine Mutter das unglückliche, arme
Gretli; beide, der Bauer und die Bäuerin, taten im
stillen das heilige Gelöbnis, das Rind der als Hexe
Verbrannten stets im Hause zu behalten und wie ihr
eigenes anzusehen.
Das Gretli aber war seit der schrecklichen Zeit, da
die Mutter fortgeschleppt worden war, still und ernst;
aus dem fröhlichen, inuntern Kinde war plötzlich eine
ernste Jungfrau geworden. Nie spielte es mehr mit
den blonden Triesnerberger Kindern auf der Gaste
oder unter den alten Walnußbäumen; es suchte sich
Arbeit in Haus und Hof und schaffte den ganzen Tag.
Aber wenn es dann spätabends sein Lager aufsuchte,
dann kam die Erinnerung an das schreckliche, und
dann weinte es bitterlich, bis endlich ein wohltuender
Schlummer die heißen Augen schloß und dem armen
Kinde Vergessenheit brachte.
Stumm und verschlossen war auch der Aloys. Wohl
litt er mit seinem Schwesterlein ; aber es war ihm nicht
gegeben, seinen Sinn aufzuheitern; die Bergbewohner
sind ja meistens wortkarg, ein wenig schwerfällig. Aber
im geheimen tat er ihm viel Liebes an, und er war
überglücklich, als er bemerkte, daß das Gretli langsam
aus seinem schmerze erwachte und wieder etwas An-
teil am Leben nährn.
Drei Zahre waren seit der Zeit über Liechtenstein
und die kleine Gemeinde am Triesnerberg gegangen.
2Tîti dem Ref auf dem Rücken trat das Gretli aus
dem Hause.
„Grüß Gott, Bauer, grüß Gott, Bäuerin!" sagte
es herzlich im Nähertreten und reichte dem Bauer und
dann der Bäuerin die Hand. Es sah dabei die beiden
Alten treuherzig an und lächelte ein wenig, als wenn
es ihre Besorgnis vollständig abschütteln wollte.
Gs war ein zierliches, feines Ding, das Gretli;
man hätte es sich besser in kostbaren und doch leichten,
duftigen Gewändern der Gdelfräulein vorgestellt, als
in diesen groben Werktagskleidern eines Landkindes.
Über dem kurzen, groben Rock von brauner Farbe
trug es ein loses Baumwolljäckchen, das vorn auf der
Brust offen war und das weiße Hemd mit dem eng-
anliegenden Wieder zeigte. Die Füße ftecften in groben,
dicken Bergschuhen. Das glänzendschwarze Haar war
nur wenig zu sehen, denn es wurde durch ein buntes
Aopftuch verhüllt und zurückgebunden.
Wie hübsch kleidete gerade dieses Aopftuch das
schmale Gesichtchen, das so gar keine Ähnlichkeit mit
dem gesunden, rotwangigen Gesichte der andern Alpen-
mädchen aufwies. Die Wangen Gretlis waren schmal,
wenngleich doch eine gesunde Farbe sie und das ganze
Gesichtchen überzog; auch die schöngeschwungenen Lip-
pen zeigten ein frisches Rot. Das schönste jedoch an
den: ganzen Gesichtchen waren die prachtvollen großen,
dunkeln Augensterne, aus denen es wie leise Schwer-
mut dem Beschauer entgegenstrahlte. Es wurde einem
bei dem Blick so sonderbar zu Blute; es kam einem
wie von selbst der Gedanke an die große Unschuld des
jungen Uindes, aber auch an das schwere Leid, das
seine junge Seele schon so früh gekostet hatte.
Der Blick jedoch, mit dem es jetzt seine Brotgeber
ansah, verriet soviel Liebe und Treue, soviel kindliche
Zuneigung und große, große Dankbarkeit, daß es 6eti
alten Leuten ganz warm dabei wurde.
„Gretli, es bangt uns um dich; der Fimmel gefällt
uns nicht, wie, wenn ein Wetter käme und dich in den
Bergen überraschte?"
Die Bäuerin sagte es ängstlich und hielt des Uläd-
chens Hand fest in der ihrigen. Das Gretli lächelte
nur fein, schüttelte den Aopf und antwortete:
„Ich glaub' nicht, Bäuerin, daß es heute schon
losgeht. Und wenn auch, ich stehe in Gottes Hand,
und einen Unterschlupf finde ich schon überall. Ängstigt
Euch nicht, Bäuerin, ich komme schon gut wieder heim,
und denkt doch, daß der Aloys und der Hütebub Brot
haben müssen. Jetzt, behüt Luch Gott, Bauer, behüt
Euch Gott, Bäuerin! wenn der Abend kommt, bin
ich, so Gott will, von Bargella zurück."
J5
„Behüt dich Gott, Gretli!" sagten auch der Bauer
und sein Weib treuherzig und schüttelten dem Mädchen
die Hand. Der Bäuerin fiel noch etwas ein.
„Warte noch, Gretli; ich laufe schnell ins Haus
und hole das große, wollene Tuch, das noch von meiner
Ahne stammt; das nimmst du mit, es wird dich schützen,
wenn das Wetter kommt."
Das Mädchen wehrte lachend; aber es mußte sich
die Fürsorge der alten Frau gefallen lassen.
„Vielen Dank auch, Bäuerin!"
Aber noch war die Frau nicht mit ihren Ermah-
nungen fertig.
„Gretli, gut auf den Weg achten; er ist schlecht,
inan kann sich leicht verirren; und Rast halten, Gretli,
in dem Ref sind beim Brot und dem StücF Topfkäse
auch ein paar Apfel für dich."
Endlich konnte Gretli den Hof verlassen. Die
Bäuerin beschattete die Augen mit der Hand und sah
nochmals sorgenvoll gen Himmel. Der Bauer kehrte
an seine Beschäftigung zurück, die darin bestand, daß
er die halbmorsche Stalltür ausbesserte und neue Holz-
pfähle einfügte. Der Winter stand ja vor der Tür;
bald würde das Vieh von der Alpe zurückkommen und
wieder in den heimatlichen Stall einkehren; da war es
Zeit, daß alle Schäden ausgebessert würden, damit der
Sturm nicht noch mehr reißen und zerstören könne.
Das ganze Anwesen des Bauern Zakob Stäß gab
Zeugnis von der Wohlhabenheit eines Bergbauern der
damaligen Zeit; alles war wohl imstand, das L)aus
derb und fest gebaut, ebenfalls der Stall mit den
Scheunen. Zn dein Garten hinter dem brause standen
viele Mbstbäume, die zwar jetzt schon fast gänzlich ent-
laubt waren.
Triesnerberg zeigte im Gegensatz zu den im Tal
liegenden Mrtschaften, wie Vaduz, Triesen, Balzers,
einen behäbigen Wohlstand. Jene bedauernswerten Ge-
meinden waren von rohen Kriegshorden in den letzten
Zahrzehnten fast gänzlich ausgesogen und verwüstet
worden; dazu waren wahre bsungerjahre gekommen,
sowie die unheimliche beuche, die Pest, eingeschleppt
worden, die ganze Familien dahinraffte. Fremde Kriegs-
völker nahmen ihren Weg am Khein entlang durch
Liechtenstein; die Dörfer hatten durch die Einquartie-
rung großer Waffen von Truppen ungeheuer viel zu
leiden. Noch durch den letzten Krieg um die Wantua-
nische Erbfolge war viel Unheil auch über Liechten-
stein gekommen. Der letzte Herzog von Wantua, aus
dem Hause Gonzaga, war f627 gestorben. Karl, Herzog
von Nevers, und Ferdinand, Herzog von Guastalla,
machten gleichzeitig Ansprüche auf den Thron. Diesen
unterstützten Spanien, Österreich und der Papst, weil
sie einen Franzosen — Nevers war Franzose — nicht
in Ztalien dulden wollten. Er nahin jedoch das Her-
zogtum Ukantua TTt Besitz. Da rückte ein großes, kaiser-
\7
liches i)ccr vom Bodensee herauf und nahm wiederum
seinen Weg durch das unglückliche Ländchen Liechten-
stein mit seinen gänzlich verarmten Dörfern.
Die Walliser am Triesnerberg waren von alledem
verschont geblieben; selten nur verirrte sich ein von dem
großen Trupp losgelöster Ariegsgeselle auf das hoch-
gelegene Dorf. Ruhig bewirtschafteten sie ihre Alpen,
und während sie zu Wohlstand gelangten, verarmten ihre
Landsleute im Tale mehr und mehr. Die fruchtbaren
Gelände am Rheinufer waren verwüstet, die Wein-
berge zerstört, die Acker und Rornfelder niedergestampft.
Die Regierung des Grafen Kaspar von Hohenems
hatte nicht glücklich begonnen. Im Jahre föfZ hatte
er von seinem Schwiegervater, dein Grasen Karl Lud-
wig von Tulz, die Herrschaften Vaduz und Schellenberg
käuflich erworben. Aur Landschaft Vaduz gehörten die
schon genannten Gemeinden Vaduz, Triefen, Balzers,
Triesnerberg und noch einige kleinere, höher in den
Alpen gelegene Mrte.
Der Brunnen auf der breiten Gaffe in Triesner-
berg plätscherte munter; barfüßige Rinder, Knaben
und Mädchen, spielten an seinem kristallklaren Wasser;
es war so kalt, daß die Händchen davon schon ganz
blau gefroren waren. Aber daraus machte sich die
Dorfjugend nichts. Gretli lächelte, als es das eifrige
Gebahren des jungen Völkchens sah. Tin kleines, paus-
bäckiges Dirnlein von höchstens drei Jahren lief, als
INaidorf, Die Hexe.
2
es die Näherkommende kaum erblickt hatte, mit eiligen
Schritten und einem lauten Freudenruf auf Gretli zu.
Diese fing das Rind auf, hob es mit beiden Armen
hoch und küßte es; dabei streichelte es ihm die gelben
Haare, die feucht an der Stirn klebten, die Bäckchen,
die ganz blau waren. „Mariele, wie kalt sind deine
Hände und Bäckchen!" sagte Gretli besorgt; „geh heim
zur Mutter an das Herdfeuer." Die Rleine lachte nur
hell und zupfte Gretli tüchtig am Ropftuch, schaute
auch neugierig über die Schulter auf das Aef. Gretli
war eine große Rinderfreundin; gerade die allerkleinsten,
hilflosesten hatte sie am liebsten. Schon als sie noch
ganz klein war und selbst mit ihren neun fahren kaum
mehr als ein Rind, gaben ihr die Triesnerberger
Mütter gern ihr Kleinstes zu verwahren; darin wußten
sie, daß es in bester Mbhut war. Denn die Mütter in
den Alpen haben nie viel Zeit, sich um die Rinder zu
bekümmern; die schwere Arbeit, die tagaus, tagein auf
den Feldern und in den Bergen verrichtet werden muß,
nimmt ihre ganze Rraft in Anspruch; die kleinen
Menschenkinder müssen schon sehen, wie sie gleich ihren
Geschwistern groß und gesund werden. Das Mariele
von Bauer Gberlin war Gretlis besonderer Liebling.
(Obwohl Gretli nun schon längst keine Rinder mehr
verwahrte, sondern nach dem grauenvollen Tode ihrer
Mutter still und zurückgezogen bei ihren Leuten lebte,
war sie den Rindern doch noch gut; und als vor einem
*9
Jahre das Mariele an einein bösen Fieber erkrankt
war und immerfort in seinen wirren Reden nach Gretli
verlangt hatte, da war diese an das Lager des Aindes
geeilt und hatte es mit lieben, weichen Worten beruhigt
und mit sorgsamen fänden gesund gepflegt.
Gretli setzte das kleine Ding nun wieder aus den
Boden. „Ich muß aus den Berg, Mariele. Behüt
euch Gott, ihr Buben und Mädchen!" wandte sie flch
freundlich an die ganze Lchar.
„Behüt dich Gott, Gretli!"
„Behüt dich Gott, schwarzes Gretli!" rief eines
mutwillig, und sofort gab es ein Aichern und Lachen.
Lin großer, flachshaariger Bengel von vielleicht
zwölf Jahren, mit einem dreisten, frechen Gesicht, in
dem listige, verschmitzte Augen funkelten, rief unter
boshaftem Spott:
„Behüt dich Gott, schwarzes Gretli, Hexenbrut!"
„Hexenbrut, Hexenbrut!" erscholl es im Lhor. Da
flog wie von: Sturmwind gejagt drüben eine Haustür
auf; ein hochgewachsenes Mädchen stürinte heraus,
ergriff den frechen Rufer, der das Schimpfwort zuerst
gebraucht hatte, bearbeitete ihn gründlich mit den
Fäusten, daß er ein großes Geheul anstimmte und die
andern Buben und Mädchen vor Angst auseinander-
stoben. Das Mädchen ließ nicht sobald nach; mit einer
Hand hielt sie den schreienden fest, soviel er auch
zappelte und sich wehrte, und mit der andern teilte sie
20
tüchtige Schläge aus. Dann, als sie meinte, daß er
nun genug habe, ließ sie ihn los, versetzte ihm noch
einen derben Fußtritt, daß er weithin stolperte und
heulend davonlies, atmete tief aus und sagte: „So, der
hat genug, der Flegel. Sei nicht traurig, Gretli."
Das Gretli aber stand gesenkten Hauptes da; Träne
mn Träne perlte aus den Augen und siel aus das
Jäckchen, unter dem sich die junge Brust stürmisch hob
und senkte.
Leise kam es aus den zuckenden Lippen:
„Vergelt's Gott, Thristinal"
Dann nestelte sie an den Tragriemen des Ress,
zog sie fester mn die Schulter, nickte der Verteidigerin
noch einmal traurig zu und verließ dann gesenkten
Hauptes die Gaffe.
Zweites Kapitel.
2)ie IPoIfcn jagten sich am dunkeln Firmament,
unförmliche, große Gebilde mit wildzerklüfteten leiten
bildend. Es war ein ewiges Jagen und Fliehen, ein
Ineinanderfügen von kleinen und großen Wolken, ein
Losreißen und ein Aufbauen. Wer auf einer Berges-
höhe sieht und das Spiel der Wolken verfolgt, ist er-
griffen von all den prächtigen Bildern, die da vor
feinem Auge sich aufbauen und vorüberziehen; der
könnte stundenlang sehen und staunen, und seine Phan-
tasie würde Geheimnisvolles, Geisterhaftes aus den
herrlichen Naturgebilden herauslesen.
Gretli war auch eines von jenen innerlichen, stillen
Menschenkindern, die in Gottes großer, allgewaltiger
Natur lesen wie in einem offenen Buche. Das Mädchen
liebte die hohen Berge des ihm zur Heimat gewordenen
Alpenländchens. Während an klaren Tagen, wo die
Luft fo rein und die Aussicht so wunderbar weit und
schön ist, das Gretli oft in stummer, seliger Begeiste-
rung die großen Augensterne auf das herrliche richten
konnte und mit wahrem Sannen und wahrem Heiß-
hunger all die Schönheit, die von den fernen Berg-
riefen und aus den stillen Tälern ausströmte, in sich
aufnahm, war es auch gerade so überwältigt, wenn
sich die Natur in wildem Ausruhr befand, wenn der
Föhn mit seinen Schrecknissen über die Alpen jagte,
wenn die lvolken in majestätischer Größe am Firma-
ment rasten. Da konnte es schauen und schauen, un-
geachtet des Sturmwindes, der am dünnen Röckchen
zerrte und die schwarzen chaare löste, sodaß sie wild
um die Schultern flogen.
Auch heute sah Gretli die sich ballenden IVolken-
massen voll staunender Begeisterung an; ihre junge
Seele erfaßte mit lVonneschauer das Gewaltige in der
Natur. Der Schimpf, der ihr auf der Gasse angetan
worden war und zuerst wie Feuer gebrannt hatte, war
verflogen. Ts war ihr so leicht, so frei; mit stolz-
erhobenem Haupte schritt sie kräftig bergan.
3n grüner Blatte gleichsam eingebettet und wie-
derum von grüner Matte umgeben liegt Masescha,
ebenfalls eine kleine Niederlassung von lVallisern, mit
dem alten Airchlein, das erste, das die Lingewanderten
gebaut haben. Gs ist dem hl. Theodul geweiht, im
Volksmunde St. Ioder genannt.
Gretli setzte das Aef ab und betrat den kleinen
Raum, aus dessen chalbdunkel das Leuchten des ewigen
Lichtleins geheimnisvoll hervordrang. Gretli kniete
nieder und betete andächtig für die Seelenruhe der
Mutter. Ihr Blick blieb wie so oft schon auch dies-
23
mal an dem alten Gemälde haften, das eine Haupt-
zierde des Airchleins war und auch bis auf den heutigen
Tag noch wohlerhalten ist. Ts stellt den hl. Theodul,
den ersten Bischof von Mallis, mit dem eine Glocke
tragenden Teufel dar. Nach alter Sage soll der Bischof,
der von dem s)apst eine Glocke erhalten hatte, aber
nicht wußte, wie er sie aus Italien über die Alpen
nach dem Mallis befördern sollte, den Teufel gezwungen
haben, sie auf den Schultern nach ihrem Bestimmungs-
ort zu schaffen.
„St. Ioder, bitt' für uns! St. Ioder, bewahre uns
vor dem Bösen!"
Aus dem geheimnisvollen Halbdunkel der Airche
trat Gretli nun wieder heraus auf die Blatte und
schritt nun rüstig bergan. Aein Mensch war zu erblicken
weit und breit. Schmal war der Fußpfad, der höher
und höher auf die Alpe führte; die tauschweren Gras-
halme netzten die Schuhe des Mädchens. Der heisere
Schrei der Raben durchdrang die tiuft; scheue Schnee-
hühner erhoben sich flatternd, ausgeschreckt durch die hal-
lenden Fußtritte, und umkreisten das Haupt des Mäd-
chens. Auch huschte flink und scheu etwas unter ihren
Füßen fort; war es ein Murmeltier, ein Iunghase
oder gar der Fucbs, der listige, schlaue? Gretli hatte das
leichtfüßige,l sich eiligst entfernende Tier nicht erkannt; sie
lachte einmal herzhaft zu ihrer eigenen Beruhigung auf,
als sie ein wenig Furcht beschleichen wollte.
24
Am Hain leuchtete es rot aus dem welken Grün ;
ein paar überreife Herbstbeeren waren es.
Gretli bückte sich und pflückte die kleinen Dinger
mitsamt den grünen Zweiglein; liebkosend glitten ihre
Finger über das Sträußchen, das sie vorn in das
Mieder steckte.
„Seid ihr vergessen, ihr Beerlein; haben die Hinder
euch nicht gefunden?"
Auch Gretli war früher mit den Triesnerberger
Hindern zum Beerensuchen aus die sonnigen Salden
der Alpen gestiegen; denn die Alpe spendet ihre lieb-
lichen Früchte in so reichem Maße, daß es für die
Zugend eine Lust ist, sie zu sammeln und zu pflücken.
Mit großen und kleinen Geschirren ziehen die Hinder
aus die Berge und sind stolz, wenn sie nachher alle ge-
füllt haben. Gs siel Gretli beim Höhersteigen ein, wie
sie eigentlich immer von den andern Hindern beschämt
worden war, denn ihr Geschirrchen hatte immer nur
wenig Znhalt gezeigt.
Sie lächelte.
Za, sie hatte lieber aus dem moosigen Maldboden
gelegen und geträumt mit offenen Augen, wenn die
andern Hinder fleißig Beeren sammelten. A)ie wunder-
bar schön war das aber auch gewesen! Sie lag aus
dem Moosboden und sah dem Gekrabbel der Häser
zu, bewunderte die buntfarbige Haupe, die sich dort
langsam aus dem Blatt fortbewegte; durch die hohen
25
Föhren und Lärchen drang ein Stückchen Himmelsblau;
meinte inan nicht, dort geradeswegs in den Himmel
zu schauen?
Am liebsten aber lag sie in den Wiesen. Welch
eine Fülle an Schönheit und Fracht bietet eine Alpen-
wiese! Da blüht und düstet es, da schillert und sunkelt
es in den hundertfachsten Farben, in allen Größen, in
allen Formen. Wer zur Sommerszeit eine blühende
Alpenwiese betritt, der bricht in einen Freudenruf aus;
seine Augen können sich nicht sattsehen an der Farben-
pracht der herrlichen Blumen; seine Hände möchten
inimerfort greifen und pflücken! Dann bemerkt er hier
eine köstliche Blüte, die er noch nie zu sehen vermeint
hat, dann dort ein seltenes Hälmchen oder Blümchen;
und wer sich ein wenig Sinn für die Natur bewahrt
hat, der bricht immer wieder in neue Iubellaute des
Entzückens aus.
Gretli liebte die Blumenwiesen über alles. Da
hinten auf Silum, dort, wo die niedrigen Heuställe
stehen mit ihren überhängenden Holzdächern, die zum
Schutz und Trutz gegen den rauhen Sturmwind mit
großen Steinblöcken beschwert sind, da war eine solche,
die ihresgleichen nicht zuin zweitenmal aufzuweisen hatte.
Die liebte Gretli fast mehr als ihr Leben. Große
Sträuße, daß die kleinen Hände sie kaum zu fassen ver-
mochten, hatte sie heimgebracht und die Stube der
Bäuerin damit geschmückt. Anna Stöß schüttelte wohl
26
verwundert den Aopf darüber; denn wer hätte wohl
jemals am Triesnerberg daran gedacht, von der Alpe
Blumen heimzuschleppen und die Stube damit zu
schmücken? höchstens brachte man dem Bildstock oben
am IVege, der nach Bargella führte, oder jenem, der
am A)eg nach Sücca stand, einen Strauß. Aber auch
den Bildstock schmückte Gretli getreulich.
Im langsamen Aufstieg verflogen die stunden. Der
bjinlmel war ein wenig klarer geworden; die ZVolken-
massen hatten sich geteilt, ein freier Ausblick auf die
Schweizer Berge wurde möglich. Der Alvier grüßte
herüber, weiter rechts der Altmann; selbst der gewaltige
Aopf des Säntis tauchte für einen Augenblick aus dem
Nebelmeer hervor. Auf den Höhen lag Neuschnee; nur
noch kurze Zeit, und der Schnee würde alles bis hin-
unter in die Täler des Rheines einhüllen. Grau, düster
hingen die Felsen der Drei Schwestern über, als wenn
sie die grünen Blatten zu ihren Füßen fortwährend
bedrohen wollten. Gretli starrte gern zu dieser Felsen-
wildnis empor; im Sommer hatte sie mit dem Alo^s
die hochragenden Spitzen erklettert und von dort Aus-
blick gehalten. Das herrliche, was sie da geschaut hatte,
das vergißt sie in ihrem ganzen Leben nicht; sie hatte
ja nie geahnt, daß die N)elt so weit, so schön sein könne.
Ls war an einem herrlich klaren Tage, als sie mit
ihrem treuen Führer Aloys den mühsamen Aufstieg
über Schutt und Geröll unternommen hatte. Als die
erste Spitze erreicht war, schaute man in ein wildes
Tal, durch das die Lamina rauschte; die ganze Halde
abwärts aber war mit Alpenrosen bewachsen, deren
prachtvolles Rot über dem Grün der Sträucher leuchtete
und glühte. Und ein Bergkopf nach dem andern tauchte
auf. Gretli schaute und schaute; doch der Aloys drängte
vorwärts. Das Schönste käme ja noch. Dann ging es
weiter über den Grat; ein Glück war es, daß Gretli
schwindelfrei war. Aber sie schritt so ruhig und sicher,
wußte sie sich doch bei Aloys in guter Hut. Dann war
die Spitze erreicht, und dann ging das Schauen erst
recht an! Drüben im Schweizerland grüßten die Berg-
riesen herüber, der Altmann, der Säntis, der Alvier,
der Sardonagletscher, der H>iz Sol, der Talanda, der
Falknis; und die Tiroler Berge winkten, und in der
Ferne tauchte eine weite, weite, blaue Fläche auf, der
Bodensee, an seinen Ufern stattliche Dörfer und Burgen.
Die beiden einsamen Menschenkinder auf der Berges-
höhe waren versunken in dem herrlichen Anblick; der
Aloys erklärte alles, denn er wußte gar gründlich
Bescheid.
„Siehst du dort hinten Feldkirch, Gretli? Da wim-
melt es wieder von fremden Soldaten, wie einer aus
Triefen berichtet hat. Gnade Gott den unglücklichen
Dörfern am Rhein, wenn sie wieder ihren Durchzug
nehmen! Siehst du den schmalen Silberstreifen, den
Rhein, der so ruhig und still das Tal durchzieht? Man
28
sollte nicht denken, daß er ein solch wilder Geselle
werden könne, der das ganze Land mit seinem Wasser
verwüstet. Aber das kommt, wenn der S-chnee schmilzt;
wenn die Rüfe das viele Wasser nicht fassen können
und diese sich wildschäumend zu Tal stürzen. Das
braust und kocht im wilden Tobel der Lavena; es ist
grausig schön anzusehen. Gretli, wenn wieder im Früh-
jahr das Wasser stürzt, dann gehn wir zusammen zur
Lavenaschlucht; du sollst es auch sehen, wie grausig
schön es ist. Aber Furcht darfst du nicht haben, und
wenn du selbst glaubst, daß du bei dem Getöse und
Gebrause taub werden würdest." — —
«Iuhu, juhu, juhu!"
Die Felsen brachten das Echo zurück.
Gretli starrte empor, die Augen mit der Hand be-
schattet. Das war ja ein Willkommensgruß für sie.
Da sah sie eine menschliche Gestalt hoch oben auf dem
Aopf der Alpe.
„Juhu, juhu!"
Äe erkannte den Hütebuben. Aräftig rief sie auch
ein fröhliches „Juhu" hinauf. Nun hatte sie schon bald
die Bargellaalp erreicht. Gar nicht lang war ihr der
der Weg geworden, ja, und das Rasten hatte sie auch
ganz vergessen; in dem Ref befanden sich noch Brot,
Topfkäse und Apfel unberührt. Nun würde sie alles
mit dem Aloys und dem Hütebub teilen; sie würden
gemeinschaftlich Mittag halten. Der Sepp, der Hüte-
2 9
bub, kam ihr entgegen; auf einem abgerissenen Baum-
zweig rutschte er über die Matte; blitzschnell ging es
bergab. Das Mädchen lachte fröhlich auf, als der kühne
Schlittner zu ihren Pützen landete, heil, unversehrt; flugs
stand er auf seinen nackten, sonnverbrannten Füßen.
„Grüß Gott, Sepp]"
„Grüß Gott, Gretli! Zch bin froh, daß du da bist;
seit vier Tagen habe ich kein Brot gegessen; immer
nur Milch, Schlegmilch*) und Topskäse, brrr, das be-
kommt man genug! Zwar habe ich noch Beeren ge-
sunden, weißt du, so rot und so süß, weit drunten an
ganz einsamer Stelle, im dunkeln Föhrenwald am Sa-
minabach. Aein Mensch kennt die Stelle; weißt du,
eine Auh hatte sich verirrt; ich fand sie dort unten im
Mald und auch die Beeren. Das war ein Schmaus!
Aber nun freue ich mich auf das Brot, Gretli, und
der Aloys auch, glaube ich."
Lachend setzte Gretli das Ref nieder und holte dem
hungrigen schon ein Stück Brot heraus, in das er mit
gierigem Verlangen einbiß.
Der Bargellagrat war erreicht. Tiefaufatmend stand
das Mädchen und schaute das Bild zu ihren Füßen.
Auf grüner Matte dort jenseits des Berges lag die
Sennhütte mit dem großen Stall; blökend weidete das
Vieh. Dunkle Föhrenwaldungen, aus denen sich das
hellere Grün der Lärchen vorteilhaft abhob, schloffen
*) Buttermilch.
50
sich da an, wo die Malten aufhörten; die hohen Berg-
köpfe ringsum, soweit das Auge blickte, waren von
Waldungen bestanden, mit denen grüne Watten ab-
wechselten. Aus dem Tale heraus drang das Rauschen
der wilden Samina, die dort jäh abfällt und ihren
rasenden Laus durch ein Bett nimmt, das von großen
Steinblöcken, die über- und nebeneinander stehen, oft
hochaufgetürmt, gebildet ist.
Das Mädchen stieß im Weiterschreiten noch ein paar-
fröhliche Juchzer aus, die den Sennen aus seiner Hütte
locken sollten. Der Aloys trat auch heraus, strahlend
mit dem ganzen Gesichte; die wohlbekannte Stimme
der Ankommenden klang dem in der Einsamkeit sau-
senden wie Glockenklang in das Mhr.
„Grüß Gott, Gretli!"
„Grüß Gott, Aloys!"
Sie schüttelten sich derb die Hände; treuherzig sah
das Mädchen dem stattlichen Burschen ins Gesicht. Ts
reichte ihm kaum bis zur Schulter. Grade und schlank-
gewachsen war der Aloys wie eine junge Fichte. Der
Aopf, der gar viel Ähnlichkeit mit dem des Vaters
^jakob Stöß hatte, ruhte auf männlich breiten Schultern.
Dichtes Blondhaar umrahmte die hohe Stirn; große,
blaue Augen strahlten sowohl Gutmütigkeit als auch
eine feste Tatkraft aus; eine scharfgeschnittene Nase
hob sich vorteilhaft aus dem sonnverbrannten Antlitz
ab, das im allgemeinen eckig war; die Wangen waren
hager; kraftvoll und sehnig war die ganze Gestalt, der
Bursche ein echter Walliser, der echte Typus seines
Stammes. Als Senn war er in diesem Frühjahr aus
die Bargellaalp gezogen, wo die Triesnerberger ihre
Stallungen hatten; während der ihm unterstellte L)üte-
bub das Vieh aus die Alm trieb und hütete, lag ihm
das Bereiten von Butter und Aase ob, welche Er-
zeugnisse im gerbst nach Becht und Gewissen, d. h.
nach dem Anteil, den ein jeder Triesnerberger an Bieh
und Alp hatte, verteilt wurden. Das Leben auf der
Alpe ist für den Sennen einsam; selten nur verirrt sich
ein menschlicher Fuß so hoch ins Gebirge; den ganzen
Sommer haust er für sich und verrichtet schweigsam
seine Arbeit. Der Aloys war eine stille Batur; viel
Beden war nie seine Art gewesen; in seinem Gesichte
befand sich ein Zug, der nach Grübeln aussah und
verriet, daß der Aloys innerlich viel verarbeitete, daß
auch der träumerische Blick, der oft in seinen Augen
lag, damit in Zusammenhang stand. Zetzt leuchteten
diese großen, blauen Augen aber vor echter, ehrlicher
Freude über das Wiedersehn mit Gretli. Der Bursche
hielt noch iinmer beide Hände des Mädchens fest in
den seinigen. Das freudige Aufleuchten der Augen ver-
wandelte sich nach und nach in staunende Bewunderung.
Langsam glitt der Blick über die ganze Gestalt des
jungen Mädchens, blieb an dem jungfräulichen Busen
haften, bohrte sich dann immer wieder von neuem an
52
dem lieblichen Gesichtchen fest, und die Verwunderung
wurde größer und größer. Tiefausatmend, daß die
breite Brust sich stürmisch dehnte, sagte er endlich:
„Gretli, ich glaube, du hast dich ganz und gar ver-
ändert, bist über Nacht zur Jungfrau geworden."
Verlegen wand sich Gretli los; eine tiefe Glut
war ihr zu Gesicht gestiegen; das Aopftuch wurde ihr
zu warm; sie nestelte mit bebenden Singern daran
und suchte sich den: forschend auf sie gerichteten Blick
des Burschen zu entziehen. Dann lachte sie plötzlich
laut auf.
„Du, Aloys, ich ineine, ich habe das schwere Res
jetzt lange genug auf dem Rücken, und Hunger habe
ich auch mächtig viel."
Da lachte auch der Aloys, wenn auch verlegen und
zaghaft. In der kurzen Zeit des Beisammenseins, die
nun folgte, inußte er das Mädchen innner wieder
heimlich beobachten. In Gretli hatte er bisher nur
ein Aind, fein Schwesterlein, gesehen; er liebte dieses
in seiner stillen, zurückhaltenden Art. Besondere Be-
trachtungen hatte er niemals darüber angestellt. Nun
sah er aus einmal, daß aus dem Rinde eine liebliche
Jungfrau geworden war; es war plötzlich etwas
Scheues in ihrem Wesen; sie wich dem bewundernd
auf ihr ruhenden Blicke des Burschen immer aus. Der
Hütebub erzählte allerlei Lustiges und wollte die beiden
stillen Menschenkinder zum Lachen bringen; vergebens
Sie umklammerte voller Angst den einen Balken des Bildstockes.
Maidorf, Die Hexe.
3
war sein Wühen, es war, als wenn ein Bann sie um-
fangen gehalten hätte.
„^Zch muß heim, der Abstieg ist niühsam, die
Dunkelheit kommt allzufrüh, und ichmeine, der Sturm
setzt auch wieder ein."
Gretli sagte es, nahm das Bef aus der Ecke und
hob dasselbe auf den Bücken. ^n der rauchgeschwärzten,
niederen Sennhütte wurde es ihr plötzlich ganz eng;
sie sehnte sich hinaus, fort aus dem Bereich von Aloys'
forschenden Blicken. Auch der Bursche erhob sich; lang-
sam ging er neben dem wädchen her. Der Hütebub
trieb die Aühe in den Stall; dem heimwärts wan-
dernden Gretli sandte er fröhliche ^Zuhschreie nach.
Bis oben auf den Bargellagrat, dort wo der Abstieg
begann, gab der Aloys ihr das Geleite.
Sie schüttelten sich die Hände, keins sprach ein Wort.
Ein leiser, zitternder Ton durchdrang die Luft, das
Airchlein zu wlasescha hub das Avegeläute an. Gretli
bekreuzte sich, kniete nieder und betete leise. Auch der
Aloys sank in ein Anie und beugte das Haupt; dann rief
er mit starker Stimme seinen Alpsegen über die Alpe:
„St. Jeder, bist uns Älplern gut,
So nimm uns heute auch in Ljut.
Beschütze uns und unser Vieh,
vor Seuche, Not bewahre sie!
Beschütz' die Äcker, Alp und Wald,
Die ksäuser, Menschen, jung und alt.
Zeig' uns auch heute deine Huld!
D Gott, vergiß die Sündenschuld!"
55
„Amen!" sagte Gretli leise. Noch einmal schüttel-
ten sie sich die Hände. Rauh fegte der Sturm über
die Berge; er blähte Gretlis Röckchen auf und zauste
an ihrem Haar; dicke, schwere Tropfen fielen, wenn
auch nur noch vereinzelt; die Dunkelheit kam schon
mit Bracht.
Der Aloys war besorgt. Doch Gretli schüttelte sich
lachend.
„Die Bäuerin hat mir das große Tuch von der
Ahn mitgegeben; das nehme ich um Aopf und Schultern,
wickle mich fest hinein, daß ich aussehe, wie eine alte
Waldfrau, und hurtig geht es dann bergab; den j)fad
kenne ich ganz genau, auch im Stockdunkeln, ich habe
ja Augen im Aopf wie ein Luchs. ^Zn zwei Stunden
bin ich, so Gott will, am Triesnerberg. Behüt dich
Gott, Aloys!"
„Behüt dich Gott, Gretli!"
Lange noch stand der Bursche auf der Höhe und
sah der Abwärtseilenden nach; noch einmal rief er ihr
ein kräftiges Iuhu zu. Sie hielt ein in ihrem schnellen
Gang, drehte sich um, so daß er ganz deutlich ihr Ge-
fichtchen sehen konnte, und antwortete mit einem hellen
^uhu! Dann ward ihre kleine Gestalt seinen Blicken
durch eine Wegekrümmung entzogen.
Gretli kannte nicht viel Furcht, obwohl es fast ganz
plötzlich dunkel wurde; unbekümmert um Regen und
Sturm schritt sie tapfer bergab. Das Ref war ja
36
jetzt so leicht, sie fühlte es kaum auf dem Rücken. Ab
und zu flatterte ein Vogel, aufgescheucht durch ihren
Schritt, auf und erhob sich kreischend. Sonst war es still,
unheimlich still. Der Sturm rüttelte an den Bäumen,
daß es in den trockenen Asten knarrte; gerade dieses
Wegstück durch den dunkeln Wald liebte Gretli nicht
sonderlich in der Dunkelheit. Bald mußte der Bildstock
konnnen, hier dicht am Wege; sie war nicht mehr weit
davon, deuchte es Gretli; da wollte sie ein Vaterunser
sprechen und sich nochmals dem Schutze des AllerKöchsten
empfehlen.
Welch ein schwarzer, unheimlicher Schatten rannte
da vor ihr her? Gin kurzes, stoßweises Bellen wurde
hörbar.
Gretli erschrak. War das vielleicht der vielgefürch-
tete Alushund mit dem großen, leuchtenden Auge mitten
auf der Stirn, der zur Herbstzeit durch die Wiesen und
Wälder der Alpe streift und Mensch und Getier be-
unruhigt ?
„St. ?>oder, bitte für uns!" flehte das Mädchen in
seiner Herzenseinfalt; die Anie zitterten ihm, die Augen
schloß es vor Angst, wollte es doch den unheimlichen
Hund gar nicht sehen, jm dürren Laub rauschte und
raschelte es; wieder war das kurze Bellen zu vernehmen,
doch jetzt schon etwas weiter entfernt. Da schlug Gretli
die Augen zagend auf. Trotz der Dunkelheit erkannte
sie, daß sie nur noch zwei Schritte vom Bildstocke ent-
fernt sei. Das kam ihr wie eine Erlösung; sie floh wie
gehetzt in seinen 5-chutz. Wieder war es ihr, als wenn
der große Hund dicht an ihr vorbeiliefe, sie vermeinte
sein Aeuchen zu hören, das Leuchten des unheimlich
großen Auges zu sehen.
Tie umklammerte voller Angst den einen Balken
des Bildstockes.
„Alle heiligen des Fimmels, stehet mir bei!"
In den alten Baunckronen rauschte es; die dürren
Zweige ächzten; der Wind wirbelte heulend die fahlen
Blätter durch die Luft. Durch all das Getöse kam ein
klagender Laut, wie ein Hilferuf eines menschlichen
Wesens. Gretli schauderte. Was ging hier vor? War
denn die ganze höllische Geisterschar heute bei dem Un-
wetter los und hauste hier oben? Zuerst der unheim-
liche Alushund, dessen Nähe sie erschreckt hatte, und
jetzt, was war das?
Wieder ein langgezogener Ruf, lauter, kräftiger.
„Hilfe, Hilfe!"
Nun schüttelte das Mädchen das Grauen ab; das
waren keine höllischen Geister, das war die stimme
eines Menschen, eines Verunglückten vielleicht, oder gar
eines Verirrten. Aam es nicht öfters vor, daß sich ein
Ariegsgeselle von seinein Trupp loslöste, über die Alpen
floh und dort, der vielverschlungenen Bergpfade gänz-
lich unkundig, in der Wildnis umherirrte?
hier war Hilfe nötig.
38
Sie stanò mit angehaltenem Atem unò lauschte, òen
Oberkörper vorgebeugt.
Nichts war zu hören.
inatte 0er Unglückliche vergebens gehofft, daß sein
Rufen vernommen würbe, und gab er es deshalb als
hoffnungslos auf?
Da mußte sie sich bemerkbar machen.
Ein kräftiges, jugendfrisches „Juhu, juhu" erscholl
von ihren Lippen und durchdrang den stillen U)ald.
Und freudig, wie von neuer Hoffnung erfüllt, kam die
Antwort.
„Hilfe, um Gotteswillen, Hilfe; nicht weit vom
großen Felsblock am Jägerpfad liege ich als Verun-
glückter!"
Nun zögerte Gretli nicht länger. Zum Glück wußte
sie, wo der große Felsblock war, kannte auch den
schmalen Jägerpfad, der sich durch diese Wildnis durch-
wand und nur selten benutzt wurde. Trotz der Finster-
nis bahnte sie sich einen Weg durch Gestrüpp und Ge-
röll. Von Zeit zu Zeit ertönte wieder der Hilferuf, der
ihr wohl die Richtung weisen sollte. Der Sturm ließ
zum Glück etwas nach, ja, der Mond sah bleich aus
den dunkeln Wolken hervor, als wenn er dem tapferen
Menschenkinde auf der Suche nach dem Verunglückten
durch sein Licht helfen wollte.
Sie mußte nun nicht mehr weit von der Stelle, wo-
her der Hilferuf kam, entfernt sein; eiligst strebte sie
59
vorwärts. X)a sprang plötzlich jenes große, schwarze
Ungetüm aus dem Gebüsch heraus und kläffend an
ihr empor.
Gretli stieß einen lauten Schreckensschrei aus; ver-
meinte sie doch, den unheimlichen Alushund zu sehen.
Doch ein energisches, befehlendes „hierher, jDluto!"
tönte an ihr Ohr. Der L)und umsprang sie noch ein-
mal kläffend, um dann jener befehlenden Stimme zu
gehorchen.
Gretli erwachte aus ihrer Betäubung, in die sie
durch den gewaltigen Schreck gelangt war; sie atmete
erleichtert auf. Die k)and preßte sie auf das stürmisch
klopfende l)erz.
Gottlob, das war ja nicht der Alushund! Das war
ein ganz gewöhnlicher L)und, der zu jenem Verun-
glückten gehörte.
Nun war sie mit wenigen Schritten bei ihm.
Wieder kam gerade das bleiche Ukondeslicht aus
der dunkeln Wolkenschicht hervor und beleuchtete eine
jugendliche Wännergestalt und ein edles, junges Akänner-
antlitz. Auf dem nassen Waldboden hingestreckt lag ein
Wensch in Waidmannskleidung, wohl ein Jäger; Gretli
sah, daß er den einen Fuß unbedeckt hatte.
„Welch eine gütige Waldfrau kommt in der Dunkel-
heit zu mir Armen und bringt mir Hülfe?" fragte
eine tiefe ^Männerstimme.
Gretli antwortete leise:
qo
„Ich bin keine Waldfrau, Herr; ein Mädchen dort
unten vom Triesnerberg; doch will ich Luch gerne
helfen, sprecht, was kann ich für Luch tun?"
„Also keine Waldfrau? Nun, tapferes Mädchen
vom Triesnerberg, so höre! Ich jagte in den Bergen
hier zum Zeitvertreib; doch das Schicksal war mir nicht
gewogen, kein edles Wild kam vor meine Büchse. Schon
wollt' ich verdrossen meine Schritte heimwärts lenken,
da glitt ich auf dem schlüpfrigen, nassen Boden aus,
siel aus beträchtlicher Höhe und blieb vor diesem Fels-
block liegen. Ich fühlte gleich, daß der Sturz mich un-
gnädig mitgenommen hatte; die Glieder schmerzten.
Ich versuchte auszustehen; es war unmöglich; der rechte
Fuß tat mir ganz ungeheuerlich weh. Ächzend sank ich
aus das unwillkommene Lager auf dem nassen Moos-
boden zurück; Schuh und Strumpf vermochte ich nur
mit größter Mühe zu lösen, denn der Fuß schwoll
mächtig an. Rein menschliches Wesen war zu sehen und
zu hören; mein treuer Pluto selbst hat versucht, durch
sein Bellen die Aufmerksamkeit aus uns zu lenken; ver-
gebens. Schon dachte ich, daß ich verdammt sein müsse,
in dieser Wildnis die unheimlich dunkle Sturmesnacht
zuzubringen, um morgen bei Tagesanbruch vielleicht
schon mehr tot als lebendig aufgefunden zu werden;
da vermeinte ich Schritte zu hören und strengte meine
Stimme zu lauten Hilferufen au. Ls war nicht ver-
gebens; ein jugendsrisches Iuhu antwortete mir Ber-
lassenen, und nun steht ein blondes Triesnerberger Rind
vor mir; ob es mir Rettung bringen wird?"
„Ich will den kranken Fuß untersuchen, Rerr."
Gretli kniete nieder. Ein Glück war es, daß der
Mond nun so freundlich schien; er hatte wohl Mitleid
mit dem Verunglückten. So konnte sie sehen, daß der
Fuß wirklich stark geschwollen und ganz blau war; bei
der geringsten Berührung stöhnte der cherr qualvoll auf,
man sah wohl, daß er große schmerzen litt. Gretli
war zuerst ratlos; dann fiel ihr ein, daß Bauer Stöß,
als er von deni lheustaden abgerutscht war und eben-
falls den Fuß verstaucht hatte, diesen immer mit kalteni
Bergwasser gekühlt und dann fest uillwickelt hatte,
schnell entschlossen nahm fie die schürze ab, riß lange,
schmale Streifen ab, faltete einen mehrfach, und da
rieselte es ja auch silberklar aus dem Moose; eine kleine
Quelle war's. Flink tauchte sie die Tücher ein und
kühlte den schmerzenden Fuß. jnnncr wieder erneuerte
sie die Rompresse. stillschweigend ließ der Verunglückte
sich diese Fürsorge gefallen; er fühlte schon ein wenig
Linderung.
Mieder einmal beschien der Mond die kleine Helferin;
voll und hell fiel sein Licht auf ihr Gesichtchen.
Da sagte der Herr erstaunt:
„Du bist ja gar kein blondes Triesnerberger Rind."
„Nein, Herr!"
„Mer bist du denn, und wie heißt man dich, sprich?"
<*2
„Mas kann es Euch nützen, Herr, daß Ihr es
wißt?" fragte Gretli zögernd; ihr Gesichtchen neigte
sich tief über den kranken Fuß, fodaß es den dreisten
Blicken des Fragestellers entzogen war.
Dieser aber rief mehr mutwillig als streng:
„<Vho, pfeift der Mind daher? Mas es mir nützen
kann, mir, dem künftigen Herrn von Vaduz und 5chellen-
berg, zu wissen, wie meine Untertanen heißen?"
„So seid Ihr Graf Franz Maria von Hohenems?"
fragte das Mädchen tief erschrocken und erhob sich blitz-
schnell aus seiner knienden Stellung.
„Graf Franz Maria, des Grafen Aaspars Sohn,
erraten, schönes Bergkind," bestätigte lachend der Graf,
zog das Mädchen gutmütig wieder nieder, daß es in
seinem Samariterwerk fortfahre. „So sage auch du, wer
du bist. Mder soll ich glauben, daß du dennoch eine
Maldfrau bist, du junges Aind?"
„Man nennt mich das schwarze Gretli, Herr Graf,"
kam es nun leise von des Mägdleins Lippen; es schaute
nicht auf, sah auch nicht, wie es in des Grafen Gesicht
mutwillig zuckte.
„Ein schwarzes Gretli bist du allerdings; potz-
tausend, wie glänzendschwarz ist dein Haar!"
Der Mond ließ seinen silbernen Schein über das
schwarze Aöpfchen gleiten, das Aopftuch war beim eili-
gen Lauf durch Gezweig und Gestrüpp in den Nacken
gerutscht; das liebliche Gesichtchen, die prachtvollen
Haarsträhne zeigten sich unoerhüllt. Liebkosend glitt des
Grafen Hand über den Scheitel.
Mieder hatte das Mädchen den Fuß mit einem
nassen Umschlag versehen und kniete vorsorglich nieder,
uni ihn so behutsam wie nur möglich zu behandeln.
„Ah, das tut gut, das kühlt und lindert den bohren-
den schmerz," sagte der Gras tiefaufatmend. „Aber
sag' an, schwarzes Gretli, wie heißen deine Eltern? Du
kannst unmöglich ein Triesnerberger Aind sein!"
Gretli senkte den Aopf auf die Brust; ein weher
Zug kam in ihr Gesicht; die Lippen preßten sich fest
aufeinander, der Busen hob und senkte sich, als wenn
da drinnen in der jungen Brust ein bitterer Aampf statt-
fände. Erstaunt sah der Graf auf die jugendliche Ge-
stalt zu seinen Füßen; aber noch ehe er eine Frage tun
konnte, kam es schon herb über Gretlis Lippen:
„Meinen Bater habe ich kaum gekannt; er verließ
die Mutter und mich und zog als Soldat mit nach
Italien hinüber. Meine Mutter Lucia hat man vor
drei Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt."
„Armes Aind!" sagte der Graf tief ergriffen, schwei-
gend nahm er eine der kleinen Hände Gretlis und drückte
sie. schwere Tropfen fielen ihr aus den Augen auf
das Mieder, um den Mund zuckte es wie von herbem
Schmerz. Leise, ungefragt berichtete sie dann weiter:
„Ich bin bei Jakob und Anna Stöß am Triesner-
berg, Herr Graf; der Bauer und die Bäuerin sind gut
zu mir, und der Aloys ist wie ein Bruder. Ihm und
dem ksütebuben habe ich nach Bargellaalp hier auf
dem Bef Brot gebracht. Doch, Herr Graf, der Abend
kommt immer näher, Ihr könnt hier nicht bleiben
während der Nacht; der Blond hat sich wieder ver-
steckt, gleich mag der Sturm von neuem losgehen. IVollt
Ihr, daß ich nach lNafefcha gehe und Leute herbei-
schaffe, die Euch nach Baduz ins schloß tragen? In
einer stunde kann ich zurück fein; H>luto mag Euch
dieweil bewachen."
„Du magst Recht haben, Gretli, habe Dank, daß
du soviel für mich wagen willst. Dennoch will mir dein
Vorschlag nicht recht einleuchten. Sieh, in stdrofatscheng
wartet mein Jäger Niedhart mit meinem j?ferd auf
mich, das ich nur zum Heimritt dorthin befohlen habe.
Der alte, treue Niedhart wird nicht wenig in borgen
sein um seinen Herrn, seit stunden erwartet er ineine
Rückkehr." —
„So will ich nach stdrofatscheng hinunter und den
Jäger benachrichtigen," fiel Gretli dem Grafen hastig
ins IDort.
Der schüttelte wiederum den Aopf.
„Nein, Rind, Niedhart kann nicht mit dem Pferde
bei dieser Dunkelheit in die Ivildnis hier eindringen;
das könnte Führer und j)ferd verhängnisvoll werden
und noch mehr Unheil heraufbeschwören. Ich will lieber
versuchen, ob ich nicht doch langsam, vielleicht mit deiner
^5
Hilfe, nach Arofatscheng hinunter komme. Der Fuß
schmerzt, dank deiner Fürsorge, nicht mehr so sehr; lege
einen Verband ganz fest an; ich muß sehen, daß ich
ihn doch in den ^agdstiesel einzwängen kann."
Das Mädchen tat, wie ihm geheißen. Als der Graf
aber den verbundenen Fuß in den Stiefel zwängte, ent-
fuhren ihm laute Schmerzensschreie. Ratlos stand Gretli
dabei; sie preßte die Hände auf die heftig pochende
Brust; es war ihr, als wenn sie selber Schmerz ver-
spürt hätte. Auch der Hund, der bis jetzt ruhig neben
dein Grasen gelegen und mit treuen Augen dein
Gebühren der Helferin zugesehen hatte, winselte kläg-
lich, als wenn auch er den Schmerz seines Herrn mit-
fühlte.
„Es geht nicht, Herr Graf," sagte das Mädchen
bittend.
Er schüttelte sich rauh.
„Es muß! Komm, Gretli, willst du meine Stütze
sein?"
Das war ein mühsamer Abstieg über den schlüpfri-
gen Boden, durch Gestrüpp und Geröll; wohl bat Gretli
den Grasen immer wieder von neuem, sich fest auf sie
zu stützen; aber er wußte wohl, wie schwer dies dem
schmächtigen Mädchen werden mußte. Er stöhnte oft
laut aus, um sich dann selber, zu schelten, daß er so
wenig Schinerz ertragen könne; aber es ging nicht
anders, die H>ein war kaum zu ertragen. Gretli führte
ihn so behutsam, als sie es nur eben auf dem holprigen
Mege vermochte; Aluto trabte nebenher; wenn fein
Herr stöhnte, stieß auch er klägliche Laute aus.
Sonst war es unheimlich still auf deni Berge; kein
menschliches Mesen zu sehen und zu hören. Der ¿türm
hatte mit erneuter Araft eingesetzt; nasse Zweige und
Blätter peitschte er dem Grafen und seiner Begleiterin
ins Gesicht.
„Gin Höllenwetterl" fluchte der Graf. „Sollte man
nicht meinen, daß alle höllischen Geister losgelassen
seien? j?uh, ich wette, daß oben auf deni Hahnenspiel
heute Nacht großer Hexentanz stattfindet."
Gr biß sich plötzlich auf die Lippen; wie konnte er
nur das arme Aind an seiner Seite, dessen Mutter selbst
als Hexe verbrannt worden war, an jenen unheimlichen
Aberglauben, der das Volk ergriffen und verblendet
hatte, erinnern? Gr schalt sich selbst wegen seiner Dumm-
heit. Das Mädchen war auch ganz verstummt.
Gr fühlte, daß er ihr etwas sagen mußte.
„Aind," sagte er in ernstem Tone, „ich selbst glaube
nicht an Hexen und verurteile den unglückseligen Hexen-
wahn unserer Zeit. Ich habe die feste Überzeugung,
daß dieser Mahn eine unheimliche, unglückliche Arank-
heit ist, die unser Volk ergriffen hat, daß es selbst nicht
mehr klar sieht. Menn ich dereinst Herr auf Baduz
und Schellenberg sein werde, darf in meinen Gemeinden
niemand inehr als Hexe hingerichtet oder verbrannt
werden, mag die Anklage noch so schwer sein, mögen
die Echuldbeweise sich turmhoch aufrichten. Nun sei
wieder guten Blutes, Gretli; bald wirst du auch deines
Belferamtes entbunden werden, profatscheng kann nicht
mehr allzuweit entfernt sein."
Sic waren nun auf dein schmaleil Wege, der zu
dem kleinen Mrte s?rofatscheng führte, das am jen
seitigen Bergabhange lag. Ulan hörte plötzlich schritte,
wie von den Hufen eines Pferdes. Der Graf lauschte.
„Wenn iilich nicht alles täuscht, kommt uns der
alte Niedhart entgegen."
Da raste auch schon der Bund mit lautem Freuden-
gebell von seiiler Seite fort. Bald hörte man, wie er
die Ankommenden fröhlich init Aläffen begrüßte; dann
kurzes ^)ferdegetrappel, imd im Galopp sprengte der
Jäger heraii.
„Halloh, Niedhart, seid Ihr's?"
„Gott sei Lob und Dank, £)cir Graf, daß ich
Euch finde; ich befürchtete schon, daß Euch ein Un-
glück zugestoßen sei oder Ihr Euch gänzlich verirrt
habet."
Der Jäger war vom jDferde gesprungen uiid führte
es nun dein Grafen am Zügel zu. Dabei sah er plötz-
lich, daß sein Herr nicht allein war, daß er ilicht wie
sonst stranml dastand und sich auf die Schulter einer
Jungfrau stützte. Angstvoll rief er aus:
„Um Gott, Herr Graf, ist ein Unglück passiert?"
48
„IPte Ihr seht, Niedhart. Zum Glück ist es nicht
allzu schlimm, der Fuß ist verstaucht bei einem dummen
Absturz infolge des schlüpfrigen Bodens. Ich hätte
über Nacht droben am unheimlichen Felsblock auf dem
Iägerpfade liegen bleiben und mir vielleicht den Tod
holen müssen, wenn nicht dieses tapfere Mädchen meinen
Hilferufen gefolgt wäre und treue Tamariterdienste an
mir verrichtet hätte."
Der Jäger erschrak.
„Und mit dem verstauchten Fuße seid Ihr von dem
Iägerpfad, durch diese ganze Wildnis bis hierher ge-
langt, Herr Graf?"
„Alles mit Hilfe dieses tapfern Mädchens. Aber
es war schwer genug, für mich wie auch für die Jung-
frau, die übermenschliche Aräfte gezeigt hat. Doch nun
bin ich froh, daß die Hual ein Tnde hat. Niedhart,
helft mir aufs j?ferd."
Doch zuvor wandte er sich an Gretli, nahm ihre
beiden Hände fest in die feinigen, guckte ihr, fogut es
bei der Dunkelheit möglich war, in das Gesichtchen
und sagte mit Herzlichkeit:
„Vergelte dir's Gott tausendfach, was du an mir
getan hast! Und wenn immer du in Not fein magst,
wende dich getrost an mich."
Tr streifte einen kostbaren, funkelnden Ring von
seinem Finger, reichte ihn dem verwirrten Mädchen
und fuhr fort:
¥)
„Den Ring behalte als Erinnerung an deine tapfere
bstlfe dieser stunden. Und nun sage ich dir nochmals,
wenn je Not oder Gefahr an dich herantritt, welcher
Art es auch immer sein mag, erinnere dich an den
Grasen Franz Maria von Hohenems; sieh', wo ich
auch weilen mag, ob im ^oldatenlager, ob iin Feindes-
land, ob auf dem Schlosse zu Vaduz, du kannst aus
meine Lchlse bauen jederzeit. IVenn du einen Boten
schickst mit dem Ring, sieh', dann weiß ich, daß du
in Not bist, du, das schwarze Gretli von: Triesner-
berg, und dann weiß ich, daß du meine bfflfe nötig
hast. Du sollst nicht vergebens hoffen, Gretli, der Ring
hier ist mein Zeuge. Und nun behüte dich Gott, tapferes
Mädchen!"
„Behüte Euch Gott, Herr Graf Franz Ularia!"
sagte das Mädchen schlicht. Es wartete noch, bis der
Graf mit Hilfe des Zägers das jlfferd bestiegen hatte,
sah, wie Niedhart es vorsichtig am Zügel führte und
der Hund es kläffend umsprang; dann wandte es sich
auch zum Gehen, verließ den U)eg von Vrofatfcheng
und strebte aus Triesnerberg zu.
U)ie im Traume schritt Gretli vorwärts, unge-
achtet desSturmes, der unbarmherzig ihre kleine Ge-
stalt zerrte und zauste.
Anna ^töß, die Bäuerin, war froh, als das Mäd-
chen wieder glücklich daheim angelangt war. Viel
Reden und Fragen war nicht ihre ^ache. Gretli be-
Maidorf, Die Hexe.
50
richtete auch nur kurz, daß sie dem Grafen Franz
Blaria, der einen kleinen Unfall in den Bergen ge-
habt, Hilfe geleistet und dafür von ihm den Ring er-
halten habe.
sinnend betrachtete die Bäuerin den kostbaren Ring
mit dem funkelnden Stein und sagte leise:
„Wer weiß, wie er dir noch nützen kann!"
Sie verschloß ihn vor Gretlis Augen in den alten
Schrein.
Dann suchten beide Frauen ihr Lager auf.
Drittes Kapitel.
2iuf der Strafe von Triefen, die herauf nach dem
Triesnerberg führt, schritten zwei Scanner, Jakob Stoß
und Jos Rüdi. Im Tale drunten hatten beide ein Stück
Vieh verkauft.
Von der Bargellaalp war vor ein paar Tagen
unter Glockengebimmel und fröhlichen Juchzern die
Herde nach den heimatlichen Ställen des Triesnerberges
zurückgekehrt. Das ganze Dorf nahm Anteil daran;
jung und alt war auf den Beinen, uni den Einzug der
wohlgenährten Vierfüßler zu sehen; fröhliche Grüß-Gott-
rufe flogen dem Sennen und dem Hütebuben entgegen,
von diesen freudig erwidert.
Ein jeder Bauer nahm seine Kühe und Rinder in
Empfang, sie stolz in die Ställe geleitend; die Jugend
des Dorfes trabte barfüßig nebenher; mit einem kleinen
Stecken schlugen die Buben mehr aus Eifer und Freude
als aus wirklicher §ust am Schlagen den Tieren auf
das breite Hinterteil. In jeden: Dorfbuben steckt ja ein
Stück Hütebub.
Manch bewundernder Blick aus den Augen der Dorf-
schönen aber traf den Senn. Sonnverbrannt war der
Aloys, groß und kräftig seine Gestalt; seine breiten
52
Schultern, seine sehnigen Arme zeugten von einer Araft,
die in ihm steckte und allen Unbilden des Lebens zu
trotzen vermochte. Sein Blick war offen und frei; das fiel
den 7neisten besonders aus, hatten sie doch den Burschen
mit seinem verschlossenen, säst träumerischen Wesen von
ehemals noch gar gut in der (Erinnerung. ZTTit dem
Aloys war eine Veränderung vorgegangen, das Leben
auf der Alpe als Senn hatte urplötzlich einen Wann
aus ihn: gemacht.
Eine war, die konnte sich nicht satt an ihn: sehen,
Ehristina Audi, die „Stina" genannt.
Sie reichte ihn: derb die Hand, und ihr „Grüß Gott,
Aloys" kam aus erregten: Herzen.
Es war eine Freude, die beiden Bienschenkinder
nebeneinander zu sehen, zwei echte Walliser, beide stark,
hochgewachsen, mit blauen Augen und hellblonden
Maaren. Die Stina war für ein Wädchen wohl etwas
zu stark, die Hüsten breit, behäbig, der Busen, über
den: sich ein rotes Wieder spannte, allzu üppig; unter
den: kurzen, groben Aock kan: ein s?aar allzu dicke
Beine mit großen Füßen hervor, die eher einem Bur-
schen denn einen: Wädchen angehören konnten. Das
Gesicht n:it den dicken Wangen und dem vollen, roten
Wund strotzte von Gesundheit und frische; aus den
blauen Augen strahlte bei aller Gutmütigkeit doch ein
Etwas, das verriet, daß nicht nur gute Gedanken hinter
der breiten Stirn zu Hause waren.
Sic schüttelte dem Aloys immer wieder von neuem
die Hände.
„Wirst jetzt den Winter im Dorf bleiben?" fragte
sie lauernd.
Er lachte.
„Zch glaube nicht, Stina."
Da ging es wie Enttäuschung über ihr Gesicht.
herzlich war auch die Begrüßung im elterlichen
Hause; Anna Stoß schaute voll mütterlichen Stolzes auf
den stattlichen Burschen, der ihr Sohn, ihr Einziger war.
Gretli hatte einen goldgelben Schmarren gebacken.
Still hantierte sie in der großen, Halbdunkeln Bauern-
stube am Herdfeuer; sie fühlte, daß der Blick des
Burschen ihr überallhin folgte. Das machte sie wieder
verlegen, das Berz klopfte ihr in der Brust; es war
gerade wie damals, als sie dem Aloys das Brot auf
die Bargellaalp gebracht und zum erstenmal seinen be-
wundernden Blick gesehen hatte.
Jos Rüdi und Zakob Stoß stapften auf dem ein-
geweichten Boden der Straße rüstig vorwärts. Es hatte
viel geregnet in den Tagen. Bon den Bergen stürzte
so wild das Wasser, daß die Rüfen nicht alles zu
fassen vermochten; der Rhein schwoll, und die Wiesen
und Acker an seinem Ufer standen unter Wasser weithin.
Die beiden Wänner hatten die Not gesehen, die
wiederum über die Talbewobner gekommen war. Es
war viel Zank und Getue unten; die Gemeinden klagten
54
sich gegenseitig an; ein neues Muhr sollte angelegt wer-
den, das den Rhein in sein Bett zurückdrängen und ein
Austreten für die Folge verhüten sollte.
„Es ist ein Jammer um das Land," sagte Jakob
Stöß. Er war stehen geblieben und hatte noch einmal
rückwärts geschaut.
„Die Triesener kommen zu keinem Wohlstand, wenn
das so fortgeht. Gewundert hat es mich schon, daß der
Aindli und der Zos Schurti überhaupt das Vieh haben
bezahlen können."
Der andere nickte.
„Ja, hast Recht, Stoß; die Triesner und die von
Balzers können einem leid tun; mag der Herrgott doch
bald andere Zeiten schicken!"
Zos Rüdi, der Vater der Stina Rüdi, war gleich
Zakob Stöß ein ziemlich wohlhabender Mann. Gedrun-
gen von Gestalt, keuchte er etwas schwerfällig bergan;
ab und zu mußte er stehen bleiben, nach Atem schnap-
pen und sich die Schweißperlen von der Stirn wischen.
Als er wieder einmal keuchend stehen blieb, sagte
er scherzend zu seinem Begleiter:
„Man wird halt alt, Nachbar, man kann nicht mehr
wie in jungen Zähren."
„hoho, Jos, wer spricht von Altwerden? Ihr seid
in den besten Jahren, rüstig und gesund."
„Sagt das nicht, Zakob; ich fühl, daß ich alt werde.
Da tät eine Hilfe not; ein Jammer ist es, daß mir der
oo
Himmel keinen Lohn geschenkt hat! Wenn die Lima ein
Bub' wäre" —
„Laßt das Wädchen, wie es ist," fiel ihm sein Be-
gleiter ins Wort, „die Ltina ist ein tüchtiges Ntädchen."
„Weiß ich, weiß ich, Ltöß; aber schad' ist es doch,
daß ich keinen Bub' hab'."
Sie schritten wieder vorwärts, in Grübeln versunken.
Jos Aüdi hub nach einer Weile von neuem an:
„Der Aloys geht also morgen nach Walbun, um
den Anecht abzulösen?"
„Ts ist abgemacht. Der Bub mag nicht den Winter
über im Dorf bleiben; nun, die Arbeit im Hof und Stall
schaff ich auch gut mit der Bäuerin und dein Gretli
allein; ich bin noch rüstig, brauch' keine Hilfe, der Bub'
würde mir nur im Weg' stehen. Der Aloys geht nach
Nkalbun; Ihr könnt Türen Anecht ja auch brauchen." —
Jakob Ltöß und Jos Aüdi hatten im Walbuntal,
jenseits der rauschenden Lamina, einen gemeinschaft-
lichen Ltall; dort blieb auch während des Winters bis
Weihnachten ein Teil des Biehs, denn Alalbun lag
ziemlich geschützt zwischen den hohen Bergwänden. Die
beiden Bauern bewirtschafteten die Weiden jenes Tales
gemeinschaftlich.
„Auf den Aloys ist Berlaß, Nachbar; unsere Lache
hinten in Walbun ist bei ihm in guten Händen."
„Weiß ich, weiß ich, Nachbar Ltöß. Ihr und die
Bäuerin könnt gerade stolz sein auf den Burschen. Lo
56
ein Bursch, seht Bauer 5töß, wär auch einer nach
meinem Kerzen."
Listig blinzelte Jos Rüdi seinen Begleiter an; der
sagte nichts, schritt rüstig und unbekümmert seiner Wege;
die dicken, nagelbeschlagenen schuhe gruben sich tief in
dem weichen Lehmboden ein.
„Dumm ist der Jakob," dachte der andere, „er merkt
nichts. Wenn nur einer meinen Bub so herausstriche,
und ich wüßte grad, daß dieser noch dabei eine Tochter
hätte, nun, da wüßt' ich schon, was die Glocke geschlagen
hätte. Aber der Jakob merkt nichts."
Ausatmend blieb er wieder einmal stehen, räusperte
sich vernehmlich und sagte, seine stimme zu einem leisen
Flüsterton herabdämpsend, obwohl weit und breit kein
menschliches Wesen, das vielleicht etwas von der Aede
hätte vernehmen können, zu sehen war:
„Hört, Nachbar Stöß, wir könnten ein neues Ge-
schäft miteinander machen, einen Handel abschließen,
wobei jeder von uns gewinnen müßte. Ihr habt einen
^ohn, den Aloys; ich hab' keinen ^ohn, aber eine
Tochter; Ihr habt gut' Bieh und Feld und Äcker, und
ich, nun ich kann dreist sagen, ich hab' auch gut' Bieh
und Feld und Äcker. Wie meint Ihr, Nachbar, wenn
wir das alles zusammen täten? Würde ein ganz statt-
licher Hof werden, was? Und der Aloys als Bauer
darauf und die Lima als Bäuerin, ich inein', die könnten
sich auch sehen lassen?"
Da lachte Jakob Stof laut auf, schlug dem Be-
gleiter kräftig auf die Schulter und rief, daß es nur fo
über die Ltraße schallte:
„Bauer Rudi, das ist ein Wort! Da ist ein Plan in
Eurem Hirn entstanden, der Euren: Scharfsinn alle Ehre
macht. Der Aloys und die Lima ein Paar? Und all das
Vieh und die Wiesen, die Felder und die Acker zusam-
men? potztausend, das wird eine Lach'! Topp, Rudi, ich
schlage ein; meinen Legen habt Ihr zu der Lach'. Der
Aloys und die Ltina ein paar! Hahahaha! Ja, die kön-
nen sich sehen lassen. Wein Bub ist ein Prachtskerl" —
„Weine Ltina auch," fiel ihm der andere verschmitzt
lächelnd in die Rede.
Dann schüttelten sie sich derb die Hände.
„Wann soll der Versprach sein, Rüdi?"
„Ich mein', um Ostern. Der Aloys geht jetzt nach
Walbun; wenn er im Frühjahr zurückkehrt, ist's Zeit
genug für den Versprach; die Ltina ist noch jung, kaun:
\8 Jahre; der Aloys kann auch seine Jahre noch gut
tragen."
„Abgemacht, Bauer Rüdi!"
Wieder schüttelten sich die beiden Wärmer kräftig
die Rechte; sie hatten beide ein Geschäft gemacht und
waren darüber sehr zufrieden. Der Gedanke, daß auch
die beiden jungen Wenschenkinder, über deren Lchicksal
sie eben entschieden, ein Wort in der Lache mitzusprechen
hätten, kam ihnen kein einzigesmal.
58
Db die sich auch gern möchten, ja, wer fragte dar-
nach? Wenn nur alles andere zusammenpaßte, dann
war alles gut, das war die Hauptsache, das Gern-
haben sollte nach ihrer Weinung wobl später von selber
kommen. —
Jii der großen Stute in Rüdis paus war es ge-
mütlich; in messing'nen Leuchtern brannten Talglichter;
der eingemauerte perd in der Tcke mit dem großen
Rauchfang hatte frische Holzscheite bekommen, die lustig
prasselten und knisterten und eine wohlige Wärme rings-
um verbreiteten.
Lustig schnurrten die Spinnräder.
Stina Rüdi hatte die Rlädchen des Dorfes zum
Spinnabend in ihr paus entbieten lassen.
Das war eigentlich gegen Brauch und herkommen,
jetzt, wo erst der Dezember vor der Türe stand; sonst
pflegten die gemütlichen Spinnabende, wo man mit
seinem Rad von paus zu paus zog, erst nach der Weih-
nacht zu beginnen. Wenn's draußen stürmte, wenn der
Schnee fußhoch auf der Gasse lag, dann kroch man in
den Stuben dicht und dichter zusammen. Beim Schnur-
ren der Räder wurden Geschichten erzählt, so gruselige
oft, daß die Zuhörer die Gänsehaut bekamen und bei
jedem Windstoß, der durch den Aamin fuhr, glaubten,
der Schwarze in selbsteigener Person fahre auf seinem
Besenstiel durch den Aamin und lande direkt auf dem
perdfeuer.
59
Stina Rudi hatte mit ihrer frühen Einladung eine
Ausnahme gemacht.
Das hatte seinen guten Grund.
Aloys ^töß sollte nrorgen wieder das Dorf ver-
lassen und nach Malbun ziehen.
5tina aber wollte ihn noch eimnal in ihrem Lsause
sehen; der stattliche Bursche hatte es ihr angetan; ihr bferz
war in großer Aufregung; es flammte in Heller Glut.
Und ob sie sich auch die Augen nach ihm aussah,
er kam nicht zu ihr; er saß daheim bei Mutter Söß
in der Sube und dachte nicht an die 5tina. Sine
Augen folgten dem stillen Tun des Gretli, feine Ge-
danken waren immerfort nur bei ihr. Oft schüttelte er
selbst den "Kopf in lauter Verwunderung über die Ver-
änderung, die mit dem Mädchen vorgegangen war,
das so plötzlich, ohne daß er es genierkt hatte, zur
Jungfrau herangeblüht war. Das Mort Zchwesterlein,
das er früher so gern dem Ainde gegeben und das
seine Zuneigung zu der Verwaisten bekunden sollte,
wollte ihm setzt nicht inehr über die Lippen.
Gretli war besangen ihm gegenüber; sie fühlte, daß
etwas fremdes zwischen sie getreten war; was, das
wußte sie eigentlich selbst nicht. Aber sie wagte nicht
mehr, den Burschen so offen anzusehen oder gar mit
ihm zu lachen, und wo sie nur konnte, wich sie ihm aus.
Menu sie im Stalle die schneeweiße Geiß fütterte, die
sie ausgezogen hatte und die darum ihr Liebling war,
60
und der Aloys kanr und streichelte sie, dann ging Gretli
schnell davon. Und wenn sie vom Schober das große
Laken voll Heu geholt hatte und es unter das Vieh
verteilen wollte und der Aloys sprang hinzu, um ihr
zu helfen, dann ließ sie das ganze Laken liegen und
ließ den Aloys die Fütterung allein besorgen. 5ie ging
schnell zur Bäuerin in die Rulchkammer und inachte
sich dort zu schaffen.
Stina Rüdi hatte auch das Gretli zum Spinnabend
geladen.
Das war wieder gegen Brauch und Herkommen.
Zum Spinnabend kanren nur die Töchter der Bauern,
nicht aber das Gesinde. Das Gretli gehörte doch zum
Gesinde?
Die alte Barbara Rudi, die Schwester des Jos, die
seit den: Tode seiner Hausfrau in Haus und Hof re-
gierte, hatte ganz verwundert getan, als sie hörte, daß
auch das Gretli von Stöß' käme.
„Ts ist doch kein Bauernkind, das Gretli," ereiferte
sie sich.
„Aber so gut als ein Bauernkind; Jakob Stoß und
seine Bäuerin achten es als ihr eigenes," sagte Stina
stolz. Leiser fuhr sie dann fort:
„Seid gut zu dem INädchen, Base."
Barbara Rüdi ward noch verwunderter.
Welchen Zweck Stina mit der Einladung verfolgte,
ahnte sie nicht; langes Grübeln und Überlegen war
6\
nie ihre Sadje gewesen, das überließ sie andern Leuten.
Mochte das Mädchen nur seinen Millen durchsetzen, ihr
sollte es recht sein.
Daß der Aloys nicht ohne das Gretli zum Spinn-
abend kommen konnte, das bedachte Stina wohl; die
Brüder pflegten sonst mit den Schwestern zu kommen.
Der Aloys sollte aber kommen, darum war es Stina
zu tun; welchen Zweck hätte der Spinnabend wohl
sonst gehabt?
Der Aloys hatte keine Schwester, also mußte das
Gretli als solche miteingeladen werden. —
Die Spinnräder schnurrten.
Um die alte Barbara hatte sich die Zugend geschart,
die Mädchen mit ihren Rädern zunächst; auf den Bänken
ringsum an der U)and saßen ein paar Burschen; Zos
Rüdi schenkte aus einer großen, zinnernen Aanne blut-
roten Baduzer Mein in die Becher und stieß lustig mit
den Gästen an. Den Aloys zeichnete er besonders aus,
der mußte immer und immer wieder mit ihm anstoßen.
Die Räder schnurrten, die Mädchen kicherten und
schwatzten, Blicke flogen hin und her. Der Sturm heulte
im Aamin und rüttelte an den kleinen Fensterscheiben.
„Zetzt treibt in der Alp auf Sücca der Aeres*) sein
wildes Spiel," hub die alte Barbara bedächtig an, ver-
setzte dem Rädchen dabei einen heftigern Fußtritt, daß
es sausend flog.
*) Sage.
62
Furchtsam steckten sich die Mädchenköpse dichter zu-
sammen.
„Erzählt uns vom Reres, Base," drang 5tina in
die Alte.
Was mochte die Barbara wohl lieber tun? jijr
Lebtag hatte sie doch gern erzählt, und je gruseliger
ihre Geschichten, desto lieber waren sie ihr selbst.
Äe sträubte sich nicht länger.
„Der Reres? Ja, Rinder, Ihr glaubt wohl, daß
Ihr jetzt von solch einer?: kleinen, wilden Männlein, das
einst auf profatscheng gelebt hat, zu hören bekommt?
Ja, die jDrofatschenger sind fein dünnn gewesen, daß
sie sich das gute Männlein selbst vertrieben haben. Ihr
wißt doch, wie das damals zugegangen ist? Ja? Nun,
schadet nichts, das kann man zu Nutz und Frommen
noch einmal hören, damit, wenn solch ein Männlein
auch mal nach dem Triesnerberg käme, nicht eines
von Euch es durch seine Dummheit vertreibe.
Also, vor langer, langer Zeit war zu j?rosatscheng
ein Wildmännlein*). Niemand wußte, woher es stammte;
niemand hatte jemals seine Wohnung gesehen, niemand
wußte, ob es in einer Bergspalte eine Höhle bewohne,
oder ob es gar in den Baumgipfeln in luftiger Höhe
schlafe. Aber es war ein gutes Wildmännlein; es tat
keinem etwas zuleide, ja, es suchte sich nützlich zu machen,
wo es nur konnte. Seit langer Zeit hütete es nun das
*) Sage.
Vieh der profatschenger auf der Alp; sorgsam gab es
obacht, daß es keinen Schaden leide, nicht in die Ab-
gründe stürzte, nicht in den Bergen sich verstieg.
Das Wildmännlein war ganz nackt.
Als die rauhe Winterszeit kam mit Schnee und Eis,
daß es einein kalt war bis ins l^erz hinein, dachten
die s?rofatschenger mit wahrer Betrübnis an das Wild-
männlein, das nun so frieren müsse. Sie ließen ihn:
beim Dorfschneider ein Aleid machen und brachten es
dem Wildmännlein auf die Alpe.
Das sprang vergnügt umher, zog das Aleid an,
lachte laut und fang aus voller Aehle:
,Bitzi, Batzi, wilde Bla, chleid nit lida cha/
Dann war es plötzlich vor den Augen der s)ro-
fatschenger verschwunden und ward nie mehr gesehen.
Die Leute aber mußten nun selber ihr Vieh hüten.
Nein, solch ein gutes Wildmännlein ist der Acres nicht.
Droben in den Wäldern der Samina ob Sücca haust er
seit Jahrhunderten. Er schreckt das Vieh, daß es wie
gehetzt von den Weiden rast. Wenn der Sturmwind bläst,
dann erscheint auch der Aeres, und mit ihm gemeinsanr
schädigt er Alensch und Vieh. Am tollsten aber treibt
er es in der Weihnacht. Wehe dem Ulenschen, der ihm
da in die Arme fällt! fürchterlich ist er anzuschauen,
eine große, große Schreckensgestalt. Unter Sturm und
Hagelwetter kommt er in der Weihnacht angesaust, um
alles zu verderben, was ihm entgegentritt.
65
Die Walliser kennen das Unheil wohl, das er an-
richtet. Deshalb bleibt auch kein Walliser bis zur Weih-
nacht auf der Alpe. Einmal hat ein Hirte ganz ver-
gessen, daß die Weihnacht war. Er war mit seiner
ganzen Herde draußen aus der Alpe, denn es war mildes
Wetter, die Alpe war grün, es war noch kein Schnee
gefallen; ruhig blies er auf feinem kleinen Horn, die-
weil das Bieh im Wondlicht graste.
Da, urplötzlich fährt es wie ein Ungewitter über die
Alpe; ein entsetzlicher Sturin bricht los, Hagelschauer
brasseln nieder, helle Blitze durchzucken die Luft, der Don-
ner rollt mächtig, und in flammender Wolke erscheint
der Aeres, fürchterlich anzuschauen, uin den tödlich er-
schrockenen Hirten zu vernichten und ihn mitsamt seiner
Herde in den Abgrund zu schleudern. Am andern Worgen
fand man den armen Buben tot, zerschmettert unten an
der Felswand, halb begraben unter Schutt und Geröll;
von der Herde aber ward kein Stück mehr gesehen."
Hastig drehte die Alte das Spinnrad, daß der Faden
riß. Buben und Uäädchen waren erschrocken; dann lachte
Stina schrill auf. Sie sah mit spottendem Blick auf den
Aloys und rief:
„Wirst auch wohl Furcht vor dem Aeres haben
droben auf Walbunalp, Aloys? Ich rate dir, geh'
nicht in der Weihnacht hinaus auf die Blatte; der
Aeres könnte dich finden und vernichten, wie jenen un-
glücklichen Hirtenbuben."
IT!aib o if, Die Hexe.
66
Wohl sollte die Rede Spott sein, und doch, wer
deutlicher hinhörte, merkte wohl die Angst, die in des
Mädchens Stimme lag; auch in den Augen lag ein
versteckter Zug von Ängstlichkeit, der auch nicht wich,
als die Burschen alle ein lautes Gelächter anstimmten.
Zos Rüdi schlug mit seiner Faust kräftig auf den
Tisch, daß die Becher klirrten und rief in dröhnen-
dem Baß:
„Reres hin, Reres her, der Aloys kennt keine
Angst, der nimmt es mit dem Iveres auf, mag er so
grausig wie der Satan und so stark wie der Guflina-
Riese sein! Hier, die Becher gefüllt und angestoßen!
Zhr Mädels, tut auch einen kräftigen Zug!"
Sie taten ihm lachend Bescheid. Stina reichte Brat-
äpfel herum; die Spinnräder schnurrten nicht mehr.
Dem Aloys war das laute Getue wenig nach dem
Sinn; unter den heißen Blicken der Stina, deren Augen
immerfort die seinen suchten, wurde es ihm ganz un-
behaglich. was wollte sie nur von ihm?
Sie kannten sich von Rindsbeinen an; aber merk-
würdig, er hatte das dralle Ding mit den gelben Maaren
und dem von Gesundheit strotzenden, roten Rindergesicht
nie besonders leiden mögen; ihr Lachen war ihm zu
schrill, ihr Reden so wüst und laut. Gr ging lieber still
seiner Wege, vollends als das Gretli ins Haus kam.
Gern war er auch nicht zu dem Spinnabend gegangen;
daß er es getan, war wegen Gretli. Anna Stoß hatte
67
befriedigt über die Einladung genickt; ihrem guten
Kerzen tat es wohl, zu sehen, daß man das Gretli re-
spektierte. Aber was wollte er hier unter der lachenden,
schwatzenden Achar? Morgen, wenn der Tag graute,
ging es hinaus nach Malbun, in die Einsamkeit, wo
er mit sich und seinen Gedanken allein war.
Wenn es erst so weit wäre!
Jos Rüdi stimmte mit dröhnendein Baß einen Trink-
gesang an; mit dem hochgehobenen Becher stand er da,
in dem einen Arm die Weinkanne, das Gesicht gerötet
vom feurigen Baduzer Wein.
Fröhlichkeit in £?of und Haus;
Mißmut treiben wir hinaus,
Hoch beim wein wir leben!
Schnell den Becher voll gefüllt,
Schnell den Durft damit gestillt,
Hoch beim wein wir leben!
Burschen und die Mägdelein
Laben sich am roten wein,
Hoch beim wein wir leben!
Und mit Haaren silberweiß
Trinkt noch Roten selbst der Greis,
Hoch beim wein wir leben!
Schnell den Becher drum gefüllt,
Schnell den Durst damit gestillt,
Hoch beim wein wir leben!
Fort mit aller Traurigkeit,
Hoch nur alle lust'gen Leut,
Hoch beim wein wir leben!
68
Die Becher klangen hell aneinander, jauchzend sahen
die Burschen und Mädchen sich in die Augen, schwer
ließ sich Jos Aüdi auf die Bank fallen; das Ängen
war eine Leistung gewesen, der schweiß stand ihm auf
der 5tirn. war's vom feurigen Vaduzer, war's von
der ungewohnten Anstrengung des Ringens?
Eine war in dem lustigen Areise, die sich gar nicht
wohl darin fühlte, Gretli. Sie wünschte sich weit, weit
fort von hier. Das ganze Getue war ihr zuwider; das
laute Lachen und Areischen der Mädchen tat ihr weh.
Sie sah auch Stinas heiße Augen und die begehr-
lichen Blicke, die auf den Aloys gerichtet waren; es
wurde ihr angst um den Burschen, sie wußte selbst
nicht, wärmn. Sie hätte ihn warnen mögen, ihn fort-
reißen. Die Stina aber haßte sie in diesem Augenblicke
geradezu, erwürgen hätte sie sie mögen mit diesen ihren
fänden.
Sie erschrak.
Auf welch grauenhaften Gedanken ertappte sie sich?
Mas hatte ihr die Stina getan?
was konnte sie dafür, daß sie ein üppiges, heiß-
blütiges Mädchen war, die in ihrer Brust ein heißes Herz
hatte und dieses in heißer Sehnsucht dem Aloys anbot?
Der Aloys war ein stattlicher Bursche, der schönste
von allen hier, und die Stina —
Das Herz krampfte sich dem Mädchen zusammen bei
dem Gedanken; nein, nein, fort mit den Vorstellungen!
69
Ain liebsten hätte sie den Kopf auf das Spinnrad
gelegt und geweint.
Da schreckte sie auf durch lautes Lachen und Rufen.
„Die Barbara erzählt vom Hexenspuk auf dem
Hahnenspiel, Ruhe drum, Ruhe!"
Die Base aber sträubte sich zum schein noch ein
Weilchen, machte allerlei Einwendungen, tat dann ge-
heimnisvoll, dämpfte ihre fette Stimme zum leisen
Flüsterton herab und begann:
„Schon von altersher hat man gewußt, daß es oben
auf dein Hahnenspiel nicht geheuer ist; zur Nachtzeit
treiben sich dort unheimliche Gestalten hermn. R cancher
Hirte, der am Huß des verrufenen Berges feine Herde
hütete, hat es mit eigenen Augen gesehen und mit
eigenen Mhren gehört, daß es dort oben unheimlich
ist, ganz grauenhaft unheimlich. Auch mancher Bauers-
mann hat den Spuk gesehen und mancher von den
Bergleuten, die nach Balorsch ins Bergwerk gehen und
Eisenerz graben.
Die Leute haben erzählt, daß der Satan dort oben
auf deni Hahnenspiel mit einer großen Schar von Hexen
sein Spiel treibe, Tänze aufführe, unheimliche Ritte auf
langen Besenstielen mache und die Luft dann erfüllt sei
von deni wilden Geschrei der Geister. Ain tollsten gehe
es in der Walpurgisnacht zu, da sei es, als wenn die
ganze Hölle losgelassen sei; ein Grausen erfasse den,
der als Lauscher von ferne zusebe."
„Ich hatte eine alte Base," fuhr die Barbara mit
geheimnisvoller Miene fort, die Stimme noch mehr
dämpfend, daß sie fast nur wie ein 6auch durch die
Stube drang, — „sie ist schon lange Jahre tot, Gott
sei ihrer Seele gnädig, — die wohnte drüben am
Triesnerberg ganz allein in einem kleinen Häuschen;
ihr ZTTartri war gestorben, Ainder hatte sie nicht. Sk
war schon längere Zeit krank, bettlägerig.
Lines Nachts im schlaf wurde sie ganz fürchter-
lich von den: Schrättlig*) gequält. Der kleine, un-
heimliche Geselle saß ihr auf der Brust, daß ihr die
Luft ausging; aus dem widerlichen, häßlichen Gesichte
streckte er ihr noch wie zum Hohn eine lange, rote
Zunge heraus.
Meine Base erwachte mit einem lauten Schrei;
sie war in Schweiß gebadet; die Haare standen ihr zu
Berge; sie zitterte am ganzen Leibe; der Schrättlig war
aber fort.
Noch hatte sie sich nicht von ihrem Schrecken erholt,
als es in dem Zinnner plötzlich taghell wurde, obschon
es Mitternacht war.
Im Aamin ging ein großes Gepolter los. Angst-
voll starrte meine Base in die Lcke, wo der Herd stand,
plötzlich fährt etwas herunter, schnell wie der Blitz,
und ehe noch meine Base überhaupt begriff, was
*) Das Albdrücken.
72
eigentlich passiert sei, stand plötzlich der schwarze vor
ihrem Bette.
Er hatte ein schwarzes, langes Gewand an, darunter
hervor sahen unheimlich große Geißsüße. schwarz war
auch sein Gesicht; große, unheimliche Augen blickten die
alte Frau drohend an.
Diese zitterte und bebte und wollte sich vor Angst
die Decke über das Gesicht ziehen, um den Schwarzen
nicht zu sehen. Der lachte aber höhnisch und befahl ihr,
auszustehen. Und ob sie wollte oder nicht, sie mußte
aus dem Bette, und ehe sie sich versah, saß sie schon
hinter dem schwarzen auf dem Besenstiel und ritt mit
ihm durch den Aamin über die Däuser weg, weiter,
immer weiter, über die Wiesen, die Sträucher, die
Bäume, über die Bäche, über die Berge, bis weit, weit
zum Hahnenspiel.
Der stand in flammender Beleuchtung, und eine
große Schar von Hexen tanzte dort.
Unter wilden: Geschrei wurden der Schwarze und
meine Base empfangen. Der Schwarze aber zwang
meine Base, mitzutanzen. Ls war wie eine wilde Jagd
bis zum Hahnenschrei; da nahm alles plötzlich ein Lüde,
die Hexen zerstoben, der Berg lag wieder in Dunkel-
heit, das Geschrei war verstummt. Uleine Base aber
fühlte noch, daß sie wieder auf dem Besenstiel, diesmal
allein, durch die unheimliche Nacht ritt und wie der
Blitz durch den Aamin sauste.
73
Am andern HTorgcn fand meine IHutter, — Gott
habe auch sie selig, sie ist längst entschlafen, — die der
Base die Milch bringen wollte, diese in ihrem Bette
halbtot vor; unter Ächzen und stöhnen erzählte sie das
grauenhafte Erlebnis der Nacht. Meine Mutter be-
kreuzte sich zitternd und bebend, schickte schnell hinunter
zum ijerrn pfamr nach Triefen, damit er komme und
sage, was mit der armen Person, die mit dem Bösen
geritten und getanzt hatte, geschehen sei.
Auch dem Pfarrer hatte die Base noch alles er-
zählen können, obwohl sie schon sehr schwach war, und
an demselben Abend noch ist sie gestorben. Und das
war gut so, wer weiß, was sonst noch geschehen wäre!"
„N)as geschehen wäre? Hahahaha, auf den Scheiter-
haufen wäre sie gekommen und als Hexe verbrannt
worden," rief der junge Peter Schaller unter johlendem
Gelächter.
Alle fuhren entsetzt auf und starrten auf den mut-
willigen Gesellen.
Gretli aber erhob sich und ging mit tiefgesenktem
Aopfe hinaus, das Spinnrad unter dem Arm. ^)hr
nach ging der Alo'fs; in der Tür drehte er sich noch
einmal um und sagte ernst:
„Das war nicht schön, Peter Schallet*! Gebe Gott,
daß du nicht zu erleben brauchst, daß auch eines von
euch auf den Scheiterhaufen kommt und als Here ver-
brannt wird!"
I
\
7«
So endete Stina Rüdis Spinnabend.
Früh am andern Morgen nahm der Aloys Abschied
von Vater und Amtier; das Gretli hatte rotgeweinte
Augen, wie er ganz deutlich beim flackernden Talglicht
sehen konnte.
Mar's um ihn, daß das Gretli geweint hatte?
Fest und fester ward der letzte Händedruck.
Der Hütebub war auch sein Begleiter zur Malbun-
alp, sein Gefährte in der stillen Einsamkeit droben.
Mit festen Schritten gingen sie in den dämmerigen
Dezembermorgen.
Viertes Kapitel.
^Safob Stof war unzufrieden mit sich selbst.
Er hatte ^os Aüdi versprochen, den Aloys vor
seinem Abzug nach Nlalbunalp von der Abmachung
zu verständigen, die sie miteinander getroffen hatten.
Das hatte er unterlassen; warum, das wußte er
eigentlich selbst nicht.
hinterher tat es ihrn leid. Der Aloys saß in der
Einsamkeit, der hätte dort so gut über die Bache simu-
lieren können. Nun war das nichts.
Gott, es bangte ihm sa nicht um den Burschen,
der würde nicht so dumm sein und ein solches Aner-
bieten ausschlagen, nimmermehr.
Aber dünnn war es doch.
Ein paar Tage ging er mißmutig durch Haus und
i)ef, sprach kein lüort, brummte höchstens etwas vor
sich her; dabei schaffte er für zwei; ordentlich in N)ut
arbeitete er sich.
Bein U)eib sah ihn besorgt an. Die kannte den
Bauern, wußte nur zu wohl, daß ihn etwas ganz Be-
sonderes drücke.
76
Aber fragen durfte sie ihn nicht, beileibe nicht.
Dann wäre ein Unwetter losgegangen, schlimmer als
das Dezemberwetter, das den Berg umbrauste.
Wenn die Zeit da war, das heißt, wenn Jakob 5>töß
die Tache genugsam in sich selber verarbeitet hatte,
dann würde er sich schon aussprechen, dann hatte er sein
Weib nötig.
To war es bisher immer gewesen. Sollte es dies-
mal wohl anders sein?
Anna Ttöß wurde unruhig, als Tag für Tag ver-
ging und die Aussprache ausblieb, ganz und gar aus-
blieb. Zmmer forschender wurde ihr Blick, mit dem sie
den schweigsamen Bauern maß.
Tr störte sich nicht daran.
Aber der Zeitpunkt kam, daß er die Tache, die ihm
wie eine Last auf der Leber saß, von sich abwälzen mußte.
Die Bäuerin saß am wärmenden Herdfeuer, in der
Ttube flackerte das Talglicht, am Spinnrad hantierte
Gretli, der Bauer bastelte an einem Bolzpflock herum,
hobelte und schnitzte, daß die Tpäne flogen. Das ging
in einer Hast, als wenn er sein tägliches Brot damit
verdienen müßte. Das Holz war hart und trocken, und
jedesmal, wenn das Messer einfuhr, war es, als wenn
es einen klagenden Ton von sich gegeben hätte.
Unacks, brach es plötzlich mitten durch.
Da warf der Bauer das Messer mit einer miß-
mutigen Gebärde auf den weißgescheuerten Tisch.
77
„Ls taugt nichts."
Line Weile ließ er den Aopf sinnend auf der Brust
ruhen; dann, als ob er zu einem Lntfchluß gekommen
fei, hob er ihn mit einem energischen Ruck in die Höhe
und sah zu seinem Weib hinüber.
„Du, Bäuerin, der Aloys soll im Frühjahr Hoch-
zeit halten."
Anna Ttöß starrte ihren Wann verständnislos an;
was sagte der da für eine Rede?
„Was hast du gesagt, Bauer?"
„Daß der Aloys im Frühjahr Hochzeit hat," kam
die Antwort schon unwillig.
Der Bauer konnte gerade fuchswild werden, wenn
einer feine Rede nicht verstehen wollte und sich ganz
dumm ans Fragen gab.
„Der Aloys soll Hochzeit halten?"
Die Bäuerin tat noch erstaunter, richtete sich kerzen-
gerade aus ihrem niedrigen Holzschemel auf und kam
langsam an den Tisch, wo der Wann saß.
Der wurde schon wild.
„Daß ihr Weibsleute auch niemals verstehen könnt,
und wenn die Rede noch so klar ist! Ich sage nun
noch einmal, der Aloys soll im Frühjahr Hochzeit
halten. Hast es nun verstanden, Bäuerin?"
Sic nickte nur kurz.
„Zum Heiraten haben allzeit zwei gehört," sagte
sie ein wenig spöttisch.
78
„Weib, bist du klug! Nun, ich sage dir, wenn der
Aloys heiraten will, dann soll sich auch wohl eins
finden, das die Hochzeit mit ihm halten soll."
Das war die Einleitung.
Langsam und bedächtig kam nun die weitere Er-
klärung.
„Der Jos Rüdi und ich haben die 5ache abgemacht,
die 5tina und der Aloys werden ein s)aar. 5ie passen
gar gut zusammen, und all die Äcker und Felder und
Wiesen und der ganze Biehstand von dem Jos und
von uns kommen zusammen; das wird ein L)of werden,
sage ich, ein L)of, wie er am Triesnerberg rächt zum
zweitenmal zu finden ist. Habe ich recht, Bäuerin,
oder nicht?"
Sie nickte nur; mit auf der Brust verschränkten
Armen stand sie da und guckte noch immer ungläubig
auf ihren Mann. Die Sache war ihr zu überraschend
gekommen; die mußte erst in ihren Aopf hinein, das
ging nicht so schnell, obwohl bis jetzt noch keiner zu
sagen gewagt hätte, die Anna Stoß sei dumm.
Dann war sie mit sich im reinen.
„Ja, ja, hast recht, Bauer, es paßt alles gut zu-
sanrmen. Und die Stina ist ein ordentliches Mädchen,
brav und fleißig, ja, und eine gute Walliser Familie
find die Rudi auch, so alt als wie die Stöß. ^ja, es
paßt alles, Bauer. Weiß der Bub schon davon?"
Der Bauer kratzte sich verlegen hinter den Ghren.
79
„Das ist ja gerade meine Dummheit, daß ich es
ihm nicht gesagt hab', und ich hatte es dem Jos doch
versprochen."
„Dann geh' in den nächsten Tagen nach Malbun
und richt' die Sache ein," gebot sie einfach. „Ist das
ein Glück, was der Bub' hat! Das reichste Mädchen
am Triesnerberg, und so kräftig und gesund! Aber
unser Bub ist auch ein schöner Bub, so grad gewachsen
und so kräftig, die 5iirca kann mit dem ganzen Gesicht
lachen, daß sie unsern Bub kriegt."
Mütterlicher Stolz klang aus der Rede, die Augen der
Frau strahlten. Hin und her wurde die Sache besprochen.
Aeiner achtete aus das Gretli.
Längst schon stand das Spinnrad still; müßig ruhten
die Hände im Schoß, ab und zu krumpften sich die Finger
ineinander.
Mit vornübergebeugtem Oberkörper faß sie da,
horchend, daß ihr kein Mort von der Rede verloren gehe.
Sie verstand alles.
Der Aloys sollte die Stina heiraten.
Mie wurde es ihr auf einmal so weh im Kerzen!
Mie zuckte und wühlte es darin, als wollte etwas
die Brust zersprengen I -
Und die Augen wurden so heiß, so brennendheiß!
Sie ruhten in angstvollem Flehen aus dem Bilde
dort an der Mand, das St. Ioder vorstellte, den Schutz-
patron der Malliser.
80
IPelf und dürr hing der Alpenstrauß, der doch so
schön gewesen war, als sie ihn zum Kräutersegen in
die Kirche nach Triefen gebracht und nachher am Bild
des heiligen befestigt hatte. Und der heilige selbst guckte
heute auch so ernst und streng herab; die voni flackern-
den Licht der Kerze beleuchteten Züge waren so merk
würdig düster, seine Augen, die doch sonst so viel Güte
ausstrahlten, so ganz, ganz anders, so streng.
Gretli zuckte zusammen, und doch konnte sie den
Blick nicht losreißen.
lVar der heilige unzufrieden mit ihr?
Konnte er in ihrem Kerzen lesen, wie es da unruhig
war? Sah er den Schmerz, der aus jedem Zug ihres
blassen Gesichtchens hervorsah? Kannte er die quälen-
den Gedanken, die ihr bsirn marterten?
Die Stina des Aloys U?eib?
U)arum bäumte sich ihr Herz auf bei dem Gedanken?
blatte sie leise, leise eine andere Hoffnung gehabt
und still genährt?
U)as sie bisher nur undeutlich gefühlt hatte, sie
wußte es plötzlich in dieser Stunde, sie war dem Aloys
gut, o, so gut; sie hing an ihm mit einer großen,
großen Liebe.
A)ar das die Liebe, die sie dem Bruder, dem treuen,
guten Kameraden ihrer Zugendzeit, der Freud', aber
auch bitteres, herbes Leid mit ihr getragen hatte, ent-
gegenbrachte?
S{
Da schlug ihr heiße Glut über Stirn und Wangen.
Sic erkannte plötzlich, daß es eine andere Liebe war.
Beide Hände drückte sie vor den wund, um nicht
zu schreien; brennendheiße Tropfen sielen ihr aus den
Augen, die Brust hob und senkte sich in stürmischer
Erregung.
wie toll arbeiteten die Gedanken hinter der hohen
Wädchenstirn.
Die 5tina und der Aloys ein j?aarl
Und es paßte ja alles so gut zusammen.
Beide so ein paar stattliche Ulenschenkinder.
Und all der Wohlstand kam zusammen, des ^)os
Rüdi Werden, sein Land und sein Hof, und des Jakob
5töß Werden und Acker und Felder und weiden.
Und in all dem großen Wohlstand die Lima
und der Aloys als wann und Frau, als Bauer und
Bäuerin!
Ja, es paßte alles so gut!
Die 5tina mochte den Aloys auch gern; hatte sie
das nicht zu deutlich am 5pinnabend gezeigt? Die
hatte Gefallen an dem schönen Burschen, die mochte
wohl gern seine Bäuerin werden.
Und der Aloys?
Die Finger bohrten sich krampfhaft ineinander; um
den wund zuckte es, die Augen wurden wie starr.
5t. ^oder aber schaute noch strenger auf die bebende
wädchengestalt am Spinnrad.
Maidorf, Die £jere.
6
82
Da wurde ihre Gestalt fast noch schinächtiger; lies
sank der Aops mit der glänzendschwarzen Haarmasse
aus die Brust.
5ie wurde ganz demütig,
was hatte sie sich nur gedacht?
welch unsinnige Hoffnungen hatte sie in ihrer Brust
genährt?
war sie nicht ein kleines, armes Ding, vorn Vater
verlassen, durch die arme Mutter, die als Hexe ver-
brannt war, mit Schmach überhäuft, dem man gut-
mütig Heimatrecht am Triesnerberg eingeräumt hatte?
wie konnte sie sich vermessen, auch nur einen ein-
zigen Augenblick das zu vergessen?
Sie wurde immer kleiner, immer demütiger.
Die Stina und der Aloys werden ein H>aar, werden
angesehene Leute am Triesnerberg; aber sie, Gretli,
war eine kleine Magd; sie wollte froh sein, wenn sie
nur immer Arbeit, ein bißchen Tssen und eine Lager-
statt hatte, wo sie abends die müden Glieder ausstrecken
konnte.
An etwas anderes durste sie nicht denken, niemals.
Aber schwer war es doch, o, so hart,
wie weh es da tief im Herzen tat!
Da trat auch die Bäuerin zu ihr und sagte fröhlich:
„Aannst dich mit uns freuen; bald gibt es Hoch-
zeit; der Aloys heiratet die Stina Audi; es paßt alles
so gut zusammen."
85
„Ja, Bäuerin, ich freue mich, es paßt alles so gut
zusammen," antwortete das Mädchen demütig. —
Am andern Morgen stand Gretli zu früher Stunde
vor der Bäuerin und bat mit leiser Stimme, ob sie
hinunter nach Triefen zur Beicht gehen dürfe. Sic war
noch bleicher als sonst, tief lagen ihr die großen, dunkeln
Augen im Gesicht und zeugten von einer schlaflos ver-
brachten Nacht.
Die Bäuerin bemerkte es mit Besorgnis. Sie schüt-
telte den Aops und dachte hin und her.
„Dein Aussehen gefällt mir nicht, Gretli. Das
Wetter ist rauh; kalt fegt der Wind; das Tal liegt im
Nebel. Bleib heute weg von Triefen; geh'ein andermal!"
Aber das Mädchen bat so herzlich, daß die Bäuerin
keine Einrede inehr machen konnte.
Mit müden, schleppenden schritten verließ Gretli
das Haus.
Draußen war nun alles weiß; der Sturm der letzten
Tage hatte viel Schnee gebracht.
Die Gaffe war menschenleer; die Rinder standen in
den Stuben hinter den kleinen Fensterscheiben und trom-
melten mit den Singern daraus; aus den Ställen er-
tönte ein unruhiges Stampfen des Viehes; dem Ramm
der kleinen Däuser entstieg der Rauch und erfüllte die
Luft mit brenzlichem Gerüche.
jn der Haustür drüben am Eberlinfchen Haufe
stand Hans Eberlin, die Hände in den weiten Hofen-
laschen vergraben, und schaute mißmutig drein. Als er
Gretli erblickte, die mit gesenktem Haupte einherschritt,
rief er ihr zu:
„Das Mariele ist wieder krank, verschmäht Lssen
und Trinken und liegt im Lieber im Bett."
Gretli erschrak.
„Ist es schlimm, Bauer?"
Lr zuckte die Achseln, und sein Gesicht wurde noch
um einen Grad mißmutiger.
„Ich glaub', daß es schlimm ist."
Da erschrak das Mädchen noch mehr.
„U)enn ich von Triefen heimkomme, will ich die
Bäuerin fragen, ob ich zum Mariele darf. Ich bleib
dann die Nacht bei ihm."
„Ist recht so."
„Behüt Luch Gott, Bauer Lberlin!"
Der brummte auch sein „Behüt dich Gott", nickte
dem Mädchen zu und schritt breitspurig über den Hof
zum Stall hin.
Gretli aber hatte nun noch eine 5orge mehr im
Herzen; das Mariele war ihr lieb und hing an ihr,
wie sie an ihm hing.
Um Jos Rüdis Hof hätte sie am liebsten einen
weiten Bogen gemacht; aus dem Hause ertönte Sinas
schrille stimme, die ein lustiges Lied sang.
Ls tat Gretli ordentlich weh, als sie es hörte.
Laut und lauter schallte es über die Gaste:
85
„Ich liebe den lust'gen, den wilden Gesell',
Mit den Maaren so lockig, den Blicken so hell,
Und sind seine Augen so feurig wie Gold,
Den lieb' ich, den küß' ich, dem bin ich nur hold."
Gretli hielt sich die Ohren zu und lief wie gehetzt
weiter. Noch in der Ferne hörte sie die jubelnden
Schlußworte:
„Den lieb' ich- den küß' ich, dem bin ich nur hold."
Die verfolgten sie bis weit die Straße hinunter nach
Triefen; und ob sie ihre Gedanken auch auf das richten
wollte, weswegen sie den Gang hinunter ins Tal machte,
es ging nicht, es war wie ein 5puk, der sie neckte und
höhnte, bis daß ihr der Aopf weh tat. —
Pfarrer Mathys war nicht wenig erstaunt, als die
kleine Ukädchengestalt vor ihn trat und mit verlegener
stimme fragte, ob der Herr Pfarrer nicht so gut fein
wolle und komme zum Beichthören in die Airche?
Natürlich wollte er das, das war ja fein Amt.
Hieß er nicht der gute Hirte, der Tag und Nacht bei
seiner Herde wacht? Und er hatte eine schwere Zeit
mit seiner armen Herde durchgemacht I Alle Schreck-
nisse und Nöte der wilden Ariegsjahre, unter denen
die Gemeinde gelitten, hatte auch er kennen gelernt.
Die Dörfer waren verarmt; Hungersnot und Arank-
heit herrschten in den Däusern, die Leute konnten den
Zehnt nicht bezahlen, den sie nach altem Brauch und
Recht dem Grasen und dem jDsarrherrn von Wein und
86
Korn, von Butter, Käse und Wuchs zu entrichten
hatten.
Aber schlimmer als diese leibliche Not war doch
die andere, die geistige. Das Volk war dem Herenwahn
verfallen, krasser Aberglaube hielt sein sonst so klares
Denken umfangen. Darunter seufzte der Pfarrer am
allermeisten.
Als das Gretli vor ihm stand und er es mit durch-
dringenden Augen scharf ansah, da erkannte er es. Da
wußte er, daß es das Kind der Lucia war, die er ver-
geblich vor dem Feuertods zu retten versucht hatte.
Lr hatte nicht an ihre schuld geglaubt, er nicht; wie
er ja überhaupt nicht an peren zu glauben vermochte.
Aber seine Macht war gescheitert an der Meinung
der erregten Volksmenge, er hatte sich ihr beugen müssen.
Das arme Weib hatte ihm furchtbar leid getan.
Und Mitleid, großes, erbarmendes Mitleid fühlte
er auch in feinem Kerzen für ihr Kind.
AIs Gretli nachher aus dem Beichtstühle trat, da
trug sie den Kopf wieder hoch; sie fühlte sich so glück-
lich und frei, mochte nun kommen, was da wollte, sie
war gewappnet. Alle Last und ^orge, die ihr perz
bedrückte, hatte sie abgewälzt. Pfarrer Math^s ver-
stand in ihrer Seele zu lesen und las mehr daraus als
nur das, was der kleine Mund ihm von all den Nöten
anvertraute. Daher fand er auch die rechten Lrostes-
worte für sie, und das gerade tat dem Mädchen so wohl.
87
Und ihr „Vergelt's Gott, Herr Pfarrer, viel tausend-
mal I" klang so herzlich, daß auch der Pfarrer in seinem
Kerzen suhlte, daß er es richtig gemacht hatte.
Vor dem schönen Rosenkranzbilde, das den rechten
Seitenaltar der alten Pfarrkirche schmückte, lag Gretli
noch lange auf den Knien; durch ihre Finger glitten
die dicken perlen an der Rosenkranzschnur, ihr Klappern
war das einzige Geräusch, das die tiefe Stille der Kirche
unterbrach.
U)ie war doch der Heimweg fo ganz anders!
IHK Behagen sog Gretli die herrliche Minterluft
ein; der Schnee ballte sich unter ihren Füßen und er-
schwerte ihr das Gehen. Mas fragte sie darnach? Sie
war ja so glücklich jetzt, so leicht und frei.
Die Luft war wunderbar klar; ringsum grüßten
die Bergriesen; ihr weißer Schneemantel glitzerte und
funkelte in seltener Pracht; schwere Schneenrassen lagen
auf den alten Föhren und Lärchen; wohin das Auge
blickte, lag alles in Minierpracht. —
* *
*
Auf der Ofenbank, dicht am wärmenden Herdfeuer,
hatte Barbara Rüdi ihren Mittagsschlaf gehalten. Gs
war ihr ein Bedürfnis, nach der Mahlzeit einen kurzen
Nicker zu halten; das ließ sie sich nicht nehmen.
„Oha," sagte sie gähnend, reckte sich und streckte die
Arme in die Luft. Mit den Fingern rieb sie sich die
88
Augen, die wollten noch nicht recht aufgehen. Dafür
bekam die große, graue Ratze, die auf ihrem Schoße
geschlafen hatte, als wenn dort ihr eigenster Platz sei,
einen unsanften Stoß.
Die machte einen Buckel, schnurrte hörbar und
sprang mit einem Satz herunter.
„Oha," sagte die Barbara, noch einmal gähnend.
An, bserdfeuer hantierte die Stina.
In einem großen Ressel kochte und brodelte es; ein
heißer Schwaden durchzog die Stube und erfüllte sie
mit einer unangenehmen Luft. Die Fenster waren dicht
geschlossen.
Bon, grellen Herdfeuer beschienen stand die Stina;
ihr Haar flammte wie in Gold getaucht, rote flammen
zuckten über ihr Gesicht und die vollen roten Arme,
über die die Hemdärmel bis hoch zur Schulter zurück-
gestreift waren. Sie schaute und schaute in die brodelnde
Masse, die in dem Ressel dampfte und spritzte; glucksende
Laute stiegen immer vom Boden des Ressels bis hinauf
an die Oberfläche der breiigen Flüssigkeit, oben große
Blasen bildend, dir nach kurzem Dasein zerplatzten.
Stina kochte das Schweinefutter.
„Oha," machte die Base zuni dritten,nale.
„Habt Ihr nicht gut geschlafen, Base?" fragte das
Mädchen kurz, nahm einen großen Bolzlöffel und rührte
in dem Ressel; der Schwaden fuhr ihr heiß durch das
Gesicht und legte sich feucht auf die gelben Haarsträhne.
89
Da tat die Base geheimnisvoll.
„Gut habe ich geschlafen, sehr gut, und geträumt
habe ich, ich sage dir, wunderschön."
„Die Aatze hat Euch zu schwer auf dem Magen
gelegen, davon kommen die Träume."
Sie nickte vergnügt. Einerlei, woher die kamen, die
Hauptsache war, daß sie wirklich schön geträumt hatte.
Nun brannte sie darauf, daß sie alles haarklein der
Stina erzählen könne.
Auf der Gfenbank war es auch noch so gemüt-
lich, die Luft so wohlig; das tat ihren alten Gliedern
gut. Denn im Winter, wenn das Wetter so rauh und
kalt war, hatte sie das Reißen in den Gliedern, das
kam von dem schweren Schaffen im Sommer; denn
was die Arbeit anging, da tat es ihr so leicht keine
gleich, trotz der etwas schiefen, lahmen Hüfte, die ihr
eigen war.
Nun tat sie wieder geheimnisvoll, wackelte mit dem
Aopfe, daß die große klaube noch mehr auf die linke
Seite rutschte, kniff die Augen halb zu, rieb sich die
Handflächen und flüsterte mit ihrer fetten Stimme:
„Hochzeit war im Dorfe hier."
Die Stina ließ den Aeffel im Stich und rückte ganz
nah an die Alte heran.
Diese nickte nur, als habe sie das wohl erwartet.
„Ja, eine große Hochzeit.
Das ganze Dorf war dabei.
90
Der Dudelsackpfeifer ging voraus; dann kamen die
Leute alle, jung und alt, groß und klein, und zuletzt das
Hochzeitspaar, die Braut und der Bräutigam" —
„U)ie sahen die aus, Base?" Neugierig rückte die
Siina noch dichter an die Alte.
„Laß mich ausreden, Mädchen!"
„Nach Triefen ging es in die Airche, damit der
•Pfarrer seinen Segen gebe.
Ich hab' das nicht gesehen, denn ich war derweil
am Zurichten, am Kochen, Braten und Backen.
Der ganze Ofen war voller "Hessel; einer stand am
andern.
Die Stube war weißgescheuert; Tische standen bis
weit hinten in den bfaf hinein, mit Tellern und Bechern
und großen Kannen; und mächtige Sträuße von Alpen-
rosen standen in Töpfen da und leuchteten rot, und
Tannenzweige waren über dem Türbalken.
Ich ging immer vom Herd fort und guckte über
die Gasse, ob sie noch nicht kämen, die Hochzeitsleute
nämlich.
Und endlich kam der Dudelsackpfeifer, und alle die
Leute drängten sich in die Stube an die langen Tische,
daß sie ganz voll wurden. Ich reckte noch immer den
ifals, denn ich sah ja noch immer die Brautleute nicht.
Da auf einmal stand die Braut vor mir und gab
mir die Hand.
Ich guckte und guckte.
91
EDie schön war die!
So groß, daß ich schier an ihr hochsehen mußte.
Linen weiten, roten Rock hatte sie an, Schnallen-
schuhe und weiße Strümpfe guckten darunter hervor.
Line schwarze, schwerseidene schürze mit bunten
Blumen war über dem Rock; ein seines Mieder mit
großen Älberknöpfen spannte sich über einein weißen
Hemde von seinem Linnen; eine lange, silberne Aette
war um den Hals geschlungen und siel vorn über der
Brust bis lang aus die schürze herunter.
Ich guckte der Braut in das Gesicht, und da war ich
so erstaunt, denn ich sah, daß du es warst, die 5tina."
Das Mädchen lachte fröhlich aus und klatschte in
die Hände.
„Weiter, Base, weiter."
„Du warst die Hochzeiterin, 5tina, und so schön,
gar prachtvoll anzuschauen. Ich konnte mich schier nicht
satt an dir sehen. Da wollte ich auch den Bräutigam
sehen, ich guckte nach rechts" —
„Weiter, Base, weiter!" drängte die 5tina ungestüm;
beide Hände hatte sie setzt aus den hestigklopsenden
Busen gedrückt; jede Miene ihres Gesichtes verriet er-
wartungsvolle Spannung. Mit dem Lllbogen stieß sie
die Alte an.
„Weiter, Base, weiter!"
Die wackelte bedächtig mit dem Aopfe.
„Nicht so hastig, Mädchen!
92
Ich guckte nach rechts und guckte nach links; gerade
wollt' ich den Wund auftun und die schöne Braut
fragen, wo denn der Bräutigam sei, da hörte ich auf
dem Herd ein Brausen und sah, daß der Suppenkessel
überkochte; da lief ich an den Herd und riß ihn fort,
und da wurde ich wach, und den Bräutigam habe ich
nicht gesehen, schade!"
Da war die Stina zuerst enttäuscht, aber dann lachte
sie schrill aus.
„Das war eine Strafe für die Neugierde, Base.
Hahaha! Aber kommt näher, ich sage Euch etwas ins
Mhr; Ihr sollt doch wissen, wer der Stina Rudi ihr
freier sein soll, und ein schöner, ein stattlicher noch
dabei, daß er sich seh'n lassen kann."
Sie beugte ihren Aopf tief zu dem der Alten her-
unter, näherte sich deren Mhr und flüsterte einen Namen
hinein.
Da riß die Alte die Augen vor Erstaunen weit
aus; der fast zahnlose Ncund klappte aus und zu, als
wenn er das Wort nicht zusammenbringen und Heraus-
stoßen könne. Ihr Gesicht hatte dabei einen solch komi-
schen Ausdruck, daß Stina ein übermütiges Lachen an-
stimmte.
Nach und nach erholte sich Barbara Rüdi von der
Überraschung; da kam Leben in die alte Gestalt.
„Der Aloys also? Der Aloys? Jesus, NIaria
und Josef, wer hätte das gedacht?"
95
Lin Glück war es, daß die Stina jetzt ihre Ge-
danken auf etwas anderes richten mußte. Der Aeffel
auf dem Herdfeuer kochte diesmal nicht im Traume,
sondern in Wirklichkeit über. Sic riß ihn vom Feuer,
stellte ihn auf die Steinfliesen des Bodens und rührte
kräftig mit dem Holzlöffel die erregte Waffe um. Da-
bei lachte sie übermütig laut, am meisten über das ver-
dutzte Gesicht der Base.
Die kam von ihrer Ofenbank und stellte sich breit-
spurig neben das Mädchen.
„Ist es auch wirklich wahr, Stina?"
„So wahr, als wie ich hier vor Luch steh', Base;
fragt doch den Bater, der hat mit Jakob Stöß schon
die Sache abgemacht. Als ob das nötig gewesen wäre!
Ich will den Aloys, ich, die Stina Rüdi; der Bursche
gefällt mir, und ich möcht' wissen, ob ihm nicht auch
die Stina Rüdi gefallen sollte?"
Sie reckte sich zu ihrer vollen Höhe auf und wiegte
sich in den Lüften; keck blitzten ihre Augen; die sagten
deutlich, eine wie große Meinung die Stina von sich
selber hatte.
Nachher ging sie in den Stall, um den zwei Schweinen
das inzwischen abgekühlte Futter zu bringen.
Dabei sang sie wieder übermütig:
— „Mit den Haaren so lockig, den Blicken so hell.
Und sind seine Augen so feurig wie Gold,
Den lieb' ich, den küß' ich, dem bin ich nur hold."
„Meinst du mich, Stina?" ertönte eine stimme
neckend an ihr Ohr.
In der halboffenen Stalltür stand ein junger Mensch
und sah ihr belustigt zu.
„Jesses, jDeter Schalter, wie kannst du einen so er-
schrecken?"
„Ich mein', ob du mich küssen willst? Hast es ja
gesungen, Stina."
Da stieß sie zornig die Stalltür zu, daß sie dem
Lauscher fast an den Aopf stog.
„Oho, Stina, nicht so hitzig!"
Fünftes Kapitel.
XTun war schon die dritte Nacht gekommen, daß
Gretli am Lager des kleinen Mariele wachte.
Dunstig und schwer hing die Luft über der Stube;
dicht waren die Fenster geschlossen, die Scheiben waren
säst blind von dem heißen Schwaden, der sich darauf ge-
lagert hatte. War doch den ganzen Tag über hier ge-
kocht worden für Mensch und Bieh, und in dem großen
Bett dort nahe am Herd lag die Aranke. Da konnte
man kein Fenster öffnen, man hätte dann ja denken
sollen, daß das kranke Aind sich den Tod holen würde.
Aber daß die stickige, verbrauchte, von Miasmen durch-
schwängerte Lust gerade der beste Freund des klap-
perigen Gesellen sei, das glaubte man damals nicht.
Heiß und dumpf war die Luft.
Gretli vermochte kaum zu atmen. Sehnsüchtig hing
ihr Blick am Fenster; ach, nur einmal öffnen, eine
einzige Minute nur, einmal nur die frische, kalte Winter-
luft einsaugen dürfen!
Sie ließ den Aopf schwer auf die Brust fallen. Ls
ging ja nicht, es durfte kein Luftzug das kranke Mariele
treffen. Schweratmend lag es in den Aiffen; stürmisch
96
hob und senkte sich die kleine Brust. Ties eingefallen
waren die Augen, spitz hob sich die kleine Nase aus
dem abgemagerten Gesichtchen ab; feucht klebten die
blonden Haarlöckchen an der Schläfe, große Schweiß-
tropfen bedeckten die heiße Stirn.
Auf der Bettdecke ruhten die kleinen Fäustchen fest
ineinander geballt, ab und zu zuckten sie heftig zufam-
men; dann fuhren sie wild durch die Luft, rissen die
Decke von dem heißen Aörper, und dieser bäumte sich
auf wie gegen eine unsichtbare Macht.
Das Mariele war sehr krank.
Alle Aräutertränke waren bis jetzt vergebens ge-
trunken worden.
Hans Gberlin und fein junges IVeib, die Truda,
waren in großer Angst um das Aind.
Das Mariele war ihr einziges. Sie hatten noch
einen Buben gehabt. Der strotzte vor Gesundheit; seine
Backen waren dick und blühten vor Araft und frische;
hell und munter war der Blick der Augen, fröhlich die
ganze Natur. Barfüßig lief auch er über die Gasse;
seines Vaters Aühe, Ziegen, Schafe und Schweine kannte
er alle; und das füttern konnte er schon besorgen fast
wie ein Alter. Gin echter Bauernbub war er, der Stolz
des Vaters. Da war das Fieber gekommen und hatte
den lebensfrohen, kräftigen, kleinen Burschen ergriffen.
Nach ein paar Tagen lag er stumm, bleich auf der
Totenbahre, kaum vierjährig.
9?
Das war vor zwei fahren gewesen.
Nun lag das Rkariele genau so im Lieber.
Bauer Eberlin ging durch Haus und Hof wie ein
wütender Stier. Das durfte ihm der Herrgott nicht an-
tun, daß er auch das RIariele holte, das nicht!
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das
Aind im Bett aufzuckte.
Wo war fein Gottoertrauen?
Leise mahnte die Truda. Sie war selbst erschüttert
bis ins Mark, das Rcariele war ihr alles, ihr Herz-
blut hätte sie geopfert, wenn es ihm hätte helfen
können.
Gegen Abend war das Befinden der kleinen Aranken
etwas besser geworden.
Die beiden Frauen, die Truda und Gretli, die mit
Einwilligung von Anna Stöß wieder zur Nachtwache
gekommen war, hatten es mit vielem Drängen und
Reden fertig gebracht, daß sich der Bauer im Dach-
stübchen oben auch zur Ruhe legte; er wollte nicht, aber
die Natur verlangte schließlich ihr Recht. Wer am Tage
schwer arbeitet, hat die Nachtruhe nötig. So kämpfte
auch der Bauer trotz aller Angst um sein krankes Aind
vergebens gegen die immer mehr sich zeigende Nlüdig-
keit; die Augenlider sanken ihm immer wieder zu, ob-
gleich er sie mit Gewalt aufriß. Da gab er endlich
dem Drängen der Frauen nach und stieg die knarrende
Treppe zum Dachstübchen hinauf.
Maidorf, Die Hexe.
7
98
Auch die Truda hatte sich für ein Weilchen auf die
Ofenbank gelegt; die erschlafften Glieder versagten fast
gänzlich den Dienst, und die Kleine lag ja jetzt ganz ruhig.
Und war nicht Gretli da? Das treue, liebe Mäd-
chen, dem die Herzensangst, die es um das Mariele
hatte, aus jedem Zug des traurigen Gesichtchens sprach?
Gab es wohl eine treuere Hüterin, einen bessern Schutz
als das Gretli?
Die Truda lag auf der Ofenbank, die Arme unter
dem Kopf verschränkt; ruhige, gleichmäßige Atemzüge
verrieten, daß sie Schlaf gefunden hatte und für ein
Weilchen Vergessen ihres großen Leides.
Nur Gretli wachte.
Auch sie kämpfte mit aller Macht gegen den schlaf.
Wenn nur die Luft nicht so dunstig gewesen wäre!
Fast benahm sie ihr den Atem. Unruhig flackerte das
Talglicht, das schon weit herabgebrannt war. Ls warf
lange, zitternde Streifen über das Bett und ließ mit
seinem gelben schein das Gesichtchen des Kindes noch
fahler erscheinen.
Dann und wann erhob sich Gretli von den Knien,
aus denen sie in betender Haltung, den Rosenkranz
zwischen den Fingern, lag, nahm ein Tuch, trocknete
sanft die nasse Stirn des Kindes und netzte ihm mit
Wasser die trockenen Lippen. Kein Zug des Trkennens
glitt über die Züge des Mariele, es wußte gar nicht,
daß sein liebes Gretli an seiner?: Lager weilte.
99
Wieder rollte Perle um Perle an der Schnur des
Rosenkranzes herunter.
„Der du im Garten für uns Blut geschwitzet hast,—
Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns arme
Münder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen."
Die Lippen bewegten sich zu andächtigem, heißem
flehen; die Augen waren unverwandt auf die kleine
Leidende gerichtet.
In dem alten, uralten Schrein mit den kleinen, vier-
eckigen Scheiben, hinter denen blanke Tassen und Aan-
nen, zinnerne Teller und messingene Leuchter prunkten,
bohrte der Holzwurm. Eintönig war das Geräusch, bald
lauter, bald wieder leiser, fast verhauchend. Draußen
schlug der große Aettenhund ein paarmal ein kurzes,
heiseres Bellen an, es war ihm wohl kalt in der rauhen
Winternacht.
Sonst alles still, wie ausgestorben.
Gretli fuhr oft wie aus schweren Ängsten auf, dann
kroch ihr ein Schauer wie von dumpfer Müdigkeit über
den Rücken. Die Gedanken kamen und gingen; sie kreuzten
sich in buntem Wirbel hinter der weißen Mädchenstirn.
Was der Aloys wohl da weit hinten in Malbun
treibe? <Db er auch an Hochzeit denke und an die
Stina Rüdi?
Bauer Stöß war noch nicht bei ihm gewesen; der
Weg war ihm jetzt zur Schneezeit zu beschwerlich; er
hatte den Gang noch aufgeschoben.
\00
Aber der Bauer und die Bäuerin sprachen fast von
nichts anderem; es nahm ihr ganzes Sinnen und
Trachten gefangen. Sie rechneten und rechneten und
steckten fast den ganzen Tag die Aöpfe zusammen.
Die Stina kam nun auch fast jeden Tag gelaufen.
Die tat ungeheuer freundlich zum Gretli. Aber in
aller Rede kam immer ein verstecktes fragen nach dem
Aloys; was er jetzt wohl treibe, ob es ihm nicht einsam
sei, ob er nichts vor seinem Weggang gesagt hätte?
Ruhig und freundlich gab Gretli Antwort auf die
Fragen. In ihrem Kerzen war alles still.
Still tat sie auch ihre Arbeit, schaffte noch mehr
als sonst; die Bäuerin war oft ganz verwundert. Aber
sie freute sich, daß sie an dem Wädchen einen solchen
Schatz hatte. Sie hing auch mit fast mütterlicher Liebe
an ihm; oft sagte sie zu ihrem Wanne:
„Gretli muß immer bei uns bleiben. Es wär' nicht
auszudenken, wie es sein würde, wenn Gretli nicht mehr
bei uns wäre."
Dann stimmte ihr Jakob Stöß aus vollem Berzen bei.
Das tat Gretli gut, wenn sie solche Reden horte;
aber manchmal wünschte sie sich dennoch weit, weit fort
vom Triesnerberg; dann mußte sie auch wohl weinen,
und sie wußte selbst nicht warum. —
Wie das Talglicht unruhig flackerte!
Die Glut im Herdfeuer war auch fast erloschen;
hastig legte Gretli ein paar trockene Scheite auf, gierig
\o\
leckte die flamme danach, knisternd ging das trockne
^olz in Brand.
Die Truda auf der Ofenbank stöhnte im schlafe laut
aus; ob das geängstigte Mutterherz selbst im Traume
das Leid um den kranken Liebling durchkostete? Gretlis
Blick haftete mit Wehmut auf den Zügen des Weibes,
die selbst im Schlummer einen sorgenvollen Ausdruck
zeigten. Der eine Arm hing jetzt schlaff herunter, die
andere Hand hatte sich im Mieder festgekrampft.
Die Truda war noch immer ein schönes Weib, hoch-
gewachsen, kräftig, eine echte Walliserin. Blühend war
die Hautfarbe des frischen Gesichtes, hell und offen der
Blick der blauen Augen. Wer genauer das von Ge-
sundheit strotzende Gesicht betrachtete, merkte wohl den
herben Zug, der um die Mundwinkel scharf gezogen
war und dort frühzeitig Fältchen gegraben hatte.
Man sagte, der Bauer sei hart zu ihr.
Ob es zu glauben war?
Der Bauer war solch eine Natur mit einem 5tier-
nacken, hart, unbeugsam, ja, hart bis zur Grausam-
keit. Ob das Weib an seiner Seite nicht schon manche
Arobe davon zu kosten bekommen hatte?
Aber die biß sich lieber die Lippen wund, als daß
sie jemals ein Wort, das ihren Mann in seinem wahren
Tharakter kennzeichnete, gesagt hätte.
Gretli seufzte. Die Trude tat ihr leid, sie war
so von Kerzen gut und brav; die verdiente etwas
\02
Besseres, als ihr das Los an Hans Eberlins Sette ge-
bracht hatte.
Wie, wenn der Herrgott nun auch das Mariele
holte? Der Bauer würde rasen, alle schuld auf das
Haupt des arnien Weibes wälzen, das war sicher. Denn
er hing mit abgöttischer Liebe an dem kleinen, muntern
Ding mit den drallen Bäckchen und dem lieben, kleinen
jAaudermündchen. Das Mariele war ein Bindeglied
zwischen den Eltern, ein Brücklein, über das, bei aller
Härte auf der einen und bei aller schweigenden Duld-
samkeit auf der andern Seite, immer wieder der rechte
Weg gefunden wurde.
Wie, wenn das Mariele starb und das Brücklein
gänzlich zusammenbrach?
Gretli seufzte schwer auf. Eie rang die Hände in-
einander und schaute flehend auf den Dornengekrönten,
dessen Bildnis an der Wand hing.
Unruhig zuckten die Händchen des Rindes wieder
über der Decke. Ganz dicht stand Gretli an dem Bette
und sah mit heißer Angst in das liebe Gesichtchen.
Eie erschrak plötzlich sehr. Es war ihr, als wenn
es in den letzten Minuten sich sehr verändert hätte.
Die Angst schnürte ihr fast die Rehle zu. Etand es
plötzlich schlimmer um das Rind? Wachte gar schon
der Todesengel an seinem Lager? Vb die Mutter ge-
weckt werden mußte, und der Vater?
Ratlos überlegte das Mädchen.
J03
Da bäumte sich der kleine Aörper plötzlich wie in
furchtbarer Q)ual, die Augen traten aus ihren höhlen,
das Gesicht verzerrte sich, Schaum trat vor die heißen,
geöffneten Lippen. —
„Bäuerin, Bäuerin I" schrie Gretli entsetzt auf.
Die richtete sich schlaftrunken in die Höhe, war wie
verstört, doch nur einen Augenblick, dann hatte sie be-
griffen und stürzte mit einem Latze herbei.
„Bäuerin, das Aind stirbt!"
Da schrie die Bäuerin, daß es einen erbarmen mußte.
„Mein Aind, mein Aind, mein Mariele!"
Das hörte nichts mehr; es war wie ein Ruck durch
den kleinen, sich in Todeskrämpfen windenden Aörper
gegangen, der das kleine Herz zürn Ltillstand brachte. Gr
streckte sich zum langen Todesschlafe, die gezerrten Züge
glätteten sich, Friede senkte sich über das bleiche Antlitz.
Erschüttert bis ins tiefste Mark stand das Gretli,
während die Mutter sich wie rasend gebärdete, schrie
und jammerte.
Das hatte auch den Bauer in seiner Dachkammer
geweckt; verstört erschien er in der Ltubentür.
Als er begriff, um was es sich handelte, da brüllte
er auf wie ein verwundeter Ltier.
„Herrgott, Herrgott, das durftest du uns nicht antun!
Das vergeß' ich dir nie, Herrgott!"
„Versündigt Euch nicht, Bauer!" sagte Gretli aufs
höchste erschrocken.
Da packte er die zarte Wädchengestalt an beiden
Schultern, schüttelte sie wie wahnsinnig und brüllte:
„Versündigen, versündigen? Ts gibt keinen Herr-
gott im Fimmel :nehr, von heute an glaub' ich es nicht
mehr, ich nicht! bjat er auf mich gehört? Nein! Ts gibt
keinen Herrgott, sag' ich, ich, der Bauer Hans Tberlin!"
Tr ließ die Schultern des Wädchens fahren, schlug
mit der Faust auf den Tisch, daß die Stube dröhnte,
brüllte wieder wie ein Tier, das im Tode liegt, und
warf sich dann wie rasend über den kleinen Leichnam.
Da sioh Gretli wie gehetzt durch die stille Winter-
nacht nach brause, in ihren Ohren gellte das Brüllen
des rasenden INannes und drängte den heißen Schmerz
um den Tod des kleinen Nkariele, des herzigen, süßen
Aindes, fast in den Hintergrund.
Ihre junge Seele hatte ein Sturm durchbraust,
schlimmer als wenn ha Frühjahr der Föhn über die
Alpe jagt, daß die Lawine rollt und die Wasser schäu-
mend und tosend zu Tal stürzen, alles mit sich reißend,
was sich ihnen in ihren: jähen Absturz hemmend in
den Weg stellt.
Gretli schauderte.
Waren das die Wenschen, die im Leid allen Glauben
an einen Gott über den Kaufen warfen und schlimmer
in ihrer Leidenschaft anzusehen waren, als wilde Tiere?
Sie fand keinen Schlaf, als sie versuchte, sich die
paar Stunden, die sie noch vom jungen Tag trennte,
\05
auf ihr Lager zu legen und zu schlafen; aber auch keine
erlösenden Tränen. Es war ein Aufruhr in ihrer Seele,
die Gedanken wirbelten wie toll hinter der Stirn, in
den heißen Schläfen hämmerte das Blut.
Erst als sie nachher, als es hell geworden war,
wieder in das Haus Eberlins trat, als sie den kleinen
Liebling aufgebahrt sah, ruhend wie ein kleiner Engel,
das Gesichtchen so friedlich, die Händchen gefaltet, da
stürzten ihr die heißen Tränen über die Wangen, wie
lindernder Balsam ergoß es sich ihr in das jugendliche
Herz; sie hielt die Truda fest umschlungen, ihre Tränen
flössen ineinander.
Hans Eberlin aber hatte sich einen Rausch ange-
trunken; schwer atmend, keuchend lag er jetzt aus der
Ofenbank.
Sechstes Kapitel.
^m wildromantischen Saminatal, dort, wo das
Tal eng und die Bergriesen mit ihren von Fichten be-
standenen Kuppen und Gehängen in gewaltiger Größe
gen Fimmel ragen, wo die Samina, jener reißende
Gebirgsbach, der in seinem Laus von hüben und drüben
Wildbäche aufnimmt, schon einem kleinen Flusse gleicht,
führt ein Afad seitwärts in ein anderes, wildes Tal,
in das Akalbuntal.
Auf schwankendem Steg geht es über die wild-
rauschende Samina. An kleinen, niedrigen Holzhäusern,
deren Dächer mit Steinbläcken beschwert sind, auf daß
der Sturm sie nicht emporreiße, vorbei führt der s)fad,
der LNalbun entlang, einem Wildbach, der schon zur
Winters- und Frühlingszeit, wenn der Schnee schmilzt
und die Wasser von den Bergen stürzen, ganz reißend
werden kann. Weithin durch das stille Tal ist sein
Bauschen zu vernehmen.
Die kleine Ansiedelung an der Samina heißt Sücca;
eine große Alpwirtschaft mit großen Ställen und Senn-
hütten haben die Triesener dort angelegt.
Weiterhin im Alalbuntal, dort wo große Weiden sich
ausdehnten, halten Jakob Stoß und Jos Büdi ihren Stall.
\07
Hier hauste der Aloys mit dem Hütebuben, dem
5>epp, in vollständiger Abgeschlossenheit.
Ganz einsam war es im Walbuntal; kein mensch-
licher Fuß verirrte sich zur Winterszeit dorthin, wo das
Auge nichts anderes sah als schneebedeckte Weiden,
schneebedeckte Auppen und Gehänge; wo das Ohr nichts
anderes hörte als das wilde Rauschen der Walbun,
das heisere Gekrächze der Raben, die über die Berge
flogen, und das Brüllen des Jungviehs, das dumpf
aus den Ställen hervordrang.
Aber gerade diese Einsamkeit liebte der Alo-^s.
Er konnte stundenlang schauen und schauen; die
Bergwelt im Wintergewande nahm seine ganze Seele
gefangen. Etwas schöneres konnte er sich nicht denken.
Wenn die Wittagssonne aucb in das stille, enge
Tal drang und all die Auppen ringsum ausleuchteten
im vergoldeten schein; wenn es wie ein Glitzern und
Dunkeln über die schneeigen Gehänge, über die riesigen,
kristallenen Eiszapfen der Felsen ging, dann konnte er
sich nicht satt sehen an der Fracht, dann jauchzte seine
5eele; und wenn der Surrn über die Hänge fuhr,
wenn die alten Föhren rauschten, wenn die Zweige
knarrten und selbst alte Baumriesen zersplitterten wie
dünne Holzstöckchen, wenn der Himmel schwarz war,
die Wolken jagten, als wollten sie sich aus die Welt
stürzen und alles zerstören und vernichten, dann konnte
er wiederum schauen und schauen und die Allgewalt
\08
da droben in stummer, staunender Bewunderung be-
trachten.
U)as tat es ihm, daß der lvind ihm die blonden
Haarmassen zerzauste, ihm den schützenden Rock losriß,
das Hemd zerrte, daß die Brust freilag?
Gr stand wie angewurzelt.
Biel Arbeit gab es nicht, dafür mühsame, schwere
Arbeit. Bon den Heuhütten, die im tiefen Schnee säst
wie begraben oben auf den Höhen standen, mußte das
Heu zur Fütterung geschafft werden. Das Bieh im
5tall bestand zum Haupteil aus Jungvieh; da gab es
nicht viel zu buttern und zu käsen.
Am Feuer in der rauchgeschwärzten Sennhütte saß
der Bursche meist und schnitzelte und bastelte. Aus
weichem U)eidenholze, das er sich drüben von den Ufern
der INalbun geholt hatte, schnitzte er sich allerlei zurecht,
Aühe und Geißen, pfeifen und Löffel. Der 5epp konnte
oft seine Bewunderung nicht verbergen und brach in
laute Iuhrufe aus, wenn er eins der Tiere erkannte,
die junge Bleß im 5tall oder den Geißbock.
Dann lachte der Aloys still vor sich hin.
Gr schnitzte ja nur für den Zeitvertreib. Und daß
er dabei so schön denken konnte!
Denn das Grübeln und Denken, das war doch das
Allerschönste!
Dann schauten die zwei Blauaugen aus dem hageren
Gesicht wie in innerlicher Berklärung; dann schwieg
auch öcrScpp; er wußte wohl, daß er auf alle seine
fragen überhaupt keine Antwort bekam.
Der Aloys träumte still vor sich hin, hatte allerlei
sonderbare Gedanken. Aber sie mußten wohl schön
sein, denn seine Züge verschönte jedesmal ein glück-
liches Lächeln.
An einem besonders schönen, klaren Wintermorgen
kam doch jemand in die weltferne Einsamkeit ange-
stapft. Der Sepp sah zuerst, daß langsam eine Gestalt
sich durch den tiefen Schnee arbeitete. Er sagte es dem
Aloys. Der eilte aus der Hütte, guckte und rief halb
erstaunt, halb erfreut:
„Zesses, der Vater!"
Dann eilte er ihm entgegen.
Zakob Stöß hatte doch dem Drängen seiner Frau
und dem eigenen, warnenden Drang in seiner Brust nach-
gegeben und sich auf den Weg nach Walbun gemacht,
um den Aloys in einer wichtigen Sache zu sprechen. Er
fühlte sich dem Jos Rüdi gegenüber in der Schuld, das
drückte ihn nicht wenig; es ging seinem geraden Sinn
entgegen. Dem Zustand mußte er ein Ende machen.
Was tat ihm der Weg? Er lachte spöttisch über sich
selbst. War er nicht gesund und stark, daß er es noch
mit dem Jüngsten im Dorfe hätte aufnehmen können?
Darum machte er sich auf.
Der Aloys konnte sich von dem Erstaunen noch
immer nicht erholen. Was führte den Vater zu so
gänzlich ungewohnter Zeit in diese winterliche Ein-
samkeit?
Der Bauer tat auch verlegen; er konnte das rechte
Wort nicht finden. Er tat, als wenn er hätte zum
Rechten sehen wollen, ging mit durch den Stall, besah
die Rinder, befühlte das Fell des breiten Hinterteils,
guckte nach dem Futter und nach den Trögen, beroch
die Butter und den Topfkäse, kurz, tat, als wenn er
eine Inspizierung für sehr notwendig gehalten hätte.
Dann hatte der Aloys einen Schmarren gebacken;
stillschweigend wurde er verzehrt. Der Sepp ging aus
der Hütte und suchte fich Arbeit im Stalle.
Da saßen Vater und Sohn am qualmenden Feuer
beieinander. Der Alte räusperte sich einmal laut, kratzte
sich hinter den Dhren und platzte dann geradeswegs
heraus:
„Ich mein', Aloys, es wär' bald Zeit, daß du an
das heiraten denkst."
Da war der Bursche ganz verwundert; er schüttelte
aber den Aopf und sagte:
„Was Ihr nicht meint, Vater! Aber es hat noch
Zeit mit dem heiraten."
„Es sind nicht gar viele Wädchen auf dem Triesner-
berg, die zu dir passen täten."
»Ich sind' schon eine, wenn ich eine will!" lachte
der Bursche kurz auf.
„Aloys, ich mein', du solltest die Stina Rüdi heiraten!"
Nun war es heraus, und Jakob Stoß atmete auf,
als wenn er eine schwere Arbeit von der Schulter ge-
wälzt hätte. Erwartungsvoll hob er die Augenlider ein
wenig und schielte nach seinem Buben hin.
Der saß nachdenklich da und stierte in die Glut des
Herdes; langsam bewegte er den Aopf hin und her.
„Die Ltina heirate ich nicht, Vater."
„Nicht? Die Ltina nicht?"
Das kam so gedehnt heraus; in der Stimme des
Bauern lag schon ein wenig Grollen, so wie wenn ein
ferner Donner über den Berg in das Tal kommt.
„Und warum die Stina nicht?"
„Die Stina mag ich nicht, Vater. Die gefällt
mir nicht."
„Soooo? Die gefällt dir nicht? Nun, ich sage dir,
Bub', die soll dir gefallen, denn die Stina heiratest du
und keine andere, und der Jos Rüdi und ich haben es
so abgemacht, die Lache ist in der Ordnung, und sie
soll es auch bleiben. Verstanden?"
Da schüttelte der Bursche wieder den Aopf, war
aber noch ganz ruhig und sagte nur leise:
„Ich kann die Lima nicht heiraten."
Da fuhr der Bauer zornig auf; die Adern auf seiner
Stirn schwollen an, und seine Stimme überschlug sich
im lauten Schreien:
„Die Stina nicht heiraten? Ich sage dir, du sollst
sie heiraten, verstanden? Die Stina wird dein lveib,
zu Ostern ist der Verspruch, und dann soll Hoch-
zeit sein!"
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die
glitte dröhnte.
Aber auch der Eohn richtete sich zu seiner ganzen
Größe auf; wie die beiden Wänner da nebeneinander
standen, da sah man die große Ähnlichkeit, die sie mit-
einander hatten, da sah man aber auch, daß der 5ohn
denselben eisernen Willen hatte, wie der Vater.
Den sah Jakob 5töß plötzlich selber.
Er ließ sich ächzend wieder auf den niedrigen L)olz-
schemel fallen, fuhr sich ein paarmal über die heiße
Etirn, auf der trotz der Winterkälte Schweißtropfen
standen, und stöhnte:
„Was ist in dich gefahren, Bub? Deine Wutter
und ich nieinen es gut mir dir, das solltest du wissen.
Wir haben allzeit geschafft und wofür anders als
für unfern einzigen Buben. Wir meinen es auch gut,
wenn wir sagen: ,Der Aloys mag die ötina heiraten,
da kommt eine schöne ^ach' zusammen, des Jos
Rüdi Vieh, seine Äcker und Felder und Weiden, und
unser Vieh und Äcker und Felder und Weidend Und
die Stina ist ein Wädchen, das sich sehen lassen kann;
weit und breit sindest du kein saubereres Weibsbild
als sie eins ist. Und sie mag dich gern, Aloys; da
müßte man blind sein, wenn man das nicht merken
sollte."
U5
Der Aloys saß auch wieder auf seineni Holzscheinel,
stützte den Ropf in beide Hände und hörte die Rede an,
oder hörte sie auch nicht. Vor seinem geistigen Auge
schwebte immerfort ein schmales, bleiches Antlitz mit
traurigen, großen Augen, die Stirn umrahmt von
glänzend schwarzen Haarmassen; eine Jungfrau wohl
und doch halb noch ein Kind, zart und zierlich die
Gestalt und der Blick der großen Ainderaugen so voll
Unschuld.
Dies Bild hatte ihm feit Wochen schon vorgeschwebt,
im Wachen und im Traume, seit dem stürmischen Herbst-
tage, da Gretli nach der Bargellaalp gekommen war,
da er zürn erstenmal in ihm die holderblühte Jungfrau
gesehen hatte.
Dies Bild glich in keiner Weise der Stina Rüdi,
die fein Weib werden sollte.
Vb er es nicht bemerkt hätte, daß die Stina ihm
gut sei?
Er warf verächtlich die Lippen aus. Nur zu gut
hatte er es bemerkt; die heißen Blicke, die sie ihm zuge-
worfen hatte, waren ihm in der Seele zuwider gewesen.
„Sie hat dich gern, die Stina!"
Der Bauer sagte es in beschwörendem Tone. Weit
im Bogen spie der Alo^s aus und antwortete in vollster
Verachtung:
„Bch dank' für ein Mädchen, das sich einem grad
an den Hals wirft."
Nlajdorf, Die 6ere.
8
u*
„Bub', Bub', das tut die Stina nicht; die hat auch
ihren Stolz. Aber gern hat sie dich, und der Jos will
dich auch gern als Sohn haben."
Immer häufiger mußte sich Jakob Stöß über die
heiße Stirn fahren; die Rede erhitzte ihn, und der
Widerspruch seines Einzigen noch viel mehr. Das hätte
er nicht gedacht, daß der so sein könne und eine so schöne
Sache von der Hand weisen. Solch eine Dummheit
hatte er nie und nimmer von ihm erwartet. Mrdentlich
siegesgewiß, selbstbewußt war er aus seinem Hause
geschritten. Wenn ihm einer gesagt hätte, daß die
Sache fehlschlagen würde, ordentlich laut ausgelacht
hätte er den.
Aber der Bub hatte einen harten Aopf, denselben,
den er hatte; das sah er nur zu deutlich.
Das würde noch einen harten Strauß geben. Denn
heiraten mußte der die Stina, das stand fest. Er wollte
doch nicht in den Augen von Jos Rüdi als ein Lügner
dastehen, der sein Wort nicht hält. Der Jos hatte sein
Wort; und die schöne Sach', nein, die konnte und wollte
er noch nicht aufgeben.
Herrgott, wie heiß wurde es ihm!
Und der Bub saß da wie ein Stock, als wenn ihn
die ganze Rede nichts angehe. Aus der Haut hätte der
Bauer fahren mögen.
Was dem Bub wohl einfiel? Eine so schöne Sach'
auszuschlagen? Zum Lachen wäre es, wenn's nicht gar
so bitter ernst wäre. Noch einmal wollte er sein Heil
versuchen.
„Aloys, sei gescheit, die Stina ist ein Mädchen, wie
für dich extra von unserm Herrgott geschaffen" —
„Ich mag sie nicht, Vater. Und den Herrgott laßt
lieber aus dem Spiel!"
Da fuchtelte der Bauer mit seinen Armen wild durch
die Luft und tat manchen gottlofen Fluch. Der Sepp
steckte den Aopf zur Tür herein, zog ihn aber schnell
wieder zurück; da drinnen war es nicht geheuer, da war
es besser beim Vieh, das bockte auch mal, stieß mit
den Dörnern und schlug mit den Hinterbeinen aus;
aber das war doch nicht so grausam anzusehen, wie
ein wütender Mensch. Er war ganz verwundert, der
Sepp, mit dem wüsten Struwelkopf, durch dessen stroh-
gelbe Haarsträhne seit Wochen kein glättender Ramm
gefahren war. Das hielt er nicht für nötig; ordentlich
hart kam es ihm an, daß er sich auf Geheiß des Aloys
am Aufen wenigstens waschen mußte, was konnte
der Alo'fs, der immer so still war, wohl angerichtet
haben, daß der Jakob Stoß darüber so in Zorn kom-
men konnte?
Der Bauer hatte ausgetobt und ließ sich wieder
ächzend und stöhnend auf den Schemel fallen. Aein
Wort hatte der Bursche dazu geredet; beide Hände
stützten den Aopf, sinnend ruhte der Blick auf der Glut
im offenen Herd. Es tat ihm leid, daß der Vater so
U6
böse war; es tat ihm auch leid, daß er seinen Wunsch
nicht erfüllen konnte, dachte er sich doch wohl, daß er
eine große Hoffnung zerstörte. Aber es ging nicht, wahr-
haftig nicht; er konnte die Stina nicht heiraten; sein
Herz hatte andere wünsche, ganz, ganz andere. Die
Stina mit ihrer kraftvollen Gestalt und ihrer gesunden,
üppigen Schönheit lockte ihn nicht, auch nicht des Jos
Hab und Gut. Gr möchte ein anderes Mädchen erringen,
ein kleines, bescheidenes Mädchen von einer rührend
kindlichen Gestalt, das zwar keine Reichtümer hatte-----
„Aloys, kann es denn wirklich nicht sein?"
Ordentlich weich war jetzt des Bauern Stimme, als
er noch einmal, ein allerletztes Mal, die Frage stellte.
Da ward auch der Sohn weich.
„Ls geht nicht, Vater, so gern ich Luch auch die
Freude antun möchte. Glaubt es mir, Vater, die Stina
und ich paffen nicht zusammen."
„Hast ein anderes Bauernmädchen im Auge, Aloys?"
„Fragt mich nicht, Vater, noch weiß ich selbst nicht,
was ich will. Aann sein, daß ich zeitlebens ein einsamer
Geselle bleibe, ^jhr seht ja, Vater, ich liebe die Lin-
samkeit; ich bin glücklich und zufrieden auf der Alpe."
Da sagte auch der Bauer kein Wort weiter. Aber
sinster war seine Miene, als er bochaufgerichtet aus
der Sennhütte trat und über den Schnee nach Hause
stapfte. Den Sepp würdigte er überhaupt keines Blickes,
obschon der doch extra aus dem Stall gelaufen kam.
Bis ans Gatter gab ihm Aloys das Geleite.
Da sagte Jakob Stöß herb:
„Ich find meinen Weg schon allein, Bub."
Der schlug ihm aber bittend die Hand hin.
„Behüt Euch Gott, Vater!"
„Behüt dich Gott, Bub!"
Dann stapfte er von dannen. Nicht ein einziges
Nkal schaute er sich nach seinem Buben um, der noch
immer am Gatter lehnte und ihm sinnenden Blickes
nachsah. Vorwärts stapfte er durch den Schnee, hoch-
aufgerichtet, steif der Nacken, stolz in die Höhe der Aopf;
keiner sollte ihm anmerken, welch eine grausame Ent-
täuschung er soeben erlitten hatte.
Aber herb war es doch. Er kniff die Lippen auf-
einander. Er dachte an Jos Rüdi. N)as würde der von
ihm denken? blatte er nicht sein Wort gebrochen? hatten
sie nicht mit Handschlag ihre Abmachung bekräftigt?
Er faßte den Entschluß, dem Jos vorläufig über-
haupt nichts von seiner Niederlage zu erzählen. Mochte
der Jos seinetwegen glauben, die Sache sei in der Ord-
nung, ihm konnte es so recht sein. Bis das Frühjahr
kam, war eine lange Zeit, die konnte noch viel bringen;
die konnte auch dem Aloys seinen Sinn vollständig
ändern, daß er klug wurde und mit beiden fänden zu-
greifen würde, wo ihm eine solch feine Sach' winkte.
Da war das Schweigen das Beste.
Auch der Anna, seinem Weibe, gegenüber.
So schritt er durch die winterliche Stille; das Herz
hatte doch wieder einen leisen Hoffnungsschimmer.
Der Mensch begräbt das, was er mit ganzer Seele
hofft, nicht allzu früh; er hofft und hofft, rein bis zum
letzten Atemzuge. Ls ist, als wenn einer, der nicht
schwimmen kann, in einem liefen Wasser nach einem
Strohhalm zur Rettung greift.
Noch lange stand der Aloys, obwohl von dem Vater
nichts mehr zu sehen war. Ls war ein Aufruhr in
seiner Seele; das, was der Vater mit ihm besprochen,
hatte ihn mehr ergriffen, als wie zu denken war. Denn
es waren ihm dadurch ganz plötzlich seine eigenen
Wünsche, sein eigenes hoffen, das bisher wie etwas Un-
sichtbares, Unsicheres seine Gedanken umschwebt hatte,
ganz klar geworden. Unverhüllt standen die Gedanken
jetzt vor ihm; das heiße Sehnen der letzten Wochen
hatte jetzt greifbare Gestalt; was er sich weder im
Wachen noch im Traume bisher eingestanden hatte, das
mußte er jetzt.
Lr liebte das Gretli.
Ls wurde ihm abwechselnd kalt und warm; heiße
Glutwellen ergossen sich über das Gesicht bis hinauf
in die blonden Haare.
War es möglich? Lr liebte das Gretli? Das Rind,
das er hatte aufwachsen sehen; das bescheidene, lieb-
liche Aind, das arm und bloß an der Hand einer blaffen,
eheverlassenen Mutter in das Llternhaus gekommen
U9
und sich bald in aller Kerzen eingenistet hatte durch
sein artiges, liebes Wesen? Das Rind, das er groß-
mütig beschützt hatte und als sein Schwesterchen liebte?
Das Aind, mit dem er in heißem Herzeleid, in wehem
Schmerze das ganze furchtbare Leid durchkostet und ge-
tragen hatte, damals, als man seine Mutter beschul-
digte, eine Hexe zu sein, als man sie in das Gefängnis
schleppte, um sie dort nur wieder herauszuholen, um sie
dem Scheiterhaufen zuzuführen?
Hatte sich da vielleicht schon die Liebe in sein Herz
geschlichen, ohne daß er es wußte, als es überquellen
wollte vor heißem Mitleid?
Nein, nein; oder doch vielleicht? Aber die Augen
waren ihm erst aufgegangen damals, als das Gretli
zur Bargellaalp kam.
Und doch war er ahnungslos gewesen; wie in einem
schönen, schönen Traum war er gewandelt in all den
Wochen, die seit dem Tage vergangen waren.
Heute war das Erwachen gekommen.
Machte es ihn glücklich?
wenn das Glück war, was jetzt heiß seine Seele
durchbrauste, daß es fast die Brust sprengte; ja dann
war er glücklich!
Denn es war die reine, heilige Liebe, die ihn zu
dem Gretli hinzog; jene hohe, heilige Gottesflamme,
die das Herz ergreift.
Ja, er liebte das Mädchen.
\20
Herrgott, wie glücklich machte ihn der Gedanke!
Mit beiden Händen griff er sich an die Stirn. Wie es
in den Schläfen hämmerte! Wie eng, wie zugeschnürt
war es ihm im Halse, laute Iuchzerrufe mußte er aus-
sioßen, sich Luft schaffen.
Und wie immer, wenn seine Seele etwas Beson-
deres bewegte, so stieg er auch heute auf die Bergkuppe
droben, ungeachtet des tiefen Schnees, durch den er
mühsam auswärts waten mußte.
Die Anstrengung tat ihm wohl; die eiskalte Winter-
luft kühlte seine heiße Stirn, die Aufregung ließ nach,
die Spannung löste sich.
Schwerbeladene Tannenzweige bogen sich fast zur
Erde, sie streiften sein heißes Gesicht; lustig flatterten
Schneewölkchen von ihnen herab und legten sich ihm
auf Haar und Schulter. Gin ganzes Rudel Gemsen
stand in den dichten Fichtengruppen, äugte neugierig
ängstlich auf den Burschen, der zu dieser ungewohnten
Zeit in die stille Einsamkeit der Berge drang, und
jagte leichtfüßig über den Schnee durch das Gestrüpp,
daß die Zweige knackten.
' Aaum sah es der Bursche, der in Gedanken ver-
loren aufwärts stapfte; kaum achtete er auch der körper-
lichen Anstrengung; sein Aörper dampfte.
Nun stand er auf dem Grat.
Da wurde seine Seele weit, weit.
Was das Auge schaute!
Das war eine Pracht!
Die ganze Bergwelt im Winterkleid I Ringsum
tauchte Auppe um Auppe auf in majestätischer Größe;
weite Schneeselder, vom bleichen Sonnenlicht des Winter-
tages beleuchtet; und stille, einsame Täler, aus denen
das wilde Rauschen der Bäche an das Ohr des ein-
samen Menschen auf der Höhe drang.
Wie in Andacht versunken stand er da, die Arme
über der Brust verschlungen, das Haupt gesenkt, das
Antlitz wie verklärt, bis ihn die Giskälte endlich er-
schauern machte.
Da stieg er langsam abwärts.
Siebentes Kapitel.
5epp, der ^ütebub, hatte einen Bescheid geschickt,
der das Haus des Jakob Stoß in Unruhe versetzte.
Der Aloys sei krank und das nicht wenig. Aber
das käme davon, wenn man des Nachts, wenn andere
Leute schliefen, in den Bergen hermnlaufe. Der Aloys
habe in der hl. A)eihnacht nicht auf feinern Lager ge-
legen, sei in der Winterkälte hinaus auf die Matte
gegangen und habe immerfort in den Sternenhimmel
geguckt, als ob da in der Weihnacht mehr zu sehen
gewesen sei als in anderen Nächten! Und nicht einmal
etwas Warmes habe er auf dem Kopfe gehabt!
Nun, und am andern Morgen sei die Krankheit
fertig gewesen. Ganz mächtig habe er husten müssen.
Und das täte er nun noch immer, obgleich schon drei
Tage seit der Weihnacht vergangen seien; in der Brust
raschle es ihm, als wenn man im gerbst über trockne
Blätter laufe, und ja, das Lieber sehe ihm nur so aus
den Augen.
So ließ der Hütebub durch einen Anwohner des
Saminatales nach dem Triesnerberg melden; damit
hatte er seine Pflicht getan, so meinte er von sich, und
das sei doch immer die Hauptsache. Dem Aloys hatte
er aber nichts davon gesagt; er wußte wohl, daß der
schön böse sein würde, wenn er es erfahre.
Der Bauer und die Bäuerin waren nicht wenig
erschrocken über die Nachricht, die ihnen der Bote,
genau so wie ihm der Hütebub sie aufgetragen hatte,
ausrichtete.
„Jesus, Maria und Josef, was fängt denn der Bub
an? Der ist fein Lebtag noch nicht krank gewesen,"
entsetzte sich Anna Stöß und schlug die Hände über dem
Aopf zusammen.
„Nie ist er krank gewesen, der Bub," sagte auch
der Bauer und kratzte sich hinter den Ghren.
„Immer war er gesund, der Aloys, von ganz klein
auf; kein einziges Mal hab' ich ihm Aräutertrank
kochen müssen; in Wind und Schnee ist er auf die Alp
gelaufen; und wenn der H>eter Schaller krank war und
ein dickes Tuch um den Hals hatte, oder ein anderer
Bursch' aus der Gemeinde, dann lachte er bloß und
lief dann extra ohne Halstuch und ohne Schuh' und
Strümpfe. Aein einziges Mal ist er krank gewesen,
der Bub."
„Aeinmal," bestätigte auch der Bauer; ordentlich
dumpf kam das eine Wort aus der Brust.
„Jetzt muß er am End' sterben, der Bub."
Anna Stöß fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die
Augen und gluckste und gluckste vor verhaltenem Weinen.
Die Tür zu der nebenanliegenden INilchkammer
war nur angelehnt. Gretli rahmte von großen, flachen
Schüsseln die Wilch ab, ein Amt, das ihr die Bäuerin
erst vor ganz kurzer Zeit übertragen hatte und womit
diese ihr einen großen Beweis ihres Vertrauens schenkte.
Denn das Abrahmen ist in jedem Bauernhause eine gar
wichtige Sache, welche die Bäuerin fast immer selbst zu
besorgen pflegt und selten nur dem Gesinde überläßt.
Gretli hatte jedes Wort, das der Bote hinterbrachte,
verstanden; sie ward schreckensbleich. Der Aloys krank?
Vielleicht gar sterbend?
Das Herz drohte ihr still zu stehen bei dem Ge-
danken; der Löffel in ihrer Hand zitterte, und gelbweiße
Tropfen des kostbaren Rahmes fielen auf die Stein-
fliesen. Wenn das die Bäuerin gesehen hätte, ganz aus
wäre es gewesen mit dem Vertrauen.
Der Aloys krank?
„Gretli, Gretli!" rief die Bäuerin aus der Stube.
„Ich komm' schon, Bäuerin."
„Hast es gehört, Gretli, der Aloys ist krank!"
Anna Stöß schluchzte, und der Schürzenzipfel be-
arbeitete noch heftiger die Augen. Der Bauer hatte die
Ellbogen auf den Tisch gestemmt und stützte mit beiden
Fäusten den Aopf. Es war ihm ganz dumpf im Gehirn
oben. Gr machte sich allerlei Gedanken. Vielleicht war
der Bub gerade deshalb krank geworden, weil er ihm
so hart zugesetzt hatte? Er dachte an jedes Wort der
(25
Unterhaltung, die er mit ihm auf Nkalbun gehabt hatte;
gedachte seines greulichen Fluchens und Schimpfens,
und daß er ihm keinen freundlichen Abschied gegönnt
hatte. Nun kam der Herrgott eigens dazwischen, um
ihn zu strafen.
Ja, zu strafen für seinen Hochmut. Denn Hochmut
war es, daß er die Acker und Felder und U)eiden und
das Vieh des Jos Rüdi noch bei seinem großen Be-
sitztum haben wollte. Hochmut war es, sein, des Jakob
Ltöß eigener Hochmut.
Und nun fam der Herrgott dazwischen.
Der Bub krank. IVenn er sterben müßte, der Aloys,
fein Einziger, seine Freud' und seine stütze! Nicht aus-
zudenken wär' es, rein nicht auszudenken!
schwerfällig erhob er sich und schaute verstört aus ■
die beiden Frauen.
„Nach Nlalbun will ich hin."
„Es wird recht so sein, Bauer," nickte die Frau, und
es kam wieder Leben und Bewegung in ihre Gestalt.
Gretli stand da mit gesenktem Aopfe. Nun hob sie
ihn und guckte mit wehem Blick erst den Bauer und
dann die Bäuerin an.
„Bauer, laßt mich nach INalbun geh'n. Ich will
den Aloys schon mit Gottes Hilfe gesund pflegen."
Ihre stimme zitterte leicht, als sie dies sagte, und
in ihre lvangen stieg ein verschämtes Rot, das ihr
Gesichtchen wunderbar verschönte.
Die Bäuerin tat ganz verwundert.
„Du willst den Aloys pflegen, Gretli?"
„Gr ist doch gut zu mir allzeit gewesen wie ein
Bruder, der Aloys," sagte das Mädchen leise, bittend.
„Hast schon recht, Gretli. In Malbun ist's aber
nicht gut sür ein Weibsbild in Winterszeit; die Hütte
ist kalt, kein Bett ist da," wehrte Anna 5töß und
schüttelte den Aopf.
Auch der Bauer saß wieder nachdenklich auf seinem
Platze. Gr guckte bald auf das Mädchen, bald auf sein
Weib und konnte so recht zu keinem Entschlüsse kom-
men. Gs war vielleicht gut so, wenn das Mädchen nach
Malbun ginge; wenn einer krank ist und Pflege nötig
hat, kann er die von einer Weibsperson vielleicht besser
bekommen als von einem Manne. Aber das Gretli,
das schmächtige Ding, zur Winterszeit auf Malbun?
Gr schüttelte den Aopf; das ging doch nicht.
„Bauer, ich bitt' Guch, laßt mich nach Malbun
gehen. Ich werd' den Aloys schon gesund pflegen. Aus
der Aälte mach' ich mir nichts, und eine Lagerstatt
sind' ich schon auch in der Hütte; der 5epp holt mir
Heu. Der Aloys braucht Pflege, einen warmen Aräuter-
trank und eine heiße Nahrung. Bauer, ich kann für
ihn sorgen; ich bin gesund und stark, und ich bin ja
jung. Ihr seid schon alt, Bauer, der Aufenthalt in der
Hütte ist für Guch nichts. Bauer, ich bitt' Guch, laßt
mich geh'n. Der Aloys ist ja so gut als mein Bruder.
\27
Da mischte sich auch die Bäuerin ein.
„Ich glaub' schon, daß das Gretli recht hat, Bauer."
Der nickte. Aber dann kam ihm wieder eine dumpfe
Angst.
„Wenn der Aloys sterben müßt' und ich wär'
nicht da." —
„Es steht alles in Gottes Hand, Bauer. Aber ich
mein' schon, wenn eins den Husten hat und vielleicht
noch ein bißchen Lieber dabei, braucht es drum noch
nicht gleich zu sterben," sagte Gretli wieder, aber auch
ihre stimme zitterte.
Doch dieser Trost tat den alten Leuten gut. Nach
langem Hin- und Herreden war es denn eine beschlossene
^ache, daß Gretli nach Nlalbun aufbrechen sollte, um
den Aloys zu pflegen.
Untcr stöhnen und seufzen packte die Bäuerin aller-
lei notwendige Aachen zusammen, wollene Decken und
warme Hemden und allerlei Aräuter und Heilmittel.
Das wurde alles auf einen kleinen Handfchlitten ge-
bunden; denn auf dem beschwerlichen Weg durch hohen,
festgefrorenen Schnee sollte Gretli nicht das Ref auf
dem Rücken tragen.
Die Bäuerin hatte in ihrem guten, mütterlichen
Herzen sehr viel Mitleid mit dem Mädchen, das sich
nicht scheute, in die winterliche Aälte und Einsamkeit
nach Malbun zu gehen, uni dort in der wenig behag-
lichen Sennhütte zu hausen und einen Aranken zu pflegen.
\28
Immer wieder schüttelte sie voller Besorgnis den Aopf.
Und doch tat es ihrem gequälten Mutterherzen gut,
daß das Mädchen sich so opferwillig zeigte und so gern
für den Aloys sorgen wollte.
Mehr wie einmal sagte sie zu ihrem Manne:
„'s ist doch ein gutes Aind, das Gretli, so ein
braves Aind!"
Dazu nickte Jakob Stöß recht kräftig mit dem Aopfe.
*
Der Sepp war seit der frühen Morgenstunde, da
er aus dem Saminatal den Boten nach dem Triesner-
berg geschickt hatte, in geheimer Unruhe. U)ohl an
hundertmal war er schon hinaus vor die Sennhütte
gegangen, ja, gar hinten bis an das Gatter gelaufen,
um auszuspähen, ob nicht eine Gestalt zu sehen wäre,
die auf die Hütte losstapfe. Und doch konnte er wohl
ganz gut ausrechnen, daß vor dem Nachmittag nicht
leicht jemand hier sein könne.
Gr hatte eine geheime Angst vor dem Aommen
dieser Gestalt, denn daß dev Bauer Jakob Stöß auf die
Nachricht hin kommen würde, das stand bei ihm fest;
aber er hatte Angst vor dem Aloys.
Gr hatte ihm nichts davon gesagt, daß er die Bot-
schaft von seiner Erkrankung nach dem Glternhause
geschickt hatte.
Der Aloys würde schön wettern darüber.
129
Heiß und kalt lief es dem Sepp über den Rücken,
wenn er nur daran dachte. Aber dann warf er trotzig
die Lippen auf; möcht' er nur wettern, derAloys; er
hatte grad doch recht daran getan. Und er tät's grad
noch einmal, denn eine Sünd' wär' es gewesen, wenn
er's nicht getan hätte.
5o schlimm krank wie der Alo-ss war!
Angst und bang konnt's einem werden, wenn man
den Husten hörte oder ihm gar in das heiße Fieber-
gesicht sah. Und die Fieberreden nun schon zwei Nächte
und zwei Tag'; so ein wirres Zeug, was der zusammen-
schwatzte in der Fieberhitz!
Und er, der Sepp, immer allein bei ihm! Ts konnt'
schon keiner von ihn: sagen, daß er furchtsam sei. Aber
bei all dem Reden des Aloys hatte er schon Furcht,
und das gar mächtig. Ganz bang war es ihm in der
Hütte. Da lief er schon lieber in den Stall; das Brüllen
des unvernünftigen Biehs dort tat seinem Aops ordent-
lich wohl.
Mochte der Aloys nur wettern!
Und das tat er heute wieder inehr; das Fieber war
wohl nicht mehr ganz so schlimm.
Der Sepp warf wieder den struppigen Aops in den
Nacken ; er war mit sich zufrieden, und der Aloys, nun,
den Uopf würd' ihm der schon nicht abreißen. Der
Zakob Stoß aber würde schon wissen, warum er die
Nachricht geschickt hatte. Und der kam sicher heute.
Maidorf, Die Hexe.
9
Große Holzscheite legte der 5epp auf das Herdfeuer;
schön warm sollte es in der Hütte sein. Dumm, daß
der Aloys von dem Aualm, der aus dem niedrigen
Aamin nicht gut abziehen konnte, immer wieder so bös
den Husten bekam; da ärgerte er sich über sich selbst.
Die Sennhütte, aus festem, trockenem Holz gebaut,
mit einem weit überstehenden Dache, bestand aus drei
Gelassen: dem eigentlichen Hauptraum, wo der Mfen
stand und die Geräte und Geschirre, die zur Aäse- und
Butterbereitung notwendig waren,—einer kleinern Neben-
kammer zum Aufbewahren von Butter und Aäse,— und
einer Aammer, die außer Tisch und Bank auch das
Bett, in das sich der Aloys mit dem 5epp teilte, barg.
Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm; kleine
Fenster gaben Licht.
Die niedrige Tür nach der 5chlafkammer stand weit
offen, damit die Wärme des Herdfeuers darein ziehe.
Besorgt eilte der Tepp immer von einem Raum in den
andern, guckte jeden Augenblick nach dem Aranken, be-
sonders wenn der die Hustenanfälle bekam. Dann lief
er auch wieder vor Angst hinaus in den Schnee und
sah, die Augen mit der Hand beschattend, sehnsüchtig
in die Richtung, die nach dem Taminatal und weiter
nach dem Triesnerberg führte. Wenn doch einer käme!
Merkwürdig still war der Aranke heute nachmittag;
sprechen tat er gar nicht, stierte nur immer nach den
Holzbalken über seinem Aopfe, die vom Rauch ganz
*3*
schwarz waren. IDcnn der Sepp ihn fragte, ob er nun
endlich etwas essen wolle, schüttelte er nur müde den Aopf.
Herrgott, wenn doch einer käme!
Der Sepp fuhr sich mit allen zehn Singern durch
die strohgelben Haare; die Unruhe wuchs und wuchs
in ihm. In seiner Herzensangst wollte er beten, aber
sein Aopf war ganz verwirrt, er brachte kein ordent-
liches Vaterunser zustande. Schließlich ließ er es sein;
nur seine Lippen murmelten immer:
„St. Ioder, bitt' für uns!
St. s?eter, bitt' für uns!
Heilige Ulutter Gottes, bitt' für uns!"
Und plötzlich schrie er laut auf, war es vor Über-
raschung, war es vor Freude? Und stürzte auf eine
kleine Ulädchengestalt los, die dort so ganz, ganz un-
erwartet in der niedrigen Hütte stand.
„Grüß Gott, Sepp!"
„Grüß Gott, Gretli! Gott sei gelobt und gedankt,
daß du gekommen bist!"
Gr schüttelte ihr die Hände, und wahrhaftig, jetzt
liefen dem treuen Burschen Tränen über die Wangen.
Dann war das Gretli an das Lager des Aloys ge-
treten, das Gesichtchen so voll heißer Angst.
„Grüß Gott, Aloys!"
Der schaute aus fieberglühenden Augen verständnis-
los auf die kleine Wädchengestalt, so, als wenn er ein
Wunder sehe. War es denn möglich, das Gretli war
da, hier in walbun, in der Sennhütte, in der Winter-
einsamkeit? wachte er, träumte er? Dder spiegelte ihm
das Lieber allerlei vor, narrte es ihn?
„Bist sehr krank, Aloys?"
Aber das war ja ihre Stimme, ihre weiche, liebe
Stimme; er hörte sie ganz deutlich, und, ja, er fühlte
ihre L)ände.
Da ging ein Leuchten über sein Gesicht.
„Ist gut, daß du kommen bist, Gretli."
Wehr sagte er nicht; aber das wädchen verlangte
auch nicht mehr. Sie war so glücklich, sah sie doch,
welch ein zufriedenes Lächeln um feinen wund lag.
Nun tat sie still ihre Pflicht, legte ihm die warmen
Decken auf, kochte heiße Aräutertränke, gab ihm zu
trinken davon und legte immerfort heiße Tücher auf
die kranke Brust, in der es so raschelte, als wenn man
über dürre Blätter geht, wie der Sepp in der Botschaft
berichtet hatte.
Der war auch zufrieden, mehr noch, als wenn der
Bauer Jakob Stöß gekommen wäre; das sah er wohl
ein. Und wundern tat er sich nicht wenig, daß der Aloys
gar nicht gewettert hatte. Tr rieb sich vergnügt die
Hände; er hatte also seine Sache richtig gemacht: Er
hatte die Botschaft nach dem Triesnerberg geschickt,
das Gretli war gekommen, der Aloys hatte nicht ge-
wettert, bekam jetzt seine ordentliche Pflege, und so war
alles gut.
*3*
Als er zum Füttern in den 5>tall mußte, lief er
einmal ganz weit in den Schnee hinaus, stellte sich in
Positur und schrie aus voller Brust seine Zuhuruse.
Das waren seine Freudenjuchzer, die mußten hinaus.
Nachher ging es schnell in den Ttall, das liebe Vieh
hatte so in den letzten Tagen nicht ordentlich sein Gehör
bekommen; nun aber wollte er alles nachholen; das
Gretli war ja bei dem Aranken. Für die Nacht half er
ihr dann eine einfache Lagerstatt aus Heu und Decken
am Ofen Herstellen; das Gretli sollte es doch behag-
lich haben, dafür war er da, daß er dafür sorgte. Tr
selbst wickelte sich in eine Decke und legte sich wieder
aus die harte Bank, wie er es schon seit ein paar
Nächten gemacht hatte; der Aranke sollte das Bett für
sich allein haben.
Zwei Tage war Gretli erst in der Sennhütte, da
ging es dem Aloys schon wieder besser; das Fieber
wich, und der quälende husten löste sich. Der Tepp tat
darob große Freudensprünge und schrie seine Zuhuruse
so laut über die Matte, daß die Arähen vor Angst ihr
heiseres Geschrei einstellten und mit ängstlichem Flügel-
schlag aus- und in die Föhren flatterten.
Wie hatte Gretli aber auch den Aranken gepflegt!
Aeine Minute hatte sie sich Ruhe gegönnt; die Lager-
statt am Ofen wäre rein für nichts gemacht, brummte
der 5epp, der es wohl bemerkte, wie das Mädchen
kaum ein halbes Stündchen der Ruhe pflegte. Dann trieb
*35
es sie schon wieder auf, um nach dem Aranken zu sehen,
die heißen Tücher aus der kranken Brust zu erneuern
und ihm zu trinken zu geben.
Der Aloys ließ sich das alles stillschweigend ge-
fallen; er hätte immerfort krank sein mögen, um sich
immer von dem Mädchen pflegen lassen zu können.
Manchmal glaubte er, daß er träume. Tr schloß auch
so gern die Augen, dann fühlte er mit stiller Seligkeit
nur ihre Nähe, fühlte die warmen, kleinen l)ände, die
ihm den Schweiß von der Stirne wischten oder seinen
Aopf vorsichtig in die Höhe hoben und eine Tasse an
den Mund setzten. Und trotz der geschlossenen Augen sah
er die kleine Gestalt immer vor sich, das schmale Ge-
sichtchen mit den großen, dunklen Augensternen, das feine
Aöpfchen mit der Fülle von glänzendschwarzem Haar.
U)ie ruhig und still war jede ihrer Bewegungen;
lautlos fast glitt sie über den Lehmboden; kein über-
flüssiges Geräusch wurde gemacht. Still hantierte sie
am Herd, kochte, wusch das Geschirr ab und verrichtete
alle Arbeit in gleichmäßiger Ruhe. Auch kein über-
flüssiges U)ort kam über ihre Lippen; aber auf ihrem
Gesichte lag eine stille Zufriedenheit. Sie war ja so froh,
daß sie bei dem Bruder sein konnte und ihn pflegen
durfte. Aein anderer Gedanke beschlich ihr reines Ge-
müt ; sie wußte: der Aloys heiratet die Stnta, du bist
halb wie seine Schwester, bist ihm und seinen Eltern
zu viele7N Dank verpflichtet, du mußt nu7i sorgen, daß
er bald wieder gesund wird. Nur manchmal karn eine
geheime Unruhe über sie, wenn nämlich der Aloys ihre
Hände ergriff und sie ganz fest hielt, und wenn er sie
dann ansehen wollte und immerfort ihre Augen suchte,
obwohl sie den Blick beharrlich abwandte. Der Aloys
sollte die Stina heiraten, das war doch eine beschlossene
Sache; dann schüttelte sie die Unruhe ab, es war doch
alles gut so, und sie war dem Aloys seine kleine
Schwester, und einer Schwester würd' er auch schon mal
die brande festhalten dürfen.
Daß der Aloys aber gar nicht an die Stina dachte,
jetzt noch viel weniger als jemals, das kam ihr gar
nicht in den Sinn. Ihr galt nur das eine: der Bauer
ist bei dem Aloys gewesen und hat ihm von der Sache
gesprochen, und im Frühjahr ist der Berspruch.
Am dritten Tage stand der Aloys auf und saß,
wenn auch fröstelnd, am Ofen. Gr war so schweigsam,
aber seine Augen folgten Gretli überall hin. Da wurde
die Unruhe immer größer in ihr; sie machte sich jetzt
viel im Stalle zu schaffen und watete selbst durch tiefen
Schnee mit dem Sepp hinauf auf die Höhe zum Heu-
schober, um Mutter zu holen, obschon der Sepp das
durchaus nicht dulden wollte und auf dem ganzen Weg
bergan brummte. Aber daran störte Gretli sich nicht,
lieber wollte sie Sepps Brummen anhören und sein
unwirsches Gesicht ansehen, als innnerfort allein bei
dem Aloys in der Sennhütte sein, daß er ihr ganzes
Tun mit seinen Augen verfolge und sie so forschend
ansah, als ob er rein bis in ihre Seele schauen und
dort allerlei ergründen wollte.
Und morgen wollte sie hebn, nach dein Triesner-
berg zurück. Das Schlimmste war überstanden, der Aloys
wieder aus dem Bett; wenn der sich noch ein paar Tage
in der Hütte am warmen Feuer hielt, würde auch der letzte
Rest vom husten verschwinden; Fieber war ja keins mehr
da, und junger hatte er auch schon wieder. So sollte es
schon ohne sie gehen, und der Sepp war ja auch nicht so
dumm, der sollte schon weiter für den Aloys sorgen.
Beim flackernden Talglicht saßen die drei Bewohner
der Sennhütte bei der Abendmahlzeit; heiße UUlchsuppe
gab's, mit Brot drein gebrockt. Sie löffelten schweigsam
drauflos, der Sepp mit dem gesunden Appetit der
Jugend; er arbeitete ja auch tüchtig, da sollte ihm das
Essen wohl schmecken; der Aloys aß auch mit neuer-
wachtem Appetit; nur Gretli schmeckte es nicht, zögernd
nur langte sie zu; wenn die zwei andern zum dritten-
mal den Löffel in den großen Napf steckten, war's bei
ihr grad das erstemal.
Nun war der Napf leer, den letzten Rest holte sich
noch der Sepp; sie legten die Löffel beiseite und fuhren
sich mit dem Landrücken über den ^Nund. Dann sprach
der Aloys das Dankgebet mit dem Abendsegen.
„Ich geh' morgen früh heim," sagte Gretli dann
leise und guckte auf die Tischplatte dabei, als wenn da
\ö8
was Besonderes 311 sehen gewesen sei. Sie gewahrte
daher auch Nicht die Bestürzung, die sich auf beiden
Gesichtern der neben ihr Ätzenden zeigte.
Der Aloys war ganz still; aber der Sepp gab einen
kläglichen Ton von sich.
„Willst wirklich fort, Gretli?"
Da lachte sie laut auf; aber man merkte wohl, daß
ihr das Lachen nicht so recht von Kerzen kam.
„Meinst wohl, Sepp, daß ich immer hier bleibe?
Der Aloys ist nun gottlob soweit wieder auf der Bes-
serung, und daheim wartet die Bäuerin auf mich und
all die Arbeit in bsaus und Stall. Mder meinst viel-
leicht, daß die Bäuerin in ihren alten Tagen die viele
Arbeit all allein tun soll? Wofür bin ich denn da?
Daß ich hier ani Mfen sitze und das Feuer anstiere?
Denn eure Arbeit schafft ihr zwei schon leicht allein,
wenn der Aloys wieder gesund ist."
Sie erhob sich und ging daran, das Geschirr auf-
zuwaschen.
Aein einziges Wort sagte der Aloys.
Der Sepp mußte noch einmal mit der Laterne in
den Stall gehen, um zum Rechten zu sehen. Da erhob
sich auch der Aloys.
„Ich geh' mit."
„Wart' noch bis morgen," bat das Mädchen leise.
„Die Luft ist scharf heute abend, die tut deiner Brust
nicht gut."
\39
Lr schüttelte den Aopf und ging hinter dem Sepp
drein. Gretli verrichtete still ihre Arbeit und ging an
die Tür, um hinauszuspähen. Die beiden Burschen
waren noch nicht aus dem Stall zurück.
Ls war ein merkwürdiges Brausen in der Luft;
tiefschwarz war der Fimmel. Gretli verwunderte sich
darüber, denn kaum vor einer Sunde hatte sie sich
beim Hinausblicken noch so sehr über den prachtvollen
Sternenhimmel gefreut; es erging ihr genau wie dem
Aloys, auch sie sah so gern in einen nächtlichen Sternen-
himmel.
Nun lag er in tiesschwarzer Dunkelheit, kein einziger
Stern erleuchtete, die Finsternis, der N7ond hatte sich
hinter düsteren Wolken versteckt.
And ein Brausen erfüllte die Luft, ein Toben und
pfeifen, hui, hui, hui, ging es in pfeifenden Tönen,
wild, langgezogen. Die Tür wurde Gretli zugeschla-
gen, das Talglicht erlosch, nur die halbverglimmenden
Scheite auf dem Herd verbreiteten einiges Licht.
Hui, hui, hui heulte es auch im Aamin, und heftige
Windstöße fuhren in den Herd, daß die funken flogen.
Ganz unheimlich würde es dem Nkädchen.
„Das wird ein Wetter!" murmelten ihre Lippen;
sie suchte in der Tasche ihren Rosenkranz und betete
leise; hinter jedem „Gegrüßet seist du, Nlaria" kam ein
Stoßseufzer an den heiligen, den Patron der Walliser,
„St. Ioder, bitt' für uns!"
Das Brausen nahm immer noch zu. Ganz unheimlich
wurde es dem Wädchen in der Sennhütte. Sie entfachte
einen Span und setzte das Talglicht von neuern in Brand.
Vergebens, nach ein paar Sekunden war es schon wieder
vom Wind, der durch alle Fugen eindrang, ausgelöscht.
Die Burschen karnen auch nicht zurück.
Wo die nur blieben?
Die Einsamkeit in der Finsternis wurde ihr nach-
gerade zur Q)ual. Sie beschloß, in den Stall zu gehen.
Aaum hatte sie die Tür in der k^and, als sie auch
schon vom Sturm erfaßt wurde. Das war ein Brausen
und Toben, als wenn alle unsichtbaren Geister losge-
lassen seien. Die paar Schritte bis zum Stall legte sie
wie in einem Wirbel zurück; der Sturm blähte ihre
Aleider auf und riß ihr die schwarzen Haarsträhne
wild durcheinander, daß sie ihr das Gesicht peitschten.
Die Luft war erfüllt von einem pfeifen und heulen;
droben in den Föhren auf den hängen der Alp brauste
und krachte es, daß man wohl hörte, wie alte Baum-
riesen wieder zersplittert wurden.
Nun hatte sie die Stalltüre erreicht und klinkte sie
auf, mußte sich aber mit Gewalt dagegen stemmen,
denn der Sturm hatte sich ihrer wieder bemächtigt. Der
Sepp sprang ihr zu L)ilfe.
„Es gibt ein Wetter."
Schweratmend preßte sie die paar Worte heraus
und strich sich die wüsten Haare aus dem Gesicht. Die
Laterne verbreitete nur ein schwaches Licht; aber Gretli
sah doch, daß des Aloys Gesicht sehr ernst war. Tr
arbeitete mit dem Sepp angestrengt an der Aoppelung
der Tiere. Die fühlten auch wohl, daß ein schweres
Unwetter in der Lust liege. Sie brüllten so ängstlich und
waren ganz unruhig; die Geißen sprangen wie gehetzt
hin und her und stießen mit dem Aopf gegen die Wand.
„Aloys, wird es schlimm werden, das Wetter?"
fragte Gretli bang.
„Wir steh'n halt all in Gottes b)and," antwortete er
kurz und schaffte hart weiter. Für einen kurzen Augen-
blick sah er doch auf.
„Geh' in die Sennhütte, Gretli."
„Laß mich hier, es ist in der Hütte so unheimlich;
mir ist bang."
„So bleib."
Der Sturm nahm noch immer zu; das brauste und
tobte und riß an dem Dach des Stalles, daß man
glaubte, es stürze gleich den Föhren krachend zusammen.
Immer unruhiger wurde auch das Vieh; die jungen
Stiere rissen wie wütend an den Stricken und stampften
mit den Beinen den Boden, daß .der Stall dröhnte.
Langgezogene, heulende, pfeifende Töne durchschnit-
ten die Luft; jetzt zuckten auch grelle Blitze durch die
Finsternis; der Donner rollte, von den Bergen kam
ein vielstimmiges Tcho. Und die Gewalt des Sturmes
wurde noch immer größer. Gretli hielt sich an einem
Balken fest, schreckensbleich; das Grausen überkam sie,
denn so etwas fürchterliches hatte sie noch nie erlebt;
sie vermeinte, daß ihr letztes Stündlein gekommen sei.
Die Aufregung der Tiere wuchs. Der Sturm riß
ein gewaltiges Stück vom Dach; durch die entstandene
(Öffnung brauste er nun in den Raum; die Laterne
erlosch, tiefe Finsternis, die nur durch die niederzucken-
den Blitze grell für einen Augenblick unterbrochen wurde,
umgab alles; dann stampften die Tiere noch wilder,
ihr Brüllen war gleich dem Toben des Sturmes.
„Gretli, festhalten, stehenbleiben!" schrie der Aloys
durch das Brüllen und Toben. „Aeinen schritt vor-
wärts oder rückwärts. Dort hinten ist das Dach offen."
Das Brausen nahm noch immer zu; Blitz auf Blitz
fuhr hernieder, die Lust erdröhnte von den gewaltigen
Donnerschlägen. Nun riß der Sturm die Stalltüre aus;
die schlug gegen die Balken und ward aus den Angeln
gerissen, datz sie weit hinausgeschleudert wurde. Nun
hatte der Sturm vollends Einlaß. Das brauste herein,
wie in wilder ^agd.
„Um aller heiligen willen, Barinherzigkeit!"
Das Bieh raste, die Stiere rissen die Retten entzwei
und jagten in das Berderben, in die schwarze, unheil-
volle Finsternis.
Wieder flog ein Stück vom Dache fort; prasselnd
stürzten b)olzblöcke nieder.
„Raus jetzt, schnell raus, eh das Dach einstürzt.!"
Der Aloys schrie; seine Stimme übertönte alles.
Der Sepp tastete in der Finsternis vorwärts; der Aloys
suchte das Mädchen, ein grell niedersahrender Blitz
zeigte ihm den Weg; er riß sie mit sich sort, willenlos
ließ sie es geschehen.
„Nicht in die Sennhütte, Sepp, der Sturm reißt auch
dort das Dach ein. Auf der Matte ist es bester!"
Sie stürmten vorwärts, vor sich, hinter sich die
rasenden Tiere. Das Unwetter hatte noch nicht seinen
Höhepunkt erreicht, das brauste und tobte, als sollte die
ganze Welt vernichtet werden.
Wieder durchzuckte der Blitz die Dunkelheit. Da
schrie der Sepp auf:
„Der Aeres, der Ueres, ich hab' ihn gesehen!"
Der Aloys und das Gretli hörten es mit Entsetzen.
Und wie zur Bekräftigung dessen, was der Sepp ge-
schrien hatte, prasselte setzt ein Hagelschauer hernieder.
„Jesus, Maria und Josef, wir sind verloren!"
Da schlang der Alo-fS schützend seine beiden Arme
um die bebende Mädchengestalt und hielt sie fest, fest.
„Gretli, wir sterben zusammen, wir beide. Und daß
du es weißt, jetzt, im Angesicht des Todes, will ich es dir
sagen, Gretli, ich liebe dich, Gretli, mehr als mein Leben."
Er flüsterte es ihr ins Ohr, sie verstand es trotz
des Brausens, und ein Wonneschauer durchzuckte sie;
sie hielt die Augen sestgeschloffen, lag in seinen Armen,
zitternd am ganzen Leibe.
m
„Gretli, hörst du mich? Ich liebe dich, Gretli, dich
ganz allein; immer hab' ich dich geliebt, nur dich allein.
Und jetzt sterben wir zusammen. Aber vorher sag' mir,
ob du mich auch gern hast, sag' es mir, Gretli, jetzt in
dieser fürchterlichen stunde; sag', hast du mich gern?"
„Ich lieb' dich auch, Aloys, mehr als mein Leben."
5ie hauchte es nur so, aber er verstand sie doch.
fester preßte er sie an sicb.
„A)ir sterben zusammen."
Der Sturm brauste über sie hinweg und jagte sie vor-
wärts; der Aloys hielt das Ulädchen wie mit eisernen
Fäusten sest; von sern hörten sie den Sepp immerfort
schreien: „Der Aeres, der Aeres!" als wenn er in
dieser Schreckensnacht den Verstand rein verloren hätte.
Ringsum das Brüllen des Viehs, das in der Finster-
nis jagte wie vom Bösen besessen, das Brausen des
Sturmes, das jPraffeln des Hagels, der ihnen das Ge-
sicht peitschte, aus den Höhen ein Arachen und Dröhnen
der berstenden Döhren, das Niedersausen von Geröll
in den Hängen und die gewaltigen Donnerschläge, die
den Blitzen folgten.
Es war furchtbar!
Und in den Herzen der drei verzweifelten Ulenschen-
kinder, die dem grausamen Unwetter preisgegeben waren,
der eine Gedanke: „Jetzt ist der Tod da!" — —
Doch nach und nach ließ die Gewalt des Sturmes
nach, das Unwetter hatte sich ausgetobt; das Heulen
W5
urtò Pfeifen in der Luft hörte auf, die Blitze wurden
schwächer, die Donnerfchläge kamen wie aus weiter,
weiter Ferne, die empörte Natur wurde ruhig.
U)ie aber stand es um die drei unglücklichen
Menschenkinder? Lebten sie? Lagen sie mit zerschmet-
terten Gliedern, vom Sturm ergriffen und in weite
Schluchten gestürzt, tot?
Gott war ihnen gnädig gewesen.
Der Sepp ermannte sich zuerst. HTit schmerzenden
Gliedern, zerfchunden und zerschlagen, fand er sich am
Boden, im tiefen Schnee wieder, mit Hagelkörnern wie
übersäet. Gr stieß ein jämmerliches Geheul aus, wußte
erst iticht, sollte er aufstehen oder liegenbleiben. Dann
raffte er sich aber auf, sprang auf die Füße, schaute nach
rechts und nach links, wo er wohl fei. Gerade kam
aus zerrissenen lVolken der Blond heraus, hier und da
blinkte ein Stern am Fimmel auf, und nach wenigen
Augenblicken war wieder ein prachtvoller, sternenklarer
Fimmel da droben, der sich über die stille Landschaft
breitete, als wenn überhaupt gar kein Unwetter gewesen,
keine Verwüstung stattgefunden hätte.
Und dort hinten stand die Sennhütte, die hatte schein-
bar ihr Dach noch; aber der Stall, der sah jämmerlich
aus. Und Brüllen erscholl durch die Nacht, hierher, dort-
her; überall hin war das Vieh in feiner Angst gerast.
Nun wurde der Sepp vollends munter; das Vieh
mußte eingeholt und in den Stall gebracht werden; ein
Maidorf, Die Hexe.
wenig Schutz würde der wohl noch gewähren trotz des
arg mitgenommenen Daches.
Aber der Aloys und das Gretli, wo waren die?
War ihnen ein schlimmeres Unglück widerfahren als
ihm? Waren sie gar tot, zerschmettert dort irgendwo
aus der Watte?
Dem Sepp standen die struppigen Haare zu Berge
vor Angst; nicht auszudenken war es, rein nicht aus-
zudenken. Er legte die Hand an den Wund und schrie
ein langgezogenes, jämmerliches „Aloys, Aloys!" durch
die Nacht.
Gottlob, die Antwort kam, wenn auch aus weiter
Ferne; der Aloys lebte und das Gretli auch; aber der
Sturm hatte sie weit, weit weggetrieben, und die beiden
waren auch immer weiter gelaufen, als wenn sie ihm
dadurch am besten hätten entrinnen können. Der Tod
hatte sie noch nicht gewollt, sie sollten leben.
Wie aus dumpfer Betäubung erwachten sie und
gewahrten mit Erstaunen, daß sich ein sternenklarer
Fimmel über sie wölbte. War alles ein Traum gewesen,
ein böser, böser Traum? Das Unwetter mit seinen
Schrecknissen, die Blitze, die Donnerschläge, das Sausen
und Brausen, das Toben und pfeifen, das Nieder-
prasseln des Hagels, das Urachen und Bersten der
Föhren, das Niedersausen des Steingerölls in den
hängen?
Und das andere, war es auch ein Traum?
Hatten sie sich von Liebe gesprochen und vom ge-
meinsamen sterben? Hatten sie sich in den Armen ge-
legen, eins das andere fest umschlungen gehalten?
War es ein Traum gewesen?
Scheu hob das Mädchen den Blick zu dem Burschen
auf. Auf dessen Gesicht lag ein großer Ernst.
„Gretli, Gott hat uns beschützt, wir leben. Er sei
gelobt und ihm sei gedankt viel tausendmal!"
Er zog sie mit sich fort in der Richtung, wo die
Hütte stand.
Da war auch der Sepp. Er stürzte auf sie zu und
stieß wieder sein ^reudengeheul aus.
„Gott sei gelobt und gedankt, daß auch du lebst,
Sepp, und heil davongekommen bist!"
Der hub an zu sammern.
„War das ein grausiges Wetter! Zerschunden und
zerschlagen bin ich von oben bis unten, keine heile
Stelle hab' ich am ganzen Leib! Und den Aeres hab'
ich gesehen; gar grausig war er anzusehen, der Reres;
in den Wolken stand er, groß, mächtig, und schleuderte
immerfort die Blitze herunter. Gar grausig war es!"
Er bekreuzte sich ein paarmal hintereinander; kein
Wort sagte der Aloys darauf. Still schritt er hinein
in die Hütte.
Als der Morgen kam und das Tageslicht voll auf
das Tal schien, da sah man ein Bild der Zerstörung.
Wie hatte der Sturm gehaust!
„Geh' nach dem Triesnerberg, Gretli, und sag' dem
Vater und dem Zos Rudi, wie das Unwetter hier
Schaden angerichtet hat. Sie müssen schaffen helfen, daß
der Stall wieder gemacht wird; das Vieh leidet sonst
bei der Aalte. Und sag' ihnen auch, daß der eine junge
Stier verendet ist." —
Da war das Gretli nicht wenig erschrocken.
„Ist's möglich, Aloys?"
Er zuckte die Schultern und war ganz ernst.
„Es ist, wie ich sage. Gefunden haben wir ihn,
der Sepp und ich, weit hinten an den hängen, vom
herabsausenden Geröll überschüttet. Das unvernünftige
Tier ist selbst in sein Verderben gerannt. Alle andern
sind wieder im Stall. Geh' jetzt, Gretli, es ist Zeit."
Aein U)ort sprachen sie von Liebe, sie drückten sich
die brande und sahen sich in die Augen; das war genug
so, es war keine Zeit, an Liebe zu denken.
Ächtes Kapitel.
Aie Sima hatte gar arg schwarze Gedanken.
Als sie von Anna Stöß hörte, daß der Aloys krank
und das Gretli hin nach Malbun gegangen sei, um
ihn gesund zu pflegen, wurde sie unruhig.
Das Gretli beim Aloys? U)er wußte, was da
geschah?
Die Stina hatte den ganzen Tag gesungen und ge-
lacht, daß es selbst der sonst sehr duldsamen Barbara
zu viel wurde.
„Hör' doch auf mit dem ewigen Getue," sagte die
und hielt sich die Dhren zu. „U)as zuviel ist, ist zuviel.
Und es hat noch nie ein gutes Lud' genommen, wenn
eins immer nur den Aopf nach dem Singen und Lachen
steh'n hat."
Da hatte die Stina die Lippen spöttisch aufgeworfen.
„U?as das Ende ist, Base? U)ißt Ihr's nicht?
Hochzeit ist's, und gar mit dem schmucksten Burschen im
Dorfe. Das ist das Gnd', Base."
Und sie sang und lachte nur noch lauter und tat
noch übermütiger als sonst.
Nun war das auf einmal vorbei. Der Aloys krank,
das Gretli bei ihm; das wirbelte ihr wie toll durch
J50
das Gehirn; da lernte sie alle Dualen der Eifersucht
kennen. Zwar reckte sie ihre üppige Gestalt und sah voll
Stolz an ihr herunter, die konnte doch der Aloys un-
möglich verschmähen, um sich dagegen an das schmäch-
tige Ding, das Gretli, zu hängen; das war ja nicht
denkbar; so viel gesunden Menschenverstand und so viel
Schönheitsgefühl traute sie dem Aloys doch wohl zu,
daß er mit seinen gesunden Augen sah, wo Schönheit
und Araft steckte. j)ah, was war das Gretli mit der
schmächtigen Gestalt und dem bleichen Gesicht neben
ihr? Das einzige Schöne an dem kleinen Ding waren
die Augen, die großen, schwarzen Augen, das gestand
sie schon ein. Aber ob der Aloys denn über den Augen
alles andere vergaß?
j)ah, nicht zu denken wär' es gewesen!
Dennoch wurde sie die geheime Angst nicht los.
Da steckte sie sich hinter Zos Rüdi.
„Vater, Zhr habt es gehört, auf Nialbun ist der
Aloys krank; da wäre es an der Zeit, daß Zhr ein-
mal schauen gingt, wie es um ihn steht. Das ist nicht
mehr wie Christenpflicht."
Zos Rüdi blinzelte mit den Augen und sah seine
große, stattliche Tochter mit verschmitztem Lachen im
Gesicht an.
„Nur Christenpflicht, Stina? Nieinst du wirklich,
nur aus Christenpflicht sollt' ich nach dem Aloys
schauen?"
Sie versetzte ihm einen leichten Schlag und drehte
ihm den Rücken zu.
„lhahahaha, Christenpflicht!" lachte der Jos, denn
er war gutgelaunt, und das Getue mit dem Alädchen
machte ihm obendrein Spaß. A)ie die doch schon eine
Sorge um den Liebsten hatte! Aber ihm wollte sie weis
machen, daß es (Christenpflicht sei, nach dem Aloys
zu sehen.
„Hahahaha, Christenpflicht!"
Aber die Sache wär' zu überlegen. Schaden könnt'
es immerhin nicht, wenn er sich mal auf INalbun sehen
ließe und auch so hinten herum, so ganz dummerweise
zu erfahren suchte, ob der ^sakob Stoß auch seine Sach'
bei dem Buben richtig angefangen hätte.
And was der für ein Gesicht dazu machte, der Aloys?
„Du, Stina, ich mein', ich geh' wirklich nach Walbun
und seh' nach dem Aloys."
Da war die Stina zufrieden.
Auf dein Triesnerberg hatte man nichts von dem
Unwetter, das in der Nacht über Nlalbun hereinge-
brochen war, wahrgenommen. Dieser Nacht folgte ein
klarer, schöner Wintermorgen.
Schon frühzeitig machte sich ^os Rüdi auf den Weg
nach Walbun, um fein Vorhaben, den kranken Aloys
zu besuchen, auszuführen. Lange noch sah ihm die
Stina nach; ihr Herz war heute morgen ein,klein wenig
ruhiger. Sie schlug sich die schwarzen Gedanken aus
*52
dem “Kopfe; es konnte nicht sein, das, was sie von dem
Burschen und dem Gretli dachte; so dumm würde der
Bub schon nicht sein, daß er sich an so eine hing, die
nichts hatte, nicht einmal einen ehrlichen Namen. Um
das Kranksein des Aloys grämte sie sich nicht allzu-
viel; sie war selbst eine kerngesunde, derbe Natur, die
nicht begreifen konnte, daß jemand so schwächlich sein
und krank werden könne. N)as sollte das auch viel
sein mit dem Kranksein des Aloys? Ein husten?
Nun, die Männerleut machen um ein bißchen husten
gleich einen Spektakel; das ist dann nur halb so
schlimm, da brauchte man noch lange nicht ans sterben
zu denken.
Rüstig schritt ^jos Rüdi durch den Wintermorgen.
Der Weg durch den Schnee wurde ihm jedoch saurer,
als er gedacht hatte. Er war von gedrungener Gestalt;
einen Hals hatte er eigentlich überhaupt nicht; wenigstens
sah es aus, als wenn der dicke Kops nur direkt aus den
Schultern säße. Das machte ihn natürlich kurzatmig,
so daß er leicht ins Keuchen kam. Dann fühlte er auch
seine Jahre umso mehr, und daß er nicht einer der
Jüngsten mehr war.
Sein Hirn war voller j)läne; die drehten sich all'
urn den Aloys und seine heirat mit der Stina. Die
zwei sollten es einmal gut haben, die reichsten Bauern
aus dem Triesnerberg sollten sie werden, so wahr er
Jos Rüdi hieß und sein Lebtag tüchtig geschafft hatte.
Er hatte schon ein tüchtiges Sück Weges hinter sich
und kam ins Taminatal langsam bergab. Da gewahrte
er plötzlich eine kleine Wädchengestalt, die mit gesenktem
Aopf geradeswegs ihm entgegenkam.
„Hollah, das ist ja das Gretli," sagte er. „Da ist
es mit der Arankheit aus beim Alo-ss, und alle Eorg'
ist rein für nichts."
Das INädchen hatte ihn jetzt auch erkannt und strebte
nun noch eiliger näher.
„Grüß Gott, Bauer Rüdi!"
„Grüß Gott, Gretli! Bist auf dem Heimweg?
Der Aloys wieder gesund? Alles in der Ordnung auf
Ulalbun?"
Breitspurig, keuchend stand der Bauer vor dem
Gretli, das scheu zu ihm ausblickte. Sie schüttelte den
den Aopf langsam und sagte dann leise:
„Der Aloys ist soweit wieder gesund, Bauer Rüdi."
„Und du, warum läßst denn denAopfso hängen, he?"
„Ich sollt' zu Euch, Bauer Rüdi, und zum Bauer
Söß und Euch vom Aloys vermelden, daß in der Nacht
ein Wetter über Nialbun gekommen ist."
„Jesses —" dem Jos entfuhr ein greulicher Fluch.
„Ljat es was angerichtet, das Wetter?"
„Es ist, wie Ihr denkt, Bauer; das Dach vom Sall
ist arg zerstört und, Bauer —"
„Was, noch mehr?"
„Ein Stier ist verendet, vom Geröll verschüttet."
Da fluchte der Bauer noch mehr; das Gretli kriegte
Angst dabei und wäre am liebsten weit, weit fortge-
laufen. 5ie tat aber ganz tapfer und berichtete weiter
mit zitternder Stimme, wobei ihr die schrecklichen Vor-
kommnisse der Nacht wieder vor Augen traten:
„Es war ein grausiges Unwetter, Bauer, fast daß
man hätte glauben sollen, daß keins am Leben geblieben
wär'. Und der Sepp sagt, daß er den Aeres in den
schwarzen Wolken zwischen all dem Blitzen und hageln
gesehen hat."
Da bekreuzte sich auch der Bauer dreimal rasch
hintereinander.
„Der Aeres? Jesus, Maria und Josef, der Aeres?"
„Der Sepp sagt so."
Nun hatte es der Bauer eilig. Aber ein Gedanke
kam ihm.
„Sag dem Jakob Stoß, er braucht heut nicht zu
kommen. Ich schau' erst nach, was zu schaffen ist, komm'
dann wieder heim und geb' ihm Bescheid darüber.
Wenn die Sach' mit dem Dach schlimm ist, werden
leicht morgen noch mehr Leut' zur Hilfe nötig sein."
Dann stapfte er eilig davon.
Auch das Mädchen setzte seinen Weg fort; tief in
Gedanken verloren, den Aopf gesenkt, arbeitete sie sich
durch den Schnee. Wie schwer war ihr das Herz!
Alle Seligkeit, die sie in der Nacht, als ihr der
Alo-fs seine Liebe gestand, gekostet, war an dem heutigen
\55
ZTtorgen wie weggeweht. Ganz wund war ihr das Herz
auf einmal. Wie hatte sie sich nur so dem Glücke hingeben
können? Der Aloys heiratet doch die 5tina, die schöne,
üppige, wohlhabende Ttina; das war doch eine fertige
5ache, die von deni ^ios und von dem ^akob 5töß und
seiner Anna längst in Ordnung gebracht war.
Oder vielleicht nicht?
Aber ja, der Bauer, der Vater vom Aloys, war
doch eigens dafür nach Malbun gestapft, um es dem
Aloys zu sagen, spalte der eine verneinende Antwort
heimgebracht? Nein, gar keine solche.
Die Tache war doch in der Ordnung.
Gs paßte doch alles so gut zusammen; des Jos
Rüdi Äcker und Felder und Weiden, fein Hof und sein
Vieh, und des Jakob 5töß ganzer Wohlstand, das kam
alles zusammen; und der Aloys und die Äina werden
Bauer und Bäuerin in dem großen Wohlstand. Die
Stina hatte den Burschen ja auch gern; hatte sie nicht
ihre heißen Augen gesehen und ihre begehrlichen Blicke?
Die Anna 5>töß, die Bäuerin, und auch der Bauer, nun,
der letztere nicht so gar arg, die taten schon immer, als
wenn die 5tina ihre Tochter fei.
Aber der Aloys?
Das Herz krampfte sich Gretli zusammen, und ganz
heiß stieg es ihr in die Augen.
Der Aloys? Ja, wie sollte sie nun meinen?
Der hatte ihr gesagt, daß er sie liebe, nur ganz
\56
allein sie, und daß er mit ihr sterben wolle. 5te hatte
ihm geglaubt, hatte so selig in seinen Armen gelegen
und gewünscht, daß nun der Tod kommen solle.
Aber der war nicht gekommen. Sic lebten beide,
sie und der Aloys; sie hatten nicht wieder von Liebe
gesprochen, aber die Augen des Aloys, die sagten ihr
genug, sein Blick, der gute, treue, liebe Blick! Ein
ganzer Fimmel hatte darin gelegen!
Der Aloys liebte nur sie, das gestand sie sich mit
unendlicher Freude, und sie? Nun, hatte sie wohl je-
mals einen andern Gedanken gehabt als den an Aloys?
Aber es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! 5ie
konnte des Aloys U)eib nicht werden, der mußte die
Stina heiraten, das war eine beschlossene Sache!
U)as würden der Bauer und die Bäuerin sagen,
wenn der Aloys jetzt mit ihr, dem armen Gretli, vor
sie hinträte und sagte: „Ich heirate die Stina nicht;
das Gretli wird mein U)eib!"
Die würden gar schöne Augen machen und gehörig
wettern; sie waren wohl immer so gut zu ihr, der
armen U)aise, gewesen, o, so gut; aber sie hatten doch
nicht vergessen, daß sie das Aind der eheverlassenen
Lucia, der Hexe, war. Aber gut sein zu einem solch
armen ZVaislein und es als des Sohnes U)eib ansehen,
das ist ein himmelweiter Unterschied; nein, nein, weder
der Bauer noch die Bäuerin konnten damit einver-
standen sein, daß sie des Aloys lVeib würde, mochten
*57
sie auch immerhin sie, das arme Gretli, sonst von
ganzem Kerzen gern haben und ihm nur alles Gute,
was ihm das Trdenleben zu geben hat, wünschen.
Dem Mädchen wurde es ganz wund und weh ums
Herz, je mehr es über die Zache grübelte. Und doch
kam ihr auch immer wieder der jubelnde Gedanke zum
Bewußtsein: „Der Aloys liebt mich, nur mich ganz
allein; er hat es gesagt, der lügt nicht, und seine treuen,
guten Augen, die lügen schon gar nicht!"
Dann zog Seligkeit in Gretlis Herz und verscheuchte
für eine kurze Spanne Zeit alle Arial und alle Zorge
daraus; dann war sie ganz stolz, daß der Aloys sie,
das arme, kleine Ding, liebte, was sie ja selbst im
Traume nicht einmal zu hoffen gewagt hatte. Das
war so süß, dies Gefühl, sich geliebt zu wissen. Und
wenn sie auch niemals des Aloys U)eib werden konnte,
denn der mußte ja die Ztina heiraten, so hatte sie doch
seine Liebe besessen.
Am besten wär' es, sie ginge weit, weit fort vom
Triesnerberg, daß der Aloys sie niemals wiedersehen
würde. Aber wohin sollte ein armes, elternloses Mäd-
chen, wie sie, die keine Verwandten und Bekannten
hatte, wohl seinen Fuß hinsetzen und sich sein Brot ver-
dienen? Zm Tale sah es bös aus, dem ganzen Rhein
entlang wimmelte es von fremden, rohen Ariegsscharen.
Und noch weiter gehen, gar über den Rhein in das
Appenzellerland, jetzt, zur rauhen U)interszeit, Tag und
*58
Nacht laufen, kein Obdach haben, kein Brot, und viel-
leicht gar nirgends Arbeit bekommen?
Dem Mädchen schauderte es. Bilder längst, längst
vergangener Tage stiegen vor ihrer Seele auf. Sie sah
sich als kleines Ding an der Hand der Mutter von
Dorf zu Dorf ziehen, von der Ebene auf die Berge,
vom Berg wieder ins Tal, weite, weite Strecken wan-
dernd, die Füße wund, der junger so groß, und die
Menschen all, an deren Däuser sie anklopften und um
Gotteswillen um Arbeit und ein Stücklein Brot an-
hielten, so hart, so gleichgültig gegen fremde Not.
Bis die halbverzweifelte Mutter mit dem vor junger
weinenden Ainde beiin Jakob Stoß anklopfte---------
Nein, nein, um Gotteswillen nicht, so etwas gar
Grausames noch einmal durchmachen und gar allein,
ganz allein und verlassen?
Wie wurde dem Gretli das Herz schwer und schwerer.
Heiße Tränen tropften aus den großen Augen, in denen
sich das ganze Leid der jungen Seele wiederspiegelte.
Das war nun ihr junges Liebesglück, das kaum, daß
es begonnen hatte, ihr schon Leid und Weh brachte,
das ihr junges Herz seufzen machte, wie unter einer
schweren Bürde. —
3o$ Rüdi kraute sich den Aopf nicht wenig, als
er sah, wie das Unwetter auf Malbun gehaust hatte;
das war ja noch schlimmer, als wie er es sich vorge-
stellt hatte.
m
Schweißtriefend !am er an der Unglücksstätte an und
übersah mit einem Blick das ganze Bild der Zerstörung.
Der Alo-ss war mit dem Sepp schon tüchtig am
schassen; seine Arankheit achtete er überhaupt nicht
mehr, dazu hatte er keine Zeit; gottlob fühlte er sich
auch heute morgen ziemlich frisch, und die harte Arbeit
tat ihm gut, das merkte er.
Als er den Bauer sah, sprang er von dem niedrigen
Dache des Stalles, auf dem er schon rüstig am Aus-
bessern war, herunter.
„Das sieht bös aus hier, Rüdi, nicht? Uleine schuld
ist es nicht, daß Ihr Euer Eigentum so wiedersehet,
das dürft Ihr glauben; das hat unser Herrgott ge-
schickt, Bauer."
„Laß mir den Herrgott aus dem Spiel, Bub; der
Satan ist es gewesen, der hat den Aeres aufgehetzt,
daß der das Unwetter anrichte," fluchte Jos Aüdi und
spuckte in weitem Bogen aus.
„Ich glaub' nicht dran, an den Aeres schon nimmer,"
gab der Bursche ernst zur Antwort.
„Aber gesehen hab' ich ihn," meldete sich der Sepp
und tat gar wichtig; sein Gesicht drückte noch jetzt in
der Erinnerung an die ausgestandene Angst einen ge-
waltigen Schrecken aus. Die struppigen, strohgelben
Haare standen noch mehr als sonst zu Berge.
„Einerlei, ob so oder so; der Schaden ist da, der
ganze Nutzen vom Winter hin."
*60
Jos Rüdi fluchte noch einmal kräftig.
Nachher freute er sich aber im stillen, als er des
Aloys Fleiß und Araft sah. Unermüdlich schaffte der,
daß ihm der Schweiß auf der Stirne stand. Nkit
schweren k)olzpfählen besserte er das beschädigte Dach
aus; das ging ihm ab, als wenn er tagtäglich nichts
anderes getan hätte sein Leben lang. IRit kurzem Blick
und noch kürzerem Wort leitete er den Sepp; das ging
hierhin, dorthin, oben, unten, seitwärts; mit muskulösen,
sehnigen Armen wurde geschleppt und gehoben, geklopft,
gesägt und gehämmert. Ehe es sich der Zos versah,
stand auch er mitten im Helfen. Zwar ächzte und stöhnte
er noch eine Weile, aber dann vergaß er auch das;
er wollte sich doch nicht von den jungen Burschen be-
schämen lassen.
Aein überflüssiges Wort wurde geredet, nur immer-
fort geschafft, daß es eine Lust war. Und wie die Arbeit
fortschritt! Der Zos sah es mit innerlicher Genugtuung
und hatte seine Gedanken bei der Sache.
Das war ein Bub, der Aloys! So ein fl)racht-
mensch, wie man ihn in dem ganzen Ländchen nicht
zuin zweitenmal sinden würde, und auf dem Triesner-
berg schon gar nicht. Was mußte der Jakob Stöß stolz
sein auf einen solchen Buben! Herrgott, und dieser
prächtige Utensch sollte nun auch sein Bub werden,
denn wenn der die Stina heiratete, dann war er ja
schließlich auch sein Sohn.
\6\
Linerlei, das mußte eine Freude werden! Zolch'
ein Bub, wie würd' der erst mal schaffen, wenn er der
Bauer auf dem großen Hof wäre, und all das Vieh
und der ganze Wohlstand von ihm und dem Jakob
Ztöß beieinander wär! Der würde schaffen bei Tag
und bei Nacht, sich kaum Ruhe gönnen. Der hatte den
Verstand dazu und die Aräste noch obendrauf, um es
im Leben weit zu bringen, dieser Bub da, mit dem
Hellen Aopf und dem noch helleren Verstand.
Der ^os rieb sich verschmitzt lachend die Hand-
flächen; da hatte er eine Zach' eingefädelt, die seiner
Schlauheit alle Lhre machte. Ja, ja, der Jos, der war
nicht so dumm; noch keiner aus dem ganzen Triesner-
berg konnte ihm nachsagen, daß er jemals in seinem
Leben dumm gewesen sei oder gar vergessen habe, auf
seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Aber diese Zach' mit der heirat, das war doch der
allergescheiteste Gedanke und der allergescheiteste s)lan,
den er jemals ausgeklügelt hatte.
Die Ztina konnte wohl stolz sein, daß sie den Buben
bekam; es war schon recht von ihr, daß sie so verliebt
tat und sich um sein Aranksein Zorge machte.
Wenn die nur jetzt sehen könnt', wie der Bursch'
seine Aräfte anspannte!
3«, ja, der wußte, was er wollte, der Aloys! Die
Ztina, die mochte sich auch nur die Hände heimlich
vor Freude reiben, die kriegte einen Nlannn, wie ihn
Mardorf, Die hexe.
U
\62
kein anderes Triesnerberger Ulädchen kriegen konnte.
So dachte der Jos beim fleißigen schaffen, beim
Schwitzen und Ächzen. Der Gedanke, daß ihm ein Strich
durch seine schönen Hlläne kommen könnte, indem der
Aloys die Ätna nicht heiraten wolle, der kam ihm über-
haupt nicht, bei all seiner Alugheit nicht.
Als die Nachmittagsdämmerung kam, hatten die
drei schon eine tüchtige Arbeit hinter sich; das Dach
sah nur mehr halb so schlimm aus.
„Noch ein paar stunden morgen, und alles ist wieder
in der Ordnung," sagte der Aloys, putzte sich mit dem
Ärmel über die schweißige Stirn und sah prüfend, aber
auch mit Stolz auf die fertige Arbeit. „Ihr habt auch
tüchtig angefaßt, Bauer Rüdi."
„Uleinst wirklich so, Aloys?" tat der verschmitzt.
„Denkst wohl, daß ich mich von dir beschämen lassen
wollt? Oder gar von dem Sepp da? Und d.aß der
Jos Rüdi das Faulenzen für eine Tugend ansehen soll,
das hat ihm noch niemand auf dem Triesnerberg nach-
gesagt, oder meinst vielleicht das Gegenteil, he?"
„Beileibe nicht, Bauer, ich mein' heut' sogar, daß
Ihr es noch leicht mit dem Jüngsten aufnehmen
könntet," lachte der Aloys begütigend.
„So, meinst wirklich? Hm, aber fühlen tut man
doch, daß man alt wird," bruminte der andere.
Am Herdfeuer in der Sennhütte wurde Rast ge-
halten. Der Aloys hatte einen Schmarren gemacht, der
*63
inúndete nach der anstrengenden Arbeit gar gut; der
Sepp schnalzte mit der Zunge beim Essen und wars
dabei wehmütige Blicke auf das Leibgericht, das unter
dem fleißigen Zulangen der drei hungrigen kleiner und
kleiner wurde.
Dann rüstete der Jos zuin Ausbruch.
„Der Abend ist fast vor der Tür und der Weg
heimwärts weit. Und morgen schick' ich den Anecht,
Aloys, wegen dem Stier; ist auch der Weg für einen
Wagen schlecht, ist nichts dran zu ändern, muß sein.
Der Anecht soll auch schaffen Helsen, daß der Stall
wieder imstand ist." —
„Aann ich schon leicht allein mit dem Sepp, Bauer."
„Weiß schon, hab's ja gesehen; aber der Anecht
soll doch helfen, daß du allein nicht all die Arbeit hast.
Bist ja krank gewesen, Aloys."
„Ist schon wieder gut, Bauer."
„Wohl, wohl, freut mich."
Er nickte dem Sepp kurz zu und stapfte durch die
niedrige Tür; der Aloys gab ihm das Geleite bis an
das Gatter. Noch einmal drehte sich der Jos um und
sah mit durchdringenden Augen überall zum Rechten
aus seinem Eigentum, das ihm ja so gut gehörte als
dem Jakob Stoß.
Am Gatter blieb er stehen, sah dem Aloys voll ins
Gesicht, klopfte ihm vertraulich auf die Schulter und
sagte mit seinem verschmitzten Lächeln:
„Die Siina hat viel Sorg’ um dich gehabt, Bub."
Der Aloys wußte schon, was die Glocke geschlagen
hatte; als der Jos den ganzen Tag so liebenswürdig
zu ihm gewesen war, da stieg schon gleich der Gedanke
in ihm aus:
„Der weiß noch nicht, daß ich die Stina nicht will,
der Vater hat’s ihm nicht gesagt."
Nun hieß es selbst handeln; nun mußte er sich aus
der Sache ziehen, ob gut oder böse.
Gr tat möglichst gleichgültig und sagte:
„Sooo, hat sie, die Stina? Ist aber unnütze Sorg’
gewesen."
Der Jos merkte nichts.
„Ja, viel Sorg’ hat sie um dich gehabt, die Stina.
Ich mein’, das wär’ auch recht so; wenn eins den
Aopf auf das heiraten gerichtet hat und der Liebste
ist krank, so ist das schon eine Sorg’."
„So will die Stina heiraten?"
Der Jos merkte noch immer nichts. Gr tat ganz
eifrig.
„Du, Aloys, sei nicht so, so. Die Stina will dich doch
heiraten, und der Jakob, dein Vater, und ich, nun wir
haben doch unsern Segen dazu gegeben. Ist doch eine
schöne Sach’ so, und freuen tu’ ich mich, daß du der Stina
ihr Nkann wirst. Und das gibt einen großen Wohl-
stand, und ihr, die Stina und du, ihr werdet Bauer
J65
und Bäuerin, und das die reichsten auf dem Triesner-
berg."
„Schlagt Luch die Sach' aus dem Aopf, Bauer
Rüdi," sagte der Bursche ruhig.
Der tat doch auf einmal ganz erschrocken und sah
sein Gegenüber mit ängstlichen Augen an.
„Geh', mach keinen Spaß, Aloys."
Lr gab ihm einen Seitenstoß.
„Ich mach' keinen Spaß, Bauer."
„Aber so sei doch gescheit, Bub —"
„Bin ich auch," sagte der Bursche ruhig und sah
dem kleinen, gedrungenen Mann ernst in das Gesicht.
„Die Stina kann ich nicht heiraten."
In dem Gesichte des Jos fing es nun an zu wet-
tern; es zuckte darin.
„Bub, bist nicht gescheit, die Stina willst nicht hei-
raten?" schrie er heftig, packte den Burschen bei den
Schultern und schüttelte ihn derb.
Der machte sich mit einem energischen Rucke los.
„Laßt das, Bauer, und merkt es Luch, ich vertrag'
keinen Spaß. Die Stina kann ich nicht heiraten —"
„Warum kannst sie nicht heiraten?"
„Das sind meine Sachen, Bauer, die geh'n Luch
nichts an. Ich mag Lure Tochter nun einmal nicht; ich
weiß, daß es eine Lhre für mich sein sollt', Luer Sohn
und Lrbe zu werden; aber ich muß schön dafür danken.
Nehmt's nicht bös auf," setzte er treuherzig hinzu, als
er sah, daß der Bauer einen gar fürchterlichen Zorn
im Gesicht hatte, daß ihm die Adern auf der Stirn
fingerdick anschwollen und die Brust vor Aufregung
keuchte.
Der schrie aber wie wild und fuchtelte mit den Armen
durch die Luft:
„U)as, du willst nicht? Du magst die Stina nicht?
Verschmähst sie, meine, des Zos Rüdi Tochter? Das
schönste und reichste Mädchen im Dorf? Du magst sie
nicht, die Stina?"
Der Zorn übermannte ihn so, daß er alle Herr-
schaft über sich verlor und nur immerfort drauflos
fluchte.
„Hast vielleicht ein anderes im Sinn?"
Lauernd hing fein Blick an dem Gesicht des Bur-
schen. Ls entging ihm nicht, daß er bei dieser Frage
aufzuckte.
„Hast ein anderes im Sinn, he?"
Da kam ihm plötzlich wie der Blitz ein Gedanke.
„Vielleicht gar das schmächtige Ding, das Gretli,
das Aind der Lucia, die Hexenbrut?"
„Jetzt ist's genug, Bauer, lang genug hab' ich Euer
Geschwätz angehört, verstanden? Und ich sag' Tuch
nochmals, die Stina mag ich nicht und wär' sie selbst
die leibhaftige Tochter des Grasen Aaspar von Hohen-
ems! So, nun wißt Zhr's, Bauer Rüdi, und behüt'
Luch Gott jetzt auf dem Heimweg!"
\67
Er drehte sich um, ließ den aufgeregtenD?ann da-
stehen und ging hocherhobenen Aopfes von dannen, der
Sennhütte zu.
Ganz verzerrt war dem ^os das Gesicht vor ll)ut.
Er ballte die Faust hinter dem Davongebenden und
zischte dabei:
„Das hast mir nicht umsonst angetan, Aloys 5töß;
das sollst du mir büßen, so wahr ich Jos Rüdi heiße."
Dann keuchte er von dannen.
Neuntes Aapitel.
„33afe, erzählt doch etwas, es ist so still heute
abend," klagte die Stina.
Beide Frauen saßen nach getaner Arbeit in Haus
und hos zur Feierstunde an ihren Spinnrädern, ^rn
Herd prasselte ein lustiges Feuer, die brennenden Holz-
scheite knisterten und verbreiteten eine wohlige Wärme.
Vom Talglicht beleuchtet, machte die große Stube in
Jos Rüdis Haus einen gar gemütlichen Eindruck; aber
dennoch war es, als gähne ihr aus allen Ecken die
Langeweile heraus. Die Barbara hatte schon ein paar-
mal ganz laut gegähnt; ihr Spinnrad stand oft plötz-
lich still, denn die Alte ertappte sich immer über dem
Nicken; der Aopf sank ihr bis tief auf die Brust.
Sie fuhr aus einem solchen Nicken auf, als die
Stina sie anrief, tat ganz verwirrt und gab dem Rädchen
wieder einen kräftigen Stoß.
„Was willst, Stina?"
„Erzählt doch was, Base; es ist so still heute abend;
der Vater ist auch noch nicht zurück. Wo er nur bleibt?"
„Nun, nun, es wird leicht viel Arbeit auf Nkalbun
sein; hast ja vom Gretli gehört, wie ein Wetter beim
Stall und der Hütte gehaust hat."
169
Die Stina senkte den Aopf und schwieg. Ihr war
alles ganz wirr hinter der Stirn. Am Morgen hatte
sie am Fenster gestanden und gerade das Gretli zurück-
kommen sehen. Da war sie mit einem Satz aus dem
Hause gesprungen und hatte das Gretli angerufen und
in atemloser Hast gefragt, ob der Aloys nun wieder ge-
sund sei? Das Gretli hatte es bejaht, einsilbig, wort-
karg, und hatte immer so verlegen und scheu getan.
Dann hatte sie auch von dem Unwetter erzählt, aber
alles in einem so merkwürdig verlegenen Ton, und
ihr Gesichtchen war so tieftraurig dabei gewesen. Und
doch hatten die großen, dunkeln Augensterne plötzlich
einen solchen Glanz bekommen, ein seliges Leuchten war
darüber gegangen, um aber ganz schnell wieder zu
verlöschen.
Das ging der Stina den ganzen Tag nicht aus dem
Aopfe. Die nachtschwarzen Gedanken waren wieder da,
ärger noch als zuvor und quälten sie wie mit teuflischem
Behagen. Ts war, als wenn eine boshafte Stimme ihr
immerfort in das Mhr geflüstert hätte:
„Das Gretli liebt den Aloys, und der Aloys liebt
das Gretli, und wer weiß, was beim Unwetter ge-
schehen ist?"
Das narrte und quälte sie und bohrte in ihrem
Kerzen. Das stolze Siegesbewußtsein, der Stolz auf ihre
schöne, kräftige Gestalt war ganz eingeschrumpft, nur
die quälenden Zweifel waren geblieben.
Und wie lang, wie entsetzlich lang der Tag war!
Wenn doch nun endlich der Vater heimkäme und sie
aus seinem Munde endlich hören könnte, daß all ihre
bösen Gedanken um ein Nichts gewesen und der Aloys
von Kerzen gern um Ostern den Verspruch mit ihr
machen wolle I
Und doch bangte sie vor dem Aommen des Vaters.
Wie, wenn alles Wahrheit? Nicht auszudenken wär'
es, nicht auszudenken I
„Base, erzählt etwas!"
Die sonst so redselige Alte sträubte sich heute ein
wenig; es lag ihr eine lähmende Müdigkeit in den
Gliedern. Aber sie raffte sich doch auf.
„Was willst hören, heute abend?"
„Erzählt was Ihr wollt; nur sprecht, es ist rein
nicht zum Aushalten hier."
„2ei nicht so unruhig, Ltina, das tut nicht gut."
„s)ah, gut oder nicht gut, die Unruhe ist da heut',
die steckt mir im Blut und jagt mir durch alle Adern."
„Mädchen, Mädchen!" — warnend erhob die
Alte ihren knöchernen Finger und schüttelte den greisen
Aopf.
„Erzählt doch, Base; vielleicht daß ich dann Ruhe
find'."
„Was willst hören, vom Ueres?"
Die Alte tat geheimnisvoll.
„N)as hab' ich gesagt vor nicht langer Zeit? Nun
ist er dagewesen, der Ueres, das Gretli hat's erzählt.
Ist's wahr oder nicht?"
„Aber in der Weihnacht war's drum doch nicht,"
wars das Mädchen ein wenig spöttisch ein.
Die Barbara ließ sich nicht dadurch beirren.
„Einerlei, ob so oder so. Der Aeres ist auf Malbun
gewesen; der Tepp hat ihn geseh'n. siehst nun, daß es
wahr ist, was die alte Base erzählt? Und daß die Hexen
oben aus dem Hahnenspiel ihren Tanzplatz haben und
dort gar greuliche Geschichten treiben, das ist auch wahr,
oder ich sollt' nicht Barbara heißen. Es gibt gar greulich
viel Hexen; aber gut ist's, wenn man sich nicht mit ihnen
einläßt und gar nichts mit ihnen zu tun hat. Die aber,
die den Angeber machen und solch eine arme Hex' dem
Gericht überliefern, die finden keine Ruh' mehr in ihrem
Leben und selbst nach dem Tode nicht. Die müssen bis in
alle Ewigkeit im Tobel droben in der wilden Lavena-
schlucht an dem großen, steinernen Tisch hocken. Das sind
die Tobelhocker, hast doch schon von ihnen gehört?"
Die 5tina nickte, und ein Frösteln ging ihr über den
Rücken.
„Wißt Ihr das sicher, Base?"
Die Barbara tat ganz entrüstet.
„Weißt es bester, Mädchen? Frag sie doch all auf
dem Triesnerberg, in Triefen, in Balzers, in j)ro-
fatscheng, in Vaduz, ob's wahr ist oder nicht?"
\72
„Habt Ihr óte Tobelhocker schon gesehen, Base?"
„Gott bewahr' mich davor," ries diese entsetzt und
bekreuzte sich. „Aber geseh'n hat sie doch manch einer,
der den Akut gehabt hat, in das wilde Wasser hinab-
zusteigen bis ganz tief, da, wo die Lavenaschlucht am
allerengsten und die Finsternis am allergrausigsten ist.
Tin großer, runder, steinerner Tisch steht da, und da-
herum hocken die Angeber, die Tobelhocker, stumm wie
das Grab. Sie warten auf Erlösung; aber die kommt
in alle Ewigkeit nicht, denn es ist ihre Strafe dafür,
daß sie den Angeber gemacht und eins als Hexe an-
geklagt haben. Gort bewahr' uns davor, daß wir je-
mals den Angeber machen und auch eine solche Straf'
abbüßen müssen! Gott bewahr' uns auch davor, daß
wir mit Hexen zu tun haben!"
Eine Weile war es ganz still in der Stube. UUt
düstern Augen starrte die Stina in das Herdfeuer; lässig
lagen ihre Hände im Schoß.
„Base, glaubt Ihr, daß die Lucia eine Hexe ge-
wesen ist?"
„Um Gotteswillen, Wädchen, tust du eine sonder-
bare Frag'. Die Lucia? Das Gericht hat's gesagt, also
muß es wahr sein. Aber ich, Ulädchen," — sie dämpfte
ihre fette Stimme zum leisesten Flüsterton herab — „ich,
nun, ich glaub' nicht, daß die Lucia eine Hex' gewesen
ist. Aber wer kann's wissen? Das ganze Dorf hat's
gesagt, und alle haben's geglaubt, und das arme Weib
\7o
mußt' auf den Scheiterhaufen, ob schuldig oder nicht.
Gnade Gott dem, der zuerst die Aund' aufgebracht
hat, daß die schwarze Lucia eine Hex' sei! Ich möcht'
nicht an seiner Stelle sein!"
„Wißt Ihr nicht, wer der Angeber war?"
Auch die Stina sprach flüsternd und beugte den Aopf
näher zu dem Gesicht der Alten.
„Wan hat's nicht erfahren. Der eine sagt so, der
andere so; die Ursache zu dem Gered' ist ja beim j)eter
Schalter zu suchen. Stina, ich will dir's nur sagen, dem
Aeter Schalter trau' ich nicht, dem alten nicht, auch
nicht dem jungen. Hüt' dich vor dem da; ich will dich
warnen I"
Die Barbara richtete sich kerzengerade auf und gab
ihrem Spinnrad wieder einen kräftigen Stoß; ihr Ge-
sicht zeigte einen harten Ausdruck. Wieder war es ganz
still in der Stube.
Die Stina saß in tiefes Sinnen verloren auf ihrem
niedrigen Schemel; es war ihr so unheimlich zu Wüte,
die Erzählung der Base hatte auch gerade nicht dazu
beigetragen, ihr Gemüt zu erheitern. Die Gedanken
arbeiteten wie rasend hinter der Wädchenstirn, die
kamen und gingen, böse und gute, aber jene bildeten
die Hauptsache.
Wenn doch nur endlich der Bater käme und ihr die
Gewißheit brächte, daß alles in der Ordnung seil Wie
ihr das Herz heiß schlug! Herrgott, wie sie den Aloys
liebte 1 Der mußte der Ihre werden, und wenn sie die
ganze Hölle dafür in Bewegung setzen müßte! Sie liebte
den Burschen wie toll, kannte nichts anderes mehr als
das heiße Begehren nach ihm; das kannte keinen «Lin-
Halt. Und nun kam das rasende Gefühl der Eifersucht
und zernagte ihr das Herz, daß sie hätte aufschreien
mögen vor Aual.
Da wurden plötzlich draußen schwere Schritte ver-
nehmbar; die beiden grauen horchten gespannt. Der
große Aettenhund stieß ein freudiges Bellen aus, feine
Aetten raffelten, als wie wenn er vor seiner Hütte auf-
und abtrotte, um jemand zu begrüßen.
„Der Baterl" schrie die Stina laut auf und sprang
in die Höhe; ihre Augen blickten in größter Spannung
nach der Tür, aber in ihren Füßen war eine Schwere,
daß sie sich fast nicht vom Platze bewegen konnte.
Jos Rüdi stapfte einen Augenblick später über die
Steinfliesen des Flurs und trat in die Stube.
Mürrisch warf er die Mütze vom Aopf auf den
Tisch und ließ sich ächzend auf die Holzbank fallen.
Die beiden Frauen in der Stube würdigte er keines
Blickes, viel weniger denn eines freundlichen „Grüß
Gott, beieinander!" Mit dem Ärmel seiner Jacke
bearbeitete er die heiße Stirn; die gedrungene Ge-
stalt keuchte und pustete, die Beine mit den groben,
schweren Schuhen waren weit in die Stube vorge-
streckt, und nach rechts und nach links spuckte der Jos
*75
aus, als wenn er seinen ganzen Ärger damit aus-
spucken könne.
Mit weitausgerissenen Augen starrte die 5tina aus
den Vater; sie wollte zu ihm eilen, aber die Glieder
versagten ihr gänzlich.
Da tat der Bauer zuerst den Mund auf.
„Willst was vom Liebsten hören, he? 5chön ist's,
was ich dir sagen werd' —"
„Vater!"
„Heh? Nun, ich sag' dir's schon, brauchst nicht lang
mehr drauf zu warten."
Mit geballten Fäusten schlug er auf den Tisch, daß
der Brotlaib, der für ihn dortlag, von seinem Brett
abrutschte und das große Messer hart auf dem Boden
aufschlug.
„Vater, um Gotteswillen, was ist's?"
„Mas ist's? Aus ist's, sag' ich dir —"
„Vater, Vater!"
„Aus ist's, sag' ich dir; verschmäht hat dich der
Lump."
„Vater!"
Das Mädchen stürzte zu ihm und ballte ihm die
Fäuste unter der Nase.
„Tagt die Wahrheit, Vater, oder ich weiß nicht,
was ich tu!"
„Mho, kommst mir so, Mädchen! Sei ordentlich,
oder du lernst mich kennen, mich, den Jos Aüdi."
\76
Sie wich einen Schritt zurück unter seinem drohen-
den Blicke; schwer stützte sie sich auf die Tischplatte;
die Augen sprühten Feuer; aus der Lippe, in der sie
die Zähne eingrub, tropfte es blutrot. Voll Grauen
sah die Barbara in das verzerrte Nkädchengesicht.
„Sprecht, Vater!"
Die Stimme klang jetzt merkwürdig ruhig, man
sah, die Stina hatte sich in der Gewalt; wenn nur die
Augen nicht so unheimlich düster gewesen wären! Oie
verrieten nur zu wohl, daß alle Ruhe nur eine schein-
bare war.
Der Jos nahm sich die Zeit zu seiner Erklärung;
der Ärger wühlte so in seinem Innern, daß er glaubte,
er müsse ihm den Brustkasten sprengen.
Die Schnioch, die ihm der Lump angetan hatte!
Nicht zu begreifen war es, daß das ihm, dem Jos Rüdi,
überhaupt widerfahren konnte.
Seine Tochter hatte der Lump verschmäht! N)ar
so etwas überhaupt zu denken? Statt für die Ehr', die
er, der Jos, dem Aloys antun wollte, zu danken und
ihm vor Freud' um den L)als zu fallen, hatte der ihn
einfach abgewiesen, und, wahrhaftig, Spott und Hohn
war noch obendrein in seinem Gesicht zu sehen gewesen.
So ein Lump!
Aber eintränken würd' er es ihm schon, ihm, und
auch dem scheinheiligen Duckmäuser, dem Vater, dem
Jakob Stoß.
\77
Aus den hatte er eine gar arge Wut. So ein Duck-
mäuser! Nichts gesagt hatte der die ganze Zeit, wes-
wegen man hätte denken können, daß die Geschichte
nicht geklappt hätt'. Grad nur geglaubt hatte man
immerfort, daß der Zakob seine Sach' bei dem Aloys
gut ausgerichtet habe und alles in der Mrdnung sei.
Und nun so!
Eine Schande war es, ihm so etwas anzutun.
Nun, es ist noch nicht aller Tag' Abend, und die
sollten den Zos Rüdi schon kennen lernen!
Schimpfend, polternd, dazwischen mehr wie einen
greulichen Fluch ausstoßend, berichtete er der Stina alles.
Die wurde weiß wie der Aalk an der U)and.
„Da stehst, was für ein Lump der Aloys ist. Ver-
schmäht hat er dich, richtig verschmäht. Und warum" —
„Warum, Vater?"
Angstvoll hingen die düstern Augen an dem Munde
des Sprechers. Das Talglicht warf sein flackerndes Licht
gerade über die Hellen Haare des Mädchens, es war,
als wenn dort rotglühende schlangen gezüngelt hätten.
„Ja, warum? Das ahnst nicht, sag' ich dir. Um
die Hexenbrut ist's, um das Gretli, daß du verschmäht
bist" —
„Vater!"
Mit grellem Aufschrei war das Mädchen wieder
nähergestürzt und umklammerte den Arm des Zos. Der
schüttelte ihn derb ab, er liebte so etwas nicht.
lNaidorf Die Hexe.
12
\78
„Hat er's gesagt, der, der, der Aloys?" kam es
dann zögernd von den zitternden Lippen, ll)ie beschwö-
rend hingen die Augen an seinem Munde, ihre Hände
krumpften sich ineinander.
„Hat er's gesagt?"
„Gesagt? Nein." Hart stieß es der Jos heraus.
„Aber ich weiß schon, was die Glocke geschlagen hat,
und Augen hab' ich auch im Aopf! Und ich sag' dir's,
Mädchen, um das Gretli bist verschmäht worden, um
das erbärmliche Ding, das nichts hat und nichts ist,
und das morgen nackt und bloß auf der Straße ständ',
wenn's dem Jakob Stöß einfallen sollt', es aus dem
Haus zu jagen. Um so eine bist verschmäht, Mädchen,
die so 'nen Lump zum Vater hat, der sich bei fremdem
Ariegsvolk 'rumtreibt, statt für lveib und Aind zu
sorgen, und die eine Mutter hat, die als Hex' auf
dem Scheiterhaufen verbrannt worden ist. Feine Brut,
was? Da kann man dem Aloys schon Glück wün-
schen, daß er so eine kriegt, so eine sind't er leicht
nicht zum zweitenmal auf dem Triesnerberg und
weiter, bis ins Aheintal nimmer. Und dem Jakob
sollt' man auch Glück wünschen, und der Anna auch,
hahahaha!"
Dröhnend schlug die schwere Faust des Jos auf der
Tischplatte auf; greuliche Fluchworte entfuhren seinem
Munde, er spuckte weit in die Stube und fuchtelte mit
den Armen in der Luft herum.
„So ein Lump, so ein schlechter! Aber wart', ich
komm' ihm; ist's nicht heute, ist's doch morgen! He,
Mädchen, jetzt schlag' dir den da aus dem Aopf, kannst
noch einen andern kriegen, an jedem Finger einen,
sag' ich. Lin anderer weiß leicht die Ehr' besser zu
schätzen, dem Jos Rudi sein Schwiegersohn zu werden
und der Lrb' sür den ganzen Wohlstand, sollt' ich
glauben."
„Recht hast schon, Jos," mischte sich die Barbara
ein; die war auch erst ganz erschrocken, als sie hörte,
was sich zugetragen hatte. Wo waren nun all ihre
schönen Träume von Hochzeit und von Hochzeitsschmaus,
von Rochen und Backen und Braten und Sieden? Sie
schüttelte den grauen Ropf, manches war ihr unver-
ständlich, was der Jos erzählt hatte; aber das hörte
sie wohl heraus aus der Red', daß der Aloys die Stina
nicht wolle. Das arme Mädchen! So eine Schand'I
Und die hatte ihn doch so gern, den Aloys, daß ihr
die Augen schier heiß wurden vor Liebe, wenn sie nur
von ihm sprach. Nein, daß so etwas nur passieren
konnte! Verschmäht hatte der Bub die Stina? Solch
ein bildsauberes Mädchen, wie die Stina eins war, so
kräftig und groß, so blühend vor Gesundheit, und dem
Jos Rüdi seine Tochter!
Die hatte der Aloys verschmäht!
Und wie es dem Mädchen nahe ging? Ganz ver-
zerrt war das Gesicht vor Wut; die Augen, rein un-
\80
heimlich waren die, sprühten nur Haß aus, die schrien
nach Vergeltung.
Ganz bang wurde es der alten Barbara. Ja, ja,
so etwas hat eins nun von der Liebe! Da konnte man
schon dem Fimmel dafür danken, daß er einen vor der
Liebe bewahrt hat. Ja, ja, es war schon gut so, daß
sie nichts damit zu schaffen gehabt hatte ihr Lebtag
nicht. Sie hatt' doch nun ihren Fried' bis auf ihren
alten Tag und braucht' sich nicht zu ärgern und viel-
leicht gar die Augen blind weinen, weil der Liebste
einen verschmäht hatte. IVenn's die Stina nur einsehen
wollt'! Nichts dran gelegen ist an der Lieb', rein gar
nichts; nichts als Ärger bringt sie über einen.
Sie trat an das Mädchen heran und legte ihm wie
begütigend die Hand auf die Schulter.
„Laß es gut sein, Stina."
Die schüttelte mit einer heftigen Gebärde die Hand
ab und stieß rauh hervor:
„Ist nicht nötig, Base; ich brauch' keinen Trost,
komm' schon allein darüber hinweg."
Dann lachte sie schrill auf und ging mit schweren
Schritten aus der Stube hinaus.
Hinter ihr her fluchte der Jos noch einmal kräftig.
„Teufelauch, so eine Schand'! Rein platzen möcht'
man aus seiner eigenen Haut 'raus vor Ärger. Hätt's
einer dem Satan, dem Aloys, ansehen können, was der
einer ist? Solch ein schlechter, ein Satansbub!" —
Die Barbara bekreuzte sich.
„Hör' auf, Jos, mit der gottlosen Red'. Versün-
digen tust dich gar arg mit so einer Red'. Und dem
Mädchen wird's nicht leichter dadurch."
5ie stellte die Spinnräder in die Ecke und legte ein
neues Scheit auf das Feuer. Der Jos stützte mit beiden
Fäusten den plumpen Aopf und stierte dabei in die
prasselnde Glut.----------
U)ie der Wind das Haus umbrauste in der Nacht!
Das jagte und tobte; die kahlen Aste des alten
Walnußbaumes, der hinter Jos Rüdis Haus stand,
rauschten; klagende Töne zogen hinaus in den Wipfel.
Tiesschwarz war die Nacht; nur dann und wann
kam der Mond aus zerrissenem Gewölk hervor und
beleuchtete mit bleichem Scheine die stille N)elt; die
mächtigen Bergkuppen ragten für einen kurzen Augen-
blick aus der Dunkelheit empor.
Hier und da blinkte noch hinter den kleinen Fenstern
der Wohnungen ein Licht auf, da, wo vielleicht eins
krank oder in anderer großer Not war.
Sonst war alles still und dunkel auf dem Triesner-
berg; die Menschen ruhten aus von des Tages Last und
Sorge; sie suchten im Schlaf Vergessen für gewesenes Leid
und träumten von einem besseren, sonnigen Erdendasein,
ohne Aampf und Schmerz. Die Unglücklichen wurden
im Schlafe glücklich, und die Glücklichen haschten selbst
im Traum nach einem noch größeren Glück.
*82
Line Nkädchengestalt stand am kleinen Fenster der
Aammer und starrte in die Finsternis; sie hatte noch
keine Ruhe gefunden und auch keinen Trost, kein Ver-
gessen.
Ihr Herz bäumte sich auf in heißer Anal und fchrie
nach Vergeltung, nach Rache.
Die Stina preßte das glühendheiße Gesicht gegen
die kalten Scheiben und starrte mit wilden Augen in
die stürmische Nacht.
Im großen Bett dort an der Wand schlief die Bar-
bara; sie teilte mit der Stina die Aammer. Längst hatte
sie ein fester Schlaf umfangen; schnarchende Töne ent-
fuhren dem geöffneten, zahnlosen Munde der Alten.
Die Stina hatte auch scheinbar ihr Lager aufgesucht,
sich aber gleich wieder erhoben, als sie merkte, daß die
Base eingeschlafen war.
Sie konnte nicht schlafen.
Das hämmerte in ihrem Aopfe, das wühlte in
ihrem Innern, daß es eine Hual wurde, damit ruhig
liegen zu bleiben.
Sie schlich sich zum Fenster.
Der Sturm draußen war nur ein Abbild des Sturmes,
der über ihr Haupt hinweggebraust war und ihr Leben,
ihr Lieben und hoffen gänzlich zerstört hatte. Der hatte
nichts in ihrem Kerzen zurückgelassen als ein heißes,
wildes Verlangen nach Rache.
Rache für die Schande!
Aein Lichtschimmer fällt in die verdüsterte Seele,
kein guter Gedanke kommt und predigt von Vergessen,
von Verzeihen.
Nur Rache will das beleidigte Herz, Vergeltung,
und sei es durch den Tod! Ob recht der Meg, den die
wüsten Gedanken nehmen? Aommt denn kein Mahner?
Sterben muß das Gretli!
„Tu's nicht, Mädchen, tu's nicht, Hast nicht von
den Tobelhockern gehört? In alle Ewigkeit find'st keine
Ruhe, Mädchen!"
Das Mädchen, das am Fenster kauerte, erschrak.
Hatte einer die Morte gesprochen? hatten ihre er-
regten Sinne ihr diese selbst gar zugeflüstert?
Mieder ein Murmeln, diesmal undeutlich, unver-
ständlich ; das kam von der Seite drüben her, wo das
Bett stand.
Die Barbara träumte und sprach laut im Traume.
Ein Schaudern lief der Stina den Rücken herunter;
wie sie sich doch so ängstigen konnte! Dumm war's,
ganz dumm.
Mas sprach doch die Base eben?
„In alle Ewigkeit find'st keine Ruhe."
Mieder liefen ihr kalte Schauer über Rücken und
Schulter, daß sie sich schütteln mußte und die Zähne
aufeinander schlugen; die Augen leuchteten so ge-
spensterhaft.
„In alle Ewigkeit find'st keine Ruhe."
Fort, fort mit den tollen Gedanken, die durch das
Hirn wirbelten. IHit beiden Händen griff sich das
Mädchen an die Sirn, der Aörper zuckte, der Busen
hob und senkte sich stürmisch.
„Rache will ich, Rache will ich!"
Hui, hui, hui, heulte der Surm.
Alang's nicht gerade als wie „sterben, sterben,
sterben"?
schaudernd wandte sich die 5tina ab. In der finstern
Aammer tappte sie vorsichtig bis zu ihrem Lager;
fröstelnd zog sie sich die Decke über die Ghren; nichts
mehr wollt' sie hören von dem Heulen des Sturmes;
aber das war vergebens. Immerfort gellte ihr sein
„hui, hui" in den Ghren wider, und ihre erregten
Tinne schlugen in den Schläfen den Takt dazu und riesen
„sterben, sterben, sterben!"
Dann kam ein unruhiger schlaf mit wirren, angst-
vollen Träumen.
5ie mußte immerfort lausen wie gehetzt; die Haare
siatterten ihr wüst um den Aops; der kurze Rock wurde
ihr immer länger und schwerer; ihre Füße verwickelten
sich darin, daß sie fast nicht voran konnte. Aber sie
mußte ja weiter; ein großer, großer Hund jagte hinter
ihr her. Der hatte einen mächtigen Aops und mitten
aus der Stirn ein großes, leuchtendes Auge, aus dem
Feuer sprühte; sein wüstes, zottiges Fell schleifte säst
den Boden; aber die Beine mit den großen Tatzen
\86
konnten furchtbar schnell voran. Er war ihr immer
dicht im Rücken und schnappte mit der großen Schnauze
nach ihr; aus dem weitgeöffneten Rachen kam ein
kurzes, stoßweises Bellen; das klang aber nicht, wie das
Bellen anderer Hunde, das hatte solch einen merkwür-
digen, durchdringenden Ton, und mit Grauen hörte sie
nur das eine furchtbare Wort heraus: „Hex', Hex', Hex'!"
Wie gejagt eilte sie vorwärts, das Ungetüm mit
seinem schnappenden Rachen immer hinter ihr. Sie
kannte keine Ruhe noch Rast; der Schweiß brach ihr
aus und lief ihr in Strömen über das Gesicht, denn
es ging nun auswärts; keuchend erkletterte sie einen
bewaldeten Berg; kein Weg war da; durch wildes
Gestrüpp mußte sie kriechen; die Zweige peitschten ihr
das Gesicht; Dornen rissen ihr die Haut blutig, und
die langen Haare hingen überall fest, daß sie sie mit
Gewalt losreißen mußte. Und immer voran ging es
in atemloser Hast; das Schnauben des Untiers, das
sie längst als den Alushund erkannt hatte, klang ihr
unheildrohend in den Vhren. Gben wurde der Wald
Heller, da mußte sie hin, da konnte sie dem Verfolger
vielleicht besser entrinnen. Aber da war ein mächtig
rauschendes Wasser, das brauste und tobte und schäumte
und spritzte, und gar grausig sinster war es; hier mußte
sie hindurch, aber sie bebte davor zurück. Da fühlte sie
die Tatzen des Alushundes im Nacken; mit einem
wilden Aufschrei stürzte sie sich in das tosende Element
\87
und erkannte in demselben Augenblicke, daß sie sich im
wilden Tobel der Lavenaschlucht befand. 5te fühlte so
etwas wie Erlösung, doch nur einen Augenblick, da
hörte sie schon wieder das fürchterliche Schnauben hinter
sich, das selbst das Brausen des Wassers übertönte.
Wildes Entsetzen erfaßte sie von neuem; sie kämpfte
mit dem reißenden Strudel; das Wasser peitschte ihr
das Gesicht und den ganzen Aörper; sie wollte immer
nach einem Halt greifen, aber alles glitt unter ihren
fänden fort. Und in all diesen Schrecknissen schnaubte
ihr nun noch der Alushund mit eineni gräßlichen Ge-
heul die Worte ins Ohr:
„An den steinernen Tisch mußt du. In Ewigkeit
wirst keine Ruhe finden, Tobelhockerin, Tobelhockerin!"
Da hatte sie die Tatzen wieder im Nacken, und mit
einem gellenden Schrei erwachte sie.
In Schweiß gebadet, zitternd an allen Gliedern, saß
sie aufrecht auf ihrem Lager und schaute verstört um sich.
Das Talglicht war schon angesteckt, die Base auf-
gestanden; es war Morgen.
„Hast ja geschrien, Mädchen, als wenn du am
Messer gesteckt hättest, Hast den Schrättlig *) gehabt,
Stina? Saß dir der lose Gesell' auf der Brust?"
„Geträumt hab' ich, Base. Rein furchtbar war's,"
stöhnte die Stina und ließ sich wieder auf das Aisten
*) Albdrücken.
*88
zurückfallen. Sie schloß die Augen und überdachte das
im Traume Erlebte; sie zitterte noch an allen Gliedern.
Aber dann kam die Erinnerung der Ereignisse des
vergangenen Abends und verwischte die schrecklichen
Eindrücke des Traumes. Wilde Rachegedanken stiegen
wieder in dem beleidigten Kerzen empor; was sie sich
in der Nacht geschworen hatte, es mußte ausgeführt
werden.
Sterben mußte das Gretli, das der Stina, des
reichen Jos Rüdi einziger Tochter, den Liebsten ge-
raubt hatte!
Und sie dachte und dachte. — —
Zehntes Kapitel.
2luf dem Triesnerberg war ein geheimnisvolles
Flüstern. Die Leute steckten die Köpfe zusammen; ihre
Gesichter zeigten teils einen sorgenvollen, teils einen
hämischen, schadenfrohen Ausdruck, je nachdem. A)o
sich welche trafen auf der Gaffe, am Brunnen, oder
wo es auch immer sonst sein mochte, da standen sie
beieinander, und der eine fragte den andern:
„Habt Ihr's schon gehört, Nachbar?"
Dann ging das Flüstern los; ganz dicht kamen die
Köpfe zusammen, und das Staunen auf den Gesichtern
wurde größer und größer, und laute Ausrufe des Gut-
setzens wurden hörbar.
„Jesus, Maria und Josef, wer hätt' das ahnen
könnenI Nicht zu denken ist es, rein nicht zu denken!"
Hans Gberlin war mit ganz verstörtem Gesichte zu
seinem lveib in die 5tube gekommen. Sie hatten wenig
miteinander gesprochen in der letzten Zeit; der Bauer
war erbittert und trank oft heimlich mehr als er ver-
tragen konnte; das war alles um den Tod des Mariele.
Die Truda sah ganz verhärmt aus; zu dem Leid um
das verstorbene, einzige Kind kam der Kummer um
den Mann, der nur den Mund zum sprechen auftat,
190
wenn er ihr seine rohen Schimpfwörter entgegenschleu-
dern wollte. Sie hatte es nicht gut bei dem harten
Manne, jetzt noch viel weniger, als da das Mariele
noch lebte und seine patschigen, dicken Ärmchen ost um
Vater und Mutter zugleich schlang und durch sein liebes
Geplauder die harten Züge wie ganz von selbst weich
machte.
Die Truda sah erstaunt auf ihren Mann, der ein
ganz verstörtes Aussehen hatte und sich in aufgeregter
Hast mit allen Singern durch die Haare fuhr.
„Hast es gehört, Truda? Das Gretli ist eine Hex' — "
„Zesus, Maria und Josef!"
„Mahr ist's, das ganze Dorf spricht darüber. Und,
Truda, weißt, was man sagt?"
Er näherte sich mit seinem verstörten Gesichte dem
seines Meibes und flüsterte mit vor Erregung heiserer
stimme: „Das Gretli hat das Mariele verhext, daß
es hat sterben müssen."
„Herrgott im Fimmel!"
Die Truda ließ sich auf die Holzbank fallen und
schlug beide Hände vor das Gesicht. Unheimlich still
war es für eine Meile in der 5tube.
„Glaubst es, Truda?"
Da hob sie den Aopf unb schaute ihren Mann mit
heißen Augen an. Mit fester stimme antwortete sie:
„Vb ich's glaub'? Nein, sag' ich, das Gretli ist
keine Hex', und es hat auch nicht das Mariele verhext.
Unser Herrgott hat das Aind gar lieb gehabt und hat
es in den Himmel geholt, daß es mit den Engelein
spielen sollt; deshalb hat es sterben müssen. Und das
Gretli hat das Mariele auch so lieb gehabt; das hätt'
sein Herzblut für das Rind gegeben, wenn es hätt' sein
müssen. Aber nimmer hätt' es ihm schaden können.
Und verhext soll das Gretli das Aind haben? 5o eine
Lüge! Das Gretli soll eine Hex' sein, so ein braves,
gutes Mädchen, und so fromm wie es ist? Eine
Zchand' ist es, daß man so etwas schlechtes über so
ein armes Dirnlein sagt, das keine rechte Heimat hat
und nicht Vater und Mutter! Das sag' ich. Hat's
jemand was zuleid getan?"
„Aber, sie sagen's all, Truda; ein fürchterlich Gered'
ist auf dem Triesnerberg. Ganz wirr im Aopf ist's
mir noch davon, daß ich nicht aus weiß und nicht ein.
Sie sagen, es hat die Hexerei geerbt; die Lucia war
auch eine Hex', wie du ja wissen wirst so gut als ich
und alle Leut' hier in der Gemeinde."
„Das Gretli ist keine Hex', Bauer."
„Hör' mich doch erst an!" Hans Eberlin wurde
zornig, Widerspruch konnte er schon gar nicht ertragen.
„Ich will nichts hören, Bauer."
„Weib, bist ruhig, oder ich weiß nicht, was passiert!"
Mit beiden Fäusten schlug er auf die Tischplatte.
Epöttisch warf die Truda die Lippen auf.
„5>o red'."
192
„Das Gretli soll eine Hex' sein, sagen sie all; ein
grausiges Unwetter soll es auf Malbun gemacht haben,
-aß das Vieh fast all vernichtet ist und der Stall zer-
stört wurde; dann sagen sie, es hätt' unser Ulariele
verhext, daß es hätt' sterben müssen, und beim Nachbar
Grni ist eine Sau verendet grad als das Gretli vorbei-
gekommen und ganz neugierig in den Stall geguckt hat,
und einer sagt, daß er in der Nacht, als er nicht hat
schlafen können und am Fenster gestanden hat, auf ein-
mal in der Luft etwas gar Seltsames gesehen habe; ein
U)eib sei auf einem Besenstiel durch die Luft geritten,
und grad hab' der Ukond sein ganzes Licht auf das
Weibsgesicht geworfen, und da hab' er zu seinem
Schrecken erkannt, daß es das Gretli sei. Bekreuzt hab'
er sich dreimal; erst hab' er darüber schweigen wollen,
aber jetzt, wo alle sagen, was passiert ist, und daß das
Gretli wirklich eine Hex' sei, da wolle er auch nur
sagen, was er gesehen hätt'!"
Die Truda stützte den Kopf in beide Hände; ihr
Gesicht war ganz traurig. Welch ein Unheil kam da
herauf und zog sich drohend über dem Haupte des
armen Mädchens zusammen! Sie dachte an die Nacht,
da ihr kleines Ukariele sterben mußte. Wie lieb und
besorgt war das Gretli gewesen; von der Mfenbank
her, wo sie ihre müden Glieder ausgestreckt hatte, hatte
sie noch heimlich eine ganze Zeitlang das Mädchen be-
obachtet. Das hatte immer auf den harten Steinsiiesen
193
gekniet, den Rosenkranz in den Fingern und das Ge-
sichtchen mit den großen, traurigen Augen so rein und
so unschuldig wie ein Tngelein; und sanft hatte es sich
um das kranke Aind bekümmert, ihm mit aller Fürsorge
das heiße Aöpfchen gekühlt und die trockenen, dursten-
den Lippen genetzt. Und soviel Liebe zum Mariele war
in Gretlis Augen gewesen!
Und so eins sollt eine Hex' sein und schuld an dem
Tod des armen Dirnleins?
Nicht wahr konnte es sein, und glauben tat's die
Truda nicht, und wenn die ganze Gemeind' es sagen sollt'.
Das arme, arme Gretli! Das hatte es nun von
seiner Güte I Tine Hex' sollt' es sein! Herrgott, ist das
ein Leid, das über so ein armes waislein kommt, das
nie einem einzigen Menschen auch nur ein böses Gesicht
gemacht hätte!
Die Truda weinte still vor sich hin.
Das machte den Bauer vollends wütend.
„Ist was zu weinen drum, Weib? He? Denken
hätt' man können, daß du eine richtige Wut kriegen
solltest darüber, daß so eins unser lieb's Mariele ver-
hext hat, daß es hat sterben müssen"--------
„Das Gretli hat das Mariele nicht verhext!"
Hochaufgerichtet stand die Truda vor ihrenl Manne,
ihre sonst so duldsamen Augen sprühten Feuer; ihre
Lippen bebten. Tr hob in voller U)ut den Arm zum
Schlagen aus; mit keiner Miene zuckte sie.
lNaidorf, Die hexe.
73
m
„schlag' zu, Bauer, was Besseres kennt man schon
nicht mehr. Es muß eine Großtat sein von so einem
Mann, auf ein lveib losschlagen zu können, schlag'
zu, Bauer, ich bin schon längst nichts anderes mehr
gewöhnt. Aber den Mund stopfen kannst mir deshalb
doch nicht, und ich ruf' es ganz laut über den Triesner-
berg und so oft ich will: „Das Gretli ist keine Hex',
und wenn es die ganze A)elt drum anklagen tät!"
So, Bauer, schlag' zu, ich halt' still; es wär ja nicht
das erstemal!"
Hans Eberlin aber ließ den Arm wieder sinken;
schlaff hing er an seinem Leibe herunter; die geballte
Faust löste sich langsam. Die energischen Morte der
Truda hatten ihn merkwürdig gepackt; er staunte sein
Meib an, als sei sie eine ganz fremde. Die hatte sich
bisher immer seine Härte und seine Roheiten gefallen
lassen, und jetzt?
Verächtlich zeigte ihm die den Rücken und schritt
erhobenen Hauptes zur Tür. Hier drehte sie sich noch
einmal halb herum und sagte:
„Daß du's weißt, Bauer, um mich selbst tu' ich
nimmer den Mund auf, da kannst ruhig auf mich los-
hacken, wenn du eine Freud' dran hast; aber um das
Gretli tu' ich nimmer schweigen, dem steh' ich an
die Seit’, und wenn die ganze Melt gegen das arme
Dirnlein ist. So, jetzt ist's gesagt, Bauer, kennst mich
jetzt."----------
Jos Rüdi kam auch mit dem Zeichen der größten
Aufregung von einem Gang über die Gaffe in fein
Haus zurück. Gr fand die Stube leer; die Barbara und
die Stina waren im stalle bei der Fütterung.
Mit weithinschallender Stimme rief der Zos über
den Hof:
„Barbara! Stina I"
„Kommen schon, Jos."
Die Alte humpelte eiligst heran; mit zögernden
schritten kam die Stina hintendrein.
„Brennt's wo, Vater?" fragte das Mädchen trocken,
als sie alle drei in der Stube beisammen waren, und sah
mit lauernden Augen auf den Bauer, der mit wuchtigen
Schritten aufgeregt hin und her durch die Stube lief.
Nun ließ er sich auf einen Schemel fallen und
fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft.
„Mas meinst, Zos, bist vielleicht krank?" fragte die
Base besorgt.
Der fand nicht gleich die richtigen Morte und setzte
verschiedenemale von neuem an.
„Gine Hex' ist auf dem Triesnerberg"-----------
„Jesus, Maria und Josef!" kreischte die Base laut
auf und bekreuzte sich dreimal; mit unbeweglicher Miene
stand die Stina da.
Von neuem hub der Zos an und tat gar wichtig
und erzählte, was er auf der Gaffe über das Gretli ge-
hört hatte.
196
„Lolch ein Weibsbild, solch ein schlechtes! Verhext
hat's alles, den Lturm hat's gemacht, das Mariele
verhext, daß es hat sterben müssen, und, Herrgott, ein
Gedanke kommt in meinen Aops, ein Gedanke! Das
Gretli ist eine L)ex', das hat auch den Aloys verhext,
daß der keinen klaren Verstand mehr hat und sein
dummes Herz an das armselige Ding gehängt hat. Ja,
ja, so muß es sein. Fimmel, Donnerwetter, so etwas!
So ein schlechtes Weibsbild! Verhext hat's den Aloys,
ganz verhext!"
Dröhnend fielen dem Jos seine Fäuste auf den Tisch;
mit rollenden Augen sah er auf die beiden Frauen. Die
Bafe war wie zerschmettert; kein Wort bracht' sie
erst über die Lippen. Sie starrte vom Jos auf die
Ltina und von der wieder weg auf den Bauer. Sie
sah auch, welch eine unheimliche Ruhe auf dem Ge-
sichte der Stina lag; da war von Aufregung über die
entsetzensvolle Neuigkeit nichts zu sehen; im Gegen-
teil, in den Augenwinkeln lag so ein versteckter, lauern-
der Zug.
Langsam, langsam dämmerte in dem Aopf der Alten
eine Erkenntnis; ihre Augen wurden ganz starr. Die
hingen mit furchtbarem Ausdruck an dem Gesichte des
Mädchens.
Für einen kurzen Augenblick senkte die Stina scheu
den Blick, doch nur ganz kurz, dann hob sie ihn umso
trotziger und sah die Barbara fest an.
Die nickte wie verstört mit dem grauen Aopfe
humpelte ganz langsam, schwerfällig bis zur Tür und
sagte mit zitternder, rauher Stimme:
„Gott sei dem Angeber gnädig!!"
Da lachte die Stina schrill auf.
„Vater, meint Ihr nicht auch, daß die Base schon recht
alt wird und manchmal da oben rächt ganz richtig ist?"
Sie tippte mit dem Finger auf die Stirn und stimmte
wieder ein schrilles Lachen an.
Unwillig wandte sich der Bauer ab.
„Laß mir die Barbara in Ruhe, Mädchen; die ist
die Schlechteste nicht und tut niemand was zuleide. Und
alt werden wir alle mal, ich schon bald, die Base ist
nur wenig älter als ich. Die Barbara meint's gut, hat
ihr Lebtag fleißig gearbeitet, das solltest du wissen,
Mädchen, ist doch deine Mutter gewesen in all den
Jahren, seit die Bäuerin heimgegangen ist."
„U)eiß ich, Vater." Die Stina lachte wieder schrill
auf. Dann war sie ruhig und bat den Jos, noch mehr
davon zu erzählen, was die Leute auf der Gaffe ge-
sagt hätten. Der kam dem Verlangen mit breitem
Behagen nach und fand an der Tochter eine aufmerk-
same Zuhörerin.
Mit der Faust schlug er sich auf das Anie und
spuckte in weitem Bogen auf die Steinfliesen.
„Fimmel, Donnerwetter, so ein schlecht'-. Weibs-
bild! Aber denken konnte man's schon; wenn so eins
M
solch eine Mutter gehabt hat! So eine Hex', eine ver-
siuchte! Den Buben hat's auch verhext, daß der ganz
narrisch war und nicht wußt', was sein Bestes war.
Hätt' der sonst so eine Dummheit gemacht und dich
verschmäht, Stina? Dich, des Zos Rüdi Tochter?"
Mild sprühten die Augen des Mädchens; stürmisch
hob und senkte sich ihr Busen; man sah, die Schmach,
die ihr angetan worden war, stand ihr jetzt wieder vor
der Seele; heiß loderte es darin aus, und wilde Rache-
gelüste erfüllten sie. Dann glitt ein Zug von Befriedi-
gung über ihr Gesicht, als wenn nun angenehme Ge-
danken hinter der Stirn arbeiteten.
Nach einer Meile fragte sie lauernd:
„Vater, hat der Zakob Stoß das saubere Weibs-
bild nicht vor die Tür gejagt?"
„Herrgott, da frägst was, Stina I Leicht, daß der
Zakob noch von nichts was weiß. Ich mein', ich geh'
hin und vermeld' es ihm und auch seiner Anna, daß
die wissen, wo sie dran sind mit so einer Schlechten,
die kein ordentlicher Thristenmensch in seinem Haus
dulden sollt'."
Mieder tat die Stina lauernd.
„Ich mein', der Jakob Stoß ist der Vorsteher vom
Triesnerberg seit der letzten Mahl? Gr wird den
Meibel*) für die Hex' bestellen müssen?"
*) (Scmetnbcbtcner, Polizei.
„Den Weibel? Wahr ist's, Mädchen, hast recht;
fast hätt' ich nicht dran gedacht. Wahr ist's, der Jakob
muß dem Weibel Bescheid sagen; der weiß schon, wo
so eine Hex' hingehört. Hahahaha, ist das eine Sach'!
Die Straf' muß so eins haben, daß ihm die Hexerei
vergeht und der Schwarze sein ausgetrieben wird. So
eine Hex', eine schlechte!"
Er spuckte nochmals aus. Dann machte er sich auf
den Weg nach dem Nachbarhaus.
* *
*
Jakob Stöß hatte sich in der letzten Zeit fast un-
stchtbar gemacht; er suchte dem Zos auf jede nur denk-
bare Weise aus dem Wege zu gehen, denn er hatte
ihm gegenüber kein reines Gewissen. Gr hatte es immer
noch nicht über das Herz gebracht, ihm von den ge-
scheiterten Heiratsplänen zu sprechen und dem Jos die
schönen Hoffnungen zu zerstören. Vielleicht hatte er selbst
auch in seinem Herzen noch immer die leise Hoffnung,
daß der Aloys sich doch noch anders besinne und den
Verspruch mit der Stina halten werde. Gr war oft
ganz ratlos und kraute sich mehr als einmal in ge-
heimer Sorge die Haare. Den Buben hatte er noch
nicht wiedergesehen; der Anecht des Zos hatte ihm
genauen Bericht über die Schäden in Malbun erstattet,
die er aus Gretlis Erzählungen schon zum größten
Geil wußte. Selbst hingegangen war er nicht; er wollt'
200
dem Buben Zeit lassen, über die gehabte Unterredung
nachzugrübeln, und dachte, daß es immerhin besser sei,
ihn auf Ulalbun ungestört zu lassen.
Dem Jos gegenüber fühlte er sich in arger schuld.
Eher hätte er schon geglaubt, daß der Fimmel einfallen
sollt', als daß sich der Aloys weigern würde, die Ltina
zu heiraten. Lolch ein Bub, solch ein Lchandbub, daß
der dem eigenen Vater eine solche verflixte Dummheit
machte, daß er dem Jos nicht mehr frei und ehrlich
in die Augen sehen konnte! Zum Todärgern wär's rein.
U)enn er nur erst die Lache mit dem Jos ins Reine
gebracht hätte! Na, schön wüten würde der, dafür
kannte er den Jos ja, und ihm, dem Jakob, würde
der die Lchuld geben.
Als ob er die hätte! Ihm für fein Teil wäre es
schon lieber gewesen, wenn die Lache glatt abgelaufen
wäre und der Aloys mit dem fröhlichsten Gesichte seine
Zustimmung gegeben hätte.
Lo eine schöne Lach', wie das doch war!
Aber einen harten Aopf hatte der Bub, daß es
einen schier ärgern sollte. Lo einen Dickkopf, so einen
Lchädel wie, ja, wie nur gleich? U)ie er selbst einen
hatte, er, der Jakob Ltöß; der Bub hatt' ihn von
ihm geerbt.
ll)enn der Jakob so weit mit seinen Gedanken ge-
kommen war, bekam er jedesmal eine U)ut auf sich
selbst; dann war kein Umgehen mit ihm, und die
2CK
Bäuerin ging ihm dann lieber stillschweigend aus dem
Wege.
Die war selbst in großen Nöten. Das Gretli machte
ihr Lorge. So bla$ war das Nlädchen und so voller
Traurigkeit! Fast kaum, daß es die Lippen auftat, um
eine Frage zu beantworten; essen und trinken möcht'
es auch nicht. Scheu wich es allen teilnehmenden
Fragen der Bäuerin aus und wehrte deren zudring-
licher Besorgnis.
Was dem Gretli wohl sein mochte? Die Bäuerin
schüttelte ganz ratlos den Aopf darüber; aber sie fühlte
jetzt doppelt, wie ihr Herz an dem verwaisten Ainde
hing und tat ihm soviel Liebes an, wie sie in ihrer
Gutherzigkeit nur vermochte. —
Der Jakob war in der Stube, als er den gänzlich
unerwarteten Besuch von Jos Rüdi erhielt. Gs wurde
ihm ganz unbehaglich bei dessen Anblick; kam der, um
jetzt Rechenschaft von ihm zu verlangen? Gr räusperte
sich vernehmlich und erwiderte das „Grüß Gott, Nach-
bar!" mit bedrückter stimme.
Die beiden Ulänner waren allein in der Stube und
saßen sich am Tische gegenüber. Zuerst sprach keiner
ein Wort; dem Jakob wurde es immer ungemütlicher
zu Blute.
Nun räusperte sich der Jos und fiel dann ohne Um-
schweife gleich mit der Tür ins Haus, indem er mit
hämischer Bosheit herausfuhr:
202
„Ihr müßt den Weibel holen, Nachbar Stöß; Ihr
habt eine Hex' im Haus."
Jakob Stöß' Gesicht war entsetzt; er hatte sich er-
hoben und stützte sich schwer auf den Tisch.
„was habt Ihr gesagt, Jos?"
„was ich gesagt hab? He? Tine Hex' habt Ihr
im Haus."
„Tine Hex'?" Schwer fiel des Jakob Faust auf
den Tisch.
„Tine Hex'? Sagt's noch einmal, Jos! weint Ihr
leicht meine Anna, mein Weib?"
Die breite Brust des Mannes keuchte; fingerdicke
Adern lagen ihm auf der Stirn; die Augen traten
ihm aus den höhlen. Dröhnend fiel die Faust wieder
auf den Tisch.
„Euer Weib, Jakob Stoß? was Ihr nicht denkt!
wer hat denn von Tuerm Weib gesprochen?"
Da fiel der Bauer auf seinen Sitz zurück, und seine
Brust arbeitete, daß nur ein Aeuchen und Stöhnen
daraus kam. Dem Jos war der Anblick unheimlich;
Mitleid hatte er mit dem Nachbar.
„Daß Ihr auch so was denkt, Nachbar Stöß! Aeins
hat von Turem Weib geredet" —
„Möcht' auch niemand raten, Jos."
„Wohl, wohl. Die Hex' ist wo anders zu suchen,
wenn schon unter Tuerm Dach, Jakob Stöß."
„wer ist gemeint, Jos Rüdi?"
203
„lver gemeint ist? Nun, wer anders als die Hexen-
brut, der schwarzen Lucia schwarze Tochter. Das
schwarze Gretli ist eine Hex', und am Triesnerberg
sprechen die Leut' rein von nichts anderm. Daß Ihr's
nur wißt, Jakob!"
„Das Gretli, eine Hex?"
Ungläubig schüttelte der Bauer den Aops; aber aus
seinem Gesichte stand die helle Angst.
„Das Gretli eine Hex'?"
Der andere nickte.
„Ls ist so, wie Ihr es sagt. Lin Schlechtes ist's,
das Gretli, eine Hex, und treibt die Hexerei, wo es nur
kann. Das Unwetter aus Nlalbun hat es gemacht, daß
alles zerstört worden ist und leicht alles Vieh vernichtet
worden wär mitsamt dem Aloys und dem Sepp; dem
Hans Lberlin und der Truda ihr Nkariele hat es ver-
hext, daß der arme U)urm hat in derselben Nacht
sterben müssen; dem Nachbar Lrni seine Sau hat es
verhext, daß die verenden mußte; auf dem Besenstiel
ist es durch die Luft geritten, und, Jakob Stoß, wollt
Ihr noch mehr hören?"
Der schüttelte den Aops.
„Ich kann's nimmer glauben, Nachbar Rüdil"
„So?" höhnte der. „Nicht glauben könnt Ihr's?
Aber Ihr müßt schon noch mehr hören."
Lr kam ganz nahe heran und flüsterte dem Jakob was
ins Ghr. Der flog wie von einem Biß getroffen in die Höhe.
205
„Das ist nicht wahr, Jos!" schrie er auf.
„So, nicht wahr? ZITeint Ihr leicht, dem Jos Rüdi
wär das Lügen eine Tugend, he? Vas wahr ist, muß
wahr bleiben, und ich sag's Luch nochmals, das Gretli
hat den Bub verhext, daß der selber nicht mehr wußt',
was er dacht', und sein dummes Herz an dem Mäd-
chen gehangen hat. Verschmäht hat er meine Stina
wegen so einer; eine Schand' ist's, sag' ich."
Lr spuckte in weitem Bogen aus und warf die
Lippen verächtlich auf; seine stechenden Augen ruhten
unausgesetzt auf dem Gesichte seines Gegenübers. Der
war getroffen; den hatte die Nachricht gepackt. Vas
in dem Augenblicke in der Seele des Mannes zuging,
das war nicht zu beschreiben.
„Herrgott, wenn es möglich wär'!"
„Ist schon leicht möglich," höhnte der Jos. „Aönnt
nur den Veibel rufen, seid ja der Vorsteher, Jakob Stöß."
„Ich glaub's nicht. Das Gretli? Der Aloys?"
Lin tiefes Stöhnen kam aus seiner Brust.
„So fragt doch das Gretli."
Da richtete sich Jakob Stöß zu seiner vollen Höhe
aus und sah den andern scharf an.
„Ich frag' das Gretli, und Ihr sollt dabei sein,Ios."
Mit dröhnender Stimme rief er aus der Tür hinaus:
„ Gretli, reinkommen I"
Linen Augenblick darauf kam das Gretli in die
Stube. Rührend war die kleine, schmächtige Gestalt
206
anzusehen; das Gesichtchen mit den großen, traurigen
Augen war so blaß; an einer groben schürze rieb sie
sich die Hände und Arme trocken; die waren ganz rot;
denn sie hatte mit der Bäuerin gespült. Anna 5töß
kam hinter ihr drein und war über den Besuch, den
sie in der Sube vorfand, nicht wenig erstaunt.
„Grüß Gott, Nachbar Rüdi! Ist schon recht, daß
Ihr Euch sehen laßt; ist lang nicht dagewesen, die Ghr'."
Se reichte dem Jos die Hand und war ganz ver-
wundert über die ernsten Gesichter der beiden Männer.
Sie sah bald aus den einen, bald auf den andern.
„Ist leicht was passiert?"
„U)irst schon hören," sagte ihr Mann kurz. Gr
atmete wieder schwer, der Anblick des Gretli mit dem
fragenden, traurigen Blick tat ihm in der 5-eele weh.
Herrgott, dem Ainde war er gut, so wahr er Jakob
Stoß hieß; so ein gutes, braves Dirnlein, wie das
immer gewesen war, und so fleißig und so anhänglich.
Und nun so ein Gered'!
Gr wollte ganz streng mit ihr sprechen; aber es ging
nicht, ganz weich war es ihm ums Herz und so weh.
Gr fuhr sich erst über die Augen, räusperte sich und
hub dann an:
„Ist kein gutes Gered' im Dorf über dich, Gretli."
Sie wurde noch um einen schein bleicher und senkte
dabei scheu den Blick. Ihre arme, kleine Seele war
voller Angst; denn sie glaubte nichts anders, als daß
207
die Leute auf dem Triesnerberg von ihrer und Aloysens
Liebe etwas erfahren hätten. Nun sollte fie dem Bauer
und der Bäuerin plötzlich eingestehen, was sie so ängst-
lich verborgen hielt und was ihr oft das kleine Herz
rein abdrücken wollte. Und der Bauer Jos Rüdi war
auch in der 5tube und wollte sicher Rechenschaft von
ihr; denn der Aloys sollte ja die Ttina heiraten.
Mie ihr das Herz bis zum Halse hinaus schlug!
Dem Bauer kam wieder das heiße Mitleid; aber
da sah er Zos Rüdis listige, lauernde Augen; da rich-
tete er sich strammer auf und gab seiner stimme einen
harten Alang.
„Hast eine Liebschaft mit dem Aloys?"
Da war es heraus. Die Bäuerin tat bei dieser
gänzlich unerwarteten Frage ganz entsetzt. Und das
Gretli? Zusammengefahren war es, als wenn es einen
Peitschenhieb bekommen hätte.
„Hast eine Liebschaft mit dem Bub? Gesteh',
Mädchen!"
hilflos, voller Angst guckte sie den harten Frager
an und ließ dann den Aopf bis tief auf die Brust
sinken; kein Mort kam über die zitternden Lippen. Ihr
schweigen reizte den Jakob, er sprang aus sie zu, packte
sie rauh am Arme und schüttelte sie.
„Millst Antwort geben, he?"
Mieder der hilflose Blick aus den todestraurigen
Augen; aber diesmal nickte sie leicht und stammelte:
208
„Ls ist, wie Ihr sagt, Bauer."
„Herrgott, so etwas!" Der Bauer schleuderte den
Arm mit einem wuchtigen Stoß zur Seite, daß die ganze,
kleine Gestalt vorwärts flog.
„Hahahaha, Nachbar Stöß, da habt Ihr Luer Ur-
teil. Wo ist nun die Lüg', he? Ist das eine wahr, ist
auch leicht das andere wahr. Hat das Nlädchen den
Bub verhext, hat's auch noch mehr Hexerei getrieben.
Fragt es doch, hahahaha!"
„Was sagt Ihr da, Jos?" Nlit kreischender stimme
suhr die Bäuerin den hämischen Spötter an. „Was sagt
Ihr, Jos, das Gretli hat den Bub verhext? Und noch
inehr Hexerei soll es getrieben haben?"
„Fragt doch selber das Nlädchen, Bäuerin. Geht
auf die Gaste und hört, was die Leute reden; ist nicht
wenig, was die reden!"
Die Bäuerin war wie ohne Verstand. N)ie der Blitz
kamen ihr die Gedanken; war ein neues Unheil da?
N)ar es noch nicht genug gewesen mit der Lucia, dem
armen Weibe? Und nun sollt' auch das Gretli eine Hexe
sein? Hörte denn das Leid gar nicht auf in diesem
Hause? Und das arme Aind dort? War es schuldig?
Nicht begriffen hatte das Gretli zuerst die furchtbare
Anklage; nach und nach dämmerte es ihr in dem Hirn,
daß es sich um viel, viel Schwereres handle als nur um
ihre junge Liebe. Ihre Augen wurden starr von Ent-
setzen, sie fühlte, wie ihr die Sinne schwanden, sie wankte
209
und wäre auf dem harten Steinboden aufgeschlagen,
wenn die Bäuerin ihr nicht blitzschnell zu Hilfe gesprungen
wäre. Nun hatte die die schmächtige Gestalt mit ihren
beiden kräftigen Armen umfangen, das Aöpfchen mit
den schwarzen Haarmassen ruhte an ihrer Brust, in der
alle weichen, mütterlichen Gefühle wachgerufen wurden.
Sie dachte nicht mehr an die schwere Beschuldigung;
nur eins war ihr in dem Aopf geblieben, das Gretli
liebte den Aloys, und der Bub liebte das Mädchen, das
war ihrem mütterlichen Kerzen etwas ganz Neues.
„Armes, armes Dirnlein, stand es so um dich? Und
ich war blind die ganze Zeit und merkte nichts? Armes
Gretli, armes Aindle!"
Sie streichelte ihm die Wangen und flüsterte ihm
allerlei Gutes ins Dhr.
Mit finsterm Gesichte hatte der Bauer bis jetzt zu-
gesehen; auch in seiner Brust kämpften gute und böse
Gedanken. Was er gehört, hatte ihn zuerst ganz ver-
wirrt gemacht. Also darin war des Aloys Weigerung,
die Stina zu heiraten, zu suchen? Der liebte das Gretli!
War es denn zu glauben? Der Bub vergaß sich so weit,
daß er sein Herz an so eine hängte, die nichts hatte und
nichts war! Das Gretli sollte hier Bäuerin werden?
War es nicht zum Lachen? Hatte der Bub denn gar
keinen Verstand mehr? blatte der denn nicht ein bißchen
Selbstbewußtsein? Das reichste Mädchen im Dorfe konnte
er haben. Und die verschmähte er um so eine! Gr wurde
\<k
Maidorf, Die hexe.
2^0
ganz hart, der Jakob Stöß; finster zogen sich seine Brauen
zusammen, lvenn das so war, nun, der Bub war sein
Sohn nicht mehr, und das Mädchen müßt' aus dein
Hause. Finster sah er aus das blaffe, schmächtige Ding.
Da kamen wieder weiche Gefühle und stritten mit den
.harten in seiner Brust. Herrgott, das Mädchen hing ihm
selbst mehr an, als wie er sich eingestehen mochte —.
„He, ist die Sach' nun bald zu Ende?" höhnte der
Jos. „Ihr habt's ja gehört, Nachbar Stöß; ist's eine
wahr, muß auch das andere wahr sein. Das Mädchen
hat eine Liebschaft mit dem Aloys, hat ihn ganz verhext,
daß er seinen Hellen Verstand verloren und sich an so eine
gehängt hat, und es ist eine Hex', sag' ich, das Unwetter
hat's angerichtet, dem Hans Lberlin sein Mariele hat's
verhext, daß das Aindlein hat sterben müssen" —
Da schrien Anna Stöß und Gretli zugleich auf:
„Das Mariele verhext, daß es hat sterben müssen?"
„Gott im Himmel, hast es gehört?"
Das Gretli wand sich aus den Armen der Bäuerin
und trat dicht vor die beiden Männer.
„Ich schwör' Euch bei meiner Lieb', die rein und
heilig in meinem Herzen ist, eine Hex' bin ich nicht. N)enn
ich eine Schuld hab', dann ist es nur die, daß ich den
Aloys gern hab', die Lieb' ist in mein Herz gekommen,
ohne daß ich es wußt'. Wenn das eine Schuld ist, so gebt
mir eine Strafe dafür. Gott im Himmel kann es bezeu-
gen, daß keine andere Schuld auf meinem Gewissen liegt!"
2U
„Holt den Weibel, Nachbar Stöß! Seht Ihr nicht,
wie das freche Weibsbild lügt und ein unschuldig Gesicht
macht? Line Hex' ist es doch, das ganze Dorf sagt es."
Schwere Schritte wurden draußen hörbar; noch ein
paar bange Sekunden des Wartens, da traten mehrere
Männer in die Stube, darunter Hans Lberlin, Lrni
und die beiden Schalter. Hochausgerichtet, mit seinem
härtesten Gesicht empfing sie Jakob Stoß.
„Was führt Luch hierher, Nachbarn?"
Da nahm der alte Schaller das Wort.
„Line Hex' ist in Lurem Haus, Nachbar Stoß. Das
schwarze Gretli, das Aind der Lucia, ist auch eine Hex',
wie seine Mutter. Ls ist eine Schand' für das Dorf, daß
wieder eine Hex' hier ist und die Hexerei von neuem
angefangen hat. Wir müssen in Frieden leben können
in unserm Dorf, wollen mit dem Schwarzen nichts zu
tun haben. Wer aber Gemeinschaft mit dem Schwarzen
hat, muß raus aus unserm Dorf, daß nicht nachher die
Hexerei allgemein hier ist und ein jedes für sein Weib
und sein Aind in Angst sein muß. Deshalb verlangen
wir von Luch, Jakob Stöß, als dem Vorsteher, daß Ihr
das schwarze Gretli aus Luerm Haus entfernt" —
„Holt den Weibel!"
Jakob Stöß gebot es mit harter Stimme.
Elftes Kapitel.
Eine sternenklare Nacht!
Line Nacht, wo sich das Herz noch mehr als sonst
zum höchsten hingezogen fühlt, wo das Auge in stau-
nendem, geheimnisvollem Ahnen tiefer und tiefer in
die Größe, in die Lrhabenheit des Schöpfers und des
Weltalls einzudringen versucht!
Den Aloys hatte es nicht auf seinem Lager gelitten.
Leise, um den Sepp nicht zu stören, hatte er sich er-
hoben. Der Sepp war aber doch halb erwacht und
murmelte schlaftrunken:
„Willst wieder in die Sterne gucken? Hast nicht
genug von der Krankheit gehabt?"
Der Aloys mußte über den jungen Burschen und
seine Sorge um ihn lächeln. Lr war ein guter Bub,
der Sepp, man konnte sich auf ihn verlassen.
Leise verließ der Aloys die Sennhütte. Kühle Nacht-
luft umfing ihn draußen, die ganze flimmernde Sternen-
pracht schaute auf ihn hernieder. Wie das Herz sich
weitete, wie das Auge sich in Wonne und Lntzücken fest-
sog an dem herrlichen Bild! Jauchzen hätte er mögen
so laut, so kräftig, daß es von den Bergen ringsum
widerhallte. Lr bezwang sich jedoch in dem Gedanken
2\5
an den Schläfer in der Hütte. Er faltete aber die Hände,
und seine Lippen murmelten ein Gebet.
Vorwärts trieb es ihn auf die Höhen, in die Föhren
des Bergwaldes. Solch ein Aufstieg zur stillen Nacht-
zeit hatte von jeher einen besonderen Reiz für ihn ge-
habt. Ganz allein in der nächtlichen Einsamkeit kamen
ihm gar wunderliche Gedanken, über die er oft selbst
den Aops schütteln mußte.
Heute war seine Seele wie von stiller Trauer um-
sangen; ganz wehmütige Gedanken arbeiteten hinter
der breiten Stirn. <£s war merkwürdig; er hatte in
diesem Augenblick die ganz bestimmte Vorstellung, als
wenn ein Unglück drohend über seinem Haupte schwebe.
Gr wollte das Gefühl abschütteln; umsonst, es drängte
sich ihm immer mehr auf und packte ihn wie mit selt-
samer Gewalt. Durch anstrengendes Aufwärtssteigen
suchte er Herr über die traurigen Gedanken zu werden —
vergebens, es war, als könne er ihnen nicht entrinnen.
Da machte er an einer hohen Föhre, deren breites
Geäst wie ein Schutzdach war, Halt und dachte nach.
Seine Gedanken nahmen eine bestimmte Richtung
an. U)as seine Seele in der letzten Zeit besonders be-
wegte, das nahm ihn auch jetzt gefangen. Gs war
feine junge Liebe.
Gr dachte an das liebliche, bescheidene Rind mit
den großen, schwarzen Augen, das er immer als ein
Schwesterchen geliebt hatte, bis er eines Tages entdeckte,
daß unversehens aus der Bruderliebe eine andere,
größere, heiligere Liebe entstanden war.
Ls würden Aämpfe uni diese Liebe kommen.
Noch wußten die Litern nichts von ihr und seinem
innigen Verlangen, das treue, brave Gretli als Weib
zu besitzen. Aber die stunde mußte kommen, daß er
ihnen von seiner Liebe reden mußte. Davor bangte er.
Lr kannte den Bauernstolz der Litern; sreie Walliser
nannten sie sich mit Stolz gleich den andern Triesner-
berger Anwohnern und sahen mit Selbstbewußtsein
aus den von den Altvordern ererbten und errungenen
Wohlstand. Aein Walliser heiratete außerhalb seines
Stammes. Treu, wie sie ihrem alten Glauben ergeben
waren, ebenso treu hingen sie an den alten Sitten und
Gebräuchen, die sich in treuer Überlieferung seit der
Zeit ihrer Einwanderung aus dem Triesnerberg durch
die Jahrhunderte hindurch erhalten hatten.
Nun kam er, der Aloys, und wollte mit dieser Über-
lieferung brechen! Das Gretli war kein Walliser Aind.
Ls würde ein heißer Aampf kommen um die Liebe.
Und doch, lasten konnte er nicht von dem Gretli, das
er mit der ganzen Arast der ersten Liebe in sein L)erz
geschlossen hatte. Lr liebte das Gretli, und das Gretli
liebte ihn; da konnte keine Wacht der Lrde dazwischen
treten und die Liebe aus ihren jungen Kerzen ausreißen.
Wie ihm so bang wurde! So zagend und voll
banger, schwarzer Ahnungen hatte er sich doch sonst
215
nie gekannt! Düster blickte er durch die Lichtung zum
Sternenhimmel auf; er brachte ihm diesmal so gar
wenig Trost. Mit dem Rücken lehnte er gegen den
Stamm der Föhre und war in Sinnen verloren; er
schloß die Augen beim grübelnden Nachdenken.
Da, was war das? Was zog da heraus mit
schwarzen Schatten?
Tin langer, langer Zug von schwarzen Gestalten
nahte; das Nachtvolk*) war es, das einen Toten be-
graben wollte.
Non Entsetzen gepackt wurde der Beschauer an der
Föhre; starr hing sein Blick an dem unheimlichen
Bilde; er wußte, er tat in diesem Augenblick einen
Blick in die Zukunft, einen Seherblick, der nur wenigen
Menschenkindern beschieden ist. Diejenigen aber, die diese
unheimliche Gabe besitzen, haben ein Grauen vor sich
selbst; sie sehen mit unheimlicher Deutlichkeit ein Unglück
kommen, werden von Entsetzen darüber gepackt und
können ihm doch nicht entfliehen. Ost betrifft das, was
ihr unheimlicher Seherblick schaut, sie selbst, meist aber
andere Personen, oft geliebte Angehörige; sie sehen das
Unglück, das über deren Haupte schwebt, machtlos, es ab-
zuwenden; und mit pünktlichster Genauigkeit trifft es ein.
Der Aloys hatte in diesem Augenblick auch ein
Grauen vor sich selbst.
*) Die Gabe des zweiten Gesichts.
2\6
Lautlos glitten die schwarzen, schattenhaften Gestalten
vorüber, in langem Zuge feierlich geordnet. Das Ende
des Zuges nahte. Da strengte derAloys seinen Blick noch
mehr an, suchte die Dunkelheit zu durchbohren, denn nun
mußte das Verhängnis kommen, nun mußte er die Per-
son erkennen, die das Nachtvolk feierlich zu Grabe trug.
Line Helle, zarte Gestalt kam nun und bildete den
Schluß des Zuges; sie war in losen, weißen Gewändern
und trug ein brennendes Talglicht in den zarten fänden;
fast schwebend kam sie näher.
Wie der Aloys sich beugte und den starren Blick
anstrengte, um die Züge des totenbleichen Gesichtchens
zu erspähen!
Da, ein furchtbarer Aufschrei!
„Gretli, Gretli!" kam es mit entsetztem Wehschrei
aus der Brust des jungen Burschen.
„Gretli, Gretli!"
Er hatte die Züge des geliebten Mädchens erkannt;
in demselben Augenblick war die ganze Erscheinung
vorüber, das Nachtvolk war verschwunden.
„Gretli, Gretli, du mußt sterben!"
Lautaufschluchzend warf der Bursche sich auf den
Boden.
„Gretli, mein liebes, armes Gretli, du mußt sterben!"
Er rief es in qualvollem schmerze immer und immer
wieder; schauerlich klangen die wilden Alagetöne in dem
dunkeln Wald. —
2{7
Am andern Htorgen stand der 2iIoys mit verstörtem
Gesicht vor dem Sepp. Dumpf kam es aus seiner Brust:
»Ich muß sogleich nach dem Triesnerberg. Glaubst,
Sepp, daß du für einen oder zwei Tag' allein hier
Hausen kannst?"
Der Sepp war ganz erschrocken, als er die verstörte
Miene des Aloys sah.
„Hast leicht den Satan gesehen oder einen Spuk?"
Er bekam zur Antwort nur ein wehmütiges Aopf-
schütteln.
„Muß aber heim, Sepp!"
„Ist schon gut, Aloys. Und daß du nur ohne Sorge
gehst; kannst dich auf mich verlassen. Das Vieh kennt
mich so gut als dich, und du wirst wohl keine Ewig-
keit fortbleiben?"
Der junge Bursche machte ein ganz treuherziges Ge-
sicht, und der Aloys wußte, daß Berlaß auf ihn war.
„So behüt' dich Gott, Sepp!"
„Behüt' dich Gott auch, Aloys!"
Der begab sich eiligst auf den weg; wie gehetzt eilte
er vorwärts, während seine Gedanken rastlos hinter
der breiten Stirn arbeiteten. Die Brust war ihm wie
zugeschnürt vor Angst. Das, was er in der Nacht ge-
schaut, schwebte ihm mit grausamer Deutlichkeit immer
vor Augen. Er wußte, daß ein schweres Verhängnis
sich drohend über seinem Haupte zusammenzog. worin
es bestand, das wußte er selbst nicht genau; aber soviel
2\8
stand bei ihm fest, das Gretli war dem Tode geweiht;
das Nachtvolk war ihm erschienen und hatte es ihm
mit unerbittlicher Alarheit gezeigt. Dem Gretli drohte
ein großes Unheil, das ihm den Tod bringen würde!
®, er mußte hin nach dem Triesnerberg, in die
Nähe des geliebten Mädchens, Schützend und warnend
wollte er ihm zur Seite stehen, und beten wollte er,
unablässig beten. Vielleicht, daß es doch noch möglich
war, das Unheil abzuwenden, daß er zur rechten Zeit
kam, um Schlimmes zu verhüten.
Wenn er doch Flügel hätte! U)ie entsetzlich weit
deuchte ihn heute der Weg. Daß die hohen, weißen
Bergriesen ringsum in der strahlenden Alarheit des
Wintermorgens besonders stolz grüßten, er sah es nicht;
daß Schneevögel über seinem Haupte kreisten und ihre
seltsam klagenden Töne die Lust durchschnitten, er hörte
es nicht. Hatte nicht ein Anwohner der braunen Holz-
hütten am Saminasteg ein lautes „Grüß Gott" herüber-
gerufen? statte der nicht noch eine lange Red' dazu
getan und dem Alo'ss eine Neuigkeit mitgeteilt?
Was war es doch gleich?
Nichts gehört hatte er, rein gar nichts. Wie in dumpfer
Betäubung wandelte er einher, hastend, daß er vorwärts
komme und nicht eine Minute Zeit verliere. Alles andere
war ihm gleichgültig. Weiter, nur immer weiter!----------
In der Stube beim Jakob Stöß waren der Bauer
und die Bäuerin schweigsam beieinander. Dumpfe Angst
2*9
sprach aus ihren Mienen; die Augen der Bäuerin
waren rot und ganz dick geschwollen von allem Weinen.
Das Herz wollte ihnen beiden brechen vor Leid. Welch
ein schweres, schweres Schicksal war wiederum über ihr
Haus hereingebrochen! War es nicht genug, -daß die
arme Lucia unter sälschlichen Anschuldigungen den Weg
zum Scheiterhaufen antreten mußte? sollte nun auch ihr
armes, unschuldiges Aind denselben bittern Gang tun?
Jakob 5töß litt unbeschreiblich, Hatte er nicht selbst
den Weibel rufen lassen und ihm mit harter stimme
anbesohlen, zu tun, was seine Pflicht sei? Hatte er nicht
so handeln müssen als der erwählte Vorsteher, der über
Recht und Gewissen seiner Gemeinde wachen mußte?
O grausames Verhängnis!
Gr selbst, der das Gretli, das arme Waislein, liebte
fast als sein eigenes Aind, er hatte den Befehl erteilt,
daß der Weibel das Mädchen in das unterirdische Ge-
fängnis nach Vaduz bringe. Gr meinte, das Herz fei
ihm in dem Augenblicke gebrochen, während doch seine
stimme so hart und sein Blick so düster war.
Vor seinen Augen hatte man das unschuldige Aind
fortgeführt, dem eine große Menge neugieriger Gaffer
mit hämischen Gesichtern und boshaften Redensarten
gefolgt war.
Grün und blau war es ihm vor den Augen ge-
worden; wie aus weiter, weiter Ferne hörte er die ver-
zweiflungsvollen Hchmerzensschreie seines Weibes.
220
Das Gretli sollte eine L)ex' sein! Wer das grau-
same Gerede wohl nur aufgebracht hatte?
Jakob 5töß grübelte und grübelte. Das Gretli
sollte eine Hex' sein? Sie sagten es auf einmal alle
im Dorf; der eine wollte dies an dem Wädchen be-
merkt haben, der andere jenes, Sonderbar, nur er
und die Anna hatten nie etwas anderes in ihm ge-
sehen als das brave, fleißige, bescheidene INädchen,
das ihnen in großer Treue und Dankbarkeit ergeben
war. Auch daß das Gretli eine Liebe zu dem Aloys
in seinem jungen Kerzen trage, hatten sie nicht ge-
ahnt. Aber der furchtbare Zorn darüber war bei dem
Zakob längst verraucht; was konnte das arme Ding
für seine Liebe? Und daß der Aloys es wieder liebe,
das war doch wohl noch lange kein Beweis dafür,
daß das Gretli mit ihren geheimen Aünsten ihn verhext
haben sollte.
Gewiß, sein Stolj war empfindlich getroffen; der
Bub sollt' ein rechtschaffenes, tüchtiges Triesnerberger
Wädchen, ein Walliser Aind heiraten. Wenn der es
nicht so wollte und sein dummes Herz an ein anderes
hing, nun, das war bitter; aber es war doch im Grunde
genommen seine eigene Sach'.
Gewiß, er konnte den Bub verstoßen, daß es so
war, als wenn er überhaupt keinen Sohn hatte. Das
hatte er auch in seinem ersten, gewaltigen Zorn ge-
dacht. Aber seither war er so viel ruhiger geworden.
Sic klagte mit weinender Stimme:
„Wenn es so wär, Bub, wenn das Gretli auf dem
Totenbett lag', es wär nicht halb so schlimm als das
andere."
„Mutter, Mutter!"
Sie hörte den herzzerreißenden Kammer ihres Ein-
zigen, und das Mutterherz wollte ihr schier brechen.
Leise klagte sie weiter:
„Das Schicksal, Bub, das Schicksal! Das Gretli soll
eine Hex' sein" —
„Mutter!"
Die nickte wie geistesabwesend.
„Eine Hex' soll es sein, das arme Dirnlein. Das
ganze Dorf hat es gesagt und gehetzt und getan, und
der Weibel mußte kommen, und das Ende war das
schwarze, unheimliche Gefängnis im Schloß zu Vaduz."
„Mutter, Mutter!"
Mit einem qualvollen Aufschrei warf er sich vor ihr
aus die Anie und barg den Aopf in ihren Schoß. Sein
großer, kräftiger Aörper wand und krümmte sich in dem
furchtbaren Weh; dumpfes Stöhnen kam aus der heftig
arbeitenden Brust. Das, was er gehört hatte, ja, das
war schlimmer als der Tod.
Eine Hex', das Gretli? 3n dem grausigkalten, unter-
irdischen Gefängnis war das Gretli! Und das, was
nun kommen mußte, die Folterqualen, die grausamen?
War es nicht gerade so bei der Lucia gewesen?
225
Doch ihre Unschuld konnte an den Tag kommen!
Als ob das möglich seil Als ob man nicht den
ganzen grausamen Verlauf kennte! Die Anklage, das
Leugnen; die gräßliche Kolter, wiederum Leugnen; noch
gräßlichere Folter, vielleicht dann ein Geständnis als
Folge, vielleicht auch Standhaftigkeit und weiteres
Leugnen. Aber ob so oder so, das Ende war dasselbe,
das schreckliche, grauenhafte Ende, der qualvolle Tod
aus dem Scheiterhaufen!
„Herrgott im Fimmel, wo bist du? Aannst es an-
sehen, daß so ein Unglück über ein braves Mädchen
kommt? Herrgott, Herrgott, bist nicht da? Hast uns
leicht vergessen?"
„Still, Bub, still. Lad' keine Sünd' auf dein Ge-
wissen!"
„Warum läßt er's zu, Mutter?"
„Wissen wir's? Still, Bub, still!"
„Ich kann nimmer I Vater, Mutter, Ihr wißt nicht,
was das Mädchen mir war. Weine ganze Seele hing
an dem unschuldigen, braven Aind; mein'Weib sollt'
es werden, kein rauhes Wort sollt' jemals über meine
Lippen kommen, das ihm hätt' wehtun können, achten
und ehren wollt' ich es, wie Ihr, Vater, die Mutter
stets geehrt habt. M, so gern hatt' ich das arme, be-
scheidene Aind, o, so gern; sterben wollt' ich dafür,
mein Herzblut wollt' ich gern hingeben dafür!"
„Armer Bub!"
22 §
Anna Stof legte ihm die Arme um den Hals; ihre
Tränen benetzten ihm die gebräunten Wangen. Wie ihr
sein Kammer das Herz zerriß I
Tinen kurzen, harten Aampf kämpfte der alte Stoß.
Dann trat er mit schwerfälligen, wuchtigen Schritten
näher, legte dem Sohne seine schwielige Rechte auf das
blonde Haupt und sagte in feierlichem Tone:
„Bub, Gott ist mein Zeuge für den Schwur, den ich
jetzt tu'. Sollst das Gretli zum Weibe haben, Bub, so
es Gottes Wille ist, daß seine Unschuld an den Tag
kommt und es aus dem Gefängnis entlassen wird; kein
Wort will ich dagegen reden, so wahr ein Gott im
Himmel ist und ich Jakob Stoß heiß'!"
Dann wandte er sich schnell ab und schritt aus der
Stube; aber sein bisher so gerader Nacken war auf
einmal ganz krumm gebogen.
Zwölftes Kapitel.
Pfarrer Mathys hatte es sich nicht nebmen lassen,
ben mühsamen, besonders in dieser Winterszeit beschwer-
lichen Weg von Triesen hinauf nach dem Schlosse zu
Vaduz zu machen, um sein armes jDfarr- und Beicht-
kind Gretli im Gefängnisse zu besuchen.
Tiefbekümmert schritt er wieder heimwärts.
Wie traurig war doch alles gewesen, was er ge-
sehen und gehört hatte! Schier überfließen wollte ihm
das Herz vor erbarmendem Mitleid.
In ein fast dunkles, moderiges Verließ hatte man
das Mädchen gebracht, das so jugendlich zart und
schmächtig war, mehr Aind noch als Jungfrau. Feucht
rieselte es von dem Mauerwerk; ungesund war die
dumpfe Luft. Durch ein ganz kleines, viereckiges, ver-
gittertes Fensterchen, das sich hoch oben in der einen
Seitenwand befand, erhielt das Verließ ein wenig Licht;
doch die Sonnenstrahlen bemühten sich vergebens, dort
einzudringen. Gin kleines Stückchen Himmelsblau ver-
mochte die Eingekerkerte wohl zu sehen; sehnsüchtig
hingen ihre Blicke daran; stundenlang konnte sie dort-
hin schauen, bis der verrenkte Hals schmerzte, die Augen
überflössen. Dann winkte das armselige Strohlager mit
Maidorf, Die Hexe.
*5
226
seinem fauligen, moderigen Geruch als traurige Ab-
wechselung.
Auch dem alten Pfarrer liefen die Augen über in
der Erinnerung des Gesehenen.
Wie ruhig und ergeben war das Mädchen gewesen!
Bei seinem unerwarteten Eintritt war ein freudiges
Leuchten über das schmale, eingefallene Gesichtchen ge-
gangen.
„Ihr, Herr Pfarrer, Ihr?"
Dann kam der wunde Blick aus den großen, todes-
traurigen Augen.
„Glaubt auch Ihr, daß ich eine Hex' bin und Hexerei
getrieben habe?"
Beide Hände hatte er zugleich ergriffen und das
arme, duldende Aind an sich gezogen. Schmerzlich be-
wegt hatte er ihr in die bangfragenden Augen geblickt,
sekundenlang, dann hatte er ernst das Haupt geschüttelt.
„Du bist keine Hexe, Gretli; nur ein armes, armes
Aind bist du."
„Dank, Herr Pfarrer, für dieses Wort! CD, wie
mich das froh macht!"
In leisen, klagenden Worten erzählte sie ihm von
ihren Leiden. Was hatte sie schon alles erdulden müssen!
So grausam waren die Menschen, o, so grausam; ihren
zarten Aörper hatten sie auf die Folter gespannt, daß
ihr jeder Anochen krachte und jede Muskel schmerzte.
Die gräßliche Aual sollte ihr das Geständnis erpressen,
227
daß sie das, was man über sie ausgesagt hatte, sei und
getan habe. Der Ammann mit dem harten, strengen
Gesicht hielt ihr täglich die schweren Anklagen vor, die
die Gemeinde am Triesnerberg gegen sie vorgebracht
hatte; greuliche Verhöre mußte sie über sich ergehen
lassen. Und auf alle die schweren Beschuldigungen hatte
sie nur immer die eine Antwort:
„Ich bin kein' Hex', ich hab' keine Hexerei getrieben."
In den gräßlichsten Folterqualen gab sie selbst die
todesmutige Antwort, standhaft in den entsetzlichsten
Schmerzen und Leiden.
„Ich kann ja nichts anderes sagen, Herr Pfarrer.
Nie ist eine Lüge über meine Lippen gekommen. Soll
ich bekennen, daß ich mit dem Schwarzen im Bunde
gestanden hab', wo ich doch nur immer und allein zu
unserm Herrgott, seiner heiligen Mutter, zu St. Ioder
und den andern heiligen gesteht hab'? Soll ich sagen,
daß ich das Mariele verhext hab', das lieb, süß Uindle,
das ich immer so viel gern gehabt hab', solang es aus
der Welt war? Soll ich sagen, daß ich das Wetter aus
Malbun angerichtet hab'? Und auf dem Besenstiel soll
ich durch die Luft geritten sein, und dem Grni seine
Sau soll ich verhext und noch andern Schaden gemacht
haben? Herr Pfarrer, könnt Ihr es glauben, daß ich
dem Schwarzen angehört hab'? Ich bitt Euch, Herr
Pfarrer, glaubt's nicht. Gin ordentliches Mädchen war
ich stets; hab' nur gearbeitet und gebetet für meine
228
braven Wohltäter, den Bauer und die Bäuerin, die
mir so viel Gutes angetan haben. Die einzige Schuld,
wenn's eine Schuld ist, die ich hab', das ist, daß ich
dem Aloys gut bin; die Lieb' ist in mein Herz ge-
kommen, ich weiß nicht wie. Ist das eine Sünd', Herr
Pfarrer?"
„Armes, armes Aind!"
Er streichelte ihr beide Hände und sah ihr bekümmert
in das Gesichtchen.
„Armes, armes Aind!"
Wie es ihm zu Mute war, nicht zu beschreiben war
es. Er wußte ganz genau, daß das Mädchen dem Tode
verfallen war, dem gräßlichen, schimpflichen Feuertode,
den auch die arme, gequälte Mutter hatte erdulden
müssen. Die vom greulichen Hexenwahn und dem tollsten
Aberglauben umfangenen Menschen würden in ihrer
blinden Wut gegen alles, was Hexerei hieß, kein Er-
barmen kennen und den Tod ihres Opfers fordern.
Daß dieses Opfer ein unschuldiges, armes, junges
Mädchen fei, wer konnte dafür? Die Anklage lautete
auf Hexerei; die meisten Anwohner des Triesnerberges
zeugten gegen das Gretli; der Umstand, daß auch die
Mutter eine Hexe gewesen und verbrannt worden war,
fiel noch besonders schwerbelastend in die Wagschale.
Eine Schmach dünkte es jede Gemeinde, wenn
aus ihr eine Hexe hervorgegangen war; die forderte
mit wahrer Wut die Todesstrafe als abschreckendes,
229
warnendes Beispiel für alle diejenigen, die auch Lust
daran hätten, stch der Hexerei zu ergeben, sich von Gott
abzuwenden, um sich dem Satan, dem schwarzen, für
alle Ewigkeit zu verschreiben. Die empörten Walliser
am Triesnerberg würden auch für ihre Hexe, für das
arme, unschuldige Gretli, die Todesstrafe fordern.
Das Gretli war verloren. Das gestand sich der
Pfarrer mit wehem Herzen ein; er selbst war in dieser
Sache vollständig machtlos; auch das gestand er sich
blutenden Herzens ein. Was hatte er nun schon gegen
den unseligen Wahn gepredigt! Wie hatte er das Volk
aufzuklären versucht! Hatten seine Ermahnungen ge-
fruchtet? Nein, nur immer tiefer verstrickten sich seine
pfarrkinder in dem Wahn; Hoch und Niedrig war
davon ergriffen; mit wenig Ausnahmen waren selbst
die adeligen Herren auf Schlössern und Burgen, Lehens-
herren, Grafen und Fürsten, dem Wahn ergeben.
Das Gretli mußte sterben; das Volk würde die
Todesstrafe vom Gericht ertrotzen. Wie lange konnte
es noch währen?
Aber war es nicht vielleicht besser, wenn das arme
Rind schon bald erlöst würde, als daß es noch länger
an diesem entsetzlichen Drte verweilen müsse, der dem
jugendlichen Aörper auch ohne die gräßlichen Folter-
qualen den Tod über kurz oder lang bringen mußte?
Pfarrer Nkathys schluckte und schluckte an auf-
steigenden, heißen Tränen. Wie ihm das Leid um das
230
arme, junge Rind aus den Augen brannte, wie ihm das
Herz zuckte vor Weh I Und so ganz, ganz ohnmächtig
sein zu müssen und gar keine Hilfe bringen können!
Nur das bißchen Trost, das er mit zitternden Lippen
sprechen konnte. 5o wenig war es, o, so wenig!
„Vertrau auf Gott, Gretli. Gr soll dein sehr großer
Lohn sein I Sei standhaft! Denk an den Fimmel. Die
Ewigkeit ist so lang; was sind die kurzen Dualen da-
gegen, die dir das Schicksal gebracht hat und vielleicht
noch bringen wird? Sei standhaft, Gretli I Wirst es
sein können auf der grausamen Kolter?"
Sie neigte demütig den kleinen Aopf.
„Wenn Gott mir hilft, Herr Pfarrer. Wollt Ihr
auch für mich beten, Herr Pfarrer?"
„Meine heißen, inbrünstigen Gebete sind immer bei
dir, armes, liebes Kind."
Gr war so ergriffen, daß er nicht mehr weiter
sprechen konnte. Zitternd tasteten seine brande nach
ihrem Haupte; wie segnend lagen sie eine Weile auf
den schwarzen Maaren; leise bewegten sich seine Lippen;
aus seiner Brust stieg ein heißes Flehen gen Fimmel.
„Dank, Herr Pfarrer, tausend Dank! Gott vergeb'
Guch die Güte, die Ihr heut an mir armem Mädchen
getan habt."
Gesenkten Hauptes, mit umflortem Blick schritt
Pfarrer Mathys hinaus. Der grimme Wächter raffelte
mit den Schlüsseln und schloß mit großer Umständlich-
25\
keil das Verließ, in dem das arme, junge Aind allein
zurückblieb; dann führte er den Afarrherrn durch einen
schmalen, dunkeln Gang wieder ins Freie.
* *
*
Nach den vielen, großen Verhören, die mit der An-
wendung der grausamen Folter stets begleitet waren
und stets denselben Verlaus genommen hatten, indem
das Gretli immer wieder von neuem seine Unschuld
beteuerte, war nun endlich der große Gerichtstag an-
beraumt worden.
Das war ein großes Ereignis.
Nur zweimal im Jahre pflegte sonst der große
Gerichtstag stattzufinden, im Frühjahr das Nkaien-
gericht, im gerbst das Herbstgericht. Unter der alt-
ehrwürdigen Linde in Vaduz fanden fie statt; hier eilte
das Volk aus den verschiedenen Gemeinden zusammen
und brachte dem hohen Gerichte seine Alagen vor. Bald
war es ein Holzfrevel, der hier Strafe und 5ühne finden
sollte, bald ein anderer 5pan*) zwischen den Gemeinden
betreffend den ll)eidegang und die Benutzung der Alpen;
oder es handelte sich um einen neuen Holzzaun mit dem
Gatter, den dieser oder jener anlegen sollte.
Zu einer ganz besonders großen, wichtigen 5ache
wurde ein außergewöhnlicher Gerichtstag angesetzt.
‘) Jank, Streit.
252
Sold) eine große, wichtige Sache aber war -er
Hexenprozeß, den die Gemeinde am Triesnerberg gegen
das Gretli angestrengt hatte.
Der ungeheure Frevel der begangenen Hexerei mußte
je eher, je besser seine Strafe und Sühne finden, eher
ruhte das aufgeregte Volk nicht. Das beständige Leugnen
des Mädchens hatte dieses in eine blinde Mut versetzt,
die keine Grenzen, kein Erbarmen mehr kannte. Von
nichts anderm wurde mehr in den Däusern, auf der
Gasse, am Brunnen, auf dem Airchgang, bei der Arbeit
gesprochen, als von der Hexe und der greulichen Hexerei;
immer neue, schwere Beschuldigungen traten dabei zu
Tage, der eine wollte hier noch das wüste Treiben der
Hexe beobachtet haben, der andere dort.
Der rauhen Jahreszeit wegen konnte das außer-
gewöhnliche Gericht nicht unter der Dorflinde zu Vaduz
stattfinden. Der große, geschlossene Hof des Schlosses, das
zur Zeit unbewohnt war, — Graf Aaspar von Hohen-
ems befand sich mit seiner Familie auf einem seiner
Güter in Tirol — war als Gerichtsstätte ersehen.
Dorthin strömte das Volk; die Däuser am Triesner-
berg waren verlassen. Die meisten Anwohner traten ja
als Zeugen gegen die Hexe auf; wer aber nicht zu zeugen
brauchte, der war aus schadenfroher, boshafter Neugier
zum Gerichtstag geeilt.
Man darf heute nicht einwenden, daß das Gerichts-
verfahren der damaligen Zeit vieles zu wünschen übrig
233
gelassen hätte; im Gegenteil, auch damals herrschte bei
den Gerichtspersonen ein hoher, heiliger Grnst in ihrem
wichtigen Amte, selten nur ließen sie sich durch fana-
tische Voreingenommenheit in ihrem Urteil beeinflussen.
Auch damals fanden peinlich genaue, gewissenhafte
Untersuchungen statt, und man war im Verurteilen der
Angeklagten äußerst vorsichtig und zurückhaltend. In
diesem Hexenprozeß hatten die hohen Gerichtsherren,
unterstützt durch den übereifrigen Landammann von
Vaduz, dem auch die Gemeinde am Triesnerberg unter-
stellt war, ihr Möglichstes getan, um Alarheit zu
schaffen. Das Leugnen des Mädchens, das selbst unter
den gräßlichsten Folterqualen bei der Behauptung
blieb, keine Hexe zu sein und niemals Hexerei getrieben
zu haben, hatte sie einesteils irre gemacht; aber
die Zeugenaussagen, die Schuldbeweise waren so er-
drückend, daß auch sie schließlich an die schuld der
vermeintlichen Hexe glaubten. Vielleicht, so nahmen
sie an, war gerade die Standhaftigkeit des Mädchens
ein Beweis dafür, daß sie mit dem Satan im Bunde
stehe, der ihr durch seine ungeheure Macht die Dualen
der Folter erträglich machte. Mar es sonst denkbar,
daß ein solch zartes, schmächtiges Mädchen die Araft
hatte, im Anblick der gräßlichen Marterwerkzeuge
standhaft seine Unschuld zu beteuern; daß es die
größten Dualen ergeben ertrug, wo es sich durch das
Bekennen der Schuld doch leicht hätte davon befreien
27>\
können? Hier mußte der Satan seine Hand im Spiele
haben.
Sie sagten alle gegen das unglückliche Geschöpf aus,
Jos Midi, die Stina, der Hans Eberlin, Bauer Erni
und noch viele, viele andere vorn Triesnerberg. Jakob
Stöß, als der Vorsteher der Gemeinde, der als solcher
die Pflicht hatte, an der Gerichtssitzung teilzunehmen,
hörte mit bitterer Aual all die Aussagen gegen das
Mädchen, das er in seinem Hause hatte aufwachsen
sehen, das er nie anders gekannt hatte als brav, fleißig
und gut. Und ein anderer noch hörte die schweren Be-
schuldigungen, der Aloys. Auch er war zum Gerichts-
tag gekommen, sollte er doch bezeugen, daß das Gretli
auch ihn verhext habe.
U)as in seiner Seele vorging, das war nicht zu be-
schreiben. Die letzte Zeit hatte den kräftigen Burschen
so darniedergeworfen, daß er fast nicht wieder zu er-
kennen war. Eingefallen waren ihm die Mangen, hohl
schauten die Augen ihm aus dem Gesichte. Mit bren-
nendem Meh hing der Blick an den: armen, unglück-
lichen Gretli, das da vorn auf einem niedrigen Schemel
nahe Sei den Gerichtsherren kauerte; wie entsetzlich
bleich und abgezehrt war das unglückliche Geschöpf;
die großen Augen hatten allen Glanz verloren, müde
und gleichgültig blickten sie vor sich hin. Nur einmal
hatten sie für einen kurzen Augenblick aufgeleuchtet,
das war, als der Aloys vortrat und mit lauter, fester
235
Stimme verkündete, daß es nicht wahr sei, daß das
Gretli ihn verhext habe; aber gut sei er dem Mädchen,
daß er kein größeres Verlangen gekannt habe und noch
kenne, als das Gretli zu seinem lveibe zu machen. Mb
das Hexerei sei, wenn eins dein andern gut sei? Und
er und das Gretli seien sich gut, und er würd' es immer
lieben bis über das Grab hinaus, bis in alle Ewigkeit.
„Aber das grausame Unwetter aus Malbun?"
fragten die hohen Gerichtsherren.
„U)eiß ich es, wie es gekommen? Solch ein un-
schuldiges Dirnlein soll es angerichtet haben?"
Aber auch hiefür waren Beweise da; hatte nicht
der Sepp erzählt, daß er im Blitzen und Donnern
den Aeres gesehen habe? Den hatte die Hexe herauf-
beschworen, niemand anders.
U)ie das arme, gequälte Aind dort für einen Augen-
blick in feinem Herzen aufjubelte, als es den Aloys sah,
der so fest an seine Unschuld glaubte! Die Sturmes-
nacht auf Malbun stand ihr wieder vor Augen. Da
hatte sie in seinen Armen gelegen, die er schützend um
ihre kleine Gestalt geschlungen hatte; da hatte er ihr
von seiner Liebe geredet; selig hatte sie seine heiße
Liebe gefühlt; in ihrem Herzen war es so hell gewesen,
trotz des tosenden Unwetters, das sie umbrauste. Sterben
hatten sie wollen, gemeinsam; fest und fester hatten sie
sich umschlungen; so mußte selbst das Sterben süß sein.
Aber der Tod war nicht gekommen.
236
XTenn er nur gekommen wäre in jener Sturmes-
nacht! All das Gräßliche der letzten Zeit wäre erspart
gewesen.
Der Gerichtstag nahm seinen weiteren Verlaus.
* *
*
Anna Stof war ganz allein in ihrer Stube; keine
Wacht der Erde hätte sie zwingen können, zum Gerichts-
tag nach Vaduz zu gehen.
Sie litt furchtbar. Sie litt zweifach, um das arme,
unglückliche Gretli, das heute sein Urteil hören sollte,
und um ihren Buben.
Wie ihr das Herz blutete, wenn sie sein Leid mit-
ansah! Wie hatte sic gebetet und gerungen!
Von den Amen war sie heute fast den ganzen Tag
nicht gekommen. Wie ihr die heißen, trocknen Augen
brannten; nicht ein einziger Tropfen preßte sich aus
den brennenden Lidern, die Tränen waren gänzlich ver-
siegt. Zu viele hatte sie deren geweint in der letzten
Zeit, nun war dieser erlösende Born versiegt; aber das
Leid war noch da, noch größer war es geworden.
Heute wurde das Urteil gesprochen.
Als der Tag schon weit vorgeschritten war, kam
leise und unbemerkt noch eine andere Frauengestalt in
die Stube. Die Truda war's, Hans Tberlins Weib.
Die war auch so vergrämt und verhärmt, daß man das
schöne, stolze Weib kaum wiedererkennen konnte.
237
„Anna Stof, darf ich bei Luch bleiben? Ich halt's
allein daheim nimmer aus. (D, die Angst, die Angst
um das arme Gretli!"
„So glaubt auch Ihr nicht an die Hex', Truda?"
fragte mit harter Stimme Anna Stoß.
Statt aller Antwort schlang die Truda ihre Arme
um den Hals der alten Bäuerin, legte den Nopf an
ihre Brust und schluchzte zum Erbarmen. Da hielten
sich die beiden Frauen, die alte und die junge, fest utn=
schlungen. —
Noch eine andere war allein in Haus und Hof.
In einer Halbdunkeln Nammer kauerte die alte Base
Barbara vor einem von Alter gebräunten Thristus-
bilde; ein Lichtchen flackerte davor und warf unruhige,
gespensterhafte Schatten. Das todverzerrte Gesicht des
Heilandes mit den schmerzverzogenen Zügen schien wie
in heißem Mitleid aus das lVeib zu blicken, das sich
da am Boden wand und krümmte.
„Herrgott, Herrgott, kannst es nicht zulasten, das
Schreckliche, darfst es nicht! Ist unschuldig Blut, was
vergossen wird. Um dreißig Silberlinge hat der Judas
das unschuldige Gotteslamm verraten, ging hin und
erhängte sich. Herrgott, hörst es? Noch ein Judas ist
hier auf der N)elt; siehst seinen schwarzen Verrat nicht?
Nennst das unschuldige Blut nicht? Nennst auch die
Silberlinge, Herrgott? In Ewigkeit wird's keine Ruh'
mehr finden."
238
Die Barbara jammerte und betete; sie rang die
Hände, daß die morschen Anochen in den Gelenken
krachten; die Augen hingen wie verstört an dem Leidens-
gesichte des Heilandes. —
Der Abend kam. Da wurde es im Dorfe wieder
lebendig, die Gaffe tönte wider von dem erregten Ge-
rede der Menschen, die vom Gerichtstag heimkamen
und das Urteil besprachen.
Ganz abseits von dem großen Troß waren Jakob
Stöß und sein Sohn geschritten, schweigsam betraten
sie ihr Haus, aufstöhnend ließen sie sich auf die Holz-
bank in der nur inäßig erhellten Stube fallen.
„Nun ist alles zu Gnd', Mutter."
Die Bäuerin rang stumm die Hände.
„Ist alles zu Lud', Mutter. Morgen nachmittag,
wenn die Sonne sinkt, wird der Scheiterhaufen ange-
steckt, und dann, Mutter —"
Der Aloys konnte nicht weiter sprechen, nur ein
qualvolles Schluchzen kam aus seiner Brust.
„Jesus, Maria und Josef, schon morgen?"
„Morgen, ja, morgen. Sie haben's eilig, daß die
Hex' aus der Welt geschafft wird."
Der junge Mensch lachte grell auf. Dann versank
er gleich dem Bater in ein dumpfes Brüten. Aeiner
sprach mehr ein Mort, unheimliche Stille lagerte über
der Stube, die nur von qualvollem Stöhnen unter-
brochen wurde.
239
Dann hub die Bäuerin leise an, die brennendheißen
Augen auf den schmerzgebeugten Einzigen gerichtet:
„Meinst, Aloys, daß sie mich reinlassen in das
Gefängnis? Noch einmal wollt' ich das Gretli, das
liebe, sehen."
Sie schluchzte gequält aus.
„Meinst es wohl, Aloys?"
„Aönnt es immerhin versuchen, Mutter."
„Meinst, daß sie es erlauben? Noch einmal wollt'
ich das lieb' Gesichtle streicheln, noch einmal in seine
treuen, guten Augen sehen! Und das Aruzifix wollt
ich dem Gretli bringen, weißt, was noch von meiner
Ahn stammt, daß es ihm Trost gibt auf dem schweren
Gang."
Mit müden, schleppenden Schritten trat die Bäuerin
an den uralten Schrein; sie zog ein Gefach heraus und
suchte nach dem Aruzifix. Da stieß sie einen Schrei aus.
„Jesus, Maria und Josef, der Ring vom Grafen
Franz Maria von Hohenems! Der Ring, der Ring!
Leicht, daß der Graf helfen kann!"
Sie hob den funkelnden Gegenstand in die Höhe
und erzählte mit fliegendem Atem den beiden Männern,
wie das Gretli in den Besitz desselben gelangt war.
„Und er hat gesagt, der Graf Franz Maria, des
alten Aaspars Sohn, daß das Gretli sich nur immer
getrost an ihn wenden solle, wenn es in Not sei; er
würde ihr helfen, wo er sich auch immer befinden
2^0
möge. N)enn einer käme und ihm den Ring vorweise,
dann wüßte er, daß sich das Gretli in Not befinde
und seiner Hilfe harre —"
„Mutter, Mutter, der Graf Franz Maria muß
helfen!"
^n fieberhafter Aufregung stieß der Aloys die Worte
hervor, seine Augen glühten, Hoffnung belebte wieder
seine Brust.
Auch Jakob 5>töß war ganz aufgeregt.
„Aönnt ein Fingerzeig sein I Herrgott, wenn's nicht
vergebens wär', wenn noch alles gut würd'!"
„Graf Franz Maria ist im Lager zu Feldkirch, hab's
heut noch wie zufällig auf dem schloß von den Burg-
leuten gehört. Vater, Mutter, ich geh' noch zur 5tund
nach Feldkirch und such' den Grafen, bis ich ihn ge-
funden hab'. Den Ring zeig' ich ihm und bericht' ihm,
in welch grausamem Leid das arme Gretli steckt; das
Herz tu' ich ihm rühren; nicht eher weich' ich von
seiner schwelle, als bis er mir Hilfe gibt. Einen Brief
muß er schreiben, daß das Gretli nicht auf den Scheiter-
haufen kommt. Nicht ruhen und rasten will ich, bis
mir die 5ache gelungen ist. Vater, Mutter, betet für
mich; und so Gott es will, bin ich morgen noch vor
Mittag von Feldkirch zurück."
„Es find der stunden gar viele bis Feldkirch, der
Weg ist mühsam, besonders zur Nachtzeit; doch geh'
nur, Bub, und Gott geb' dir sein Geleite."
2^
„Gott geb' dir Araft und Ausdauer auf den Weg,
er beschütze dich vor Gefahren und lass' dir deine heilige
Sach' gelingen!"
segnend legte ^akob Stoß dem vor Erregung
zitternden Sohn die Hände auf das Haupt.
Noch bevor sich die Nacht mit ihrem stillen Frieden
über die Erde ausgebreitet hatte, befand sich der Aloys
auf der mühsamen, beschwerlichen Wanderung nach
Feldkirch.
Aber auch im Hause seiner Eltern verlosch in dieser
Nacht das Licht nicht; wachend und betend erwarteten
sie den Tag.
Maidorf, Die Hexe.
16
Dreizehntes Kapitel.
Feldkirch, das von den Österreichern zu Ende des
vierzehnten Jahrhunderts erworbene schöne Städtchen
des Vorarlbergs, von hohen Bergkuppen umgeben,
wimmelte von österreichischen Soldaten, die zum Schutze
gegen die immer weiter vordringenden Schweden hier
ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Auf der prächtigen, auf einer Berghöhe gelegenen,
alten Schattenburg, der ehemaligen Ritterburg der krie-
gerischen Grafen von Montfort, weilte Graf Franz
Maria von Hohenems zum Besuche des Kommandanten.
Zu frühester Morgenstunde betrat der Aloys, der
die ganze Nacht hindurch stramm gewandert war, den
Schloßhof der Schattenburg und begehrte Ginlaß, um
den Grafen Franz Maria sprechen zu können.
„Hoho," sagte der alte, grimme Torwart und maß
den Burschen mit stechendem Blick von oben bis unten.
„Hoho, was Ihr nicht denkt, Bursche! So hohe
Herren pflegt man nicht so früh zu stören."
„Ist eine eilige Botschaft, die ich hab'."
„Eine eilige Botschaft, he? Leicht eine kaiserliche,
he? Vder eine vom Erzherzog, he?"
Der Aloys schüttelte den Kopf.
„Nicht so eine ist's he? — Hoho, junger Bursch',
wird nicht so eilig sein, um einen so früh damit aus
den Federn zu jagen. Der Graf Franz Maria hat mit
unserm Herrn und vielen Hauptleuten tüchtig gezecht
gestern Abend, der feurige Feldkircher drüben vom Ar-
detzenberg ist in strömen geflossen, die Becher klangen
noch aneinander, als schon der Morgen graute. He,
Freund, ich will Euch etwas sagen, den Grafen Franz
Maria könnt' man jetzt nicht wach kriegen, und wenn
man mit Trompetenstößen in sein Gemach dringen
wollt'; der schläft seinen Rausch aus jetzt, Ich geb'
Euch den guten Rat, kommt in zwei oder drei stunden
wieder hierher; vielleicht daß die 5ach' dann günstiger
für Euch und Eure eilige Botschaft steht."
Der lachte hämisch und schlug dem jungen Burschen
das schwere Tor mit großem Getöse vor der Nase zu.
Der Alo^s war ebenso erschrocken als tief beküm-
mert. In zwei bis drei stunden sollte er wiederkom-
men? Das war eine lange, unvorhergesehene Zeit des
Wartens, die seine Rückkunft nach dem Triesnerberg
sehr verzögern würde. Wenn er dadurch zu spät käme?
Das Herz krampfte sich ihm zusammen bei den: Ge-
danken; ganz schwarz wurde es ihm vor den Augen.
Der Herrgott würde es doch nicht zulassen? Es
konnte ja nicht sein!
Langsam wendete sich der Bursche zum Gehen. Es
fiel ihm ein, daß er da unten an der rauschenden III
2^5
ein kleines, halbverfallenes Wirtshaus gesehen habe;
dorthin wollte er seine Schritte lenken, vielleicht daß er
dort ein Stück Brot und einen Becher Landwein für
Geld und gute Worte bekommen konnte. Die nächtliche
Wanderung hatte ihn hungrig gemacht; eine Stärkung
tat ihm not, schon des mühsamen Rückwegs halber.
Gr fühlte plötzlich, daß er einen gar mächtigen junger
hatte; in den Tagen der Angst und Aufregung war
fast kaum ein Bisten über seine Lippen gekommen. Doch
die Natur verlangt ihr Recht.
Das kleine Wirtshaus mit den blinden Fenster-
scheiben und den verfallenen Wänden machte einen gar
wenig einladenden Eindruck, aber was war zu machen?
Um etwas Besseres zu finden, mußte man in dieser
Zeit, wo durch die Ariege alles verwüstet war, rpohl
schon recht weit laufen; vielleicht war auch alles Suchen
darum vergebens.
Ein alter, struppiger Mensch mit hinterlistigen, ver-
schmitzten Augen fragte nach seinem Begehr. Als der
Aloys Brot und Wein verlangte, ging er mit schlürfen-
den Schritten in eine Nebenkammer und brachte bald
das Gewünschte, mit einem mürrischen Gesichte zum
Essen und Trinken einladend.
Schweigsam verzehrte der Bursche das Brot; der
Wein war feurig und rann ihm heiß durch die Adern.
Eine große Müdigkeit überkam ihn, mit Gewalt mußte
er gegen den Schlaf ankämpfen. Er durfte ja nicht
2H6
einschlafen, um Gotteswillen nicht; wie, wenn er ein-
schlief, Drt und Zeit vergäße, und dann nachher zu
spät käme?
Um die dumpfe Müdigkeit abschütteln zu können,
war es schon besser, daß er sich Bewegung verschaffte.
Lr erhob sich darum, schritt in der Stube aus und ab
und sing an, die Ärtlichkeit ein wenig zu besichtigen.
Durch eine Hintertür gelangte er aus einen kleinen,
schmutzigen Hos, aus dem allerlei Gerätschaften, alte
Fässer, leere Aisten, alte Aarren, Wagenräder usw. in
wüstem Durcheinander umherstanden. An der einen
Hintern Seite des Hofes stand noch ein halbverfallenes
Gebäude, wohl ein Stall.
Als der Aloys sich diesem näherte, kam es ihm
plötzlich vor, als vernehme er aus dem Gebäude lautes
Stöhnen; sonderbare Alagelaute drangen an sein Ohr.
Lauschend blieb er einen Augenblick stehen; das Stöhnen
wurde lauter.
Hier lag ein Mensch, das stand fest. Mas tun?
Ob der Wirt darum wußte? Hatte sich da vielleicht
heimlich ein Aranker, ein Unglücklicher, der ohne Ob-
dach war, hineingeschlichen? Oder hielt der Wirt viel-
leicht gar selbst solch einen Unglücklichen, vielleicht einen
Verfolgten, heimlich versteckt?
Dem jungen Burschen kam die Sache nicht recht
geheuer vor; aber seine Neugier sowohl als auch seine
Teilnahme waren erwacht.
2^7
Leise schritt er näher, hob das alte, verrostete Tor
aus den Angeln und verschaffte sich Eingang. In dem
fast gänzlich dunkeln Raume vermochte er zuerst nichts
zu sehen; doch das Auge gewöhnte sich schnell an die
Dunkelheit, und so unterschied er bald, daß dort rechts
in der Ecke ein Strohlager war, auf dem ein mensch-
liches Wesen lag. Als auch wieder das stöhnen hörbar
wurde und aus jener Ecke kam, war er seiner Sache
sicher. Entschlossen tat er die paar Schritte vorwärts
und stand nun dicht an dem Strohlager. Er erkannte,
daß ein Mann in einem alten Soldatenmantel auf dem
Stroh lag; aus einer blinden Scheibe in der Wand
siel ein wenig Licht auf das Gesicht des Mannes; es
war hohläugig, von Fieber verzehrt.
„Wer seid Ihr, Mann? Wie kommt Ihr hierher?
Ihr seid krank?"
Statt der Antwort kam ein dunipfes Röcheln aus
der Brust des Soldaten.
„Ich will den Wirt rufen."
„Laßt," hauchte der Aranke.
„Aber Ihr könnt doch hier nicht liegen bleiben."
Da raffte sich der Mann zum Sprechen auf; in ab-
gerissenen Worten kam es von seinen Lippen:
„Laßt, ich sterbe. Ich bin sehr krank. Erst hat mich
der Wirt gepflegt, hat mir eine kleine Dachkannner
gegeben und Speis und Trank; das war, als ich noch
Geld hatte. Als ich keins mehr hatte und ihn nicht
2^8
mehr bezahlen konnte, schleppte er mich hierher; sein
Weib bringt mir heimlich etwas, das mich vor dem
Verhungern schützt. Viel brauch' ich nicht mehr, ich
sühle, daß es zu Ende geht, vielleicht gar heute schon."
Wieder ein starkes, unheimliches Röcheln in der
Brust. Der junge Bursche wurde fast von Entsetzen
gepackt, glaubte er doch, daß der Soldat in den letzten
Zügen liege. Doch der erholte sich wieder von dem An-
falle und wollte weitersprechen.
„Habt Ihr denn niemand, der für Euch sorgen
könnt'?"
Ein schweres Stöhnen entrang sich der Brust des
Aranken.
„Mein Weib! Mein Aind!"
„So habt Ihr ein Weib? Warum liegt Ihr denn
hier, trauriger als ein Stück Vieh?"
„Mein Weib, meine Lucia!"
Der Aloys horchte bei dem fast nur gehauchten
Namen auf.
„Wo ist Euer Weib? Wie hieß es?"
„Vor langen Jahren hab' ich Weib und Aind ver-
lassen, in Not und Elend hab' ich sie zurückgelassen.
Gott straft mich jetzt."
„Wie heißt Euer Weib, wie heißt Ihr?"
Ungestüm drängte Aloys auf Antwort; eine Ahnung
kam ihm, der sterbende Soldat da auf dem Strohlager
sei der Vater Gretlis, der Mann der Lucia. Welch
2B
eine Fügung des Fimmels! Der Fimmel hatte ihn
eigens dazu ausersehen, daß er vielleicht einem ster-
benden einen letzten Trost zusprechen sollte.
„Wie heißt Ihr, wie heißt Euer Weib, wie Euer
Rind?"
„Ich heiße Nikolaus Geiser; mein Weib ist die
Lucia; Gretli hatten wir unser Rind genannt. Ich war
schlecht, Herr, wollt' nicht sür beide arbeiten; heimlich
ging ich auf und davon und trieb mich mit den Sol-
daten herum."
Der Aloys atmete schwer, seine Ahnung hatte ihn
nicht betrogen; der elende, sterbenskranke Mensch war
Gretlis Vater.
„Ich muß sterben."
Wieder das entsetzliche Röcheln; Aloys hob ihm den
Ropf zur Erleichterung ein wenig in die Höhe. Dank-
bar, mit schon gänzlich erloschenem Blick, schaute ihn
der Sterbende an.
„(D, wenn ich wüßte, ob sie noch leben? Ob sie im
Elend gestorben sind, durch mich, durch mich?"
Es griff dem Aloys ans Herz. Sollte er dem Ster-
benden sagen, daß er die Lucia und das Gretli kenne?
Sollte er ihm mitteilen, welch ein grausames Geschick
das Weib getroffen hatte und nun auch über dem Haupte
des Rindes schwebte? Nein, nein, das würde ihm die
Dualen seiner Gewissensbisse noch vergrößern und seine
Sterbestunde noch untröstlicher machen. Nur sagen wollte
250
er ihm, daß die Lucia und das Aind in dem Hause
seiner Eltern Aufnahme gefunden hätten, daß sie dort
keine Not mehr gelitten; das würde ihm ein Trost fein
und ihm das Sterben erleichtern.
Leise, vorsichtig erzählte er dem Aranken, daß vor
nun neun fahren die Lucia mit ihrem Ainde bei seinen
Eltern, braven Bauersleuten auf dem Triesnerberg im
Liechtensteinischen angeklopft und seither dort eine neue
Heimat gefunden habe.
lvie da die fiebrigen Augen des Soldaten glänzten!
Wie die kranke Brust arbeitete; aber es war vor freu-
diger Erregung.
„^Zst es denn wahr? Herrgott, Herrgott, deine
Barmherzigkeit ist groß. Nicht gestorben sind sie vor
Elend und junger; hast mich vor der grausamen Schuld
bewahrt, Gott im Fimmel! M, nun will ich sterben."
Das Röcheln wurde wieder stärker; schaumiges Blut
stieg aus der kranken Brust und drängte sich über die
Lippen. In rührender Sorgfalt trocknete Aloys dem
Sterbenden das Gesicht. Noch einmal hauchte der mit
fast unhörbarer Stimme:
„Ein Priester!"
Da sprang der junge Bursche auf; ja, ja, ein Priester
mußte zu dem Sterbenden, daß er seine gequälte Seele
erleichtere und ruhig sterben könne.
Gottlob, er war ja nicht zum erstenmal in Feld-
kirch und wußte Bescheid; nicht gar weit von hier lag
25\
das Kloster der Väter Kapuziner, dorthin wollte er
eilen und einen frommen Vater bitten, daß er mit ihm
an das Lager des sterbenden Soldaten komme.
Das Kloster war bald erreicht. Aloys verlangte
mit dringender Eile den hochwürdigen Guardian zu
sprechen; mit fliegender Hast erzählte er diesem, was
ihn hierhergeführt hatte.
Mit mildem, gütigem Antlitz stand der Guardian
vor ihm.
„Mein Sohn, du bist tapfer und treu. Gott segne
dich I Deinem Verlangen soll unverzüglich nachgekom-
men werden; Vater Aurelius wird dich sofort zu dem
sterbenden begleiten. Hier trete solange in unser Gottes-
haus, bis Vater Aurelius sich rüstet."
Gr öffnete die schwere, dunkle Gichentür, die das
Gotteshaus von den Klosterräumen trennte; aus der
gewölbten Klosterhalle trat der Aloys in den hehren,
weihevollen Raum, wo Gott der Herr seine Wohnung
aufgeschlagen hatte.
Tiefe Stille umfing ihn; Weihrauchduft lag über
dem heiligen Raume; vor dem Hochaltare brannte das
ewige Licht und warf gespensterhafte Schatten.
Fromme Väter lagen auf den Knien, in ihren
Händen rasselte leise der Rosenkranz.
Mit ehrfürchtigem Schauern warf sich Aloys auch
auf die Knie und vergrub das Gesicht in beide Hände.
Wie es auf einmal auf ihn einstürmte! Was hatte
252
seine Seele alles erlebt, was stand ihr bevor? Über
dem Sterbenden hatte er seine eigene Anal und Not
in den Hintergrund gedrängt; nun stand sie wieder vor
ihm, deutlicher, schrecklicher! Welch ein Tag war heute,
welch eine Aufgabe hatte er sich gesteckt, würde er sie
erreichen? Würde der Graf ihm Hilfe gewähren, daß
er das Gräßliche, Fürchterliche, Grausame von dem
Haupte des unschuldigen Kindes abwehren könne?
Würde er nicht vergebens um Hilfe bei dem Grafen
anklopfen? Und wenn der Graf sie gewährte, wenn er
durch ein Handschreiben das Urteil der Gerichtsherren
aufhob, würde er auch die Richtstätte zur rechten Zeit er-
reichen? Wenn alles vergebens, wenn er zu spät käme?
Wieviel Zeit war so überflüssig verloren gegangen I
Ganz überflüssig?
Nein, Gott hatte ihn zu einem Sterbenden geschickt,
und dieser Sterbende war der Vater Gretlis; ihn: hatte
er Trost bringen können, und jetzt führte er ihm einen
Priester zu, daß er reuig und versöhnt mit Gott den
schweren Gang in die Ewigkeit antreten konnte.
Nein, überflüssig war die Zeit des Wartens nicht
gewesen, Gott hatte seine Zwecke damit verfolgt.
Es tippte ihm jemand auf die Schulter; er hob das
Gesicht in die Höhe und sah einen Vater Kapuziner.
„Komm' I"
Da erhob sich der Aloys eiligst von den Knien, um
Vater Aurelius zu dem Sterbenden zu führen.
253
Es war die höchste Zeit. Aaum hatte Nikolaus
Geiser mit fast verlöschender Stimme seine Schuld be-
kannt, kaum hatte er aus den fänden des ehrwürdigen,
greisen Vaters die heilige Wegzehrung empfangen, als
er den letzten Seufzer tat und ihm die Augen brachen.
Erschüttert sank der Aloys an dem elenden Stroh-
lager, auf dem der Hingeschiedene nun langausgestreckt
ruhte, in die Anie und verrichtete ein Gebet.
Dann begleitete Vater Aurelius den jungen Burschen
hinaus und besprach mit dem mürrischen Wirt das
Weitere betreffs des Begräbnisses.
Als sie dann beide das unsaubere Wirtshaus ver-
lassen hatten und wieder auf der Straße waren, fragte
Vater Aurelius seinen jungen Begleiter:
„Wo führt dein Weg dich jetzt hin? Hast heute
ein braves Werk getan. Wir scheint, du bist nicht von
Feldkirch?"
Forschend ruhte sein Blick auf dem Gesicht des jungen
Burschen; es war, als wenn ihm der ehrwürdige Greis
hätte in der Seele lesen können.
Da drängte es ihn, dem ehrwürdigen Wanne sein
ganzes, schweres Leid anzuvertrauen. Leise, schmerzlich,
mit zuckenden Lippen erzählte er ihm alles.
Das Gesicht des Kapuziners verdüsterte sich mehr
und mehr.
„0, dieser unselige Wahn! Wie lange wird es noch
dauern, o Herr, bis dieser Wahn endlich aufhört und
25H
die verblendeten Menschen einsehen, daß keine andere
Macht auf Grden ist als deine Macht, o Herr, daß der
Satan nicht die Macht hat, in Gestalt von sogenannten
Hexen sein Treiben auf dieser Melt auszuführen! lVie
lange kannst du es noch ansehen, Herrgott im Fimmel,
daß so viel unschuldiges Blut vergossen, so viel Unheil
angerichtet wird! Nun dieses arme, unschuldige, junge
Aind wieder!"
Der alte Aapuziner schüttelte sorgenvoll das Haupt;
düster war sein Blick. Gr reichte dein jungen Burschen
die Hände, sah ihn traurig an und sagte:
„Gott sei mit dir, Aloys Stöß! Trostesworte wollen
im Angesicht des Schrecklichen, das du erlebt hast .und
noch heute vielleicht erleben wirst, nicht über meine
Lippen, mein armer, junger Sohn. Aber das möchte
ich dir sagen, wenn du einen Mrt brauchst, wo du von
all dem schrecklichen, das du erlebst, ausruhen möchtest,
flüchte dich zu uns; bei uns findest du den Frieden deiner
Seele wieder."
Noch einmal sah er dem jungen Burschen fest in
die Augen, dann ging er.
* *
*
Bald stand der Aloys wieder vor dem grimmen
Torwart am großen Torbogen der Schattenburg.
„Seid ja pünktlich, junger Bursch, es sind noch nicht
ganz drei Stunden vergangen, daß ich Tuch gehen hieß.
255
Habt's wohl sehr eilig, he? Glaub's schon; doch ich
will Luch etwas verraten, der Graf Franz Maria hat
noch immer nicht seinen Rausch ausgeschlasen. Fragt
seinen alten Jäger Niedhart, der immer bei ihm sein
muß; der kann Luch meine Red' bezeugen. tse, da
kommt er gerade über den Burghof. He, Niedhart!"
Der Angerufene kam näher.
„Habt Ihr ein Anliegen, Torwart?"
„Ich nicht, he, aber der junge Bursch da; be-
hauptet, aus dem Liechtensteinischen drüben zu sein und
den Grafen Franz Maria sprechen zu müssen. U)ar
schon vor drei Stunden hier, hab' ihn aber ausgelacht
und ihm zu verstehen gegeben, daß man so hohe Herren
nicht so früh schon stören kann. Ist aber hartnäckig,
schon wieder da und begehrt Linlaß. He, Jäger, was
meint Ihr, soll ich ihn nochmals laufen lasten?"
Da wandte sich der Aloys in beschwörendem Tone
zu dem Jäger.
„Um Gotteswillen, Jäger, laßt mich zum Grafen.
Tod und Leben hängt davon ab, daß ich ihn spreche,
und die höchste Zeit ist's, sonst ist alles verloren. Die
ganze Nacht bin ich gewandert, komm' vom Triesner-
berg drüben im Liechtensteinischen, Jäger, ich bitt' Luch,
laßt mich zum Grafen, und ich will's Luch ewig danken."
Der Jäger schüttelte den Aopf.
„Der Graf schläft noch —"
„So geht ihn wecken, Jäger."
256
„Ihr kennt den Grafen nicht, Mann. Der kann gar
bös tun, wenn ihm etwas in die Auere kommt, und
gar, wenn er zu unrechter Zeit geweckt werden muß."
„Jäger, ich bitt' Luch, tut es dennoch. Ihr hört's
ja, Tod und Leben hängt davon ab. Jäger, hier, nehmt
den Ring, tragt ihn hinein zum Grafen und sagt ihm,
die, der er den Ring geschenkt hat, stehe in größter
Gefahr und baue auf seine Hilf'; sagt's ihm, Jäger,
laßt mich nicht vergebens bitten, Ihr wißt nicht, was
Ihr mir antut."
Der Aloys reichte dem Jäger den funkelnden Ring.
Da kam diesem plötzlich eine Erinnerung.
„Den Ring hier gab vor nicht allzu langer Zeit
Graf Franz Maria einem jungen Aind vom Triesner-
berg, damals, als er auf der Jagd einen Unfall ge-
habt hat und hilflos in Sturm und Regen auf den
Bergen bei Masescha lag."
„So ist es, Jäger, wie Ihr es sagt. Das Gretli,
meine s)flegfchwester, hat den Ring bekonimen; der
Graf hat ihr Hilfe versprochen zu jeder Zeit. Jäger,
das Gretli ist in der größten Not, yur der Graf kann
helfen; eilt, Jäger, eh' es zu spät ist und ein arm's
Dirnlein vergebens auf die Hilf' gehofft hat."
Der Jäger wurde weich.
„Ich will's versuchen, Mann."
Er nahm den Ring und eilte hinweg.
Nach nur wenigen Minuten des Wartens, die aber
257
dem Aloys wie eine Ewigkeit währten, kam der Jäger
Niedhart zurück und bedeutete ihm, daß der Graf ihn
zu sprechen verlange.
Bald stand er in einem hohen, getäfelten Gemache,
dehen Wände über und über mit alten Schwertern,
Schießgewehren, panzern und Helmen bedeckt waren,
vor dessen großem Aamin, in den: mächtige Holzscheite
prasselten, große Bärenfelle lagen, dem Grafen Franz
Maria gegenüber.
Der war in höchster Erregung aus dem Bett ge-
stiegen, als ihm der Zäger Niedhart den nur zu wohl-
bekannten Ring vor die Augen hielt.
„Das Gretli ist in Not, schnell, Zäger, rufe den
Überbringer des Ringes I"
Er nahm sich nicht die Zeit, erst Toilette zu machen,
schlüpfte in einen weichen, wannen Rock und erwartete
nun den Burschen.
Der Aloys berichtete nun auf des Grafen Aufforde-
rung alles, was sich in der letzten Zeit zugetragen hatte.
Der Graf schüttelte unwillig den Aopf.
„Dieser Hexenwahn, dieser Greuel! Selbst die Zugend
hat nicht Ruhe vor dem fanatischen Bolksübel. Und
nun gar dieses tapfere, kleine Mädchen soll ihm zum
Mpfer fallen? Traurig ist es. Ich selbst, junger Freund,
glaube nicht an Hexen und Hexerei, das sagte ich auch
damals dem Gretli, als es mir mit seinen schwachen
Aräften zu Hilfe gekommen war und mich durch sein
Maidorf, Die Hexe.
(Ev vernahm ihren letzten Aufschrei: „Tobelhockcrin I Tobclhockerin!
259
energisches Eingreifen wahrscheinlich vor dem Tode be-
wahrt hat. Denn den Tod hätte ich mir sicher geholt,
wenn ich in jener grausigen Sturmnacht in Regen und
Wind hätte auf der Alpe schutzlos liegen bleiben müssen.
Sagt, Aloys Stoß, hat denn eigentlich der Graf
Kaspar, mein Vater, das Urteil des Gerichtstags be-
stätigt?"
„Ts wurde von den Gerichtsherren ein Schreiben
des Herrn Grafen verlesen, in dem der Herr Graf bittet,
daß mit aller Strenge gegen die Hexen verfahren werden
sollte, damit das schlimme Übel nicht noch mehr ein-
greife. Das Urteil sinde feine Zustimmung, wie es auch
immer ausfallen würde, und es solle sofort vollstreckt
werden," sagte der Aloys mit bebenden Lippen und
sah den Grafen Franz Waria fest dabei an.
Dieser biß sich auf die Lippen.
„Aber das darf nicht sein, das soll nicht sein; das
unschuldige Ulädchen soll nicht dem schmachvollen Tode
auf dem Scheiterhaufen überliefert werden. Eilt zurück
nach Vaduz, Aloys Stoß, zu den Gerichtsherren, ich,
der Graf Franz Ularia, verlange unter allen Umständen
einen Aufschub. Wartet, ich werde selbst schreiben!"
Ulit stiegender Eile glitt die Feder über das Papier,
das zum Glück auf dem großen Eichentisch zu finden war.
„Eilt, Alo>'s Stöß, daß es nicht zu spät ist! Hier
in diesem Briefe steht es geschrieben, daß ich einen Auf-
schub verlange; ich selbst werde noch morgen, spätestens
260
aber übermorgen nach Vaduz zurückkehren; bis dahin
soll dem Gretli nichts geschehen. Nach meiner Rück-
kunft werde ich dann schon sehen, was sich Weiteres
in dieser grauenvollen Sache tun läßt. Mit meinem
Willen kommt das arme, unglückliche Geschöpf nicht
auf den Scheiterhaufen. Gilt, Aloys Stoß, säumet nicht
länger, der Weg nach Vaduz ist weit, die Minuten sind
kostbar. Gott mit Luch, tapferer Bursche!"
„Tausend Vergelt's Gott, Graf Franz Maria!"
Aloys Stoß flog mehr denn er ging aus dem Ge-
mach, eilte die Treppe hinunter und stürzte über den
Burghof; der Torbogen stand noch offen, der Tor-
wart hatte gerade einen Linlaßbegehrenden herein-
kommen heißen.
Aopfschüttelnd sah er dem hastig Davoneilenden nach.
„Habt's aber eilig, he? Brennt's wo, he?"
Lr bekam keine Antwort.
* -i-
*
Auf dem großen j?latz zu Vaduz, nahe der alten
Dorflinde war mit mächtigen, dicken Holzscheiten der
Scheiterhaufe errichtet worden.
Line johlende Volksmenge umstand ihn nun schon
seit Stunden.
Von Triesen waren sie herbeigeeilt, vom Triesner-
berg, von Balzers, von s)rofatscheng, vom Schellenberg,
262
gar auch von jenseits des Rheines, wo die Schweizer
Nachbarn wohnten.
Anna Stoß hatte der Verurteilten das Aruzifix
gebracht.
Wie gefaßt und ruhig war das Gretli! Wie himm-
lische Verklärung lag es auf dem eingefallenen Gesicht-
chen, die Augen leuchteten wie in überirdischem Glanze.
Anna Stöß hielt in verzweiflungsvollem Schmerze das
Mädchen umschlungen; sie wagte nicht, ihm von ihren
Hoffnungen zu sprechen, wußte man doch gar nicht, ob
der Aloys den Grafen Franz Maria getroffen hatte.
Gr mußte ja längst, längst zurück sein!
Sie mußte Abschied von dem Gretli nehmen, der
grimme Wächter drängte auf Verlassen des Verließes.
„Im Fimmel sehen wir uns wieder, Bäuerin! Habt
nochmals Dank für alle Eure Güte! Grüßt auch den
Bauer; grüßt auch den Aloys!"
Das Gretli wollte stark sein; aber die Stimme bebte
jetzt doch, kaum konnte es fortfahren:
„Bäuerin, härmt Luch nicht. Gott hat es so ge-
wollt. Segnet mich, Bäuerin, segnet mich, Mutter!"
Sie brauchte zmn erstenmal den weichen Namen
Mutter, laut aufschluchzte die Bäuerin.
„Mein Aindle, mein arm's, lieb's Gretli!"
„Mutter, im Fimmel sehen wir uns wieder!" —
Die Holzstöße rauchten und prasselten, Rauchwolken
verdüsterten für einen Augenblick die Luft; an einem
265
Pfafyl angebunden hing die schmächtige Mädchengestalt,
flammen züngelten empor.
Zu spät, zu spät!
Durch die johlende, schreiende Menge suchte sich ein
Mensch mit Gewalt durchzudrängen, das Haar hing
ihm wirr um die Schläfen, weit aus ihren Höhlen traten
die Augen, die Brust keuchte.
Die flammen loderten hell aus, die Menge jauchzte.
Zu spät, zu spät!
Aloys Stoß schrie aus wie ein zu Tode getroffenes
Tier; er brach zusammen, die Sinne schwanden ihm.
Tr war zu spät gekommen!
vierzehntes Kapitel*
^rühlingsstürme umbrausten die Erde; Regen-
schauer prasselten hernieder; auf den Bergkuppen und
in den hängen schmolz der 5chnee; wildschäumend
ergoß sich aus Bächen und Rufen das Wasser in den
Rhein. Der verließ sein schmales Bett und schaffte sich
rücksichtslos Alatz, wohin er gerade kam. Ein Jammern
kam, ein Berzweiflungsschrei; die Wassernot war groß,
das ganze Tal stand unter Wasser, das sich erbarmungs-
los über Acker und Wiesen, ja, bis über die Gaffen in
die Däuser ergoß.
Hoch oben beim wilden Tobel in der Lavenaschlucht
war es jetzt grausig schön; in wildreißendem Strudel
stürzte sich das Wasser über Fels und Gestein; das
brauste und tobte und kochte und zischte, als wenn eine
ganze höllische Wacht durchjage.
Den Anblick liebte Alo-sS 5töß über alle Waßen.
Lchon als er noch ein kleiner Bub war, war er zur Früh-
lingszeit, wenn der Strudel am tollsten wirbelte, zur
Lavenaschlucht gelaufen, um das imposante Naturschau-
spiel zu betrachten, ^jn der wilden, einsamen Schlucht, im
Getöse und Gebrause stand er furchtlos und sah nur
immerfort in die schäumende, kochende Wasserflut.
265
(£s hatte ihn auch jetzt wieder hingezogen; aber er
kam heute, um einen stillen Abschied zu nehmen.
<£r war schwer erkrankt nach dem unheilvollen Tage,
der ihm sein Liebstes geraubt hatte.
Jakob Ztöß und sein Weib hatten voll heißer Zorge
an seinein Lager gewacht. Zollten sie ihren Einzigen
verlieren?
Doch die frische Zuqendkraft siegte, der Bub genas.
Aber nun sollten sie ihn dennoch verlieren.
Der Aloys wollte bei den Vätern Aapuzinern in
Feldkirch als demütiger, bescheidener Bruder eintreten;
er sehnte sich nach dem Ort, den Vater Aurelius ihm
gezeigt hatte.
Es war alles in Ordnung, der entscheidende Zchritt
reiflich überlegt und Pfarrer Ulath-ss von Triesen der
treueste freund und Ratgeber gewesen.
Jakob Ztöß hatte sich zuerst in wildem Zorn auf-
bäumen wollen, als er von Aloys' Vorhaben hörte.
Es war doch sein Einziger, der Haus und Hof über-
nehmen sollt', für den er hart gearbeitet hatte sein
Lebtag.
Doch die Anna sprach ihm zu, obwohl auch ihr
das Herz blutete bei dem Gedanken, ihren Einzigen
für immer verlieren zu müssen. Aber sie war nicht
umsonst durch die harte Bahn des Leidens gegangen,
hatte nicht umsonst so viel Areuz in ihrer nächsten Um-
gebung gesehen.
266
Sic legte in demütiger Ergebenheit die Hände in-
einander und blickte gen Fimmel.
„Wie unser Herrgott droben es will!"
So war alles in der Ordnung. —
Auf einem Felsenvorsprung lag der Aloys und
schaute wie traumverloren hinunter in die kochende,
schäumende Flut. Wie ihn das Schauspiel ergriff! Und
nach menschlicher Berechnung war es das letztemal,
daß er den Frühlingssturm in der Lavenaschlucht sah!
Aber er ging gern zu den frommen Vätern; sein
Herz sehnte sich nach dein stillen Frieden des Alosters.
Abgeschlossen mit allen:, das ihn sonst in seinem jungen
Leben gefesselt und begeistert hatte, wollte er von nun
an nur in tiefster Demut Gott dienen.
Er überdachte sein Leben, das hinter ihm lag. Er
war immer ein stiller Träumer gewesen von frühen
Iugendtagen an. Wenn er als Hütebub das Vieh hoch
oben auf die Alpe getrieben hatte, dann hatte er am
liebsten auf der grünen Watte gelegen und in die
Wolken gestarrt. Er sah ihr Aommen und Gehen, ihr
Haschen und Jagen, er sah die sonderbarsten Gebilde
und Formen, und seine Phantasie schuf noch allerlei
sonderbare Gestalten hinzu; in seinen Träumen ver-
woben sie sich zu den kühnsten Vorstellungen seiner
jugendlich schwärmerischen Seele.
Oder er stand auf dem Gipfel der Berge, dort wo
die Aussicht am schönsten war. O seliges Schauen!
267
Wie sich das b)erz weitete, wie die Brust jauchzte vor
Wonne und Entzücken über das Bild, das sich da vor
ihm ausbreitete! Die Bergriesen mit ihren schneebe-
deckten Auppen, von der 5onne vergoldet; die grünen
Watten und waldigen Salden; die braunen Holzhäus-
chen der Bergbewohner, die wie angeklebt an den Berg-
rücken lehnten; die Dörfer in den weiten Tälern, die
an den Ufern des Rheines lagen; dieser selbst, der sich
in silberweißer, glitzernder Linie durch die Ebene wand!
Drüben die mächtige Gletscherwelt der Schweizer Alpen,
hier ringsum, soweit das Auge blickte, föhrenbestandene
Berge des Heimatländchens und weiterhin die in einem
blauen Nebeldunst sichtbaren Auppen der Tiroler Berge!
Wie waren seine Gedanken geflogen! Und in den
stillen Nächten, wenn sich der sternenübersäete Fimmel
über aller dieser Fracht wölbte, wenn es ihn nicht auf
seinem Lager litt und er hinaustreten mußte, um die
bsimmelspracht anzustaunen, sich in ihr zu versenken,
wie war da sein L)erz übergeströmt!
Nein, er war nie wie andere Burschen gewesen,
auch in seiner jungen Liebe zu 6em reinen, unschuldig
guten Ainde nicht.
Gott hatte es anders gewollt; das Gretli war ihm
wohl zu gut für diese Welt gewesen, das sollte einen
Himmelsplatz haben.
Aber dieser grausame, qualvolle Tod, so schmach-
beladen! Noch heute flüsterten sie aus den Gassen davon,
268
mehr wie einmal war das Wort „die Here vomTriesner-
berg" an sein Ohr gedrungen; dann floh er jedesmal
wie gehetzt.
Gott hatte es zugelassen; er wußte am besten,
weshalb.
Der Aloys fuhr sich mit der Hand über die Augen;
er mußte eine Träne zerdrücken, die sich heiß durch die
Lider hindurch preßte.
Nun war das auch überwunden. Dem Gretli im
Fimmel droben gehörten nur noch reine, heilige, wenn
auch sehnsuchtsvolle Gedanken. Die heilige Sehnsucht
aber konnte ihm niemand rauben, die fand erst ihre Er-
füllung, wenn er die Augen schloß, um sie im Fimmel
wieder zu öffnen, um dort das Gretli wiederzusehen.
Bis dahin war vielleicht noch viele Zeit!
Aber es sollte eine heilige Zeit für ihn werden, in
der er nur für Gott und den Fimmel arbeiten wollte!
Wie traumverloren stand der junge Bursche auf
dem Felsenvorsprung; der Wind zauste ihm das Blond-
haar und fuhr ihm neckend und kosend über das hagere
Gesicht, in dem bei aller Weichheit doch ein Zug von
großer Willensstärke ruhte.
Über ihm spannte sich ein wolkenzerrissener Fimmel,
unter ihm brodelte und zischte das schäumende Wasser
der Schlucht.
Doch der Blick des Aloys bekam plötzlich etwas
Erwartungsvolles, Gespanntes. Aam da nicht jemand
269
herauf? N)er hatte denn noch gleich ihm das Ver-
langen, diese grausige Wildheit des Wassers zu sehen,
das Getöse und Gebrause, das gar schauerlich in diesen
Felswänden klang, anzuhören?
Und ein Weib gar schien es zu sein, die Aleider
blähten sich aus, die schürze flatterte!
Und blonde Haarmassen hingen wirr um den Aopf;
eine hohe, kraftvolle Gestalt strebte vorwärts, vor-
wärts.
Fimmel, das war ja die 5tina, Jos Rüdis Tochter;
was hatte die hier zu suchen?
Die Sina war es, und ein Grauen, eine unsicht-
bare wacht trieb sie vorwärts, war es nicht genau
wie damals, als sie im Traume denselben schauerlichen
weg zu machen gezwungen war?
Die Sina hatte auch eine Zeit hinter sich, eine Zeit!
Als das Gretli den Tod auf dem Scheiterhaufen
fand, da war ihr heißes Rachegefühl gestillt.
Die beleidigte Seele hatte ihre Rache; neue Hoff-
nung konnte darin einziehen, denn die, um derentwillen
sie verschmäht worden war, war tot.
Ts war alles so schnell gegangen, ihre in jener
Lturmesnacht ausgebrüteten Rachepläne so sein ge-
lungen.
Und der Oeter Hchaller, der junge, war ein treuer
Welser gewesen; ihn hatte sie, als er wieder einmal an
der Stalltür stand und ihr allerlei kleine, neckende Bos-
270
heiten zurief, zu sich gewinkt und in geheimnisvollem
Ton zu ihm gesprochen:
„hast es auch schon gehört, h>eter Schalter, daß
das Gretli mit dem Schwarzen gemeinsame Sach' hat?
Triesnerberg hat wieder seine hex'."
hohnlachend hatte sie sein verdutztes Gesicht ge-
sehen, aus dem schreck, Staunen, Überraschung und
noch allerlei miteinander abwechselte. Dann war das
hämische gekommen in dem schadenfrohen Gesicht, das,
was die Schalters alle gemeinsam hatten: die Freude
daran, andern Menschen Böses zu wünschen oder gar
zu tun.
Nun war die Lawine ins Rollen gekommen; s)eter
Schalter, der junge, sorgte schon dafür, daß die ver-
heerend, alles verwüstend zu Tal stürzte. Nichts brauchte
die Stina mehr dazu zu tun.
Die hexe vom Triesnerberg fand ihre:: Tod in den
Flammen des Scheiterhaufens.
Nun hatte die Seele der Sitna ihre Ruh', nun konnte
sie jubeln und frohlocken den ganzen Tag.
Tat sie es?
Nein!
Tin stiller Mahner war da. Wohl in der eigenen
Brust?
Nein, ein anderer. Die alte Base sagte nichts, aber
ihre trüben, verweinten, verstörteli Augen sprachen niehr
als Morte; die Augen verfolgten die Stina überall hin;
27 \
sie sah sie im Wachen und im Traume. Sic waren ihr
lästig, unbequem; die sagten ihr, daß die Barbara
mehr wußte, als ihr angenehm sein konnte. Durch
überlaute Lustigkeit wollte sie darüber hinwegkommen;
vergebens, alles vergebens, die mahnenden, anklagen-
den Augen waren auch da wieder und störten ihren
lustigen Gesang, ihre übermütigen Reden.
Und eines Tages legte sich die Barbara, die nie-
mals ernstlich krank gewesen war, ganz urplötzlich zum
Sterben hin; ihre Sinne waren ganz verwirrt. In dem
hoch aufgetürmten Bett lag sie und murmelte allerlei
Unverständliches; manchmal wurde das Gemurmel
lauter, dann hörte man deutlich die Worte:
„Tu' es nicht, Mädchen, tu' es nicht. In alle
Ewigkeit wirst keine Ruhe finden! lsast nicht von den
Tobelhockern gehört? Tobelhockerin, Tobelhockerin,
hahahaha! Herrgott im lchmmel droben, ist ein Judas
da, ein neuer, siehst ihn?"
So ging die wirre Rede fort und fort; das lau-
schende Mädchen wurde von Entsetzen geschüttelt.
Am dritten Tage schloß die Barbara die Augen
zum ewigen Schlafe.
Nun hatte die Stina Ruhe vor den anklagenden
Augen; nun war der lästige Mahner tot.
Aber die Ruhe, die ersehnte, fand sie noch immer
nicht; die wirren Reden der Entschlafenen tönten ihr
in den Dhren wider.
„Ist ein Judas da, ein neuer!"
Lin Judas war sie. UUt grauenvollem Entsetzen
erkannte sie sich selbst. Sie hatte ein unschuldiges
Wädchen auf den Scheiterhaufen gebracht, sie, sie
ganz allein. Damit sie den Liebsten bekäme, mußte
die, die ihr im Wege stand, sterben; es war die heiße,
zügellose Rache, die ihr den Plan, das Gretli zu ver-
nichten und dadurch auch den Burschen bis ins in-
nerste perz zu treffen, eingab; aber in der Seele
hatten noch andere Gedanken geschlummert, poffnungs-
gedanken.
„Ist erst das Gretli tot, dann wendet sich der Aloys
von selbst zu mir. Und ich muß ihn haben, ich lieb'
ihn, er muß mein sein, koste es das Leben!"
Aber der Aloys lag schwer krank unter dem Dache
seines Elternhauses, so hatte ihn das Leid um das
Gretli darniedergeworfen.
Das war eine bittere Erkenntnis für die Äina.
Aber die Hoffnung ließ sie deshalb doch nicht
sinken.
Und den Peter Schalter fuhr sie gar ungnädig an,
als der wagte, ihr von Liebe zu sprechen und sie bat,
sein Weib zu werden.
„Was du nicht denkst, Peter 5challer!" höhnte sie
ihn aus.
Der war nicht wenig betroffen. Aber dann kam
blitzschnell das hämische in sein Gesicht.
pafy, was der peter Schaller mit seiner albernen
Rede nur wollte! Ihr drohen gar?
Da kam wieder das Entsetzen, die furchtbare Angst;
und, ja, die Augen waren auch wieder da, die un-
heimlichen, anklagenden Augen der Base, die doch auf
dem Airchhof in der kalten Erde ruhte.
Sie schüttelte die Gedanken ab, sie mußte mal unter
Ukenschen gehen, daß es ihr anders würde.
Die Truda wollte sie besuchen, Hans Eberlins
Weib; die hatte wieder ein kleines Aindle in der
Wiege.
Wie die Truda in seligem Ucutterglück strahlte!
Und er, der Hans, ihr Mann, war auch ganz anders
geworden; so demütig sah er aus, so, als wenn er
die Gnad', die ihm der Herrgott von neuem erwiesen,
gar nicht so recht begreifen könnte, viel weniger ver-
dient hätte. Er hob das kleine Geschöpf aus der Wiege
und zeigte es der Besucherin.
„Das INariele hat uns den Bub vom Fimmel
geschickt," sagte er stolz; aber seine Stimme zitterte
leise. Und die Truda faltete wie in stillem Fleh'n die
Hände; ob sie wohl dachte, daß durch den kleinen
Schläfer hier und durch das Ukariele im Fimmel oben
vielleicht noch alles zwischen ihr und dem Bauer gut
werden könnte?
„wie heißt der kleine Bub? Ist's ein neuer Hans
Eberlin?"
Die Truda schüttelte den Aops.
„wir haben ihn Aloys getauft, und Aloys Stoß
ist der jDate."
„So, der Aloys? Sag’, Truda, ist er wieder ganz
gesund, der Aloys?"
Die Stina fragte es mit verhaltenem Atem.
„Ganz gesund ist er, der Aloys; der Herrgott hat
ihm aus der schweren Arankheit geholfen und hat
ihm noch eine große, große Gnad' dazu gegeben,
wagst es schon heut' wissen, Stina, ich glaub', daß
ich es dir schon sagen darf. Der Aloys zieht ein
geistlich Gewand an; er geht morgen nach Feldkirch
zu den frommen Vätern Aapuzinern und kommt nim-
mer zurück nach dem Triesnerberg. Ja und Amen
haben der ^Zakob und die Anna dazu gesagt, wenn's
ihnen auch schwer geworden ist, den Einzigen zu ver-
lieren. Und morgen, wenn der Tag graut, geht der
Aloys."
Da, was war das? Ein wehschrei kam aus der
Brust der Stina; sie wandte sich ohne Gruß ab und
wankte aus der Stube. Verwundert sahen ihr der Hans
und sein Weib nach.
„Stand es so um dich, Stina?" fragte die Truda
leise.
Die Stina aber eilte über die Gasse.
„Verloren, verloren," murmelte sie vor sich hin.
„Verloren, für immer verloren, für ewig verloren!"
276
Sic Iadjit grell auf, in ihren Augen glimmte ein
unheimliches Feuer.
„hast ausgespielt, Stina Rüdi," sagte sie mit zucken-
den Lippen. „Ist alles umsonst gewesen, war alles
vergebens."
Sie eilte vorwärts wie gehetzt; längst schon lagen
die letzten Däuser hinter ihr; immer nur vorwärts eilte
sie bergan, durch Gestrüpp und Gesträuch.
Ab und zu stieß sie ihr gellendes Lachen aus; dann
sprach sie wieder mit sich selbst.
„Verloren, Stina Rüdi, kriegst den Liebsten nicht.
Ist alles umsonst gewesen, alle Lieb', alle Rache. Zum
zweitenmal verschmäht, für immer verschmäht!"
Verzweiflungsvoll rang sie die Hände ineinander,
während die Füße sie unaufhaltsam vorwärts trugen.
Sie mochte kaum merken, wohin sie kam, bis sie auf
einmal das Rauschen und Toben des Wassers hörte.
Da lachte sie wieder gellend auf.
„hu, die Lavenaschlucht! Seht ihr die Tobelhocker?
hu, hu, hu, wie der Scheiterhaufen raucht! Die Aleider
brennen, die haare brennen; hu, wie die Flammen
knistern, das Gretli stirbt, hu, hu, hu, Tobelhockerin,
Tobelhockerin! Tin Judas bin ich, die Base hat es
gesagt. Tobelhockerin, Judas! In Ewigkeit wird's
keine Ruhe finden."
Schauerlich klang ihr Lachen und Rufen; dem
Lauscher auf der Felskante standen vor Entsetzen die
277
Haare zu Berge. Er wollte auch rufen, das Brausen
und Toben des Wassers übertönte seine Stimme. Der
Aloys sah, wie die Stina beide Arme gen Himmel
streckte, er vernahm ihren letzten Aufschrei „Tobel-
hockerin, Tobelhockerin!" — dann sah er, wie sie sich in
die grausige Tiefe stürzte; der wildschäumende, reißende
Strudel verschlang gierig sein Dpser.
wie erstarrt stand der Aloys, unfähig, ein Glied
zu rühren.
Der ganze Vorgang hatte sich so schnell vor seinen
Augen abgespielt, daß er ihn kaum begriff.
Langsam, langsam kam ihm die Erkenntnis.
„Tobelhockerin" hatte sie gerufen.
„Du warst es also, Stina, du? was hat dir das
unschuldige Gretli getan?"
Aufstöhnend barg er das Gesicht in beide Hände;
in heißem Weh wand sich sein Aörper. Lange ver-
harrte er so, der Aufruhr in seiner Brust war zu
stürmisch, als daß er sich so schnell hätte legen
können.
Dann war es überwunden; Aloys Stöß hatte auch
damit abgeschlossen. Sein Gesicht zeigte den Frieden,
der aus einem stillen, abgeklärten Gemüte kam.
„Ich will immer für dich beten, Stina Rüdi. Gott
sei deiner armen Seele gnädig!"
Langsam trat er den Heimweg nach dem Triesner-
berg an.
278
In dem schauerlichen Schlund der Lavenaschlucht
brodelt und kocht, zischt und schäumt das Wasser;
mit, furchtbarem Getöse stürzt es sich über Felsen und
Gestein; die hohen Felswände geben ein schauerliches
Echo zurück.
Zu den unheimlichen Gestalten, die in dumpfer Ver-
zweiflung und bangem Schweigen um den steinernen
Tisch in der Lavenaschlucht fitzen, hat sich noch eine
gesellt, Stina Rüdi!
Liebe, Haß, Verzweiflung haben aus ihr die Tobel-
hockerin gernacht.
Und niemals gibt die Lavenaschlucht ihre Gpfer
zurück, die sind ihr verschrieben bis in alle Ewigkeit.