LIECHTENSTEIN
POLITISCHE SCHRIFTEN
Liechtenstein
Politische Schriften
Herausgegeben
von der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Vaduz
BAND 10
Liechtenstein in Europa
mit Beiträgen von:
Marzeil Beck, Werner Kägi, Graf Mario von Ledebur,
Prinz Nikolaus von Liechtenstein, Georg Malin,
Volker Press, Herbert Wille
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Vaduz 1984
Die Maria Holder Stiftung, Vaduz, hat diese Veröffentlichung durch
eine grosszügige Spende unterstützt.
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
FL-9490 Vaduz, Postfach 44
ISBN 3-7211-1010-2
Druck: Buch- und Verlagsdruckerei AG, Vaduz
Grafische Gestaltung: Louis Jäger, Vaduz
Inhalt
Vorwort 7
Werner Kägi Der Kleinstaat in Geschichte und Ge
genwart — Gedanken in einem bedroh
ten Europa 9
Volker Press Das Fürstentum Liechtenstein im
Rheinbund und im Deutschen Bund
(1806—1866) 45
Georg Malin Kulturpolitik als Verpflichtung euro
päischer Kleinstaaten . . . . 107
Graf Mario von Licht und Schatten über der KSZE . 133
Ledebur
Prinz Nikolaus von Liechtensteins Mitgliedschaft im Euro-
Liechtenstein parat 195
Herbert Wille, Liechtenstein und die Europäische
Marzell Beck Menschenrechtskonvention (EMRK) 227
Uber die Autoren 251
5
Vorwort
Liechtenstein ist ein Land Europas. Inmitten dieses Kontinents gelegen
teilt Liechtenstein das Schicksal Europas. Liechtenstein ist historisch,
geistig-kulturell, wirtschaftlich und politisch in Europa eingefügt und
eingewoben. Das kleine Staatswesen ist eine Spielvariante des alten
ambivalenten europäischen Hangs zum Grossen wie zum Kleinen und
Individuellen. Liechtenstein verdankt seinen Bestand günstigen ge
schichtlichen und geopolitischen Faktoren und Fügungen und dem
Willen zur Erhaltung der Selbständigkeit. Es besitzt das Privileg,
zum Kreis jener europäischen Staaten zu gehören, die sich auf die
freiheitliche, sozial- und rechtsstaatliche Demokratie verpflichtet
haben. Es hat den Vorteil, zwischen der Schweiz und Österreich,
zwei neutralen, friedliebenden und freundschaftlich gesinnten Staa
ten, eingebettet zu sein.
Es war naheliegend, einen Band der Politischen Schriften dem Thema
der Beziehungen Liechtensteins zu Europa zu widmen. Einige Fragen
konnten freilich bloss summarisch erörtert werden. Aussenpolitisch-
geschichtlich wurde nur die Zeit von 1806—1866 erfasst. Eine Reihe
von Themen mussten beiseite gelassen werden. Fragen wie z. B. die
Mitarbeit im Europäischen Wiedereingliederungsfonds, in der Wirt
schaftskommission der Vereinten Nationen für Europa ECE (Kon
sultativstatus), die Zugehörigkeit zu zahlreichen regional-europäischen
Konventionen sind nicht behandelt. Die wirtschaftlichen Verbindun
gen mit Europa sind nicht berücksichtigt, insbesondere nicht die Be
ziehungen zur Europäischen Freihandelsassoziation EFTA und zur
Europäischen Gemeinschaft EG. Zum letzteren Problem wurde aller
dings 1975 beim damaligen Stand eine Arbeit veröffentlicht (Walter
Bruno Gyger, Das Fürstentum Liechtenstein und die Europäische
Gemeinschaft, Liechtenstein Politische Schriften, Band 4).
Im vorliegenden Band vereinigt der Staatsrechtler Professor Werner
Kägi Schätze geschichtlicher Erfahrungen und ideengeschichtliche,
philosophische und praktische Einsichten über den Kleinstaat. Der
Historiker Professor Volker Press behandelt eine bedeutsame Phase
liechtensteinischer Aussenpolitik- von der Auflösung des Deutschen
Reiches bis zum Ende des Deutschen Bundes (1806—1866) in einem
historischen Längsschnitt. Georg Malin, Bildhauer, Historiker und
7
Konservator, stellt die Kulturpolitik als wesentliches Element klein
staatlichen Seins dar. Sodann folgt ein Beitrag über die Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE, dem heute
umfassendsten politischen Konferenzforum Europas, dem auch Liech
tenstein angehört; Botschaftsrat Graf Mario von Ledebur-Wicheln,
der den KSZE-Prozess von Anbeginn aktiv mitverfolgte, unterbreitet
hiezu eine eingehende Analyse. Der Ständige Vertreter Liechtensteins
beim Europarat, Prinz Nikolaus von Liechtenstein, stellt den Europa
rat wie die Mitarbeit Liechtensteins in dieser bedeutenden europäi
schen Organisation freiheitlicher und rechtsstaatlicher Demokratien
Europas vor. Zum Europarat zählt Liechtenstein seit 1978 als Voll
mitglied. Im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft Liechtensteins
beim Europarat stehen die liechtensteinische Ratifikation der Euro
päischen Menschenrechtskonvention (1982) und die Mitwirkung in
deren Rechtsprechungsorganen. Hiezu bieten die Beiträge von Herr
bert Wille, Ressortsekretär bei der Fürstlichen Regierung, und Marzell
Beck eine wertvolle Einführung.
Liechtenstein ist ein Staat in einem sich weiter verflechtenden Europa.
Die ehemals eher statische europäische Ordnung ist in Bewegung ge
raten. Vom Kleinstaat sind Umsicht und Klarheit abverlangt: Gerech
tigkeit und Zustimmung im Innern, gesunde Institutionen, verant
wortliches Wachsein im Verhältnis nach aussen. Was Graf Ledebur
im Zusammenhang mit der KSZE schreibt, gilt auch für andere Be
reiche: «Die Auffassung, Liechtenstein könne zwischen seinen beiden
Nachbarn friedlich leben, es hätte mit seiner Unterschrift in Helsinki
seine Pflicht getan und damit internationale Anerkennung erreicht,
wie sie nun nach dem Helsinki-Gipfel nur noch nachklingen könne,
diese Auffassung, dass jetzt nur noch das Frauenstimmrecht einzu
führen und damit liechtensteinischerseits alles, was KSZE-Staaten
von ihm fordern könnten, getan sei, diese Auffassung, sollte sie je
liechtensteinisch gewesen sein, geht wesentlich an der KSZE vorbei.
Sie wäre eine Verkennung der politischen Realität... Eine solche
Verkennung würde einen Abstieg vom Helsinki-Gipfel bedeuten, der
sich aussenpolitisch und souveränitätspolitisch auf Liechtenstein wohl
negativ auswirken könnte.» Liechtenstein wird fortdauernd der An
strengung seiner Bürger und Einwohner bedürfen.
Vaduz, im Mai 1984
Gerard Batliner
8
Der Kleinstaat in Geschichte und Gegenwart -
Gedanken in einem bedrohten Europa*
Werner Kägi
Elisabeth Hildebrand und ihren Kindern gewidmet,
in dankbarer Erinnerung an Dr. Walter Hildebrand,
dem treuen Diener am Recht in zwei Kleinstaaten
Der vorliegende Text gibt einen Vortrag wieder, der am 7. Juni 1982 vor der
Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft in Vaduz gehalten wurde; in den
Anmerkungen wurden einige Stellen bis Juli 1983 nachgeführt.
Es ist etwas Eigenartiges um unser Thema: Während langen Jahr
zehnten — zumal in den «fetten Jahren» der Hochkonjunktur —
war nur selten vom Kleinstaat die Rede. Dann aber wurde die Frage
wieder äusserst aktuell: in Zeiten der Bedrohung, ja der radikalen
Infragestellung. Eigentlich müsste sie uns aber dauernd vor Augen
stehen.
Die grosse Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema «Kleinstaat» — ange
sichts der Katastrophe der Politik der Grossmächte — eine Zeitlang
sehr aktuell. In der Ausweglosigkeit und Verzweiflung wandte sich
das politische Denken sehr intensiv dem Studium des Kleinstaates zu.
Die Grösse des Kleinstaates — die mögliche Grösse des Kleinstaates
— wurde neu erkannt: Athen, Assisi, Florenz, Basel, Weimar, Brügge,
Genf.
Es war nicht bloss eine romantische Flucht in die Geschichte, sondern
diese Kleinstaaten wurden wieder lebendig als Leitbilder — als Her
ausforderung! — für eine neue Form menschlicher Gemeinschaft.
Diesen aufgewühlten Jahren verdanken wir entscheidende Anstösse
für die Erneuerung des politischen Denkens, — nicht zuletzt durch
das neue Nachdenken über den Sinn des Kleinstaates. In diesem
Suchen — zwischen Resignation und Utopie — hat es auch nicht an
sehr radikalen Diagnosen und Postulaten gefehlt: Ich erinnere nur
an eine der radikalsten Stellungnahmen und Apologien des Klein
staates. Sie stammt von einem österreichischen Autor: Leopold Kohr,
der 1909 in Innsbruck geboren, in den dreissiger Jahren nach Kanada
ausgewandert ist und später in den USA, Puerto Rico und Wales
lebte und lehrte, hat sein Nachdenken 1957 in dem Werk «The
Breakdown of Nations» zusammengefasst. Seine «neue politische
Philosophie» wollte das Ganze des sozialen Universums «transparent»
machen: «Hinter allen Formen der sozialen Misere» sieht er nur eine
Ursache: «bigness». «Wo immer etwas falsch ist, ist es zu gross.»
Diese «Grösse», diese «übersteigerte Grösse» glaubt er als das eine
und einzige Problem der Schöpfung zu erkennen. Die Grossstaaten
sind durch die Grösse unregierbar geworden. Aber weit mehr: Es ist
«immer die Grösse und nur die Grösse», welche die Probleme der
11
Existenz verursacht. Eine Art neuer Erbsündenlehre für den Bereich
des Politischen!1
Auflösung der Grossstaaten?
So simplistisch wie die Diagnose ist auch die Therapie. Diese über
triebenen Vereinfachungen stehen leider wesentlichen Einsichten
Kohrs über den Kleinstaat im Wege; denn niemand vermochte bisher
zu zeigen, wie eine neue Weltordnung auf Kleinstaaten aufgebaut —
umgebaut! — werden könnte. Zwar gab es im krisenhaften Zusam
menbruch der Nachkriegszeit da und dort einige Ansätze in dieser
Richtung: Einzelne Städte und andere kleine politische Gebilde —
in Frankreich, in Deutschland, in Indien — erklärten sich als «Welt
territorien». Es gab die extrem föderalistischen, ja anarchistischen
Tendenzen eines «federalisme integral». Aber es blieb bei einzelnen
kurzen Demonstrationen. Nirgends gab es Anzeichen für eine Bereit
schaft der Grossen, sich irgendwie in Kleinstaaten zu zerlegen. Im
Gegenteil: Mit der raschen wirtschaftlichen Erholung und angesichts
des wachsenden monolithischen Kolosses im Osten hat sich das alte
Souveränitätsdenken neu gefestigt. Das alte Streben nach Macht geht
weiter. Und die Welt blickt wieder wie gebannt — durch Angst und
Bewunderung — auf die Grossen und ganz Grossen.
Wir fragen aber auch nach der anderen Seite: Werden die Entschei
dungen der Grossen wirklich den künftigen Weg der Menschheit be
stimmen? Verbreitet ist zwar die Befürchtung, dass ihr Versagen die
ganze Welt in eine Katastrophe zu führen vermag; aber nur wenige
dürften daran glauben, dass die Wende zum Guten durch die Ent
scheidungen der Grossen auf den sog. «Gipfelkonferenzen» herbeige
1 The Breakdown of Nations, London/New York 1957; Die Oberentwickelten
oder die Gefahr der Grösse, 1962; Weniger Staat, 1965.
In einem internationalen Symposion zu Ehren von Leopold Kohr in Salzburg
im Sommer 1982 wurden seine Lehren neu dargestellt und verteidigt. Sein Pro
gramm der «Überschaubarkeit» und der «AntiZentralisation» gipfelt in der
schlichten Behauptung: «Wo immer etwas falsch ist, ist es zu gross». In seinem
Tagungsbeitrag stellte Leopold Kohr fest, der Lauf der Geschichte werde nicht
durch Persönlichkeiten oder Ideologien, weder durch Zufälle noch durch willent
liche Änderung der Produktionsweise bestimmt, sondern allein durch periodisch
vorkommende Änderung der Bevölkerungsgrösse eines Gemeinwesens... Klein
heit garantiere wenn nicht Güte, so doch Erträglichkeit. (Katharina Frass in
einem Bericht über «Rückkehr zum menschlichen Mass», Kleinheit als Über
lebensprinzip bei Leopold Kohr), NZZ, 20. September 1982, Nr. 218, S. 19.
12
führt werden wird. Ist nicht vielmehr die Einsicht im Wachsen, dass
ein wirklicher Fortschritt durch ganz andere Kräfte bestimmt wer
den dürfte? Und wird nicht die Ordnung des umfassenderen Kreises
vor allem durch das Tun und Verhalten im engeren und engsten
Kreise bedingt?
Wachsendes Interesse der Wissenschaft für die
kleinstaatliche Existenz
Hier besteht nun ein frappanter Gegensatz zwischen den Naturwis-
senschaftern und den politischen Wissenschaftern: Der Biologe und
Zoologe befassen sich mit besonderer Hingabe und Liebe vor allem
auch mit den kleinen und kleinsten Lebewesen. Das Interesse der
Verfassungstheoretiker und Verfassungshistoriker dagegen wird
offensichtlich immer noch weit stärker durch die «grossen Tiere» ab
sorbiert .. .2
Wird nun aber nicht gerade hier der Kleinstaat doch neu aktuell und
bedeutsam? Im Folgenden soll versucht werden, ein paar Gedanken
über den Kleinstaat und die Idee des Kleinstaates in der Geschichte,
wie über die kleinstaatliche Existenz in der Gegenwart zu entwickeln.
Dazu eine kleine Vorbemerkung: Ich bin nicht Wirtschaftspolitiker,
nicht Aussenpolitiker und militärischer Sachverständiger. Aber ich
darf Ihnen etwas von dem unterbreiten, was mich in den 40 Jahren
meines Wirkens als Staatsrechtler dauernd beschäftigt hat und heute
wieder neu beschäftigt: die inneren Voraussetzungen kleinstaatlicher
Existenz.3
Zum Begriff des Kleinstaates
Nötig ist auch hier ein kurzes Wort zum Begriff. In verschiedenen
neueren Werken zum Staats- und Völkerrecht und zur politischen
2 Es gibt auch unter den Autoren der Grossstaaten einige löbliche Ausnahmen.
Aber in vielen Werken wird man sogar in sehr ausführlichen Registern vergeb
lich nach dem Stichwort «Kleinstaat» («petit £tat», «small State») Ausschau
halten und auch im Text höchstens kurze Hinweise finden.
® D ie Besinnung auf die kleinstaatliche Existenz führt immer auch auf die Grund
fragen der freien Gemeinschaft, des Föderalismus, des Aufbaues des Staates
von unten her. Dazu habe ich bereits mitten im letzten Weltkrieg eine Lanze
13
Wissenschaft findet sich etwa folgende Klassifizierung der souverä
nen Staaten:
— die Weltmächte oder Weltsupergrossmächte: Bis vor kurzem
rechnete man nur die USA und UdSSR dazu; heute wird aber
auch Rotchina dazugezählt und immer häufiger das mächtig auf
strebende Japan;
— die Grossmächte;
— die Mittelstaaten;
— die Kleinstaaten und
— die sog. Zwergstaaten (wie etwa San Marino, die Vatikanstadt,
Monaco, Liechtenstein, Nauru, Mauritius usw.). Das führende
Werk über Völkerrecht von Oppenheim/Lauterpacht spricht von
«very small, yet fully sovereign States».4
Die Abgrenzung ist wesentlich quantitativ: Wichtiger als die Grösse
des Herrschaftsgebietes ist dabei die Bevölkerungszahl. Andere ver
suchen nach dem Wirtschaftspotential abzustufen; wieder andere stel
len auf das Potential an Atomwaffen ab. Man hat in neueren Werken
als Kriterium der Souveränität des Staates gelegentlich die Verfü
gungsgewalt über Atombomben bezeichnet!5
Sehr oft begegnet man übrigens heute — auch dies ein Zeichen der
Resignation — der Feststellung, dass es neben den «Supermächten»
gebrochen mit dem 1943 geschriebenen Aufsatz «Vom Sinn des Föderalismus»,
erschienen im Jahrbuch «Die Schweiz» der Neuen Helvetischen Gesellschaft,
1944, S. 44ff. Er wurde eingeleitet mit dem Credo: «Die Schweiz wird födera
listisch sein oder sie wird nicht sein». In einem Europa unter totalitärer Herr
schaft schien dieser Weckruf vielen als hoffnungslos optimistisch.
Einige weitere Abhandlungen zu diesem Dauertraktandum, das sich immer
wieder neu gestellt hat: Der Weg unseres Kleinstaates im Atomzeitalter (Rede
zur Ustertag-Feier 1958); Föderalismus und Freiheit (im Sammelband «Erzie
hung zur Freiheit», Schriftenreihe des Schweiz. Auslandsinstitutes, 1959,
S. 771ff.); Schweiz — Europa — Menschheit, Selbstbehauptung und Mitverant
wortung, (in: Schweizer Monatshefte 1960/61, S. 741ff.); die Grundordnung
unseres Kleinstaates und ihre Herausforderung in der 2. Hälfte des 20. Jhdts.
(in: Das Schweizerische Recht, Besinnung und Ausblick, Basel 1964, S. lff.);
Der Kleinstaat und die Menschenrechte (Interview von Redaktor Häsler, Ex
Libris 1976; Legitimation, Ordnung und Begrenzung der Macht im Kleinstaat,
(im Sammelband «Macht und ihre Begrenzung im Kleinstaat Schweiz», Zürich
1981, S. 241ff.).
4 International Law, 6. A., Bd. I, S. 232.
5 Ist es nicht ein erschreckendes Blitzlicht auf die Situation der Welt, dass die
Souveränität als letzte Entscheidungsgewalt, als oberste Rechtsautorität in dieser
Weise umschrieben wird, — n ach zwei Weltkriegen!
14
überhaupt nur noch Kleinstaaten gebe. So hat Olof Palme als schwe
discher Ministerpräsident in einem Vortrag in Wien (am 15. April
1971) einleitend die erstaunliche Feststellung gemacht: «Versucht
man eine Gliederung, so befindet man sich auf sicherem Grund, wenn
man diejenigen Staaten als kleine oder Kleinstaaten bezeichnet, die
sich nicht in die Gruppe der Supermächte einordnen lassen» (!).
In der Ordnung der Vereinten Nationen ergibt sich nach der recht
lichen Stellung folgende Abstufung: die 5 Vetomächte; die übrigen
(vorübergehenden) Mitglieder des Sicherheitsrates; alle anderen Mit
glieder.6 Nicht Mitglieder der UNO sind bis heute die sog. «Zwerg
staaten».
6 Exkurs zum Problem der *souveränen Gleichheit aller Staaten, gross und klein»:
Die Charta der Vereinten Nationen spricht in Art. 2 Ziff. 1 vom «Grundsatz
der souveränen Gleichheit aller Mitglieder». In der klaren Theorie werden das
Prinzip der Staatengleichheit (principle of equality of States, large and small)
und das Prinzip der Selbstbestimmung (principle of self-determination), d. h.
der Souveränität, als zwei verschiedene Prinzipien unterschieden. In Art. 2
Ziff. 2 der Charta erfolgt dann aber die Verbindung in der Formel der «souve
ränen Gleichheit» (sovereign equality), die höchst problematisch ist. Diesem an
die Spitze gestellten Grundsatz widerspricht schon sehr radikal die positiv
rechtliche Ordnung: Vor allem die Privilegien, die in der Charta den Ständigen
Mitgliedern des Sicherheitsrates eingeräumt worden sind (vgl. insbes. die Art. 27,
108 und 109). Nach der Gründung der UNO blieb die Frage der Mitglied
schaft der Zwergstaaten zunächst in der Schwebe. In den siebziger und acht
ziger Jahren wurden dann eine ganze Reihe von sehr kleinen Staaten aus an
deren Kontinenten als Mitglieder aufgenommen, so dass heute die europäischen
Zwergstaaten wohl keinem Widerspruch mehr begegnen dürften. Vgl. dazu die
kritische Analyse im grossen Kommentar von Hans Kelsen, The Law of the
United Nations, 1950, S. 50f.
Das führende grosse Werk von Oppenheim/Lauterpacht stellt in § 116 (Bd. I,
S. 241) mit Nachdruck fest: «legal equality must not be confused with political
equality». Politisch seien die Staaten «in no manner equal»; es gilt vielmehr
auch in der Staatengesellschaft die Grundnorm der «Animal Farm» von George
Orwell, wonach «some are more equal than others».
Trotz diesen Ungleichheiten, die sich als Folge der «natürlichen Ungleichheit»
immer wieder durchsetzen, dürfe man die Verankerung des Grundprinzips der
«souveränen Gleichheit» in der Charta der Vereinten Nationen als eine «land
mark in the gradual modification of the traditional doctrine of equality of
States» bezeichnen (so Oppenheim/Lauterpacht, Bd. I, S. 247). Bei allem viel
gerühmten Realismus aber ist es doch unrichtig und unhaltbar, die Stellung der
Zwergstaaten so darzustellen, wie es im bekannten Manual of International
Law von George Schwarzenberger geschehen ist: Unter der Überschrift «Dimi
nutive States», im Abschnitt über «Dependent States», wird in Bd. I auf S. 55
festgestellt: «In the nature of things, extremely small States such as Andorra,
Liechtenstein, Monaco , and San Marino tend to fluctuate in a twilight region
between independent and dependent international persons». Das ist eine un
haltbare und gefährliche Verallgemeinerung. Auch mittlere und sogar grosse
Staaten können im Bannkreis der Supermächte, vor allem der totalitären Super
macht, in allerlei Abhängigkeiten hineingeraten; auch kleine und kleinste Staa
ten dagegen aber haben sich in Freiheit zu behaupten vermocht. Jeder Fall muss
individuell gewürdigt werden.
15
Zum Sprachgebrauch nur die eine Bemerkung: Die meisten Sprachen
verwenden zur Umschreibung des hier ins Auge gefassten Sachver
haltes einfach das übliche Adjektiv: «le petit Etat», «the small State».
Einzig die italienische und die deutsche Sprache haben, soweit ich
sehe, einen besonderen Begriff: im Italienischen «statino» oder «sta-
terello», im Deutschen «Kleinstaat».7 Diese: Wörter wurden in beiden
Staaten im Ringen um die umfassenderen Nationalstaaten geschaffen.
Es klingt darin etwas nach von der Ablehnung, ja vom Hohn auf
diese kleinstaatlichen Gebilde, in denen man das grosse Hindernis
auf dem Wege zur nationalen Einigung und zur Grossmacht zu er
kennen glaubte. «Kleinstaaterei» war in jener Zeit ein grosses
Schimpfwort, — für viele recht eigentlich die politische Todsünde.
Es ist müssig, einen irgendwie ziffernmässig bestimmbaren, allgemein
gültigen Begriff des Kleinstaates anzustreben. Es handelt sich um
einen konventionellen Begriff: einige Zehntausend für die antiken
Poleis, einige Hunderttausend für einzelne Stadtstaaten der Renais
sance; die Kleinstaaten im 19. und 20. Jahrhundert umfassten z. T.
sogar einige Millionen Einwohner.
Es geht uns im folgenden aber nicht nur um diese souveränen Klein
staaten, sondern umfassender: um die Bedeutung der engeren Gemein
schaften und ihrer (relativen) Selbständigkeit im Rahmen grösserer
politischer Gebilde, oder anders ausgedrückt: um den Aufbau der
umfassenderen Gemeinschaften von unten her, auf Grund der Auto
nomie und der Mitverantwortung der engeren Verbände. Diese Frage
ist ein Grundproblem und ein Schicksalsproblem aller Integration,
wenn anders die zu schaffende Einheit auf Freiheit beruhen soll.8
Aber zunächst ein kurzer Blick zurück.
Der Kleinstaat in der Geschichte und Ideengeschichte
Wir können hier keine Geschichte des Kleinstaates geben. Im raschen
Rückblick können wir nur einige historische Situationen aufweisen,
in denen der Kleinstaat tatsächlich die dominierende politische Le
bensform war: eine machtvoll sich behauptende Selbstverständlich
7 Vgl. Werner - Kaegi , Historische Meditationen,; Zweite Folge (nachstehend als
Bd. II bezeichnet), Zürich 1946, S. 47f.
8 Vgl. dazu die Literaturangaben oben in Anm. 3.
16
keit. Sodann jene anderen Situationen, in denen er bekämpft wurde,
wo er keine Chance mehr zu haben schien, wo man ihm — wie oft
schon?! — das Ende voraussagte; aber auch die Zeiten, da er neu
aus der Asche aufgestiegen ist.9
Wir werden es vor allem so versuchen, dass wir einige der grössten
politischen Denker und Historiker anrufen werden, die sich den
Blick für das Kleine auch bewahrt hatten, als die Welt «Grösse»
mehr und mehr mit dem «Machtpotential» identifizierte und dem
«Kult des Kolossalen» verfiel. Es sind wesentliche politische Einsich
ten, die man allzuoft übersehen und dem raschen Vergessen ausgelie
fert hat.
Antike
Eine hohe Zeit, ja in einem gewissen Sinne seine glorreichste Zeit, er
lebte der Kleinstaat in der antiken Polis. Diese Polis war «ein ganz
eigenes Produkt der Weltgeschichte» (Jacob Burckhardt). Die athe
nische Polis der Blütezeit war gross in ihrer kulturellen Leistung, sie
8 Wesentliche Einsichten in diese historischen Zusammenhänge verdanke ich mei
nem verehrten Kollegen und Namensvetter Werner Kaegi, dem Historiker und
Schöpfer der monumentalen Biographie von Jacob Burckhardt, (Bd. I—VII,
Basel 1947—1982), der während Jahrzehnten als Ordinarius für Geschichte an
der Universität Basel gewirkt hat. Aus seinem weiteren Werk verweise ich vor
allem auf die beiden Abhandlungen — mitten in der radikalen Bedrohung des
Zweiten Weltkrieges erarbeitet und für eine weitere Öffentlichkeit bestimmt —
Der Kleinstaat im europäischen Denken, Historische Meditationen, (Bd. I),
S. 249ff., Zürich 1942, und, Uber den Kleinstaat in der älteren Geschichte
Europas, Bd. II, Zürich 1946, S. 43ff. Eine umfassende Geschichte des Klein
staates gibt es bis heute nicht; aber was Werner Kaegi bescheiden als «Andeu
tung», als «Fragmente und Grundrisse» bezeichnet hat, (Vorwort, Bd. II, S. 5),
ist weit mehr als das. Es ist, entscheidend angeregt durch den grössten Histo
riker des Kleinstaates (insbes. in Griechenland und in der Zeit der Renaissance
in Italien), Jacob Burckhardt, eine der schönsten Einleitungen und Anleitungen
zum Studium der Geschichte des Kleinstaates. Nach dem Zweiten Weltkrieg
ist er zwar von vielen Wissenschaftern neu «entdeckt» worden. Jacob Burck
hardt hat aber bereits im 19. Jhdt. — gegen den mächtigen Strom der «Gross-
staaterei» — unbeirrt den Kleinstaat und seine Grösse und seine Möglichkeiten
verteidigt. Und sein Biograph hat dies, geistverwandt und ebenfalls aus eigenem
Erleben heraus, fortgeführt. Auch er musste gegen den «Kult des Kolossalen»,
der dem Kleinstaat nach einem weitverbreiteten Urteil keinerlei Chance mehr
zu lassen schien, ankämpfen. Vgl. an Quellen vor allem auch: J. Burckhardt,
Briefe, Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe von Max Burckhardt, Basel
1949ff.; Emil Dürr, J. Burckhardt als politischer Publizist, Aus dem Nachlass
von Werner Kaegi herausgegeben, Zürich 1937; Eine kleine sorgfältige Auswahl
(von der Polis bis zum Kleinstaat im 19. Jhdt.) von Hanno Helbling; Jacob
Burckhardt, Staat und Kultur, Manesse, 1972.
17
war aber auch einmalig in dem, was sie politisch erreicht und ange
regt hat. In der Polis der Blütezeit kam es zu einer einzigartigen
Harmonisierung von Macht und Freiheit, zu einer frühen Verwirkli
chung einer Ordnung, in welcher die Gesetze (der Nomos im umfas
senden Sinne) die Macht gebändigt haben. In der Auseinandersetzung
mit dem Gelingen und Scheitern der verschiedenen Verfassungen
haben die grossen griechischen Staatsdenker ein Wissen und eine
Weisheit von den politischen Dingen entwickelt, die über die Jahr
hunderte hinweg menschliches Denken und Tun immer wieder neu
angeregt, gelenkt, befreit und geläutert haben.10 Wo sonst ist von
Völkerschaften von dieser Kleinheit je eine solche Strahlung über die
Jahrtausende hinweg ausgegangen? Man hat die Politik des Aristo
teles auch noch im 20. Jahrhundert als «Stahlbad des politischen Den
kens» bezeichnet.
Man müsste länger bei der Polis und ihren grossen Denkern und bei
ihrem grossen Deuter Jacob Burckhardt verweilen. Man müsste hier
auch auf das chinesische Denken eingehen: Für Lao-Tse und Aristo
teles darf ich aber verweisen auf die schöne Studie von Graf Mario
von Ledebur-Wichein über «Die optimale Dimension als Problem der
politischen Philosophie».11
Am Anfang der jüngeren europäischen Geschichte aber steht nun
allerdings eine politische Ordnung von ganz anderer Art: das spät
römische Reich, ein Grossstaat, ja ein Weltreich in der Form einer
Einheitsmonarchie.
Hatten die Reformen Diokletians die Reste älterer kleinstaatlicher
Formen beseitigt, so öffnete in der Folge der grosse Prozess der Des
integration, der zum Untergang des Weströmischen Reiches führte,
den Weg neu: einerseits für die Vorstufen der späten nationalen
Monarchien, andererseits für neue Formen von kleinräumigen Ge
meinwesen: die spätrömischen Städte in Italien und Gallien, — jenes
wunderbare Wiederaufblühen des Lebens in den Städten nach Jahr
10 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. I, .Der Staat und die
Religion, 2. Abschnitt, Die Polis (Kröner, S. 55ff.); Viktor Ehrenberg, Der
Staat der Griechen, 1964, S. 32ff., 107ff.,,290ff.; zur neueren. Polisforschung
im Anhang S. 303ff.; W. G. Forrest, Wege zur hellenistischen/Demokratie, 1966;
J.-J. Chevallier, Histoire de la pens£e politique, Bd. I, 1. Buch, La Cit£-Etat,
S. 15ff., 1979.
11 Liechtenstein Politische Schriften,, Bd. 6, 1976.
18
hunderten des Zerfalls und der Schwäche, und der ländlichen Volks
gemeinschaften («civitates») in Gallien, Britannien, Germanien. Eine
eigentliche staatliche Autonomie — was man später «Souveränität»
nannte — haben diese Bauerngemeinschaften zwar nur in wenigen
Randgebieten des deutschen Reiches in gewissem Umfang zu behaup
ten vermocht, im friesischen und sächsischen Norden und im schwei
zerischen Süden. Aber auch der Grossstaat des Karolingerreiches war
doch gezwungen, das Eigenleben der germanischen Sippen, Hundert
schaften und Gaue zu achten.12
Mittelalter
Die entscheidenden Initiativen — kulturell, wirtschaftlich, politisch
— gingen jedenfalls während Jahrhunderten des späteren Mittelalters
und der frühen Neuzeit vom städtischen Bürgertum der Kleinstaaten
aus. Es kommt zu einer Blüte der städtischen Kleinstaaten in Italien,
in Nordfrankreich, in Flandern, im Rheinland, in den Hafenstädten
der Nord- und Ostseeküste. Und wo sich die einzelnen «civitates»
gegenüber den werdenden grösseren Mächten nicht mehr allein zu
behaupten vermochten, schlössen sie sich zu Föderationen (Bünden)
zusammen: die Städtebünde in Italien, die Hanse im Norden; in der
Schweiz die Bünde der Städte und bäuerlichen Gemeinwesen gegen
die Burgunder und Habsburger u. ä. m.
Auch diese Kleinstaaten haben übrigens ihre Krisen gehabt. In den
italienischen Städten des 14. und 15. Jahrhunderts etwa finden sich
Beispiele für beide Formen der Entartung: für die Despotie von un
ten, die Pöbelherrschaft, und für die Despotie von oben, die Tyran-
nenherrschaft.13
Neuzeit
War der Kleinstaat die natürliche Lebensform des Mittelalters, so
wurde der Grossstaat zur beherrschenden Macht der Neuzeit. Der
12 Historische Meditationen, Bd. II, S. 49ff.; Ernst Meyer, Römischer Staat und
Staatsgedanke, 1948, S. 330ff. (Weltreich und Ende).
"Historische Meditationen, Bd. II, S. 61 ff.; J.-J. Chevallier, a.a.O., Bd. I,
S. 145ff., 171 ff.
19
monarchische Absolutismus war der erste entscheidende Schritt. Im
17. und 18. Jahrhundert waren die Kleinstaaten noch ein starkes, hem
mendes Moment. Das napoleonische Reich hat dann aber viele der
kleinstaatlichen Gebilde beseitigt, neben zerfallenden auch lebens
fähige und blühende! Die Heilige Allianz war zum ersten Mal ent
scheidend und ausschliesslich ein Europa der Grossmächte.
Die revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts schufen bzw.
konsolidierten die Grossstaaten der nationalen Einigung in mehr oder
weniger schroff zentralisierter Form. Die Situation des Kleinstaates
ist jedenfalls in den letzten zwei Jahrhunderten immer schwieriger
geworden. Ihre Existenz als selbständige («souveräne») Staaten wurde
erschwert; viele haben sie — vorübergehend oder dauernd—überhaupt
verloren. Und die andere äusserst bedeutsame Entwicklung: Auch die
kleinstaatliche Gemeinschaft als Unterbau und corps intermediaire ist
mehr und mehr geschwächt oder beseitigt worden.14
Angesichts dieser Bedrohungen ist das Nachdenken über den Klein
staat immer wieder neu angeregt worden. Die «Eule der Minerva»
aber hat auch hier ihren Flug zumeist erst in der Dämmerung begon
nen. Zwar hat schon frühzeitig in der abendländischen Geschichte,
im frühen 5. Jahrhundert, Augustinus die grundlegenden Zusammen
hänge klar gesehen: Einmal den unabdingbaren Zusammenhang zwi
schen dem («rechten») Staat und der Gerechtigkeit. Er stellte seiner
Zeit die bekannte herausfordernde Frage, die auch das 20. Jahrhun
dert neu hören müsste: «Was sind Staaten ohne Gerechtigkeit anderes
als grosse Räuberbanden (,magna latrocinia')?» Sodann die Zusam
menhänge der Ordnung menschlicher Gemeinschaft mit der Grösse:
Er warnt selbst die Guten davor, sich über die Ausdehnung der
Reiche («de regni latitudine») zu freuen!15
Nicolö Machiavelli, der vielgeschmähte und oft missverstandene, hat
mit seinem unbestechlichen Blick für die Lebensbedingungen der
Staaten festgestellt, dass kleine republikanische Gemeinschaften sich
zu ihrer Verteidigung zusammenschliessen müssen, dass aber auch
14 Historische Meditationen, Bd. II, S. 67ff.
ls J.-J. Chevallier, a. a.O., Bd. I, S. 145ff.; Werner Kaegi, a.a.O., (Bd. I), S. 251,
dortige Anm. 1; Augustinus, De civitate Dei, IV, 15 und III, 10; vgl. dazu
auch Harald Fuchs, Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt,
1938.
20
solchen Föderationen Grenzen gesetzt sind. Wo sie 12—14 Glieder
überschreiten, entsteht für sie innerer oder äusserer Schaden (Discorsi
II/4, II/19).16
Am beharrlichsten und klarsten aber hat der grosse Weise von Bor
deaux, Montesquieu, diese Zusammenhänge durchdacht. Zwingende
Voraussetzung wirklichen kleinstaatlichen Denkens ist die republika
nische Staatsform. Das 8. Buch des «Esprit des Lois», das von den
Gründen des Unterganges der Staaten handelt, zeigt in den Kapiteln
XVIff. die Voraussetzungen für die Erhaltung der verschiedenen
Staatsformen: Es gehört zum Wesen der Republik, dass sie nur ein
kleines Territorium besitzt (Kap. XVI; XX). Die Monarchie ist nur
in Gemeinwesen mittlerer Grösse («grandeur mediocre») möglich
(Kap. XVII). Ein grosses Reich aber setzt zwingend die «autorite
despotique» voraus (Kap. XIX). Die heutigen Politiker sprächen von
nichts als von Industrie, Handel, Finanzen, von Reichtum und von
Luxus u. ä. m. Die Grundvoraussetzung für die Erhaltung der Repu
blik aber beruhe in der «vertu», die Montesquieu bestimmt als Liebe
zum Vaterland, als Treue zur Gleichheit, als Einfachheit des Lebens,
als Vermeidung der Extreme der Armut wie des Reichtums (Esprit
des Lois III/3). Sparta rühmt er für den weisen Verzicht auf Erobe
rungen. Rom sei an seiner Grösse zugrunde gegangen.17
Montesquieu hat die Schwäche des Kleinstaates nicht übersehen, im
Blick auf den politischen Machtkampf und auf die militärische Be
hauptung. Er hat aber hingewiesen auf eine Form der Staatenverbin
dung, welche die inneren Vorteile der Republik mit der äusseren Lei
stungsfähigkeit der Monarchie vereinigt: die föderative Republik
(Esprit des Lois, IX/1).
Oft wurde im Laufe der Geschichte die Frage gestellt, ob der Klein
staat überhaupt noch ein Staat sei. J.-J. Rousseau stellt demgegenüber
die herausfordernde Frage, ob ein Grossstaat überhaupt noch ein
16 N. Machiavelli, Discorsi, 2. Buch, Kapitel 4 und 19; J.-J. Chevallier, a. a. O.,
Bd. I, 219ff.; Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsraison, 1924, S. 83ff.
17 Viele Autoren haben den Kleinstaat überhaupt nicht gewürdigt, vgl. oben
Anm. 2; bei anderen hat man äusserst bedeutsame Äusserungen nicht oder viel
zu wenig beachtet. Das ist auch Montesquieu widerfahren. Werner Kaegi hat
die Bedeutung seiner Erkenntnisse hervorgehoben: «Kein Autor des 18. Jahr
hunderts hat unseres Wissens den Gedanken des Kleinstaates mit grösserer Ener
gie durchdacht als Montesquieu» (a.a.O., Bd. I, S. 265; vgl. auch J.-J. Che
vallier, a. a. O., Bd. II, S. 57ff.).
21
Staat sei, da die Teilnahme des einzelnen an den Geschäften des Gan
zen — eben diese «Teilhabe» mache den Sinn des Staates aus! —
hier auf ein Minimum oder Nichts zusammenschrumpfe. «Plus l'Etat
s'agrandit, plus la libert£ diminue» (Contrat social III/l). Demokra
tie ist daher nach Rousseau nur möglich in ganz kleinen Gemein
wesen; denn diese Demokratie verlange, dass alle direkt an der Sou
veränität teilhaben, da die «volonte generale» sich nicht repräsentie
ren lasse. Und die zwingende Folge: «&Tinstant qu'un peuple se donne
des representants, il n'est plus libre; il n'est plus.» (C. s. III/l 5). Den
Grossstaat aber sah er als eine Föderation von kleinstaatlichen Demo
kratien, der er ein weiteres Werk zu widmen gedachte, das dann
leider nie geschrieben wurde (C. s. III/l5, Anm. 2).
Montesquieu und Rousseau haben gegen den monarchischen Absolu
tismus des Ancien Regime gekämpft. Die neue Herausforderung für
den Kleinstaat aber kam in der Folge von Seiten der national beton
ten, z. T. demokratischen Grossstaaten. Gross ist denn auch seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts die Zahl der Apologien der Einheit und
Macht des Grossstaates, allen voran die Deutschen Schlözer, Droysen
und Treitschke. Seltener dagegen sind die Apologien des Kleinstaates
und des kleinstaatlich-föderalistischen Unterbaues, in Frankreich
Alexis de Tocqueville, der grosse Künder der Gemeindefreiheit, in
Deutschland Arnold Heeren und Constantin Frantz, und in der
Schweiz Philipp Anton v. Segesser, Johannes von Müller, Heinrich
Pestalozzi, Jakob Dubs, Jacob Burckhardt und viele andere.
Eines der meistzitierten Worte über den Kleinstaat stammt aus den
«Weltgeschichtlichen Betrachtungen» von Jacob Burckhardt: «Der
Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die
grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne
sind ... Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche
tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Gross
staates, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt;18 jede Ausartung
in die Despotie entzieht ihm seinen Boden, auch die in die Despotie
von unten, trotz allem Lärm, womit er sich dabei umgibt.» Es han
delt sich dabei nicht um eine beiläufige Äusserung, sondern der Ge
18 Werner Kaegi, a.a.O., Bd.- II,-S. 65, hat nachgewiesen, dass dieser Satz bei.der
Schlussredaktion • noch- hineingekommen ist, wodurch die «wirkliche tatsächliche
Freiheit» als Grundwert des'Kleinstaates besonders nachdrücklich unterstrichen
werden wollte.
22
danke des Kleinstaates geht durch sein ganzes Werk. Dieser Gedanke
erhielt bei Burckhardt eine ganz neue Relevanz und Dringlichkeit
angesichts der grossen Gefahr, die er, wahrhaft prophetisch, voraus
gesehen hat: das Abgleiten der Grossstaaten in die Massendespotie.
Nur zwei Belege aus Briefen vor bald 100 Jahren mögen es zeigen:
In einer Zeit, die doch eher fortschrittsoptimistisch an das «Gesetz
der abnehmenden Gewalt» und an das Vordringen des Rechtsstaates
glaubte, konnte Jacob Burckhardt sagen: «Alle Wolken des Himmels
über halb Europa hangen dick voll künftiger Gewalttat.» Und an
einer anderen Stelle — man hat ihn darob oft einen «Pessimisten»
gescholten — sagte er die Heraufkunft der Massenwelt voraus: «Es
wird eine Zeit kommen, wo die Menschen zu schreien beginnen, wenn
nicht mindestens 100 beisammen sind.»
Der Kleinstaatsgedanke von Jacob Burckhardt ist Ausdruck seines
Kulturbegriffs, seines tiefen Misstrauens gegen alles Organisatorische.
Kultur ist Ausdruck der Freiheit und Spontaneität, der Vielgestaltig
keit und Buntheit. Sie lebt auch vom Wettstreit, vom Agon. Von hier
aus ergab sich auch sein Verhältnis zu Deutschland, das vielen als
rätselhaft zwiespältig erscheint. Jacob Burckhardt liebte dieses
Deutschland, sogar leidenschaftlich, solange — und nur solange! —
als es e in Land von Kleinstaaten war. Er sah seine grosse Mission im
Kulturellen. Die Wende Deutschlands zur Grossmachtspolitik aber
erschien ihm als der grosse Abfall und Verrat. Deshalb auch hat er
die ehrenvollen Berufungen auf die berühmtesten deutschen Lehr
stühle — zuletzt als Nachfolger Leopold von Rankes in Berlin — ab
gelehnt.19 Aus der Begründung, die er seinen besten deutschen Freun
den gab, spricht sein politisches Credo mit letzter Deutlichkeit: «Man
kann nicht ein kulturell bedeutendes Volk sein wollen und zugleich
politisch bedeutend.»
Der Kleinstaat in der Gegenwart
Die grosse politische Aufgabe, die uns heute imperativ gestellt wird,
ist auf nationalem Boden: die freie Gemeinschaft freier Menschen
19 Kurz vor dem Krieg von 1866 erhielt er einen Ruf nach Götcingen, den er
ablehnte, ebenso einen Ruf nach Tübingen. Nach dem «grossen Sieg Bismarcks»
erhielt er auch noch den Ruf auf den berühmtesten Lehrstuhl nach Berlin. Auch
jetzt blieb Burckhardt fest, erntete den Dank seiner Basler Mitbürger, — nach
Berlin aber kam Treitschke! Vgl. Werner Kaegi, a. a. O., (Bd. I), S. 309.
23
und auf internationalem Boden — in Europa und universal — die
freie Gemeinschaft freier Völker. In diesem Streben hat der Klein
staat und namentlich auch jener früher erwähnte föderativ-klein
staatliche Unterbau der umfassenderen Gemeinschaft eine wesent
liche Aufgabe zu erfüllen. Wir möchten im folgenden versuchen, die
Zusammenhänge zwischen der Kleinstaatlichkeit und den tragenden
Prinzipien freiheitlicher Verfassung kurz aufzuweisen: zur persön
lichen Freiheit, zur Demokratie, zur föderativen Struktur, zum
Rechtsstaat, zur sozialen Gerechtigkeit. In der liechtensteinischen
Selbstbesinnung auf den Kleinstaat und seine Aufgaben kann man
immer wieder dem Streben begegnen, diese grundlegenden Zusam
menhänge aufzuweisen. Dr. Gerard Batliner hat in seinen Abhand
lungen wiederholt auf vier Strukturelemente, die den Kleinstaat aus
zeichnen — als Ordnungseinheit der Geltung der Person, als Frie
densordnung, als Lebenseinheit internationaler Solidarität und als
Lebenseinheit offener Kommunikation — hingewiesen.20 Darf ich es
als Staatsrechtler in folgender Weise versuchen: Die unterschiedliche
Disposition führt in allen wesentlichen Punkten doch zu gleichen
Ergebnissen.
Ein Erstes: Kleinstaat und persönliche Freiheit
Die Freiheit und — als Korrelat — die Verantwortung der mensch
lichen Person bilden das entscheidende Fundament freiheitlicher Ge
meinschaft. Rechtlich gewährleistet wird sie durch die Grundrechte,
die im grossen Zusammenbruch wieder ganz neu als absolute, unan
tastbare, unverzichtbare und unverjährbare Rechte erkannt worden
sind.21 Den inneren Zusammenhang zwischen kleinstaatlicher Ord
nung und Freiheit hat Jacob Burckhardt in dem früher erwähnten22
viel zitierten Wort aufgewiesen. Die persönliche Freiheit im Innern
ist jedenfalls die entscheidende Lebensbedingung des Kleinstaates: als
Grundlage für das freie, schöpferische Gestalten; in Kultur, Wirt
schaft und Politik. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit aber ist der
!0 Gerard Batliner, in: Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 1,'S. 16ff. und
Bd. 6, S. 197f., dortige Anm. 102.
21 Vgl. meine Abhandlung Die Grundordnung unseres Kleinstaates und ihre Her
ausforderung in der 2. Hälfte des 20. Jhdts., Das Schweizerische Recht, Besin
nung und Ausblick, S. lff.; und, Legitimation, Ordnung und Begrenzung der
Macht im Kleinstaat, S. 265ff.
22 Vgl. oben Anm. 18.
24
Kern — und zugleich die Igelstellung! — der freien Gemeinschaft.
Die persönliche Freiheit erfüllt sich auch im Kleinstaat nicht mit
naturgesetzlicher Notwendigkeit. Sie kann auch im Kleinstaat ent
arten und vergewaltigt werden. Und doch ist sie dem Kleinstaat als
Lebensprinzip deutlicher vorgezeichnet als dem Grossstaat. Der Gross
staat steht dauernd unter dem Gebot und der Versuchung der Macht
politik. Wie hat doch Heinrich von Treitschke den Staat einmal defi
niert: «Der Staat ist erstens Macht und zweitens Macht und drittens
Macht!» Die Politik des Grossstaates steht unter dem Imperativ der
Erhaltung und Mehrung der Macht. Vor diesem Streben aber muss
dann jeweils das Individuum und sein Freiheitsanspruch zurücktre
ten. Der Eigenwert und das Eigenrecht, die Personwürde des einzel
nen verblassen immer wieder vor der Rücksicht auf die «gloire», auf
das Gebot der Staatsraison, auf den Primat der Aussenpolitik.
Der Kleinstaat steht demgegenüber stärker unter dem Primat der In
nenpolitik. Das gilt nicht für alle Kleinstaaten, und es gilt auch nicht
zu allen Zeiten gleicherweise. Man hat von der Schweiz früher etwa
gesagt, sie habe keine Aussenpolitik oder: die Neutralität ersetze ihre
Aussenpolitik. Das war nie richtig und bedeutet namentlich im 20.
Jahrhundert eine nicht ungefährliche Verniedlichung kleinstaatlicher
Existenz.
Zusammenfassend aber können wir doch festhalten, dass die klein
staatliche Existenz in normalen Zeiten im allgemeinen grössere Mög
lichkeiten für die Erhaltung und Entfaltung persönlicher Freiheit und
personhafter Gemeinschaft bietet als die Grossstaaten.23
25 Das war auch der Ansatzpunkt für mein Referat im Rahmen des Vortrags
zyklus der Neuen Helvetiscnen Gesellschaft, der Europa Union und der Schwei
zerischen Gesellschaft für Aussenpolitik im Winter 1982/83 in Zürich. Nachdem
Prof. Dietrich Schindler, ein besonderer Sachkenner der Neutralität am ersten
Vortragsabend über «UNO-Beitritt und schweizerische Neutralität» gezeigt hat,
dass die Neutralität heute (im Gegensatz zur ersten Nachkriegszeit) kein Hin
dernis für den Beitritt mehr darstellt, und auch Nationalrat Rudolf Friedrich,
kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat, die Frage des UNO-Beitrittes «aus
liberaler Sicht» mit guten Argumenten begründet hat — beide haben die ver
antwortungsschwere Entscheidung für den Beitritt «ohne Illusionen» und «ohne
Begeisterung» bejaht —, hatte ich die Aufgabe, die Frage unter dem Gesichts
punkt «Die Vereinten Nationen und die Menschenrechte» zu prüfen. Lässt sich
von den Menschenrechten und ihrer Verwirklichung her ein Beitritt in ähn
licher Weise begründen wie in den vorangehenden Referaten? Diese Frage
musste ich auf Grund meiner Studien verneinen. Für die nähere Begründung
verweise ich auf die Publikation meines Referates zusammen mit den anderen
Referaten im kommenden Jahrbuch 1984 der Neuen Helvetischen Gesellschaft.
Hier nur die eine Bemerkung: Natürlich würde uns die Mitgliedschaft bei der
25
Ein Zweites: Kleinstaat und Demokratie
Zur freiheitlichen Gemeinschaft im heutigen Verständnis gehört auch
die Volkssouveränität: Demokratische Verfassung wird durch den
Willen des Volkes konstituiert, legitimiert und bestimmt. Abraham
Lincoln hat in der berühmten 5-Minutenrede auf dem Schlachtfeld
von Gettysburg vom 19. November 1863 die Demokratie umschrieben
als «government of the people, by the people and for the people.»24
Damit ist die grosse dauernde Aufgabe angedeutet: Es geht um die
Verwirklichung der politischen Freiheit, der Freiheit zum Staat; es
geht um eine genossenschaftliche Form der Gemeinschaft, beruhend
auf gleichberechtigten Bürgern; und es geht um eine Gemeinschaft, in
der die Selbstbestimmung optimal verwirklicht wird.24"
UNO einige Möglichkeiten bieten, auch für die Menschenrechte zu wirken.
Aber dies ist kein ausschlaggebender Grund für den Beitritt. Der entscheidende
Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte wird nicht über die UNO und
internationale Konferenzen geleistet, sondern von den engeren und engsten Ge
meinschaftskreisen her uncl insbesondere durch die menschliche und staatsbür
gerliche Erziehung. Und eben hier stellt sich die Frage, ob dieses Wirken des
Kleinstaates nicht durch die Mitgliedschaft behindert, durchkreuzt, gelähmt,
diskreditiert wird. Man beruhigt sich mit dem, was «oben» gemacht wird. Wie
steht es mit der Glaubwürdigkeit des Wirkens (bzw. Nichtwirkens) der UNO
im Bereich der Menschenrechte? Ein Hearing mit Flüchtlingen aus dem Osten,
das in der Nähe der Mauer mit den automatischen Schiessanlagen stattfand,
brachte diese Problematik mit eigenartiger Wucht zum Bewusstsein.
24 The Albatross Book of Living Oratory, An Anthology of famous Speeches from
Burke to Baldwin, 1938, S. 147.
24a Das ist ein Thema und ein Problemkreis, zu dem schweizerische Dichter und
Denker und schweizerische Erfahrungen — man hat im 19. und 20. Jhdt. unser
Land oft als die «älteste Demokratie» gepriesen — Massgebendes beigetragen
haben. Für diese Zusammenhänge darf ich auf einige frühere Arbeiten verweisen,
wo sich z. T. auch ausführlichere.Literaturangaben finden: Persönliche Freiheit;
Demokratie und Föderalismus, Vom Verhältnis der drei grundlegenden Frei
heiten unserer Rechtsgemeinschaft, in: Freiheit des Bürgers im schweizerischen
Recht, Festgabe zur Hundertjahr-Feier der Bundesverfassung, .1948, S. 53ff.;
Hundert Jahre direkte Demokratie, Vom gewagten politischen Experiment zur
politischen Lebensform, 1969; Aktuelle Verfassungsprobleme der direkten Demo
kratie (vom Herausgeber eigenmächtig verändert in «Das Massenproblem in der
direkten Demokratie*»,— .im offenen Widerspruch zu meinem 1. Absatz, S. 85!),
in: «Masse und; Demokratie», 1957, S. 85ff.; An den Grenzen der direkten
Demokratie, Jahrbüch «Die - Schweiz» der Neuen Helvetischen Gesellschaft,
(NHGj 1951, S. 53ff.
Hier müsste man im 19. Jhdt. vor allem und grundlegend an Heinrich Pesta
lozzi, an Jeremias Gotthelf und ' Gottfried Keller, an -J. C. Bluntschli, Jakob
Dubs (den viel zu wenig gewürdigten!) und Carl Hilty erinnern; im 20. Jhdt.
an die Historiker- Ernst' Gagliardi, Karl Meyer, Leo von Müralt und Edgar
Bonjöur, ah Gonzague de Reynold und William-Rappard, an' Fritz Ernst," Her
mann Weilenmannj an Eugen "Huber und. August Egger,- . an die Staätsrechtler
Max Huber, Walther Burckhardt, Fritz Fleiner, Zaccaria Giacometti und Max
Imboden und an die grosse Zahl der-heute noch Lebenden zu diesem Problem
kreis, nicht zuletzt an viele ausgezeichnete . Doktorarbeiten in verschiedenen
Fächern.
26
Welches ist nun der Zusammenhang zwischen Demokratie und klein
staatlicher Existenz? Die Demokratie — die schwierigste aller Staats
formen — kann auch im Kleinstaat scheitern. Und doch kann gezeigt
werden, dass der engere Kreis — und der Aufbau der umfassenderen
Ordnung von den engeren Kreisen her — hier weit grössere Möglich
keiten der Verwirklichung bietet. Das gilt in ganz besonderer Weise
für die weitgetriebene «reine» oder «direkte» Demokratie, wie wir
sie in den amerikanischen Gliedstaaten25 und vor allem in den schwei
zerischen Kantonen und Gemeinden haben. Man hat — um die Un
möglichkeit der Demokratie darzutun! — gelegentlich behauptet, in
der Demokratie müsste eigentlich jeder Bürger ein Universal-Sach
verständiger sein. Wenn diese Voraussetzung zutreffen würde, dann
allerdings müsste man mit Rousseau feststellen: «Wenn es ein Volk
von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so voll
kommene Regierung aber passt nicht für Menschen» (Contrat social
III/4 a. E.). Aber auch dann, wenn wir die Anforderungen an die
Stimmbürger — im Blick auf die reale Welt — nicht so hoch schrau
ben, muss man doch gewisse Voraussetzungen festhalten, ohne die
demokratische Ordnung einfach nicht mehr sinnvoll ist. Und eben
hier wird der Zusammenhang zwischen Demokratie und kleinstaat
licher Existenz besonders deutlich:
Nur der engere Kreis gewährt dem Bürger jene Kenntnis und jenen
Uberblick über die Verhältnisse, die es ihm erlauben, sich bei Sach
abstimmungen auf Grund eines selbständigen — oder bescheidener:
eines einigermassen selbständigen — Urteils dafür oder dagegen zu
entscheiden. Das Volk entscheidet in der Schweiz im Wege des Refe
rendums nicht nur über gewöhnliche Gesetze, Dekrete, sondern auch
über gewisse Staatsverträge, in Kanton und Gemeinde z. T. sogar
über einzelne Bauten, grössere Kredite, ja sogar über das Budget und
den Steuerfuss!
Nur der engere Kreis vermittelt dem Bürger auch jene Kenntnis der
Personen, die es ihm ermöglicht, bei Volkswahlen so zu wählen, dass
das Ausfüllen der Wahlzettel nicht einfach eine Schreibübung nach
Vorlage bedeutet. Denn nur das ist eine sinnvolle Volkswahl, wo die
Mehrheit der Stimmenden noch auf Grund einer einigermassen per
25 Walter Haller, Die Beanspruchung des amerikanischen Stimmbürgers, Schriften
zur Auslandsforschung des Schweiz. Institutes für Auslandsforschung, Bd. III,
1970.
27
sönlichen Beurteilung die Auswahl vornimmt. Auch hier ist an die
bekannte weitgetriebene direkte Demokratie in der Schweiz —
insbesondere in Kanton und Gemeinde — zu erinnern: Wir wählen
nicht nur das Parlament und die Regierung, sondern auch viele Rich
ter, höhere Beamte, in vielen Kantonen sogar die Volksschullehrer
und die Pfarrer der Landeskirche u. a. m., in kleinen Gemeinden
praktisch alle, auch die subalternsten Funktionäre.
Das Scheitern der Demokratie im Grossstaat hat vielerlei Ursachen.
Eine entscheidende aber ist bestimmt die Entpersönlichung. Sie ist
auch der Weg zur Vermassung. In einzelnen Fällen wird übrigens
nicht die Grösse zum Problem, sondern die (extreme) Kleinheit. Neben
den unendlich gravierenderen Problemen der Massendemokratien gibt
es doch auch einige Probleme der Zwergdemokratien.26
In der Schweiz gab es auch 1970 noch 240 Gemeinden mit weniger
als 100 Einwohnern, 394 Gemeinden mit weniger als 100—200 Ein
wohnern und 336 Gemeinden mit weniger als 200—300 Einwohnern
— alles autonome Gemeinden mit ziemlich weiter Selbstverwaltung.
In einzelnen Zwerggemeinden wird nun aber die Bestellung der nötigen
Ämter zum Problem: Es gibt Gemeinden mit weniger als 50 Einwoh
nern und 15 Stimmberechtigten! Fast jeder Bürger kommt zum Zuge;
viele müssen — z. T. auch durch «Amtszwang» — mehrere Ämter
übernehmen, — ein Eldorado für ehrgeizige Politiker, aber ein Pro
blem für die Organisation der Demokratie!
Diese direkte Demokratie kann auf viele bemerkenswerte Abstim
mungstage zurückblicken: wo die politische Vernunft über das zügige
Schlagwort, wo eine grundsätzliche Entscheidung über ein lockendes
momentanes Interesse dominierte. Es gibt, allerdings auch andere Ent
scheide, die weniger froh stimmen, ja z. T. als tief beunruhigend zu
qualifizieren sind. Gelegentlich kann man beides am gleichen Ab
stimmungstag erleben, wie beim Urnengang vom 7. Juni 1982 in der
Schweiz: das zwar nur knappe, aber eben doch ausschlaggebende
Mehr gegen ein im Ganzen sehr ausgewogenes Gesetz, das einen not
wendigen Schritt in der Richtung der Gerechtigkeit zu tun versuchte,
das Nein zum. Ausländergesetz; dafür das in seiner Deutlichkeit doch
28 Renato Oaduff, Der Amtszwang in den autonomen Satzungen Graubündens,
1958; Zur «Demokratie der'kleinen Gruppe», insbes. auch Hermann Weilenmann,
Pax Helvetica, 1951.
28
überraschende Ja zu einer notwendigen Revision des Strafgesetz
buches: eine Bewährung des Rechtsstaates. Wir dürfen übrigens hof
fen, dass die Panne mit dem Ausländergesetz durch den «Appell an
den besser informierten Souverän» sehr bald behoben werden kann.
Weit beunruhigender aber ist die bedrängende Stimmabstinenz.27 Ich
sehe hier die grösste Aufgabe für unsere Demokratie. Diese ist nicht
durch gesetzgeberische Reformen, auch nicht durch eine Totalrevi
sion des Grundgesetzes zu erreichen. Entscheidend ist hier — sicher
im Zusammenhang mit rechtlichen Reformen — die staatsbürger
liche Erziehung. Sie ist auch im Lande Pestalozzis immer noch ein
Stiefkind. Und doch müsste sie als wichtigste Aufgabe unserer direk
ten Demokratie erkannt und aufgegriffen werden.28
Zusammenfassend können wir aber auch im Blick auf die Verwirk
lichung der Demokratie klar festhalten, dass die kleinstaatliche Exi
stenz auch hier in mehrfacher Hinsicht besondere Möglichkeiten
bietet.
Ein Drittes: Kleinstaat und Föderalismus
Die Föderalismusfrage stellt sich hier nach zwei Richtungen: einmal
der Föderalismus innerhalb des Kleinstaates. Auch den kleinen und
kleinsten Gruppen soll eine weitgehende Selbstbestimmung und Mit
bestimmung gewährleistet werden, insbesondere die Gemeindeauto
nomie und Gemeindedemokratie. Die Engländer kannten früher ein
stolzes Wort für diese Selbstverwaltung: «Better self-governed than
well-governed!» Im Zeitalter des Wettlaufes um die Beiträge (Sub
ventionen) des Zentralstaates ist dieses Motto leider verstummt. So
27 E. Gruner/H. P. Hertig, Der Stimmbürger und die «neue» Politik, Bern 1983.
Peter Liver hat die Dinge in der Praxis auf allen Stufen miterlebt und dann als
Wissenschafter und Gesetzgeber neu durchdacht; er hat die Grösse der Freiheit
und das Versagen der Freiheit einmal in einer kurzen staatspolitischen Bilanz
erfasst: «Die Freiheit der Bündner Gemeinde ist nicht nur die Freiheit zu
pflichtgemässer Betätigung in eigener Verantwortung und Selbständigkeit. Sie
ist auch die Freiheit der Gemeinde zur Untätigkeit, zum Schlendrian, zur Ord-
nungslosigkeit», Peter Liver, die Bündner Gemeinde, Bündner Monatsblatt 1947,
S. 23.
28 Vgl. mein Referat im Jubiläums-Zyklus *150 Jahre Zürcher Volksschule» (No
vember 1982), Die Volksschule als Grundschule der Erziehung für unsere rechts
staatlich-föderalistische Demokratie, Zürcher kantonaler Lehrerverein, 1983,
S. 133ff.
29
dann der Föderalismus, der den Kleinstaat oder den kleinstaatlichen
Unterbau einem umfassenderen Verband einordnet, wie die Kantone
im Bundesstaat. Wir können es hier nur andeuten: Der Kleinstaat,
der seinem Genius treu bleibt, müsste ein Element und Ferment einer
umfassenderen föderativen Ordnung — in Europa und schliesslich
universal — sein.
Der Föderalismus — der Aufbau von unten her — ist nicht nur die
Staatsform der Vielgestaltigkeit und der Toleranz, sondern auch die
Staatsform des Widerstandes und ein Bollwerk gegen Vermassung,
gegen die Gleichschaltung und gegen totalitäre Tendenzen.29
Ein Viertes: Kleinstaat und Rechtsstaat
Auch der Kleinstaat kann das Recht verletzen, in die Willkür ab
gleiten; mehr noch: auch der Kleinstaat kann autoritär oder sogar
totalitär entarten! Und doch ist er im allgemeinen für diese Gefahren
weit weniger anfällig als der Grossstaat. Wir haben es früher schon
angedeutet: Die grosse politische Aufgabe, die Verwirklichung der
freien Gemeinschaft freier Menschen ist im Kleinstaat nicht gefährdet
durch Überlegungen und Gebote der Machtpolitik. Die Grundrechte,
die Gesetzmässigkeit, die Gewaltenteilung, die .richterliche Unabhän
gigkeit und die übrigen rechtsstaatlichen Prinzipien stehen in einem
Kleinstaat in aller Regel weniger unter dem Veto der Staatsraison
als im Grossstaat.30
Das Widerstandsrecht — eine entscheidende historische Wurzel des
Rechtsstaates und zugleich seine letzte Garantie — ist in den Klein
staaten (die öfter widerstehen mussten!) im allgemeinen lebendiger
2® Vgl. die oben in Anm. 3 Zitierten. Dazu: Föderalismus und Freiheit, in Erzie
hung zur Freiheit, 1959, S. 171ff.; Der Föderalismus hat auch eine Zukunft,
Jahrbuch der NHG 1964, S: 104ff.; Warum noch Föderalismus?, Schriften
reihe der Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, 1971, S. lff.
30 Zu Idee und Bejgriff des Rechtsstaates: «Fundament und Schranke» in der gros
sen Kontroverse mit einzelnen Sozialisten,'.Bund, Nr. 70,'24. März 1977; zur
Geschichte und Ideengeschichte des Rechtsstaates: Zur Entwicklung des schwei
zerischen Rechtsstaates seit 1848, in: Hundert Jahre schweizerisches Recht, Fest
gabe 1952, S. *173—236; zur. rechtsstaatlichen; Verfassung: Die Verfassung als
rechtliche Grundordnung;.des' Staates,' 1945,-Neudruck 1971; Die Gründordnung
unseres Kleinstaates' und 'ihre'-Herausforderung in der zweiten ' Hälfte des
20. Jhdtsi, 1964, S. 1—30.
30
geblieben.31 Die deutsche Staatsrechtslehre hat das ius resistendi —
nicht zuletzt unter der Einwirkung Kants — bereits im frühen 19.
Jahrhundert als «rechtslogisch erledigt» oder gar als «tot» erklärt.32
Einer der wenigen, der es zäh festhielt, war der in Deutschland wir
kende Schweizer Johann Caspar Bluntschli!33
Der Rechtsstaat ist heute — täuschen wir uns nicht — weitherum in
einer tiefen Krise und radikal — wirklich von der «radix» her! —
gefährdet. Er wird von vielen Seiten in Frage gestellt. Einmal durch
die gesteigerte Seinsproblematik, insbesondere die erhöhte Dynamik
der gesellschaftlichen Abläufe und die wachsende Komplexität der
zu ordnenden Lebensverhältnisse. Sodann aber — und weit gefähr
licher — durch die mehr oder weniger radikale grundsätzliche Ab
lehnung. Der Kampf gilt vielfach nicht nur einzelnen Prinzipien,
Einrichtungen oder auch einzelnen Mängeln, sondern den Fundamen
ten, der Idee selbst! Der Geist der Illusionen geht um, und der Geist
der Utopie, der Mythos der Revolution, der Glaube an die «schöpfe
rische Gewalt», an die «violence creatrice», an die «Dynamik», z. T.
aber auch die Hinwendung zur destruktiven Gewalt. Die Ausbrei
tung der Gewalt und des Terrors ist weltweit irgendwie epidemisch
geworden.
Auch der moderne Rechtsstaat ist unvollkommen, bedarf der ständi
gen Verbesserung und Entwicklung. Aber dieser Rechtsstaat, eine Er
rungenschaft der Jahrhunderte — den grössten Beitrag hat England
geleistet! — will heute trotzdem verteidigt werden. Er lebt vom wach
samen Kampf ums Recht, zu dem wir als Bürger und insbesondere
auch als Juristen aufgerufen sind. Wir konnten vor 10 Jahren das
" Vgl. Zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates seit 1848. Ober dieses
schwierige Grenzproblem des Rechtsstaates habe ich meine Antrittsvorlesung
1944 und meine Schlussvorlesung 1979 gehalten, die nächstes Jahr in einem
Sammelband über meine rechtsstaatlichen Studien aus vier Jahrzehnten erschei
nen sollen.
32 So die umfassende geschichtliche Darstellung von Kurt Wolzendorff, Staatsrecht
und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechts
widrige Ausübung der Staatsgewalt, 1916, S. 534. Vgl. zur heutigen Diskussion
des Widerstandsrechtes in Deutschland die sehr umsichtige Darstellung im
monumentalen systematischen Werk von Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bun
desrepublik Deutschland, Bd. II, 5. Abschnitt, S. 1487ff.
53 J. C. Bluntschli, Lehre vom modernen Staat, 2. Teil, 2. Band, 5. A., S. 664ff.
Vgl. auch das schöne Kapitel bei Jakob Dubs, Das öffentliche Recht der Schweiz,
Bd. I, S. 175f. (S. 176: «Das Recht des Widerstandes auch gegenüber dem
Staate, wenn er das Recht des Bürgers verletzt, ist darum ein unveräusserliches
Grundrecht des Bürgers, weil ohne dieses alle anderen Rechte wertlos sind.»)
31
100jährige Jubiläum des berühmten Vortrages von Rudolf von Ihering
in Wien vom 11. März 1872 feiern.34 Der grossartige Weckruf «Der
Kampf ist die ewige Arbeit des Rechtes», den der grosse deutsche
Rechtsgelehrte in diesem Vortrag — der zu einer der erfolgreichsten
Schriften der ganzen juristischen Weltliteratur werden sollte — erho
ben hat, ist heute aktueller denn je! Das Recht hat diese Hilfe nötig.
Was der Kampf um Recht und Freiheit auch heute noch vermag,
dafür haben wir in der Gegenwart ein wunderbares Beispiel: Lech
Walesa.35
Auch hier hat es der Kleinstaat leichter. Das Volk steht dem Recht
in mehrfacher Hinsicht irgendwie näher — bei der Setzung wie bei
der Anwendung — als im Grossstaat. In den besser überblickbaren
Zusammenhängen tritt dem einzelnen Bürger immer wieder die Auf
forderung vor Augen: «Es geht um deine Sache!» Der einzelne wird
weniger entmutigt als dort, wo er dem Leviathan gegenübersteht und
durch das Gefühl der Ohnmacht zur Resignation gedrängt wird. Der
Kleinstaat ist in besonderer Weise auf das Recht angewiesen, in der
Völkergemeinschaft wie in der innerstaatlichen Ordnung!
Ein Fünftes: Kleinstaat und soziale Gerechtigkeit
Eine der grossen Aufgaben der letzten Jahrzehnte war die Fortbil
dung des Rechtsstaates zum sozialen Rechtsstaat.36 Der Kleinstaat
kann zwar auch diese grosse Aufgabe verfehlen. Auch er kann an
Ungerechtigkeiten festhalten. Und doch hat er es wiederum in mehr
facher Hinsicht leichter, jener Anforderung gerecht zu werden. Un
ser grosser Pädagoge Heinrich Pestalozzi, der auch ein bedeutender
Staats- und Sozialdenker gewesen ist, hat schon vor 150 Jahren die
34 Der Kampf ums Recht, Hundert Jahre nach der berühmten Rede, NZZ vom
9. April 1972, S. 49f.
35 Lech Walesa — ein grosser Freiheitskämpfer, in: Festschrift Hans R. Jenny zum
70. Geburtstag, S. 71—79.
36 Der Kampf kann richtigerweise nicht in der einfachen Richtung gehen, wie es
die simplistische Antithese immer wieder formulieren will: «Sozialstaat statt
Rechtsstaat»-oder «Rechtsstaat statt Sozialstaat». Es, gibt keine Verwirklichung
der sozialen Gerechtigkeit ohne' Rechtsstaat, wie ' andererseits • der Rechtsstaat
sich nicht ohne soziale Gerechtigkeit wirklich'entfalten'kann. Gegenüber der
schlagwortartigen Antithese,'welche die Klarheit der rechtspolitischen Zielset
zung gefährlich bedrohte, . versuchte üchviri--der-Zeit des Überganges zur Nach-,
kriegspolitik anstelle der-bequemen'Antithese'die. herausfordernde Synthese zu
setzen: «Rechtsstaat—• Sozialstaat — sozialer.Rechtsstaat!», Jahrbuch der NHG,
1945, S. 129ff.
32
Aufgabe und die Klippe deutlich gemacht: «Es geht nicht darum, den
Menschen zu verstaatlichen, sondern den Staat zu vermenschlichen.»
Eben das aber ist für den Kleinstaat von vornherein leichter. C. G.
Jung hat einmal geradezu behauptet: «Es ist sowieso eine offenkun
dige Tatsache, dass die Sittlichkeit einer Sozietät als eines Ganzen
umgekehrt proportional zu ihrer Grösse ist.» So mathematisch und
vor allem so eindeutig wie unser grosser Tiefenpsychologe kann ich
es nun allerdings nicht sehen. Zutreffend aber ist ohne Zweifel, dass
die Voraussetzungen, die Ansatzpunkte und Möglichkeiten für eine
Sozialpolitik, welche der Vermassung wehrt und welche die Gemein
schaft menschlicher und persönlicher zu gestalten versucht, im klein
staatlichen Gemeinwesen weit günstiger sind. Das schönste und be
deutsamste Beispiel ist der Arbeitsfriede, der mit den Namen Konrad
Ilg und Ernst Dübi — ein Gewerkschaftsführer und ein Unternehmer
— verbunden ist (1937, seither immer wieder erneuert). Dieser Ar
beitsfriede und der Plan Wahlen waren zwei entscheidende Stützen
für das Durchhalten von Volk und Armee im Zweiten Weltkrieg.37
Im kleinstaatlichen Gemeinwesen stehen dem nachdenklichen Bürger
vor allem auch die Grenzen aller Sozialstaatlichkeit — aller Natio
nalisierungen und Etatisierungen — deutlicher vor Augen. Und im
kleinstaatlichen Gemeinwesen sind die Menschen auch näher bei der
Einsicht, dass alle wirkliche Humanisierung der Gemeinschaft letzt
lich doch nur vom einzelnen her kommen kann.38
Aber was soll dieser Kleinstaat in einer Welt, die von den
Grossen beherrscht wird?
Klingt diese Botschaft vom Kleinstaat nicht wie eine Botschaft aus
einer anderen, längst entschwundenen Welt? Was soll diese Apologie
37 Der «Arbeitsfriede» — diese weitherum in der Welt bewunderte Errungenschaft
unserer Grundordnung — ist vor einigen Wochen (Juni/Juli 1983) neu bestätigt
worden und wird am Ende dieser Vertragsperiode ein halbes Jahrhundert Gel
tung erreichen! Die Erneuerung war diesmal zwar härter und mühsamer. Sollte
dies ein Indiz dafür sein, dass das tragende Fundament — eine Friedensordnung
auf der Grundlage der Freiheit und des Willens zur sozialen Gerechtigkeit (Kon
rad Ilg hat jeweils sehr bewegt «Treu und Glauben» angerufen!) — zerbröckelt,
bald nicht mehr tragfähig sein wird?
38 Wir sprechen absichtlich nicht vom «Individuum», sondern vom «Einzelnen»
im Sinne Kierkegaards: d. h. von der menschlichen Person, die auch politisch
aus einer letzten Verantwortung heraus handelt. Der «Einzelne» ist die radikale
Gegenposition zum Kollektivismus und zur Masse.
33
des Kleinstaates in einer Zeit, in der offensichtlich doch: ganz andere
Anforderungen an eine politische Ordnung gestellt werden? Drängt
nicht alles zur grossräumigeri Ordnung? Solange sie universal — in
einem Weltstaat— noch nicht möglich ist, doch wenigstens innerhalb
der grossen Lager der geteilten Welt? Was sollen und wollen die (1981)
26125 Einwohner des souveränen Staates Liechtenstein, die (1980)
365 000 Luxemburger,-aber auch die (1980) 6,365 Millionen der
Schweiz oder die (1981) 7,5 Millionen Österreichs neben den (1981)
267,7 Millionen der UdSSR, oder die (1981) 940 000 Einwohner von
Mauritius neben den (1981) 683 Millionen Indiens, oder die (1979)
8 000 Einwohner der souveränen Republik Nauru neben den (1981)
996,2 Millionen (nach den neuesten Meldungen 1982 über 1 Milli
arde!) der chinesischen Volksrepublik?
Auch eine sehr nüchterne Verteidigung des Kleinstaates ruft heute
sofort allerlei Bedenken, ja sehr oft einer tiefen Skepsis. Die Haupt
einwände kommen aus wirtschaftlichen Überlegungen oder aus Über
legungen der militärischen Landesverteidigung. Kann der Kleinstaat
noch Schritt halten mit den wirtschaftlich-technischen Fortschritten
der Grossen? Hat der Kleinstaat noch die Möglichkeit, seine Existenz
in einer Gesellschaft der Mächtigen, vor allem gegenüber der unheim
lichen Überlegenheit der Supermächte zu verteidigen und zu erhalten?
Wie oft hat man in den letzten 150 Jahren dem Kleinstaat — der
«Kleinstaaterei» — das nahe Ende vorausgesagt? Nicht nur vom
imperialen Machtstaatsgedanken her, sondern mehr und mehr auch
als ehernes Gesetz des Fortschrittes: der Unitarisierung und der Ra
tionalisierung. Viele können sich dieser bedrängenden «Zwangsläufig
keiten» — wie sie meinen — nicht erwehren. Man stösst überall auf
diese Skepsis und Resignation — auf die Neigung zur Abdankung!
Ein amerikanischer Kultürkritiker hat diese verbreitete Stimmungen
der «freien Welt» zutreffend als «giye-it-up-philosophy», als Philoso
phie des Abdankens charakterisiert.39 Wenn man einfach die Zahlen
über das wirtschaftlich-technische Potential vergleicht, z. B. über die
30:Einer der grossen''Historiker der Gegenwart, Golo Mann, hat unsere Zeit schon
vor Jahren als «Zeitalter . der: Abdankung»gezeichnet;'Einer der grossen. Histo
riker Frankreichs, Pierre:; Chaunüj. Professor an- der: Sorbonne, ist, unabhängig
davon, zur Signatur des «renoncement» für unsere Epoche geführt.worden.
34
Bodenschätze oder über die Agrarproduktion, über die Energiequellen
und vor allem über die industrielle Produktion und über das militä
rische Potential, die erdrückende Überlegenheit der Millionenheere,
die erdrückende Überlegenheit auf dem Land, auf dem Wasser, in der
Luft und zu allem hinzu die Atomwaffen und andere Superwaffen!
Wenn man das vergleicht, dann wird man allerdings leicht zur Re
signation gedrängt.
Sogar prominente Politiker scheinen sehr stark unter diesem Eindruck
zu stehen. Dafür ein besonders eindrückliches Beispiel für viele: Olof
Palme, damals (wie heute wieder) schwedischer Ministerpräsident, hat
in dem bereits zitierten Wiener Vortrag von 1971 folgende erstaun
liche Feststellungen gemacht: «Es gibt nämlich eine klare Trennungs
linie zwischen Supermächten und übrigen Staaten, nicht zuletzt auf
Grund des einzigartigen technischen Niveaus der Supermächte. Die
technische und industrielle Entwicklung begünstigt in erster Linie die
jenigen, die bereits gross und stark sind. Heute fordert die avancierte
Forschung einen derartigen Einsatz von Geld und Personal, wie es
sich nur die wirklich Reichen leisten können. Eine der Folgen hievon
ist die ständig wachsende technologische Kluft zwischen den Super
mächten einerseits und andererseits sämtlichen übrigen Ländern der
Welt.» (österr. Zeitschrift für Aussenpolitik, 11. Jg., Heft 4, S. 239ff.)
Gegenüber diesen Zahlen wäre immerhin an einige andere Zahlen zu
erinnern, die doch auch sehr eindrücklich sprechen: Der Kleinstaat
Schweiz — ohne Bodenschätze — soll nach neueren Zahlen das
höchste Pro-Kopf-Einkommen der ganzen Welt haben. In der Sta
tistik des Brutto-Sozialproduktes (in absoluten Zahlen) steht er an
23. Stelle, in der Statistik des Aussenhandels an 11. bzw. 12. Stelle.
Ich glaubte auch etwas von der grossen wirtschaftlichen Entwicklung
Liechtensteins vor Augen zu haben, aber sie ist mir doch erst durch
die dokumentierte Darstellung von Gerard Batliner (Liechtenstein
Politische Schriften, Bd. 6, 1976, S. 163f.) voll bewusst geworden.
Einleitend steht dort: «1809 schreibt Landvogt Josef Schuppler über
Liechtenstein: ,Es ist vielleicht das ärmste Land, das es in der Welt
geben mag!'» Dann aber die erstaunliche Feststellung nach anderthalb
Jahrhunderten — Arbeit und Anstrengung — «Seit etwa 1965 zählt
Liechtenstein zu den wohlhabendsten Ländern der Welt.»
35
Die tatsächliche Behauptung des Kleinstaates
Der für viele lähmende Eindruck der Zahlen und Zahlenvergleiche
wird aber noch durch etwas ganz anderes widerlegt, das uns doch
eindrücklich vor Augen stehen müsste: die tatsächliche Behauptung
der Kleinstaaten, basierend auf dem Lebenswillen, auf dem Leistungs
willen, auf dem Freiheitswillen und dem Widerstandswillen des Vol
kes. Für diese tatsächliche Behauptung des Kleinstaates gibt es aus
den letzten Jahrzehnten doch viele eindrückliche Beispiele: Finnland,
Taiwan, Israel, aber ich darf hier doch auch Österreich, die Schweiz
und Liechtenstein erwähnen.
Dem Kleinstaat fehlt die äussere Macht, den Gang der Europapolitik
und gar der Weltpolitik bestimmend zu beeinflussen. Schon Nikiaus
von Flüe hat die zerstrittenen Eidgenossen beschwörend daran erin
nert, und wir müssen uns auch heute gegenüber allerlei «Bewegun
gen», Ideologien, Illusionen und Utopien immer wieder an diese
Grenze erinnern lassen.40
40 Professor Rudolf Bindschedler, Botschafter und Rechtsberater des Bundesrates,
hat zu Recht immer wieder nachdrücklich auf die beschränkten Möglichkeiten
unseres Kleinstaates hingewiesen. Hier einige Belege: «Die Schweiz verfügt nur
über wenig Macht.» «Der Einfluss auf andere Staaten ist gering.» «Es liegt nicht
in ihren Händen, auf die Weltpolitik einzuwirken. Ihre Möglichkeiten sind des
halb äusserst beschränkt.» «Alle Vermittlungsaktionen von Kleinstaaten und von
Neutralen sind gescheitert.» «Einfluss auf den Gang der Weltpolitik... kommt
der Schweiz nicht zu.» «Auf den Grossmächten vor allem... lastet die Ver
antwortung für Frieden und Sicherheit. Nicht die anderen, nicht die Kleinen
können die Welt verbessern.» «Zur Politik der Europäischen Integration, zu
deren Hauptziel die Bewahrung des Friedens in Europa zählt, kann die Schweiz
kaum einen wesentlichen Beitrag leisten. Auch hier zeigt sich ihr Gewicht zu
gering.» «Ein eigenständiges und vernünftiges europäisches Konzept durchzu
setzen, liegt ausserhalb unserer Möglichkeiten.» «Die Leistung technischer guter
Dienste wird bei'uns oft ;als Faktor der Friedensförderung überschätzt... Sie
spielen nur eine sekundäre, dienende Rolle.» «Auf die Bewahrung des Friedens
in anderen Regionen und in der Welt hat sie kaum Einfluss.» — Wir verweisen
. vor allem etwa auf die Untersuchung: «Was kann die Schweiz für den Frieden
tun?», NZZ, 26727. Juni 1982. Wir tun gut, diese Ermahnungen an die Adresse
des Kleinstaates — durch viele Erfahrungen in der Aussenpolitik während Jahr
zehnten gestützt — ernst zu.nehmen. Ich würde trotzdem die Wirkungs- und
Einwirkungsmöglichkeiten der . Schweiz, aber vor allem von der Schweiz aus
höher veranschlagen. Hier geht es nicht um die staatliche Macht des Kleinstaates
— diese «sf begrenzt! —. sondern um die geistig-sittliche Ausstrahlung, die auch
von Kleinstaaten ausgehen kann. Diese kann um so stärker , zur Auswirkung
kommen, als die Macht der Grossen'eben auch — von aussen' (Gleichgewicht!)
und von innen — begrenzt ist. Ich würde1 die Macht der Grossen jedenfalls
skeptischer einschätzen als Botschafter Bindschedler. Ist nicht die Ohnmacht der
Mächtigen — der Grossmächte und sogar der Super-Grossmächte — in den
36
Im folgenden möchte ich als Schweizer in den Kapiteln «Dauernde
Neutralität und Neutralitätspolitik» sowie «Aufgaben des neutralen
Kleinstaates in der Völkergemeinschaft» noch einige Worte über mein
Land hinzufügen.
Dauernde Neutralität und Neutralitätspolitik
Wenn man die heutige Situation illusionsfrei würdigt, wird man zur
Einsicht geführt, dass der «Hauptbeitrag unseres (schweizerischen)
Kleinstaates zum Frieden» nach wie vor die «dauernde Neutralität»
und eine klare Neutralitätspolitik sind. Es war nie richtig, zu behaup
ten, dass der dauernd neutrale Staat «keine Aussenpolitik hat». Es
wird zu Recht auf die unausweichlichen Gemeinschaftspflichten und
die Mitverantwortung auch des neutralen Staates für die engere und
weitere Völkergemeinschaft, für den Frieden im engeren Kreis, für
den Frieden in Europa und für den Weltfrieden hingewiesen, und die
Forderung nach einer aktiveren Aussenpolitik erhoben, was aber nicht
mit aussenpolitischer Betriebsamkeit (mit Friedensappellen, Regie
rungserklärungen, Friedensdemonstrationen am laufenden Band
ü. ä. m.) verwechselt werden darf.41 Das Ergreifen der umfassenderen
Verantwortung wird auch deutlich in der schrittweisen Entfaltung
der Leitidee der Neutralität in den letzten Jahrzehnten: «Neutrali
tät» — «Neutralität und Solidarität» — «Neutralität, Solidarität, Uni
versalität und Disponibilität». Was das bedeutet, ist in Vaduz in den
letzten Jahrzehnten immer wieder von prominenten Sachkennern neu
dargelegt worden.
Wir geben uns in der Schweiz Rechenschaft, dass die Neutralität seit
den dreissiger Jahren und namentlich seit dem Zweiten Weltkrieg
letzten Jahren da und dort deutlich geworden?! Diese Situation ist eine Chance
, für die Kleinstaaten, für das Wirken aus den Kleinstaaten heraus.
Botschafter Bindschedler ruft die Kleinstaaten übrigens auf, ihre Möglichkeiten
— auch die skeptisch beurteilten — zu nutzen, nicht abzudanken, und gegen
über «den in Mode gekommenen Gipfelkonferenzen» zur Methode einer «diskre
ten und geduldigen Diplomatie zurückzukehren» und sich vor allem auch um
die Zusammenarbeit zwischen den Neutralen und den Non-Aligned einzusetzen.
•Die Zusammenarbeit unter diesen Staaten und ein gemeinsames Vorgehen wür-
. den deren Einfluss auf die Machtblöcke verstärken.» Ich würde aber auch die
individuelle Wirkung des Kleinstaates und vom Kleinstaat aus auf die Welt
politik und den Weltfrieden und insbesondere auch auf die europäische Politik
und den europäischen Frieden höher einschätzen.
41 Vgl. dazu Rudolf Bindschedler, a. a. O., 2. Spalte, unter der Rubrik «untaug
liche Bestrebungen» und 4. Spalte, «Aussenpolitik und diskrete Diplomatie».
37
eine starke Abwertung — ja weitherum sogar eine radikale Ableh
nung — erfahren hat. In den letzten Jahrzehnten kam es dann aber
zu einer gewissen Wende. Schweden und Österreich wurden trotz
ihrer Neutralität 1946 bzw. 1955 als Mitglieder der Vereinten Natio
nen aufgenommen — diese beiden Neutralen haben übrigens auch
schon den Generalsekretär gestellt (Dag Hammarskjöld bzw. Kurt
Waldheim) —, während der neutralen Schweiz bei den Sondierungen
in San Franzisco 1945 noch klar als Bedingung für die Aufnahme der
Verzicht auf die Neutralität genannt worden war.42
Die Problematisierung, Umdeutung und Abwertung der Neutralität
aber geht auch heute weiter. Prof. Zemanek, der Rechtsberater der
österreichischen Regierung, hat von der «zeitgemässen Neutralität»
gesprochen. Ich teile einzelne kritische Thesen von Prof. Zemanek in
der Richtung einer «Entmythologisierung der Neutralität», aber ich
würde doch die Bedeutung der Neutralität und die Möglichkeiten
neutraler Politik des Kleinstaates höher einschätzen.
Zur «Entmythologisierung der Neutralität» nur eine kurze Andeu
tung: Hölderlin spricht einmal von «heiliger Nüchternheit». Ich
glaube, dass eben dies eine tragende Tugend der Demokratie wie der
Neutralitätspolitik des Kleinstaates ist. Wir Schweizer waren eine
Zeitlang in Gefahr, die Neutralität , als etwas an sich Ideales, als ein
Ziel unserer Politik, als etwas Unveränderliches, ja viele wohl auch
als etwas, was gleichsam automatisch Schutz gewährt, zu betrachten.
Wir sprechen zwar in der Schweiz heute nicht mehr von der «ewigen
Neutralität», sondern bescheidener, mit weniger Pathos, von «dauern
der Neutralität». Damit soll einerseits doch festgehalten werden, dass
es sich um eine grundsätzliche Haltung handelt, auf welche sich die
anderen Staaten verlassen können; andererseits aber ist die Neutra
lität gerade für diese «heilige Nüchternheit» nicht ein Bestandteil der
Schöpfungsordnung, und jedenfalls nicht ein Ziel, sondern ein Mittel
der Politik.
48 Vgl. Handbuch der Aussenpolitik, 1975, S. 80, 159ff., 598ff.; Bericht des Bun
desrates an die Bundesversammlung vom 16.,Juni 1969 über das Verhältnis der
Schweiz zu den Vereinten Nationen, BB1 1 969 I S.' 1449ff. (Erster UNO-Be-
richt); Zweiter UNO-Bericht vom 17.'November 1971 (BBl 1972 I S. lff.);
Dritter UNO-Bericht vom 29. Juni 1977 (BBl'1977 I I S. 813ff.). Und nun die
umfassende Botschaft des Bundesrates über den Beitritt der Schweiz zur Orga
nisation der Vereinten Nationen (UNO) vom'21. Dezember 1981 (BBl 1982 I
S. 497—696).
38
Und zur Begründung und Rechtfertigung unserer Neutralität verwei
sen wir heute weniger auf unser «altruistisches Tun» (wie Rotes
Kreuz u. ä.), sondern — redlicher und glaubwürdiger — berufen wir
uns wie die anderen Völker auf das Recht zur Selbsterhaltung. Die
dauernde Neutralität ist die Maxime der Staatsraison unseres vielge
staltigen gegensatzreichen Kleinstaates, die auch unter den veränder
ten Verhältnissen unserer Zeit ein notwendiges Gebot unserer Grund
ordnung bleibt.
Wir halten — als Korrelat des Neutralitätsrechtes, zur Verteidigung
unseres Kleinstaates — fest an der Notwendigkeit der Landesverteidi
gung und der Milizarmee auf der Grundlage der allgemeinen Wehr
pflicht. Wir haben uns auch Rechenschaft gegeben über die Notwen
digkeit der Ausweitung der Landesverteidigung. Im Zeitalter der
neuen totalitären Bedrohung muss auch die Landesverteidigung des
Kleinstaates umfassender sein.
Aufgaben des neutralen Kleinstaates in der
Völkergemeinschaft
Wir halten die dauernde Neutralität und die Neutralitätspolitik nach
wie vor als eine notwendige Grundlage unserer kleinstaatlichen Exi
stenz. Sie «stellt Friedenspolitik par excellence dar». Sie will heute
gegen allerlei Utopisten, aber auch gegen viele sogenannte «Realisten»
verteidigt werden.43
Die entscheidende Kraft zum Wirken in der engeren und weiteren
Völkergemeinschaft aber kann für den Kleinstaat nur aus einer trag
fähigen inneren Grundordnung und einer gesunden Innenpolitik kom
men, mit der ich mich als Staatsrechtler im vorstehenden vor allem
befasst habe.44 Lassen Sie mich zum Schluss wenigstens stichwortartig
einige Postulate zur Aussenpolitik andeuten:
Einmal ein stärkeres Engagement für Europa. Man hat die födera
listische Schweiz früher einmal als das «europäischste aller Gemein
43 Vgl. D. Schindler, Dauernde Neutralität, Handbuch der schweizerischen Aussen
politik, S. 159ff., dazu die ausführlichen Literaturangaben auf S. 937—943.
44 So auch Botschafter R. Bindschedler, a. a. O., Sp. 2 unten / Sp. 3: «Nach innen
gilt es, geordnete Verhältnisse aufrechtzuerhalten und den Grundkonsens des
Volkes zu bewahren. Innere Zerrissenheit gibt ausländischen Mächten wiederum
die Möglichkeit zu Eingriffen, nötigt sie sogar aus Sicherheitsüberlegungen dazu».
39
wesen» bezeichnet/Sind wir das noch? Sodann sind wir durch die
Nöte unserer Zeit dringend aufgerufen zu einem stärkeren Einsatz
für die Menschenrechte und für das humanitäre Wirken (insbes. auch
für das Flüchtlingsrecht, für das Asylrecht). Weiter können wir auf
verschiedenen Wegen doch einen konstruktiven Beitrag zum bedrän
genden Ernährungsproblem und zum Entwicklungsproblem leisten.
Endlich wäre nötig (und hilfreich) die Förderung einer intensiveren
Zusammenarbeit — nicht ein Sonderbund! — der Kleinstaaten.45
Die Kleinstaaten werden ständig daran erinnert, dass ihre Macht be
grenzt ist. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sie dort resignieren,
wo es darum geht, die Stimme der Vernunft, der Gerechtigkeit, der
Menschlichkeit und des Rechtes zu erheben und durch ein wegberei
tendes Tun zu bekräftigen. Nur auf diesem Wege wird eine kom
mende Friedensordnung, die etwas anderes ist als die Not-Ordnung
einer blossen Koexistenz, möglich werden.46
Von den Gefahren der Kleinstaatlichkeit
Der niederländische Physiker Lorenz, ein Freund von Einstein, hat
— wie so viele Physiker im Schatten der Atombombe neu die ethischen
45 Vgl. dazu Anm. 40 a. E.
46 Zum dauernden Ringen um den Sinn des Kleinstaates und seine Existenzerhal-.
tung im 20. Jhdt. vgl. immer wieder Max Huber, Karl Meyer, Denis de Rouge-
mont. Aus der neueren Literatur: Macht und ihre Begrenzung im Kleinstaat
Schweiz, Zürcher Hochschulforum, Bd. I, hrsg. von Werner Kägi und Jörg
Siegenthalter; Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik: vgl., insbes. A.
Riklin, 1. Kap., S. 21ff., 33ff., 46ff., und C. Gasteyger, 8. Kap., S. 202ff.,
207ff., und die zahlreichen Hinweise auf den Kleinstaat im ausführlichen Sach
register. Edgar Borijour, Die Schweiz und Europa, Ausgewählte Reden, 4 ,Bände,
1958—1975; Peter .Dürrenmatt, Der Kleinstaat und das Problem der Macht,
1955; Jacques Freymond, How the small countries can contribute to peace, in:
Schou/Bundlandt (Edit;): Small: States in international relations, Stockholm;
S. 177ff.; Daniel Frei, Dimensionen neutraler Politik, 1969; Thomas Fleiner,
Die Kleinstaaten in den Staäteriverbindungen des 20. Jhdts., 1966; Lob des
Kleinstaates, Vom Sinn überschaubarer Lebensräume, Herderbücherei «Initia
tive» 32, 1979.
Als neueste bedeutsame Publikation: Fred Luchsinger, Realitäten und Illusio
nen, 1983. Diese Sammlung von Leitartikeln des Chefredaktors, der NZZ aus
den Jahren 1963—1983 befasst sich mit der, internationalen Politik, wobei aber
immer die Probleme des -Kleinstaates und insbesondere des Kleinstaates Schweiz
mitbedacht werden. Vgl.-,auch vom gleichen Autor: Die Schweiz — ein euro
päischer Outsider? Schweizer Monatshefte,7 :Mai 1980, S. 381ff.; ferner die
Ustertag-Rede von Staatssekretär Raymond. Probst,, Bewährung in unsicherer
Welt, Die Rolle des. Kleinstaates auf der internationalen Bühne, Schweizer ^Mo
natshefte, 1982, S. 221 ff.:
40
und politischen Probleme bedenkend — einmal den Satz gewagt:
«Der Kleinstaat kann keine grossen Dummheiten machen.» Lorenz
hat es, deutlich hörbar, nicht irgendwie hybrid, sondern eher resi
gniert ausgesprochen. Aber es ist doch auch so wohl noch zu opti
mistisch.
Die Kleinheit ist nicht an sich eine Tugend. Sie ist auch nicht als
solche schon eine Gewähr für freie menschliche Gemeinschaft in einer
rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung. Sie macht nicht immun
gegen Dummheiten!
Sie ist eine Möglichkeit; sie kann aber auch zu einer Gefahr werden.
Hier einige alte Erfahrungen, die immer wieder neu bestätigt worden
sind. Keine Gemeinschaft ist dagegen gefeit; aber wir halten uns im
Kleinstaat die alte Erfahrung vor Augen: «Im engen Raum verengert
sich der Sinn.» Der Horizont wird oft in beängstigender Weise be
grenzt. Die kleinere Gemeinschaft — der mögliche Quellgrund vieler
Initiativen und eine wichtige Gewähr gegen die Vermassung — kann
das Leben auch ersticken. Die «Kirchturmpolitik» ist in der Regel
nicht nur kurzfristig und kurzsichtig; sie verkennt oft auch die Ver
antwortung für die umfassendere Gemeinschaft.
Die Nähe der menschlichen Beziehungen, die wir als Gewähr für die
Erhaltung personaler Gemeinschaft und wacher Verantwortung auf
zuweisen suchten, kann das Leben auch unerträglich eng und klein
lich machen. Einer unserer bedeutendsten Historiker, Johannes v.
Müller, hat uns zu Beginn des 19. Jahrhunderts daran erinnert: «In
kleinen Staaten ersterben grosse Gedanken aus Mangel grosser Leiden
schaften.»
Die kleinräumige Gemeinschaft aber kann auch politisch zur Hölle
werden: Ungerechtigkeit, Willkür, Unfreiheit, Korruption und Ter
ror können sich auch im kleinstaatlichen Gemeinwesen einnisten. So
gar die Polis erlebte mehr als einmal den Absturz in die Tyrannis.
Selbst die kleinste Gemeinschaft, die Familie, ist ja nicht gegen Auto-
ritarismus und Diktatur geschützt. Und wo wurde der Geist der
Rache, der Talion, der Vendetta, des Kleinkrieges — durch Jahr
zehnte, ja da und dort durch Jahrhunderte hindurch — hartnäckiger
kultiviert als im kleinen Kreis, in der «kleinen Gruppe»?!
41
Die grosse Herausforderung
Ein spanischer Monarch hat auf der Höhe seiner weltumfassenden
Herrschaft das stolze Wort ausgesprochen: «In meinem Reich geht
die Sonne nie unter». Ein freier deutscher Geist, der unbequeme Georg
Christoph Lichtenberg, der das Kriterium des Politischen nicht ein
fach in der Machtfülle und äusseren Grösse sehen wollte, stellte dazu
kommentierend fest: «Es kommt nicht darauf an, dass in einem Reich
die Sonne nie untergeht, sondern darauf, was sie bei ihrem täglichen
Gang durch dieses Reich dort alles sieht.»
Und ein grosser niederländischer Historiker, Jan Huizinga, ein Füh
rer der Untergrundbewegung und ein Wegbereiter der Nachkriegs
politik, hat in der Zeit, da die Völker wieder daran gingen, auf den
Trümmern, welche die Grossmachtspolitik hinterlassen hatte, eine
Nachkriegsordnung aufzubauen, vorausgesagt: «Es wird eine Zeit
kommen, wo nicht mehr die Kleinstaaterei, sondern die Grossstäaterei
zum Schimpfwort werden wird.»47
Es war oft nicht leicht, Bürger eines Kleinstaates zu sein. Es ist aber
oft auch bedrängend, Bürger eines Grossstaates zu sein. Dafür, dass
47 Und seine Prognose in: «Wenn die Waffen schweigen», 1945, S. 191: «Die
Rolle der Kleinstaaten ist damit nicht ausgespielt, im Gegenteil: Sie beginnt
erst.» Denis de Rougemont hat unlängst in einem Interview mit Alfred Häsler
(Ex Libris 1982, S. 5) erneut, ausgesprochen, was er in vielen früheren Werken
ausführlich begründet hat: «Die europäische Kultur ist in Kleinstaaten geboren
worden. Die europäische Kultur ist ein Produkt der Kleinstaaten.» Heinrich
Pestalozzi hat das Gesetz der kulturellen Entwicklung und Entfaltung, bereits
1780 wunderbar klar aufgewiesen: «Reiner Wahrheitssinn bildet sich in engen
Kreisen und reine Menschenweisheit. ruhet auf dem festen Grund der Kenntnis
seiner nähesten Verhältnisse und der ausgebildeten Behandlungsfähigkeit seiner
nähesten Angelegenheiten.» Die Abendstunde eines Einsiedlers. Vgl. den schönen
Sammelband «Pestalozzi, Grundlehren über Mensch, Staat, Erziehung», hrsg.
von Max Zollinger und Hans Barth, 1956, S. 8. Auch Vertreter der . Grossmächte
haben nach dem Zweiten Weltkrieg die ;Bedeutüng der'Kleinstaaten für den
Aufbau der Völkergemeinschaft klar erkannt.'Als Simone-Veil, die erste Präsi
dentin des Europa-Parlamentes, 1982 gefragt wurde, ob die «französisch-deutsche
Achse» auch weiterhin das entscheidende Fundament Europas bleiben müsse, gab
sie die bestimmte Antwort: «Oüi, mais il ne faut pas n£gliger les ..petits -pays',
ce qu'on a trop souvent tendance i faire» (Express, 5. März 1982, S. 53). Und
Winstori Churchill weist in seiner grossen Darstellung des Zweiten Weltkrieges
in einem Ausblick auf die künftige Entwicklung mit Nachdruck darauf hin; dass
die Struktur der Vereinigten-Staaten von Europa, wenn•,sie gut aufgebaut sein
soll, so gestaltet werden'müsste, dass die. materielle Stärke der einzelnen Glied
staaten weniger wichtig sein'wird. «Small riations:will count as much as large
ones and gain their honour by the contribution to the common cause» (Second
World War, S. 957).
42
wir in den einen oder andern hineingeboren werden, vermögen wir
nichts. In beiden aber ist uns die gleiche Aufgabe unausweichlich ge
stellt: an der politischen Verantwortung nach bestem Vermögen mit
zutragen — sie in bedrohter Zeit neu zu ergreifen. Europa ist sehr
radikal bedroht. Wir sind heute als Bürger der Kleinstaaten in beson
derer Weise herausgefordert.
43
Das Fürstentum Liechtenstein im Rheinbund
und im Deutschen Bund (1806-1866)1
Volker Press
Für I. D. Fürstin Gina von Liechtenstein
in Dankbarkeit und Verehrung
1 Die Arbeit geht zurück auf einen Vortrag, den ich am 22. Oktober 1982 auf
Einladung der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft in Schaan gehal
ten habe. Herrn Regierungschef a. D. Dr. Gerard Batliner habe ich für die
Einladung, für seine Ratschläge und für seine Geduld zu danken, für kritische
Ratschläge Herrn lic. phil. Paul Vogt, wissenschaftlichem Mitarbeiter beim
Liechtensteinischen Landesarchiv. Grundlegend für die Geschichte Liechten
steins ist immer noch die alte Arbeit von Peter Kaiser, die ihrerseits fast Quel
lenwert beanspruchen kann. Sie erschien in zwei Auflagen: P. Kaiser, Ge
schichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schilderungen aus Chur-Rätiens
Vorzeit, 1847. — P. Kaiser, Geschichte des Fürstentums Liechtenstein, bearb.
von J. B. Büchel, 1923. Neuerdings, die ältere Zeit sehr knapp zusammenfas
send: P. Raton, Liechtenstein. Staat und Geschichte, 1969. Ein unentbehrliches
und grundlegendes Hilfsmittel ist die Serie der drei Dissertationen zur Ge
schichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert: G. Malin, Die politische Geschichte
des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren 1800—1815, Diss. Fribourg 1953,
auch: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 53
(1953), S. 5—178 (Abkürzung für das genannte Jahrbuch: JBL). — R. Qua
derer, Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815—1848,
Diss. Freiburg/Schweiz 1969, auch: JBL 69 (1969), S. 5—241. — P. Geiger,
Geschichte des Fürstentums Liechtenstein, 1848—1866, Diss. Zürich 1971, auch:
JBL 70 (1970), S. 1—418. — Einen Überblick gibt: O. Seger, Überblick über
die liechtensteinische Geschichte, 21965. — Für die Sozial- und Wirtschafts
geschichte: A. Ospelt, Wirtschaftgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im
19. Jahrhundert, Diss. Freiburg/Schweiz 1974, auch: JBL 72 (1972), S. 5—423;
(Quellen-) Anhang, ebd. S. 1—267.
45
Das Jahr 1806 gilt als die Geburtsstunde der liechtensteinischen Sou
veränität — 1956 wurde das Jubiläum mit der nötigen Eindringlich
keit gefeiert2. 1806 bedeutete auch die Eingliederung, besser gesagt:
die Einvernahme Liechtensteins in den Rheinbund, der nach kurzer
Unterbrechung 1815 die Mitgliedschaft im Deutschen Bund folgte,
die ein halbes Jahrhundert andauerte. Das gewaltsame Ende des Deut
schen Bundes wiederum entliess Liechtenstein aus seinen politischen
Bindungen und Verpflichtungen. Zugleich aber trat damit eine andere
— freilich stets vorhanden gewesene — wesentliche Komponente
seiner staatlichen Existenz noch schärfer hervor, nämlich die Anleh
nung an Österreich3. Die rechtliche und politische Anbindung war
unverkennbar — auch wenn es immer wieder deutliche Momente der
Distanzierung und bewusst behaupteter Autonomie gab. Der ge
schickt formulierten Neutralität von 1914—1918 stand noch einmal
die Tatsache gegenüber, dass mehrere Mitglieder des Fürstenhauses
nicht nur in den Diensten des Wiener Kaisers standen, sondern dass
eine ganze Reihe von ihnen auch in den Armeen Österreich-Ungarns
fochten: das Fürstentum bekam auch den wirtschaftlichen Druck der
Ententemächte zu spüren4.
Das Haus Liechtenstein und der Wiener Hof
Es war also die besondere Stellung des Landesherrn zum Wiener Hof,
die als ein bestimmender Faktor der politischen Entwicklung des
Fürstentums immer wieder zum Tragen kam. Diese Position spielte
schon beim Erwerb und bei der Zusammenfassung der Herrschaften
Vaduz und Schellenberg 1712, bei ihrer Erhebung zum Fürstentum
Liechtenstein 1719 eine entscheidende Rolle. Aus dem österreichi-
2 Vgl. G. Malin, Die Souveränität Liechtensteins, in: JBL 55 (1955), S. 5—22.
3 Wenn sich das Fürstentum Liechtenstein gern auf die Traditionsstränge zum
alten Reich beruft, so gilt diese Kontinuität bis 1918 auch für die politische
Zuordnung zu Österreich — die kleineren katholischen Territorien des alten
Reiches bis 1803/6 waren allesamt der österreichischen Klientel zuzuzählen,
sie unterstützten die habsburgische Politik in den Gremien des Reiches und
bildeten eine wesentliche Voraussetzung der kaiserlichen Stellung im Reich.
Vgl. V. Press, Die Erblande und das Reich von Albrecht II. bis Karl VI.
(1438—1740), in: R. A. Kann — F. Prinz, Österreich und Deutschland. Ein
bilaterales Geschichtsbuch, 1980, S. 44—88. — Ders., Das römisch-deutsche
Reich — ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Be
trachtung, in: H. Lutz, G. Klingenstein (Hgg.), Spezialforschung und «Ge-
samtgescmchte». Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neu
zeit. Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 8 (1981), S. 15—47.
4 Raton, Liechtenstein, S. 59 f.
47
sehen Herrenstand hervorgegangen, hatte das Haus Liechtenstein
frühzeitig in den Ländern der St. Wenzelskrone Fuss gefasst und
bereits einen beachtlichen Besitz erworben, als das soziale Gefüge der
böhmisch-mährischen Adelsgesellschaft nach ihrer Katastrophe in der
Schlacht von Weissen Berg 1620 zur Disposition stand5. Die Rück-
wendung der Häupter des Hauses zur katholischen Kirche, ein hohes
finanzielles und politisches Geschick haben die Liechtenstein nicht
nur zu einem der wichtigsten Gewinner der weit über Böhmen und
Mähren hinaus wirksamen Umwälzung werden lassen, sondern sie
auch auf Dauer zu einem bestimmenden Einfluss am Wiener Hof
geführt.
Dieser bedeutete in seiner barocken Gestalt das Herz der Monarchie;
er stellte nicht nur die repräsentative Spitze der habsburgischen Lande
dar, sondern zugleich eine Stätte der Integration für ihren Hochadel,
ein überaus erfolgreiches Gegengewicht gegen die zentrifugalen Ten
denzen der Kronländer und ihrer Landstände, die zu Beginn des
17. Jahrhunderts die Existenz des Habsburger Reiches bedroht hat
ten6. Der Wiener Hof leistete somit die Zusammenfassung der Erb
lande, aber darüber hinaus auch den Ausgleich der Zentrale mit dem
Reich — bis 1918 stand sein wenn auch schwindender Einfluss neben
den Parlamenten. Aus dieser Stellung am Wiener Hof ist nicht nur
die Bewegung des Hauses Liechtenstein ins Reich hinein zu begreifen,
sondern auch sein Verhältnis zu den Landen am oberen Rhein.
Dabei kreuzten sich mehrere Überlegungen. Für das Haus selbst war
zentral der Gedanke an den Erwerb eines reichsständischen Territo
riums, das die erbländische Fürstenwürde ergänzte und erhöhte, sowie
an einen Platz auf dem Reichstag7. Der entscheidende Motor war der
5 Zur Geschichte des Hauses Liechtenstein immer noch grundlegend: J. v. Falke,
Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein, 3 Bde., 1868—1882. — Für
die Schlacht am Weissen Berg: J. Polisensky, The Thirty Years War, 1971. —
H. Sturmberger, Aufstand in Böhmen. Der Beginn des 30jährigen Krieges, 1959.
— Neuerdings auch die beiden Wallenstein-Biographien: G. Mann, Wallenstein,
1971. — H. Diwald, Wallenstein. Eine Biographie, 1969.
9 Zur Bedeutung des Wiener Hofes: H. Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolu
tistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert, Sozial- und
wirtschaftshistorische Studien, Bd. 14, 1980. — Press, Erblande und Reich. —
Ders., Reich und höfischer Absolutismus, in: W. Conze u. V. Hentschel (Hgg.),
Ploetz. Deutsche Geschichte. Epochen und Daten, 31983, S. 157—168.
7 C. von In der Maur, Die Gründung des Fürstenthums Liechtenstein, in: JBL 1
(1901), S. 5—80. — O. Seger, 250 Jahre Fürstentum Liechtenstein, in: JBL 68
(1968), S. 5—61. — Ders., Von Hohenems zu Liechtenstein, in: JBL 58
48
Gedanke der ständischen Erhöhung: reichsunmittelbare Würden ran
gierten der formalen Bedeutung und dem tatsächlichen Prestige nach
über den erbländischen, wenngleich die letzteren einen höheren finan
ziellen Ertrag brachten. Andere Fürsten am Wiener Hof, wie die
Dietrichstein, Auersperg, Porcia, hatten ihre Position längst durch
ein Ausgreifen ins Reich gefestigt, Familien aus dem Reich fanden
den Weg zum erbländischen Besitz und zu einer Position am Wiener
Hof — auf diesem System beruhte die Renaissance der kaiserlichen
Machtstellung zu Anfang des 18. Jahrhunderts.
Der Erwerb von Vaduz und Schellenberg
Jedoch hatte diese Bewegung noch eine andere Seite: sie sollte die
österreichische Klientel im Reich, vor allem im Schwäbischen Kreis
verstärken; die Etablierung der liechtensteinischen Herrschaft in
Vaduz und Schellenberg sollte überdies das wichtige Tal des jungen
Rheins mit einer zuverlässigen Dynastie sichern, nachdem die Finanz-
und Herrschaftskrise des Hauses Hohenems hier ein gefährliches
Vakuum hatte entstehen lassen8.
Für das Fürstenhaus bedeutete also der Erwerb von Vaduz und
Schellenberg nur ein begrenztes Ziel. Dass man an einem Ausbau nicht
interessiert war, zeigt sich daran, dass keinerlei Versuche überliefert
sind, mit einem Erwerb der Restherrschaft Hohenems nach dem
Aussterben des Grafenhauses 1759 eine Brücke zum Bodensee zu
schlagen und damit einen besseren territorialen Anschluss zum Schwä
bischen Kreis zu gewinnen. Der Erwerb von Hohenems — auf hal-
(1958), S. 91—133. — Ders., Zur Erwerbung der Grafschaft Vaduz durch
Fürst Johann Adam von Liechtenstein vor zweihundertfünfzig Jahren, in: JBL
61 (1961), S. 5—23. — V. Press, Die Entstehung des Fürstentums Liechten
stein, in: W. Müller (Hg.), Fürstentum Liechtenstein. Ein landeskundliches
Portrait, 1981, S. 63—91. Ausführlicher in einer Gesamtstudie, die der Ver
fasser plant.
8 Zum Haus Hohenems das Lebenswerk von Ludwig Welti: L. Welti, Geschichte
der Reichsgrafschaft Hohenems und des Reichshofes Lustenau, 1930. — Ders.,
Graf Jakob Hannibal I. von Hohenems 1530—1587. Ein Leben im Dienste des
katholischen Abendlandes, 1954. — Ders., Graf Kaspar von Hohenems 1573—
1640. Ein adeliges Leben im Zwiespalte zwischen friedlichem Kulturideal und
rauher Kriegswirklichkeit im Frühbarock, 1963. Eine deutliche Betonung der
«demokratischen» Traditionen der Vorarlberger Geschichte mit entsprechender
Distanzierung von den Hohenemsern bei: B. Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs,
Bd. 3: Ständemacht, Gemeiner Mann — Emser und Habsburger, 1977. Abge
schwächt bei: K. H. Burmeister, Geschichte Vorarlbergs. Ein Uberblick, 1980.
49
bem Weg zwischen Liechtenstein und Schwaben — durch Maria
Theresia, die die Allodialerben, die Truchsessen von Waldburg, allein
als österreichische Landsassen beliess, rückte das Fürstentum noch
weiter von den nördlichen Nachbarn ab9.
Die Erringung von Reichsfürstenwürde und Reichsstandschaft ge
nügte also dem Hause Liechtenstein. Vaduz und Schellenberg waren
für dieses nur ein finanziell unbedeutendes Nebenland, den eigent
lichen Grundlagen der Stellung des Hauses weit entlegen, auf dem
aber sein vornehmster politischer und sozialer Status gründete. Die
Einkünfte der gewaltigen mährischen-österreichischen Herrschaften
trugen die Dynastie — sie und die zahlreichen Palais in Wien waren
die Schnittpunkte ihrer Stellung. In Wien war seit dem letzten Vier
tel des 18. Jahrhunderts das Verwaltungszentrum, die Hofkanzlei —
das kleinere Ländchen in den Alpen wurde von ferne regiert, und
diese Distanz führte immer wieder zu Kollisionen zwischen den ab
strakten herrschaftlichen Vorstellungen in Wien und den Traditionen
des Landes10. Der Repräsentant des Fürsten in Vaduz war der Land
vogt, der an die Weisungen der Hofkanzlei gebunden war, jedoch
aufgrund der grossen Entfernung und eines beschränkten Interesses in
Wien zunächst einen relativ grossen Handlungsspielraum hatte — es
entsprach überdies adeliger Herrschaftspraxis, wenn in seiner Person
ein Puffer geschaffen war für gegenläufige Interessen des Landes
und der Fürsten. Den letzteren war das Tal des oberen Rheins fremd
— erst 1842 bemühte sich Alois II. als erster Fürst in sein Land, dann
freilich mit der Demonstration seines besonderen Interesses.
Damit bestimmte sich der Stellenwert des Fürstentums für die Dyna
stie bis ins 19. Jahrhundert hinein — die erbländische Magnatenstel
9 Zum Erwerb von Hohenems durch Österreich: L. Welti, Vorarlberg und seine
territoriale Entwicklung, in: F. Metz (Hg.), Vorderösterreich. Eine geschicht
liche Landeskunde, 21967, S. 655—672, hier: S. 664.
10 Die Ausbildung der Hofkanzlei bedeutete einen wichtigen Schub der Bürokra-
tisierung — erst mit ihr wurde das Haus Liechtenstein den Anforderungen der
politischen Rolle gerecht^ die die Reichsfürstenwürde mitbrachte. Vorher besass
das Fürstenhaus nicht das Instrument zu einer intensiven Regierung; die Me-
. thode, Kommissionen zu entsenden, reichte nicht , aus., Die .'Doppelrolle des
Fürsten Josef Wenzel, der als-einer der führenden - Politiker Österreichs sehr
stark am Wiener Hof engagiert-war, hemmte überdies die bürokratischen Mo-
dernisierungsmassnahmen — . d er' Kontrast der Verhältnisse in Vaduz und
Schellenberg, zur häufig kostspieligen «Überbürokratisierung» vieler im Lande
residierender kleinerer Reichsfürsten und Tgräfen ist unverkennbar. Ich danke
an dieser Stelle für freundliche Hinweise Herrn-Paul Vogt.'
50
lung entrückte das Haus Liechtenstein der krisenhaften Finanz
situation vieler fürstlicher und gräflicher Häuser im Schwäbischen
Kreis, wo seit dem 17. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen der
schwachen territorialen und finanziellen Basis, den rapide wachsen
den bürokratischen und administrativen Aufgaben, den steigenden
Reichs- und Kreissteuern immer deutlicher wurde11. Gleich einigen an
deren erbländischen Häusern ermöglichte diese Situation der Dynastie
aber auch eine Politik des lockeren Zügels, die einerseits traditionelle
Freiräume beliess, andererseits aber nicht übermässig viel für eine
Modernisierung tat.
Herrschaft und Landschaften Liechtensteins im Alten Reich
Veränderungen resultierten aus dem spezifischen Charakter einer
Herrschaft aus der Ferne. Dass einst die Herren von Brandis, die vor
den Sulz, Hohenems und Liechtenstein die Herrschaften innegehabt
hatten, hoch privilegiert waren, stärkte indirekt eine landschaftliche
Vertretung der Liechtensteiner um den Kern der Landammänner12.
Diese verlor jedoch nach 1719 schnell an Gewicht — das finanzielle
Desinteresse des reichen Hauses Liechtenstein Hess die Bedeutung der
landschaftlichen Verfassung rasch schwinden: es bedurfte zu seiner
Kreditsicherung nicht der Bürgschaften und Steuerzahlungen seiner
Untertanen im Tal des Alpenrheins.
Trotz absolutistischer Ansätze bei den Hohenems hatte die räumliche
Nähe zum finanzschwachen Landesherrn patriarchalische Züge kon
serviert. Die hohe Privilegierung der brandisischen Herrschaft, aber
auch traditionelle alpenländische Freiheitsrechte machten die Gerichte
zu Kristallisationskernen der landschaftlichen Verfassung — dennoch
gewann rasch die Anbindung an die Finanzen eine zentrale Bedeu
tung. Die hohenemsischen Landschaften Vaduz, Schellenberg und
Hohenems haben für die hohenemsischen Schulden gebürgt, damit
11 J. J. Moser, Von dem Reichs-Ständischen Schuldenwesen, Tl. 1—2, 1774—75.
— Dazu: V. Press, Die aufgeschobene Mediatisierung. Finanzkrise der Klein
staaten und kaiserliche Stabilisierungspolitik, in: 32. Versammlung deutscher
Historiker in Hamburg 1978, Beiheft zu Geschichte in Wissenschaft und Unter
richt, 1979, S. 139—141. — Demnächst: Ders., Die Finanzkrise des deutschen
Hochadels im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische For
schung.
12 Zur älteren Verfassung Liechtensteins, trotz einer gewissen Idealisierung, bis
heute immer noch: Kaiser, Geschichte, passim.
51
hing schliesslich auch die Verdrängung des Hauses Hohenems zusam
men — die Landschaften hatten jedenfalls auf diese Weise ihren
Stellenwert im territorialen Gefüge behauptet. Sie waren gebildet
aus Landammann und Gericht in den drei Herrschaften — der Land
ammann wurde aus einem Dreiervorschlag des Landesherrn gewählt,
die 12 Richter auf Lebenszeit durch eine Kombination von Koopta
tion und landesherrlicher Bestimmung bestellt13. Eine enge Verbin
dung mit den Untertanen unter oligarchisch-patriarchalischen Ver
flechtungen wird deutlich14.
Der Erwerb der beiden Landschaften durch das Haus Liechtenstein
veränderte die Situation grundsätzlich; der Wegfall der landschaft
lichen Bedeutung für die Kreditsicherung verstärkte automatisch die
Stellung von Landvogt und Oberamt; der Landvogt residierte zeit
weilig im österreichischen Feldkirch und legte so eine zusätzliche
Distanz zwischen sich und die Untertanen.
Zwar hatte Fürst Johann Adam 1712 die überkommenen Rechte der
Landschaft bestätigen lassen, aber 1719 liess s ie der Nachfolger auf
heben und schuf ein obrigkeitlich bestimmtes System von sechs
Ämtern, wahrscheinlich nach böhmischem Muster — offenkundig
war dem Haus die alte Funktion der Landschaft nicht mehr einsich
tig15. In einer Zeit der Schwäche der Herrschaft, während einer Vor
mundschaft, wandte sich die Landschaft an den Regenten mit der
Bitte um Restitution der Landammanverfassung. Man gab in Wien
nach und überliess den wiederhergestellten Landammännern und Ge
13 Die Richter machten für einen ausscheidenden Kollegen einen Dreiervorschlag.
14 Die ältere liechtensteinische Verfassung gehörte zum Typ der «Landschaft»,
ständeähnlicher Gebilde,' die sich in den Kleinterritorien des Alten Reiches, vor
allem in seinem Südwesten,! fänden. Ihre'Wiederehtde'ckung ist'vor allem den
Forschungen Peter Blickles zu, danken. Gründlegend: P. Blickle, Landschäften
im alten Reich. Die staatliche Funktion des' Gemeinen Mannes in Oberdeutsch
land, 1973. — Neuerdings zusämmengefasst und akzentuiert: Ders., Politische
Repräsentation der Untertanen in süddeutschen Kleinterritorien, in: Von der
Stände Versammlung zum demokratischen Parlament/Die Geschichte der Volks
vertretungen in Baden-Württemberg, 1982, S. 93—102. — Ders., Deutsche
Untertanen. Ein Widerspruch, 1981. Ergänzend: V. Press, Herrschaft, Land
schaft und «Gemeiner rMann» in Oberdeütschland: vom 15. bis zum frühen
19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des-Oberrheins-122 (1975),
S. 169—214. — Ders., Steuern, -Kredit und Repräsentation. Zum Problem der
Ständebildung ohne Adel, in:'Zeitschrift für Historische Forschung 2 (1975),
S. 59—93. — G. Oestreich, Zur Vorgeschichte des "Parlamentarismus: Stän
dische Verfassung, landständische Verfassung, landschaftliche Verfassung, in:
Ebd. 6 .(1979), S. 63—80.
15 Vgl. Press, Entstehung, S. 90.
52
richten reduzierte Funktionen16. Das Nachgeben des Fürsten dürfte
seinen Grund in der Praxis der Reichsgerichte gehabt haben — in
der damaligen Situation dürfte eine Klage der Landschaft vor dem
Reichshofrat durchaus eine Chance gehabt haben, so dass der Kom-
promiss von 1733 eine Prozessniederlage des Landesherrn verhinderte.
Auch in Liechtenstein erwies sich die Reichsverfassung als Barriere
für den Absolutismus17.
Nun wird man die Verfassung nach 1733 nicht ganz so gering schät
zen dürfen, wie es die Forschung im Gefolge der antiabsolutistisch-
liberalen Kritik Peter Kaisers bis heute getan hat18. Einmal bedeutete
die Überlassung der Rechtssachen an halbwegs geschulte Beamte auch
ein Stück notwendiger Juridifizierung — dies lag in der Richtung
des gleichen Verrechtlichungsprozesses, dessen andere Seite die Land
schaften sicherte. Vor allem aber bedeutete ein, wenn auch reduzier
tes Fortbestehen von Landammann und Gerichten in Vaduz und
Schellenberg die fortlebende Erinnerung an eine ältere Freiheit, die
dann der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts mobilisieren
konnte — zumal sie besonders in spektakulären Bräuchen weiterlebte,
deren sich ein romantisches Denken leicht bemächtigen konnte.
Fragt man also einmal nicht nur nach Kompetenz und Einflussmög
lichkeiten, so ist nicht gering zu veranschlagen, dass eine Repräsen
1S Vgl. A. Schädler, Regesten zu meiner Sammlung Liechtensteiner Urkunden
(1395 bis 1859), in: JBL 7 (1907), S. 103—169. Regest Nr. 166.
17 Die neue Herrschaft war schon 1718 wegen der Rückgabe der «Herrschafts
güter» mit den Gemeinden in Konflikt geraten. Die Härte des fürstlichen Kom
missars Christoph Harpprecht, eines evangelischen Württembergers, eskalierte
die Auseinandersetzungen, die bald zu einem Ringen zwischen Absolutismus
und Landesfreiheiten wurden.
Zur Rolle der Reichsgerichte bei Untertanenprozessen: F. Hertz, Die Recht
sprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre
politische Bedeutung, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Ge
schichte 64 (1961), S. 331—358. — R. Vierhaus, Land, Staat und Reich in der
politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, in:
HZ 223 (1976), S. 40—60. — V. Press, Französische Volkserhebungen und
deutsche Agrarkonflikte, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 7 (1977),
S. 76—81. — Ders., Römisch-deutsches Reich. — W. Schulze, Bäuerlicher
Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Neuzeit im Auf
bau 6, 1980. — Ders. (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zum
bäuerlichen Widerstand im Europa der Frühen Neuzeit, 1983. — Ders., Ober
deutsche Untertanenrevolten zwischen 1580 und 1620, in: P. Blickle (Hg.),
Bauer, Reich und Reformation. FS. Günther Franz, 1982, S. 120—147. —
P. Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Wider
standsrecht im Alten Reich, 1980.
18 P. Kaiser, Geschichte, S. 463—467. — Malin, Geschichte, S. 14—19.
53
tation der Untertanen überlebt hatte — es war wichtig, sich zu Wah
len zu versammeln, diese in augenfälligen Formen zu vollziehen, so
dass oft ein Volksfest daraus wurde. Die Tradition der Landsgemein
den verwies in einem monarchisch verfassten Gebilde auf die benach
barte republikanische Schweiz19.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts freilich rieben sich die Herrschafts
prinzipien der fürstlichen Verwaltung, vor allem des Landvogts,
immer mehr mit den Landestraditionen — die Richter genügten
immer weniger den Massstäben, so dass eine Praxis der Nichterset-
zung zu beginnen schien — aber der Fürst wollte noch nicht mit dem
alten Brauch brechen. Es war also doch noch ein kräftiges Stück alt
ständisch-patriarchalischer Welt, die mit den Gedanken der Franzö
sischen Revolution konfrontiert wurde — freilich ohne dass diese im
Land Fuss zu fassen vermochten20.
Der Umsturz der Napoleonischen Zeit
Im Reich führte die Auseinandersetzung mit dem revolutionären
Frankreich zu einem völligen territorialen Umsturz, der sich in zwei
w Sehr stark wird neuerdings die Nachbarschaft der Schweiz in ihrer Wirkung
auf die Verfassung Vorarlbergs betont: Vgl.: B. Bilgeri, Geschichte Vorarl
bergs 1—4, 1971—1982. Ohne Frage dürfte die Schweizer Nachbarschaft eine
sehr starke indirekte Rolle für die Verfassungsentwicklungen nicht nur in Vor
arlberg, sondern auch in ganz Oberschwaben gespielt haben — wobei freilich
auch die fiktive Vorstellung von der Schweiz als einer Bauernrepublik eine
grosse Rolle spielte.
20 Die relativ geringe Auswirkung der Französischen Revolution auf Liechtenstein
hing offensichtlich mit dem Fehlen einheimischer Intellektueller zusammen. In
Tirol und Vorarlberg gab es ebenso wie in der schwäbischen Nachbarschaft
Spuren von französischen Sympathien, die freilich nicht überbewertet werden
dürfen. Vgl.: H. Reinalter, Aufklärung-Absolutismus-Revolution. Die Ge
schichte Tirols in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, 1974. — Ders., Aufge
klärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte des Jakobinertums in der
frühdemokratischen Bewegung in der Habsburger-Monarchie, 1980. — Ders.,
(Hg.), Jakobiner in Mitteleuropa, 1977. — E. Hölzle, Das alte Recht und die
Revolution. Eine politische Geschichte Württembergs in der Revolutionszeit
1789—1805, 1931. — U. J. Wandel, Verdacht von Democratismus? Studien
zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der franzö
sischen Revolution, Contubernium 31, 1981. — E. Fehrenbach, Deutschland
und die Französische Revolution, in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 2,
(1976), S. 232—253. — Dies., Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress,
Grundriss der Geschichte 12, 1981, S. 154—161 (gute Zusammenfassung). —
H. Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestre
bungen im deutschen Süden am Ende des 18. Jahrhunderts, 31979. — P. Stulz/
A. Opitz, Volksbewegung in Kursachsen zur Zeit der französischen Revolu
tion, 1956. — F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in
54
Etappen vollzog21. 1802/3 wurden die geistlichen Staaten säkulari
siert und die Reichsstädte mediatisiert. Schon hier zeichnete sich die
grundlegende Tendenz Napoleons ab, die österreichische Klientel im
Reich zu zerschlagen — diese setzte sich fort bei der grossen napo
leonischen Flurbereinigung von 1805/6, in der die meisten reichsun
mittelbaren Grafen und Fürsten des deutschen Südwestens fielen.
Zugleich hatte Österreich seine ins Reich vorgeschobenen Positionen
preisgeben müssen — sogar Tirol und Vorarlberg wurden nun baye
risch22.
Die rheinbündische Zeit, also die Zeit der Eingliederung weiter Teile
Deutschlands in das napoleonische System, bedeutete nicht nur terri
toriale Arrondierung, sondern auch eine Welle bürokratischer Refor
men, deren grundlegende und weiterführende Funktion erst jetzt er
kannt wird23. Sie führte die altständische Gesellschaft in eine moder-
Deutschland 1770—1815, 1951. ND 1978. Ein freilich — durch die engen
Beziehungen des dortigen Hausierergewerbes mit Frankreich — begründeter
Sonderfall war das Fürstentum Hohenzollern-Hechingen, wo die jahrhunderte
langen Untertanenkonflikte durch die Rezeption französischer Revolutions
ideen eine neue Qualität erhielten: V. Press, Der hohenzollern-hechingische
Landesvergleich von 1798. Reichsrecht und Untertanenvertretung im Zeichen
der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für hohenzollerische Geschichte 14
(1978), S. 77—108. — Zum Ablauf der Kriegsereignisse: G. Wanner, Die Aus
wirkung der Koalitionskriege von 1792 bis 1805 auf Vorarlberg, insbesondere
auf die Gemeinden Feldkirch, Rankweil-Sulz sowie auf die Administration
Hohenems und das Reichsfürstentum Liechtenstein, Diss. Ms. Innsbruck 1965.
21 K. Th. Heigel, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Grossen bis zur
Auflösung des alten Reiches, Bd. 2, 1911, S. 318—379. — Th. Bitterauf, Ge
schichte des Rheinbundes 1: Die Gründung des Rheinbundes und der Untergang
des alten Reiches, 1905. — W. Hertel, K. Th. von Dalberg zwischen Reich
und Rheinbund. Grundgedanken seiner Position vom Regierungsantritt bis zur
Gründung des Rheinbundes (1802—1806). Diss. Ms. Mainz 1952. — E. Weis,
Napoleon und der Rheinbund, in: A. v. Reden-Dohna (Hg.): Deutschland und
Italien im Zeitalter Napoleons, 1979, S. 57—80. Österreich hatte allerdings
bei allen eigenen Tendenzen, sich einen Anteil aus der Beute zu holen, doch
noch einmal versucht, seine alte Klientel im Reich, zu der auch die Fürsten
von Liechtenstein als Herren von Vaduz und Schellenberg zählten, zu stabili
sieren. Dies war eine entscheidende Voraussetzung seiner Position im Reichs
verband. Vgl. V. Press, Das Droit d'^paves des Kaisers von Österreich. Finanz
krise und Stabilisierungspolitik zwischen Lun£viller und Pressburger Friede, in:
Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 559—573.
22 R. Freiin v. Oer, Der Friede von Pressburg, 1965.
2S Zu den rheinbündischen Reformen grundlegend: Bitterauf, Geschichte des
Rheinbundes. — H. Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschafts
politik im Königreich Westfalen 1807—1813, 1973. — A. Chroust, Das Gross-
nerzogtum Würzburg (1806—1814), 1913. — E. Fehrenbach, Traditionale
Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in
den Rheinbundstaaten, '1984. — Dies., Verfassungs- und sozialpolitische Re
formen und Reformprojekte in Deutschland unter dem Einfluss des napoleoni
schen Frankreich, in: HZ 228 (1979), S. 288—316. — Dies., Der Einfluss des
55
nere hinüber, freilich unter Schonung der alten Oberschichten und
unter Beibehaltung vieler Traditionen. Österreich, das die in ihren
Endzielen gescheiterten josephinischen Reformen erlebt hatte, wurde
damals von den süddeutschen Staaten überholt durch Modernisierung
von Recht, Verwaltung und sozialer Ordnung; damit wurde eine
Brüchlinie zwischen Österreich und das übrige Deutschland gelegt,
die zu den Voraussetzungen österreichischer Eigenstaatlichkeit ge
hörte24.
Von den Gesetzen seiner Gründung und seiner Verwaltung her nahm
das Fürstentum Liechtenstein eine Sonderstellung ein; 1805 war auf
Alois I. Johann I. gefolgt, ein josephinisch geprägter Autokrat, Grand-
seigneur und Soldat von hoher Begabung und hohem Ansehen, der
sich in den napoleonischen Kriegen hervortat und bei den österrei
chischen Niederlagen von 1805 und 1809 auch beträchtliche diplo
matische Fähigkeiten bewies25. Trotz seines Ansehens erstaunt es, dass
Napoleon diesen alten Vorposten Österreichs am jungen Rhein nicht
mediatisierte und etwa dem bayerischen Verbündeten zuschlug. Es
bieten sich ausser der bekannten Sympathie des Korsen für den Für
sten von Liechtenstein manche Erklärungen an — sei es, dass Napo
leon ein kleines Gegengewicht gegen Bayern, ein Faustpfand für seine
Beziehungen zu Österreich, einen Draht zum Wiener Hof behalten
wollte, auf den er ja schon seine Bemühungen richtete. Denkbar ist
auch, dass er sich ein ständiges Druckmittel auf einen der führenden
napoleonischen Frankreich auf das Rechts- und Verwaltungssystem Deutsch
lands, in: Reden-Dohna (Hg.), Deutschland und Italien, S. 23—29. — W. v.
Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde, 1977. —
E. Hölzle, Württemberg im Zeitalter Napoleons und der deutschen Erhebung,
1937. — F. L. Knemeyer, Regierungs- und Verwalturigsreformen in Deutsch
land zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1970. — F. Schnabel, Sigmund von
Reitzenstein. Der Begründer des modernen badischen Staates, 1927. — E. Weis,
Montgelas, 1759—1799. Zwischen Revolution und Reform, 1971. — Ders., Der
Einfluss der französischen Revolution und des Empire auf die Reformen in den
süddeutschen Staaten, in: Francia 1 (1973), S. 569—583. — R. Wohlfeil, Napo
leonische Modellstaaten, in: W. v. Groote (Hg.), Napoleon und die Staatenwelt
seiner Zeit, 1969, S. 33—57.
24 Im späten 18. Jahrhundert war Österreich dank der theresianischen und der
josephinischen Reformen den süddeutschen Ländern überlegen gewesen — viel
fach war Österreich auch für die Untertanen der kleineren Territorien in
hohem Masse attraktiv. Diesen Vorsprung. verlor es jetzt; die österreichische
Tendenz zur Selbstgenügsamkeit hatte natürlich auch andere Wurzeln; aber
nun wurde eine zusätzliche Grenzlinie, markiert.
25 O. Criste, Feldmarschall .Johannes Fürst von Liechtenstein, 1905. — C. v. In
der Maür, Feldmarschall/Johann Fürst von Liechtenstein und seine Regierungs
zeit im Fürstentum, in: JBL 5 (1905), S. 149—216. — Falke, Geschichte, Bd. 3,
S. 283—337.
56
österreichischen Militärs und Politiker schaffen wollte. Ohne die
Pariser Akten ist der Vorgang jedoch nicht zu klären26.
Liechtenstein im Rheinbund
Jedenfalls rückte Liechtenstein durch napoleonische Verfügung in den
Rheinbund ein, ohne dass der Fürst formal beitrat. Dieser schuf sei
nerseits die Voraussetzungen, indem er 1806 de jure die Regierung
an seinen unmündigen Sohn27 übergab, jedoch die Regentschaft bei
behielt — das Verbot österreichischer Kriegsdienste für einen Rhein
bundsouverän war damit umgangen. Mit Franz Edmund Schmitz von
Grollenburg28 fand der Fürst einen geschickten und wendigen, wenn
auch kostspieligen Vertreter seiner Interessen: Grollenburg, Sohn eines
Kammergerichtsassessors in Wetzlar, hatte einst mehrere, teils öster
reichische Häuser auf dem Reichstag vertreten und hatte offensicht
lich Beziehungen zum Umkreis Karl Theodor von Dalbergs, des ein
stigen Kurfürsten von Mainz und nunmehr rheinbündischen Fürst
primas. Ohne Frage hat er die liechtensteinischen Interessen äusserst
geschickt verfochten und vor allem die drückendsten Lasten von dem
Kleinstaat abwenden können. Mit Edmund Floret hatte der Fürst
noch einen zweiten Gesandten.
Die rheinbündische Existenz eines souveränen Liechtenstein war ein
komplizierter Balanceakt. Das Land war ja vom Fürstenhaus vor
nehmlich zum Ausbau seiner Stellung am Wiener Hof und innerhalb
der Reichsaristokratie erworben worden. Man hatte relativ wenig
eingegriffen, keine besonderen Steuerlasten gefordert. Es war eine
patriarchalische bäuerliche Gesellschaft, für die die zuweilen selbst
wenig gebildeten Pfarrer die einzigen Intellektuellen bildeten, ganz
ohne die Reformimpulse des 18. Jahrhunderts — in zunehmend ver^
28 Malin, Geschichte, S. 50—58.
27 Es handelte sich um Fürst Karl von Liechtenstein (1790—1865).
28 Franz Edmund von Schmitz zu Grollenburg (1776—ca. 1835) war Sohn des
Reichskammergerichtsassessors Friedrich Joseph (seit 1790 Freiherr) von Schmitz
zu Grollenburg. Er war zunächst Hofrat des Erzbischofs von Salzburg gewe
sen, dann gemeinsamer Reichstagsgesandter von Arenberg, Hohenzollern,
Schwarzenberg, Fürstenberg, Auersperg und der Schwäbischen Grafenbank.
1815 wurde er hohenzollern-sigmaringischer Gesandter in Karlsruhe, 1818—1825
preussischer Regierungspräsident in Koblenz, dann Regierungspräsident in Trier
(noch 1826). Für freundliche Mitteilungen zur Person habe ich Frau Dr. Sigrid
Jahns zu danken, die an einer grossangelegten Untersuchung des Reichskam-
mergerichtspersonals nach 1648 arbeitet.
57
alteten Formen lebend, aber auch im lebendigen Bewusstsein der er
haltenen Teile ständischer Freiheiten, ein armes Land freilich, von
den Existenzkrisen der alten Gesellschaft, von Hunger und Seuchen
bedroht, zu denen die Überschwemmungen des Rheins und die Rufen
als dritte und vierte Plage kamen29.
Nach den Mediatisierungen stand dieses Liechtenstein anders als im
Alten Reich gleichsam allein. Nicht nur die alten reichsunmittelbaren
Häuser Schwabens waren mediatisiert worden, sondern all die ande
ren österreichischen Häuser, die Besitz im Reich erworben hatten, hat
ten die Landesherrschaft nunmehr verloren30. Die Lasten der Reichs
steuern hatten für Vaduz und Schellenberg im Zeichen der Franzö
sischen Revolution eine rapide steigende Belastung bedeutet31. So be-
grüsste man das Ende der Reichssteuern 1806 mit Erleichterung, man
musste aber bald feststellen, dass der Rheinbund die Abgaben kräftig
hochtrieb. Schon hieraus ergaben sich Probleme, sie vermehrten sich
in einer Situation, als der Fürst einerseits dem Kaiser von Österreich
an hervorragender Stelle diente und sein Land andererseits einem
österreichfeindlichen System einverleibt war32. Die relative Bedeu
tungslosigkeit Liechtensteins für den Landesherrn ermöglichte jedoch
eine schmerzlose Vereinnahmung in den Rheinbund, dessen Lasten
man freilich tragen musste. Wahrscheinlich sah man in der Wiener
Hofkanzlei Johanns I. die rheinbündische Phase vor allem als Irri
tation, in der man die Besitztitel retten musste. Aber der Wegfall des
Reichsverbandes hatte die Funktionen des Ländchens schwinden las
sen — trotz aller Bedeutung der Souveränität für den Rang des
Hauses Liechtenstein.
29 Dazu vor allem die umfassende Studie von Ospelt, Wirtschaftsgeschichte. Zu
den Rheinproblemen: Ebd., S. 16—38 (Literatur!).
30 Sie behielten natürlich ihr Vermögen, aber nicht die Landeshoheit. Österreich
hatte noch — gleichsam in letzter Minute— versucht, seine Klientel zu stabi
lisieren. Vgl. Press, Droit d'dpaves.
31 Die verheerende Last der Steuern anlässlich, der Kriege gegen das revolutionäre
Frankreich war für einen , grossen Teil der kleinen Herren im Reich unerträg
lich: viele Grafen, Ritter und Städte, die ohnehin durch eine veraltete und
irrational gewordene Herrschaftsstruktur-belastet waren, gerieten nun unter
einen zusätzlichen Druck, der. die Überlebenschancen • als: selbständige Herren
grundsätzlich 'minderte.1 So' haben , die Revolutionskriege die Mediatisierung
kräftig vorbereitet. Diese-Probleme entfielen bei dem Fürstentum Liechtenstein,
für das die. Familie der Herrschaft keine Belastung, sondern mehr einen Rück
halt bedeutete. Züm Steuersystem: Öspelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 388—409.
32 Dies zeigt, dass das liechtensteinische Volk noch ganz in eine patriarchalische
Welt eingebunden war, die nur geringe politische Möglichkeiten offen liess.
58
Bereits vor dem Ende des Alten Reiches hatte jedoch, von Wien aus
gehend, ein Vorstoss zur Modernisierung des Fürstentums begonnen.
Dieser wurde nun dadurch erleichtert, dass mit dem Fortfall der
Reichsinstitutionen keine Klageinstanz gegen die Massnahmen der
Regierung33, kein Schutz für die überkommene im Reichsrecht ver
ankerte Landesverfassung mehr bestand. Nun hatte die Hofkanzlei
freie Hand — eine Klage der Untertanen in Vaduz und Schellenberg
vor den Reichsgerichten wegen Verletzung älterer Rechte war nicht
mehr möglich. So kam es zur Kollision zwischen dem Modernisie
rungswillen des Hauses und den traditionellen Freiheitsrechten des
Landes.
Die bürokratischen Reformen des Landvogts Schuppler
Die bürokratische Reform Liechtensteins wird von der jüngeren Ge
schichtsschreibung des Landes relativ kritisch gesehen seit dem Ver
dikt Peter Kaisers — und doch wird man sie, verkörpert durch den
Landvogt Joseph Schuppler34, nicht gering achten dürfen. Die Lei
stung des mährischen Beamten, der 1808—1827 das Land verwaltete,
bedeutete nichts weniger als die Heranführung Liechtensteins an eine
modernere Zeit; Schuppler konnte nur in einigen Bereichen, vor allem
im Schulwesen, auf Massnahmen seines Vorgängers Menzinger35 zu
rückgreifen, der noch einer patriarchalischen Zeit entstammte und
dem Land stärker verbunden war.
Die Gestalt Schupplers entsprach den rheinbündischen Reformern36,
aber er war kein liechtensteinischer Montgelas oder Reitzenstein,
39 Das Problem der Bedeutung der Reichsinstitutionen für die Kreditfähigkeit
der Territorien ist bis heute nicht deutlich genug hervorgehoben worden. Bis
1806 gab es die Möglichkeit, einen zahlungsunwilligen oder -unfähigen Fürsten
entweder vor dem Reichshofrat oder vor dem Reichskammergericht zu ver
klagen — der Wegfall dieses Instruments reduzierte natürlich die Kreditfähig
keit, da man künftig Willkürhandlungen befürchten musste. Die Frage der
Wiedererrichtung von Landständen innerhalb und nach der napoleonischen
Epoche hing mit dieser Frage unmittelbar zusammen. Vgl. Press, Römisch
deutsches Reich.
34 A. Ospelt, Die Landesbeschreibung des Landvogts Josef Schuppler aus dem
Jahre 1815 (Textedition mit Einleitung), in: JBL 75 (1975), S. 189—461. —
Vgl. auch G. Marxer, Die Schule unter Schuppler, in: JBL 28 (1928),
S. 147—156.
35 M. Menzinger, Die Menzinger in Liechtenstein, in: JBL 13 (1913), S. 5—29.
36 Zu den rheinbündischen Reformen vgl. die unter Anm. 23 zitierte Literatur.
59
denn es war eine österreichisch geprägte, also eine josephinische, keine
napoleonische Reform, die vor allem in den Jahren 1808—1812 einen
bemerkenswerten Höhepunkt erreichte. Es war typisch für die Zwit
terstellung Liechtensteins zwischen Rheinbund und Österreich, dass
sich der Reformimpuls hier in spezifisch josephinischen Formen
durchsetzte. Der Preis, den das Land, wiederum parallel zu anderen
Rheinbundstaaten, zu bezahlen hatte, war das Ende der landschaft
lichen Verfassung und die Ersetzung ihrer Relikte durch das unein
geschränkte Regiment des bürokratisch-autoritär wirkenden fürst
lichen Oberamts37. Der Druck der Kriegsfinanzierung regte offen
sichtlich die Erneuerung des Steuerwesens und die Schöpfung der
Grundbücher an. Kirchenpolitisch wurde der Geist des Josephinismus
hochgehalten. Schuppler suchte mit der Fackel der Aufklärung in
das Land hineinzuleuchten. Dennoch regten sich gegen die massiven
Eingriffe der Obrigkeit in die überkommenen Lebensformen Un
ruhen. Die Erhebungen in Tirol und Vorarlberg38 schienen 1809 auch
nach Liechtenstein hinüberzugreifen39. Es war jedoch eine Bewegung
zur Verteidigung einer altständischen Welt gegen die obrigkeitlich
bürokratisch bestimmte Wende zur Moderne, ähnlich wie in Tirol.
Dass der Fürst im kaiserlichen Heere focht, mochte einerseits die
Liechtensteiner zusätzlich angespornt haben. Aber wie ein Jahrzehnt
zuvor in manchen deutschen Kleinstaaten kam die Forderung nach
37 Zur Beseitigung der Landstände und Landschaften im Rheinbund: O. Stein
wachs, Der Ausgang der landschaftlichen Verordnung in Bayern, in: Ober
bayerisches Archiv 55 (1910), S. 60—138; 56 (1912), S. 37—58; 57 (1913),
S. 38—117. — E. Weis, Absolute Monarchie und Reform im Deutschland des
späten 18. und frühen 19.' Jahrhunderts, in: Geschichte in der Gesellschaft.
FS K. Bosl, 1974, S. 436—461.. — W. Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457—
1957. Von den Landständen zum demokratischen Parlament, 1957, S. 469—.
486. — Hölzle, Altes Recht und Revolution. — F. Hermann, Die Aufhebung
der Verfassung der hessen-darmstädtischen Landstände im Ausgang des 18. Jahr
hunderts, 1933. — Ders., Zur Aufhebung der Verfassung der althessischen Land
stände im Jahre 1806, in: Archiv für Hessische Geschichte 28 (1963), S. 317—
342.
38 J. Hirn, Tirols Erhebung im. Jahre 1809, 21909. — F. Hirn, Geschichte Tirols
von 1809—1814, 1913. — H. v. Voltelini, Forschungen zur Geschichte des
Tiroler Aufstands 1809, 1909. — H. Kramer, Andreas Hofer, "1970. — Ders.,
P. Johann Haspinger, 1938. — M. Dühäri, Napoleon et l'Allemagne. Le
systime Continental et les d^buts du royaume de Baviere 1806—1810, 1912,
S. 248—272, 646—671. — F. Hirn, Vorarlbergs Erhebung im Jahre 1809, 1909.
— B. Bilgen, Geschichte Vorarlbergs IV: Zwischen Absolutismus und halber
Autonomie, 1982, S. 205—243.
38 Die Erhebungen in Tirol' und Vorarlberg griffen nicht nur nach Liechtenstein
aus. Auch in dem nunmehr , bayerischen- Schwaben gab es Unruhen, etwa in
Kempten und in anderen" an Tirol angrenzenden Gebieten. Zu den liechtenstei
nischen Unruhen: Malin, Geschichte: S. 129—145.
60
Anschluss an das grössere Österreich auf, das mancherlei Vorteile ver
sprach: eine intensivere Staatlichkeit, bessere wirtschaftliche Bedin
gungen, vielleicht auch weniger drückende Lasten. Balzers und Trie-
sen wurden Ausgangspunkt der Motionen — einen Moment lang
schienen die Gemeinden das Heft in die Hand zu bekommen. Sie
wählten Deputierte, und am 12. Juni 1809 trug der Eschner Richter
Johann Allgäuer die Forderungen dem Landvogt vor, die im wesent
lichen gegen den Spätabsolutismus Schupplers gerichtet waren. Der
wendige und mutige Landvogt wehrte den Vorstoss ab — geschickt
suchte er die Bewegung zu kanalisieren: je e in Beauftragter der obe
ren und der unteren Landschaft sollten Einblick in die Verwaltung
von Kredit und Steuern erhalten: ein Heilmittel aus der Apotheke
des Alten Reiches, angepasst einer veränderten Situation40.
Schuppler hatte in seinen Massnahmen Entwicklungen nachzuholen
gesucht, die anderswo schon früh im 18. Jahrhundert in Angriff
genommen worden waren. Dass diese Massnahmen den Untertanen
wenig annehmlich waren, hing wohl auch mit der Tatsache zusam
men, dass die Feudallasten nicht abgeschafft worden waren. Hier
zeigte sich abermals die Janusköpfigkeit der liechtensteinischen Rhein
bundzeit; eingeklemmt zwischen Vorarlberg, das von den bayerischen
Modernisierungsmassnahmen erfasst worden war, und der Schweiz,
wo gerade Napoleon mit den radikalen Neuerungen der Helvetik
gebrochen hatte41, waren hier nur vorsichtige Massnahmen möglich,
bot sich ein mittlerer, josephinischer Weg der Reform an. Es kam
hier zu keiner Kontinuität zwischen der altständischen und der früh
parlamentarischen Verfassung42 — dafür bildete sich damals der Vor
40 Vgl. die noch unter den Bedingungen des Alten Reiches gefundenen Konflikt
regelungen in Hohenzollern-Hechingen und Schaumburg-Lippe, um nur zwei
Beispiele zu benennen, die sich wahrscheinlich bei weiterem Fortschreiten der
Forschung noch erheblich ergänzen liessen. Vgl. Press, Landesvergleich. —
C. H. Hauptmeyer, Die Bauernunruhen in Schaumburg-Lippe. Landesherr und
Bauern am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Lan
desgeschichte 49 (1977), S. 149—207.
41 Vgl. zuletzt: D. Frei, Mediation, in: Handbuch der Schweizer Geschichte 2,
1977, S. 841—870 (Literatur!).
42 V. Press, Landtage im Alten Reich und im deutschen Bund. Voraussetzungen
ständischer und konstitutioneller Entwicklungen 1750—1830, in: Zeitschrift für
Württembergische Landesgeschichte 39 (1980), S. 100—140. — Ders., Land
stände des 18. und Parlamente des 19. Jahrhunderts, in: H. Berding und H.-P.
Ulimann (Hg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, 1981,
S. 133—157. — Ders., Altständische Wurzeln des modernen Parlamentarismus.
Formen der Repräsentation zwischen Altem Reich und Modernem Staat, demn.
in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 37 (1984).
61
bildcharakter der süddeutschen Kleinstaaten Hohenzollern-Sigmarin-
gen und Hohenzollern-Hechingen heraus. Dies war kein Zufall, denn
die beiden Fürstentümer ähnelten von den übriggebliebenen kleineren
Reichsständen, die nun die Souveränität erlangten, dem Fürstentum
am oberen Rhein am stärksten43.
Die rheinbündische Zeit begann jedoch auch das Land am jungen
Rhein in die rauhe Luft moderner Staatlichkeit hineinzuführen. Der
bürokratische Absolutismus liechtensteinischer Prägung, an Österreich
orientiert, war gut geeignet, diese Schritte in relativ schonenderWeise
einzuleiten. Die Souveränität war für ein Land mit nicht einmal 6000
Einwohnern und einem fernen Herrscher, ohne einheimische Büro
kratie oder Intelligenz, ein grosses Problem. Dem furchtbaren Schick
sal zahlreicher deutscher Kleinstaaten im Rheinbund, für die Souve-.
ränität ihrer Herren einen Blutzoll zu entrichten, welcher denjenigen
der Kontingente der Mittelstaaten weit übertraf44, entging Liechten
stein durch die Geschicklichkeit Grollenburgs — ein nassauisch-
liechtensteinischer Soldatenhandel vermied die Aushebung von liech
tensteinischen Untertanen, für die nun die Nassauer starben.
Der Weg in den Deutschen Bund
Es war für den österreichischen Feldmarschall Fürst Johann I. von
Liechtenstein kein besonderes Problem, im Zuge des Umsturzes von
1813 und der Niederlagen Napoleons den Anschlüss en die siegrei
chen Alliierten zu finden: auch hier sicherte Grollenburg geschickt
das Terrain ab. Der sich abzeichnende Ubergang Bayerns, das ja noch,
in Tirol sass, machte einen solchen Schritt dringlich. Schuppler suchte
einstweilen weitere Kontributionszahlungen durch Temporisieren zu
4S Zu Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen die grundlegende,
leider ungedruckt gebliebene Studie: F.'Kallenberg, Die Fürstentümer Hohen-
zollern am Ausgang des Alten Reiches. Ein Beitrag zur politischen und sozia
len Formation des deutschen Südwestens, Diss.' Ms.. Tübingen 1961. — Vgl.:
Ders., Die Fürstentümer 'HoKenzollern_ im Zeitalter der Französischen Revolu
tion und Napoleons, in: Zeitschrift. fürHie Geschichte'des Oberrheins 111 (1963),
S. 357—452. . 1
44 Ein besonders drastisches Beispiel , biet et das Fürstentum Isenburg (TBirstein).
Vgl. B. Müller, Das Fürstentum Isenburg im Rheinischen Bund: Vom Territo
rium zum Staat, Diss. Würzburg 1977.
62
vermeiden. Als Bayern am 8. Oktober 1813 im Vertrag von Ried
zu den Alliierten überging45, musste auch Liechtenstein den Sprung
wagen — am 7. Dezember schloss sich der Fürst der Koalition an
und erhielt dafür die Souveränität garantiert. Dass er den österrei
chischen Diplomaten Edmund Floret zum Gesandten im alliierten
Hauptquartier machte und nicht dessen scheinbar kompromittierten
Rivalen Grollenburg, zeigt eine typische Verkennung der Situation,
denn Grollenburg spielte bald eine bedeutende Rolle bei der alliierten
Zentraldirektion der besetzten Gebiete46 und starb als preussischer
Regierungspräsident. Für die neuen Verbündeten musste Liechtenstein
ein achtzigköpfiges Kontingent stellen, das einen beträchtlichen Blut
zoll entrichtete; Schuppler hatte es vor allem aus den Unterschichten
rekrutieren wollen.
Der komplizierte Balanceakt der Rheinbundzeit hatte sich ausgezahlt,
wobei Liechtenstein zugute kam, dass die geplante Bundesversamm
lung des Rheinbundes nie realisiert wurde. Der Rheinbund hatte den
Rahmen für Reformen gegeben, hatte für politischen Rückhalt und
Stabilität gesorgt, die Liechtenstein aus eigener Kraft kaum erreicht
hätte. Mit der neuen Ordnung Europas nach 1813/15 hatte das Land
eine gewahrte Selbständigkeit in den Deutschen Bund einzubringen.
Zunächst schien es, als ob die Präsidialrolle Österreichs im Bund
Fürst und Land unter habsburgischem Patronat wieder zusammen
führte47. Politisch gesehen waren zunächst die Konsequenzen für das
Land geringer als im Rheinbund: es begann eine Zeit der Ruhe und
der administrativen Konsolidierung; das Handeln im Bund war
Sache des Fürsten, hinter dem das Land zunächst völlig zurücktrat,
ohne dass es besonders schmerzliche Lasten tragen musste. Bundes
politik wurde in Wien gemacht, wenn auch in bescheidenen Massen
— dennoch darf man die Bedeutung des Deutschen Bundes für Liech
tenstein nicht gering einschätzen. Er stabilisierte von aussen die ge
wonnene Souveränität, erzwang durch seine Normen weitere Moder
nisierungen und auch schliesslich die verstärkte Ausbildung eigen
45 H. W. Schwarz, Die Vorgeschichte des Vertrages von Ried, 1933. — A. Wun
der, Karl Philipp Fürst von Wrede als Berater des Königs Max Joseph und des
Kronprinzen Ludwig von Bayern 1813—1825, Miscellanea Bavarica Monacen-
sia 7 (1968), S. 32 ff.
46 P. Graf Kielmannsegg, Stein und die Zentralverwaltung 1813/14, 1964.
47 Dazu: Quaderer, Geschichte.
63
staatlicher Züge, freilich langsam und undramatisch48. Es war ohne
hin klar, dass Liechtenstein eine selbständige Politik grossen Stils
nicht treiben würde.
Der Landesherr blieb vor allem Mitglied der Wiener Hofgesell
schaft40; von dieser Position tastete er sich in den Deutschen Bund
hinein. Als Linie der Politik lässt sich ein behutsames Festhalten an
den Souveränitätsrechten ausmachen; man agierte streng formal, ohne
sich zu exponieren und etwaige Pressionen der Wiener Politik zu
provozieren, die diese Souveränität relativieren würden. Erst spät
schloss sich Fürst Johann I. der Gruppe der deutschen Kleinstaaten
auf dem Wiener Kongress an50. Obgleich es nahelag, dass gerade in
Wien die dortige Hofkanzlei aktiv geworden wäre, beauftragte der
Fürst den reussischen Vizekanzler Georg Walther Vinzenz von
Wiese mit seiner Vertretung; damit reihte er sich in das kollektive
Handeln der kleineren deutschen Fürsten ein51. Johann I. war an der
Verfassungsfrage sehr interessiert; er zeigte konservative deutsch
patriotische Züge.
Wiese erreichte für Liechtenstein neben den Fürstentümern Reuss,
neben Schaumburg-Lippe, Lippe und Waldeck einen Sitz in der
48 Eine Gesamtdarstellung des Deutschen Bundes fehlt leider — wohl auch infolge
des lange nachwirkenden Verdikts von Heinrich von Treitschke. Es ist jedoch
nicht zu unterschätzen, welche1 Bedeutung die politische Ruhe gewann, die der
Bund durch fünfzig Jahre garantierte und die'nur einmal ernstlich durch die
Revolution von 1848/49 unterbrochen wurde. Wie immer man die zunehmen
den reaktionären Tendenzen des Bundes beurteilen mag, so hat sein politischer
Rahmen die innere Konsolidierung- der ; deutschen Staaten ermöglicht — das
Beispiel Liechtenstein steht hier nicht allein: E. R. Huber, Deutsche Verfas
sungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1957, S. 583—687.
49 Im Wiener Hof konservierten sich - sehr stark Elemente der alteuropäischen
Zeit, wenngleich auch hier ein ständiges. Vordringen bürokratischer Züge fest
zustellen ist — sehr deutlich wird dies in der Beachtung konstitutioneller For
men durch den Kaiser Franz Joseph, der durchaus die Züge eines obersten
Bürokraten seines Reiches hatte, wenngleich daneben der traditionsreiche Wie
ner Hof in durchaus altertümlichen Formen weiterlebte.
60 Dazu: Quaderer, .Geschichte, S. 201—207. Zum Hintergrund: K. Griewank, Der
Wiener Kongress -'und die europäische'.Restauration 1814/15, 21954. — H. A.
Kissinger, A world restored. Castlereagh, Metternich änd.the restauration of
the peace 1812—1822, 1957. Dt.; Übersetzung'1962. — H. Nicolson,' Der Wie
ner Kongress oder die Einigkeit unter Verbündeten11812—1822, 1945.
51 Bezeichnenderweise vertrat Wiese ausser den beiden Reuss auch Hohenzollern-
Sigmaringen.
64
16. Kurie des Bundestags52 — er vermochte alle für Liechtenstein
nachteiligen Regelungen der Stimmenzahl gemäss der Bevölkerung
zurückzudrängen. In der Folge beauftragte der Fürst zuerst 1818 den
grossherzoglich-hessischen Geheimen Rat Jakob Friedrich Freiherr
von Leonhardi, nach dessen Tod 1839 zuerst den sachsen-weimari-
schen Gesandten Graf Beust, dann den nassauischen Gesandten Rönt
gen, schliesslich 1841 den Frankfurter Patrizier Johann Adolf Frei
herr von Holzhausen, also jeweils gleichsam Agenten vor Ort; all dies
signalisierte Distanz und Routine.
Im Fahrwasser Österreichs
Auch wenn der Fürst nur eine geringe, das Land gar keine aktive
Rolle im Deutschen Bund spielten, so war dieses lockere Gefüge souve
räner Staaten doch der politische Rahmen, in dem sich die weitere
Entwicklung des Landes vollzog, ja in dem seine Souveränität ver
ankert wurde. Dass Österreich Liechtenstein nicht mediatisierte, war
bereits im Anschlussvertrag vom 7. Dezember 1813 festgelegt wor
den. Eine Mediatisierung wäre auch eine schlechte Propaganda für
die fortwirkenden Bestrebungen Österreichs gewesen, den süddeut
schen Hochadel in seiner Klientel zu erhalten, widersprach überdies
der von Metternichs Staatskanzlei propagierten Legitimität53, wider
sprach vor allem auch der Stellung des österreichischen Feldmarschalls
Fürst Johann von Liechtenstein54.
Die Wiener Hofkanzlei des Fürsten begab sich auf die Spuren der
Mittelstaaten, als sie die liechtensteinische Souveränität darzustellen
suchte: 1817 trat Fürst Johann in aller Form der Heiligen Allianz
bei; demonstrativ verifizierte man dies zuerst Russland, dann erst
52 Der engere Rat des Bundes bestand aus 17 Stimmen, davon 6 echte Kuriat-
stimmen — die 16. Kurie war die letzte vor der der Freien Städte. Im Plenum
waren es bis zu 69 Stimmen (die Zahl schwankte wegen der Verschiebungen
durch Erlöschen der Häuser usw.), von denen Liechtenstein eine führte. Huber,
Verfassungsgeschichte 1, S. 589 f.
55 Zur Einordnung Metternichs: H. v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann und
Mensch, 2 Bde., 1925, Bd. 3, 1954. — G. de Bertier de Sauvigny, Metternich
et son temps, 1962. — Kissinger, A world restored. — E. E. Kraehe, Metter
nichs German Policy 1: The contest with Napoleon 1799—1814, 1963. —
K. O. Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund,
Deutsche Geschichte 7, 1980.
M Vgl. die Anm. 25 zitierte Literatur.
65
Österreich. Die Wiener Schlussakte von 1820 unterzeichnete der
nassauische Minister Ernst Franz Ludwig Freiherr Marschall von
Bieberstein für die 16. Kurie und damit auch für Liechtenstein. Der
Bund bedeutete eine wirksame Existenzgarantie auch für sein klein
stes Glied: Konflikte Liechtensteins mit St. Gallen und Graubünden
konnten durch die Rückendeckung des mächtigen Bundes weit besser
durchgestanden werden als aus eigener Kraft. Für Liechtensteins
Selbständigkeit war es wichtig, dass nicht nur Österreich, sondern
auch der Bund einen politischen Rückhalt bot. Andererseits drohte
Liechtenstein bei krisenhaften Zuspitzungen in der Schweiz zum
Aufmarschgebiet zu werden — wirtschaftliche Massnahmen Öster
reichs gegen die Eidgenossen zogen das kleine, arme Liechtenstein
wiederholt schwer in Mitleidenschaft. Zwar war die politische Distanz
zur republikanischen Schweiz noch unverkennbar, die wirtschaft
lichen Verflechtungen mit dem westlichen Nachbarn Hessen sich
jedoch nicht leugnen; aber gerade diese politische Distanz machte
Österreich zum unentbehrlichen Wirtschaftspartner, angesichts seines
Ubergewichts eine wahre «Societas leonina», in der Liechtenstein die
Zollpolitik des Habsburger Reichs immer wieder zu spüren bekam55.
Nahezu zwangsläufig erwuchs aus der politisch-militärisch-wirt
schaftlichen Verflechtung mit Österreich ein Vorbildcharakter der
Habsburgermonarchie. Die als Rechtsgarantie von der Bundesakte
vorgeschriebene dritte Gerichtsinstanz über dem Vaduzer Oberamt
und der Wiener Hofkanzlei wählte Johann I. im Innsbrucker Ober
appellationsgericht; in einem Notenwechsel mit Metternich suchte
man die Balance zwischen Souveränität, praktischen Erfordernissen
und Gesetzen der Sparsamkeit zu währen. Das Oberappellationsge
richt konnte die liechtensteinischen Richter, nicht aber die Justizver
waltung inspizieren; im zivilen Revisionsverfahren verzichtete der
Fürst auf ein Bestätigungsrecht, was mehr Rechtsstaatlichkeit bedeu
tete, behielt aber das Begnadigungsrecht bei Todesstrafen. Am bedeut
samsten war die 1819 festgelegte automatische Übernahme österrei
chischer Verordnungen zu den bereits rezipierten Gesetzen, womit
eine fast völlige Rechtseinheit mit Österreich hergestellt wurde56 —
66 Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 358—367 (Literatur).
56 Herrn Paul Vogt danke, ich den Hinweis auf den Unterschied zwischen «judi-
ziellen» und «politischen» Gesetzen. Es ist klär, dass es sich hier nur um die
Übernahme von Gesetzen in der Rechtsprechung handelt — das Fehlen ausge
prägter konstitutioneller Verhältnisse,' begünstigt/ durch die Ferne des Fürsten,
liess keine profilierte liechtensteinische Gesetzgebung'entstehen. Sehr deutlich
wurde dadurch der autonome Spielraum der Landvögte gesteigert.
66
erst 1843 löste Alois II. die Bindung, was freilich zu einer Flut von
liechtensteinischen Verordnungen führte.
Joseph Schuppler steuerte in den Anfangsjahren des Deutschen Bun
des als Landvogt das Fürstentum auf ruhigeren Bahnen in einem
bürokratisch-spätabsolutistischen Geist; er suchte die begonnene vor
sichtige Reformpolitik zu konsolidieren, ein Mann von Engagement,
Ansehen und persönlicher Autorität. Der konservative Deutsche
Bund also schien wie geschaffen als Rahmen für die patriarchalische
Welt am oberen Rhein, die von den Kräften der Bewegung noch
wenig spürte.
Die Liechtensteinische Verfassung von 1818
Dennoch war Johann I. einer der ersten deutschen Fürsten, die eine
Verfassung erliessen57; freilich war er alles andere als ein Vorreiter
konstitutioneller Entwicklungen im Deutschen Bund. Es ist freilich
zu erinnern, dass der berühmte § 13 der Bundesakte: «In allen Bun
desstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden», aus
einer konservativen Gesinnung entstanden war: Sicherung der Media-
tisierten, Gegengewicht gegen die radikale rheinbündische Bürokra
tie. Dass die Kräfte der Bewegung sich dennoch Bahn brachen und
so eine engere Interpretation des Paragraphen und schliesslich die
67 Text der Verfassung von 1818: Liechtenstein Politische Schriften 8 (1981),
S. 259—261. — Vgl. dazu: Quaderer, Geschichte, S. 12—13. —! Ders., Die Ent
stehung der liechtensteinischen Volksrechte seit der vorabsolutistischen Zeit und
der Landstände seit 1818 bis zum Revolutionsjahr 1848, in Liechtenstein Poli
tische Schriften 8, 1981, S. 9—27. — J. Ospelt, Zur liechtensteinischen Verfas
sungsgeschichte, in: JBL 37 (1937), S. 5—30. — Zwischen Malin, Geschichte
(negativ) und H. Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, 1972,
S. 35 (positiv) ist kontrovers, ob nicht die Dienstinstruktionen Schupplers von
1808 als Verfassung anzusehen sind. Quaderer, Entwicklung vermeidet eine
eigene Stellungnahme. Mir scheint, dass beide recht haben. Dahinter stehen zwei
unterschiedliche Verfassungsbegriffe. Georg Malin argumentiert im strikt konsti
tutionellen Sinn, während Wille den Verfassungsbegriff weiter fasst, wie es den
vorkonstitutionellen Traditionen entspricht — dann könnte man freilich auch
mit den älteren Privilegien, wie mit den brandisischen Freiheiten argumentieren.
Im Sinne einer Konstitution ist die Verfassung von 1818 ohne Frage die erste des
Fürstentums Liechtenstein. Sie war nach Nassau, Schwarzburg-Rudolstadt,
Schaumburg-Lippe, Waldeck, Sachsen-Weimar, Sachsen-Hildburghausen, Bayern
und Baden die neunte im deutschen Bund — noch vor Württemberg, Hannover,
Braunschweig und Hessen-Darmstadt.
67
Karlsbader Beschlüsse von 1819 provozierten, ahnte 1813/15 nie
mand58.
Von diesem Ausgangspunkt her wird klar, dass Fürst Johann I. in
seiner konservativ-patriotischen Gesinnung, aber auch als Demon
stration seiner Souveränität eine landständische Verfassung wollte.
Auslösend war, dass der Bundestagsgesandte Leonhardi am 6. Januar
1818 angesichts der Bundestagsdebatte über die Verfassungsfrage um
Instruktionen bat. Schuppler sah zunächst in einer Verfassung allein
die Einengung seines bürokratischen Spielraums und war folglich
dagegen. Mit Recht betonte er dabei, dass die Zwänge, die durch die
Nachbarschaft Mächtigerer ausgeübt wurden, die legislatorischen
Möglichkeiten eines Landtags erheblich einschränkten — ein Argu
ment, das er dann auch den Untertanen nicht verschwieg.
Als Schuppler jedoch sah, dass der Fürst dennoch die Verfassung
ansteuerte, setzte er einen Entwurf auf, der dann den Kern der Kon
stitution von 1818 ausmachte. Gemäss den Vorstellungen von Fried
rich Gentz sollte der geistliche Stand den vornehmsten bilden; der
Klerus wählte zwei Vertreter der oberen, einen der unteren Land
schaft; Richter und Säckelmeister der Gemeinden vertraten diese
jeweils auf dem Landtag. Die individuelle Vertretung der vermö
gendsten Untertanen mit über 2 000 fl. steuerbarem Vermögen war
angesichts der Armut des Landes illusorisch. Der Landvogt sollte den
Landständen Vorsitzen, die kein Selbstversammlungsrecht ohne Ein
berufung durch den Fürsten hatten, auch keine Gesetzesinitiative.
Die Beschränkung auf das Budget, dessen Umfang und Verwendung
nicht diskutiert werden konnten, machte den Landtag zu einer Steüer-
postulätionskommission, wie sie einst im Alten Reich üblich war.
Bei dieser strikten Beschneidung der Kompetenzen des Landtags ver
wies Schuppler auf die Gefahren einer Signalwirkung auf Österreich
58 Huber, Verfassungsgeschichte 1, S. 640—657. — W. Mager, Das Problem der
landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongress - 1814/15, in: HZ 217
(1974), S. 296—346. — R. Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentativ
verfassung. Zum Problem konstitutioneller .und personeller . Kontinuität vom
18. zum 19. Jahrhundert, in:. K. Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus
und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, .1977, S. 177—194. —
P.'M. Ehrle, Volksvertretung im Vöhnärzi-Studien zur Zusammensetzung, Wahl
und Funktion der deutschen Landtage im-Spannungsfeld zwischen monarchi
schem Prinzip und ständischer Repräsentation, 2 Teile, 1980. — B. Wunder,
Landstände und-Rechtsstaat. Zur'Entstehung'; und Verwirklichung des Art. 13
DBA, in: Zeitschrift für Historische Forschung 5 (1978), S.' 139—,185.- — Press,
Landtage im Alten Reich. — Aretin, Vom'Deutschen Reich, S. 166—171.
68
und die Landtage in seinen Kronländern. Er vermochte Verfassung
und Landtag allerdings insofern Geschmack abzugewinnen, als er in
ihnen ein Instrument zur Domestizierung der immer noch latent vor
handenen Opposition im Lande sah.
Die liechtensteinische Verfassung, erlassen am 9. November 1818
im mährischen Eisgrub, barg noch eine weitere Merkwürdigkeit. Kein
Geringerer als Metternich selbst hatte auf eine Beteiligung Österreichs
als des bedeutendsten fremden Grundherrn gedrängt59. Da freilich
der Kaiser Franz schwerlich gleichsam als erster und einziger Stan
desherr Liechtensteins auf dem Vaduzer Landtag erscheinen konnte,
wurde der Rentmeister in Feldkirch entsandt: offensichtlich als In
strument der Kontrolle und Information60.
Eine altständische Welt
Schuppler hatte insoweit das Interesse des Landes zu wahren gesucht,
als er durchsetzen wollte, dass das bewilligte Geld allein für das
Fürstentum verwandt wurde — aber der fürstliche Advokat Ersten-
berg lehnte selbst die Rechnungslegung ab. Strikt wurde also das
monarchische Prinzip gewahrt — die Verfassung entsprach dem
freien Willen des Fürsten, war nicht paktiert, daher auch widerruf
bar. Tiefer konnte sich die Waage nicht gegen das Prinzip der Volks
souveränität neigen61. In mancher Hinsicht entsprach die liechten
steinische Verfassung Regelungen am Ende des Alten Reiches, Lösun
gen, die die Reichsgerichte für kleine Territorien gefunden hatten62.
69 Die wichtigste österreichische Besitzung war die Burg Gutenberg. — Ober
Metternichs Stellung zu den deutschen Verfassungen plane ich einen eigenen
Aufsatz.
80 Noch einmal wird hier die Rolle Feldkirchs als eines ausserterritorialen Zen
trums für Liechtenstein sichtbar. Die Auswertung der Berichte der Feldkirch
ner Behörden über Liechtenstein könnten ein wichtiger Gradmesser zur Unter
suchung der liechtensteinischen Entwicklung sein. — Von mir wurde die Ent
sendung der österreichischen Vertreter auf den Landtag fälschlich als nur ge
plant, aber nicht realisiert angegeben. Vgl. Press, Landtage, S. 132 f.
61 Zum Problem von paktierter und oktroyierter Verfassung: Ehrle, Volksvertre
tung, S. 229—328. — F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert,
Bd. 3, *1949. — H. O. Meisner, Die Lehre vom Monarchischen Prinzip im Zeit
alter der Restauration und des Deutschen Bundes, 1913.
62 Dies erklärt auch die sehr deutliche Affinität liechtensteinischen Verfassungs
denkens zu den Fürstentümern Hohenzollern; in Hohenzollern-Hechingen war
die Verfassung durch den Landes vergleich von 1798 festgelegt worden.
69
Schuppler verteidigte auf der ersten Sitzung am 15. März 1819, die
nach einer Messe standfand, die geringen Kompetenzen — deutlich
distanzierte er sich von den republikanischen Verfassungen der
Schweizer Kantone.
Das Vaduzer Landtagsleben verlief ruhig: ein parlamentarischer Vor-
stoss, die Steuern zur Durchsetzung von Petitionen zu benützen,
scheiterte — die Versuche, die Kosten für dritte Instanz und Bundes
tagsgesandtschaft los zu werden, gingen fehl, da diese Attribute der
Souveränität waren. Der Vorgang, in den praktischen Folgen bitter
für die Untertanen, die von der grossen Politik des Deutschen Bundes
wenig Eindruck hatten, war paradox: der Fürst konnte das Land
schwerlich von Belastungen dispensieren, die wichtigste Annexe der
Souveränität darstellten; hätte er die Kosten auf sich genommen,
wäre die absolutistische Komponente nach aussen offenbar geworden.
Daneben spielte sicher auch die Frage der Kostenabschätzung eine
Rolle. Schuppler aber geriet so böse zwischen die Fronten.
1825 gab es eine Krise, als ein selbstbewusst gewordener Klerus durch
Boykott der Sitzungen seine altständischen Privilegien zu erneuern
suchte: ein Vorgang zwischen den Spielregeln Alteuropas und dem
neuen entstehenden politischen Katholizismus63. Dass der liechten
steinische Klerus meist in Chur, nicht in Brixen ausgebildet und dabei
wohl nicht nur mit Chrisma,' sondern auch mit manchem Tropfen
demokratischen Öls gesalbt wurde, dürfte ein nicht zu unterschätzen
der Faktor der liechtensteinischen Geschichte bis an die Schwelle der
Gegenwart gewesen sein. Die Vorgänge von 1825, die scheiterten,
waren auch ein Zeichen, dass sich der Klerus vom staatskirchlichen
Geist des Josephinismus zu lösen begann.
68 H. Maier, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen
Demokratie, 1789—1901. . 3. erg. Aufl. 1973. — F. Schnabel, Deutsche Ge
schichte im 19. .Jahrhundert,-Bd. 4, 31955. — Wichtig dürfte auch gewesen sein,
dass Chur, die Ausbildungsstätte des liechtensteinischen Klerus, nicht von der
josephinischen Kirchehpolitik erfasst worden "war — andererseits aber doch in
einer Landschaft mit republikanischer Tradition lag. Zum Verhältnis zu Chur:
A. Frommelt, Das Fürstentum Liechtenstein'im Bistumsverband, in: 1500 Jahre
Diözese Chur, S. 211—220.— J. G. Marxer,'Das liechtensteinische Priester-,
kapitel, in: JBL 34 (1934), S.. 61—83. — Vgl. auch Wille, Staat und Kirche
(wie Anm. 57). — H. Dörfler,;Der Liechtensteinische Klerus von der Mitte des
19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Diss.-Msi Graz 1981.
70
Ansätze zu altrechtlichen Bewegungen, wie anderswo im Deutschen
Bund, vor allem in Württemberg64, gab es auch in Vaduz: der ehe
malige Landammann der oberen Landschaft und gewöhnliche Spre
cher der Landesdeputierten Franz Anton Frick aus Schaan legte den
Finger auf den Domestizierungscharakter des Landtags, aber alle
Versuche, eine Rechnungslegung zu erreichen, wurden abgewehrt —
in den windstillen späten 1820er Jahren relativierte der Fürst sogar
das bescheidene Postulationsrecht. Quaderer nennt es mit Recht einen
Treppenwitz, dass das vornehmlichste Verdienst des Landtags in der
Einführung einer Hundesteuer lag; den Landesdeputierten wurde im
Lande der wenig schmeichelhafte Beinamen der «Glasbläser» beige
legt65.
Dennoch wird man Verfassung und Landtag nicht gering einschätzen
dürfen: ähnlich wie die vielgeschmähten vormärzlichen Landtage der
österreichischen Kronländer66 war auch der liechtensteinische in sei
nen Funktionen nicht ohne Bedeutung. Es war ja ein dörflich-patri
archalisches Gemeinwesen, den einsetzenden ideologischen Partei
kämpfen noch entrückt, das eine Verfassung erhielt, die doch neben
jener von Ländern wie Bayern und Hannover, Württemberg, Baden
und Hessen stand, eine konservativ-autoritäre gewiss, so wie sie sich
die Väter der Wiener Bundesakte vorgestellt hatten — aber eben
doch eine Verfassung: Ausdruck staatlicher Identität, auf der man
aufbauen konnte. Die meisten kleineren Bundesstaaten Hessen sich
64 A. List, Der Kampf ums gute alte Recht (1815—1819) nach seiner ideen- und
parteigeschichtlichen Seite, 1912. — Hölzle, Württemberg im Zeitalter Napo
leons. — Grube, Stuttgarter Landtag, S. 489—508. — V. Press, Der württem
bergische Landtag im Zeitalter des Umbruchs 1770—1830, in: Zeitschrift für
Württembergische Landesgesch. 42 (1983), S. 255—281, hier S. 269—276.
65 Zur Tätigkeit des Landtags: Quaderer, Geschichte, S. 31—40. — Ders., Ent
wicklung der Volksrechte. — Ospelt, Zur liechtensteinischen Verfassungsge
schichte (wie Anm. 57).
88 A. Huber, österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und
des öffentlichen Rechts, hg. v. A. Dopsch, 21901, S. 318—321. — A. Luschin
v. Ebengreuth, Grundriss der österreichischen Reichsgeschichte, '1918, S. 350—
358. — W. Brauneder, U. F. Lachmayer, österreichische Verfassungsgeschichte.
Einführung in Entwicklung und Strukturen, 1976, S. 102 f. Markante Beispiele:
V. Bibl, Die Niederösterreichischen Stände im Vormärz. Ein Beitrag zur Vor
geschichte der Revolution des Jahres 1848, 1911. — R. Granichstaedten-Czerva,
Die Entstehung der Tiroler Landesverfassung 1790—1861, 1922. — G. Gstreu,
Geschichte des Tiroler Landtags 1816—1848, in: Tiroler Heimat 41 (1927),
S. 77—170. — Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs 4, S. 267—282. Zur besonderen
Bedeutung der österreichischen Entwicklung für die ständisch-parlamentarische
Entwicklung des Deutschen Bundes vgl. Press, Landtage (wie Anm. 42).
71
mit einer Verfassung weit länger Zeit a}s d as Fürstentum Liechten
stein67.
Von seinem Petitionsrecht machte das Land weitgehend Gebrauch.
Aber dahinter stand immer noch stark die Abwehr der bürokratische
autoritären Reformen, wie sie der Landvogt Schuppler betrieb. Die
Ferne des Fürsten war eine wichtige Stütze des Landvogts; er ver
stand es andererseits, den Fürsten unter Druck zu setzen, indem er
ihm die Möglichkeit vorstellte, das Land könnte sich in seine Gemein
den als selbständige Republiken auflösen. Aber er schritt unbeirrt
fort und trieb die Modernisierung weiter, etwa im Schulwesen. Hier
freilich scheiterte ein Entwurf von 1837, der den Gemeinden eine
grössere Autonomie zurückgegeben hätte. Das stark obrigkeitlich be
stimmte Gemeindegesetz von 1842 befestigte immerhin die Gemein
den als Einheiten und umschrieb ihre Kompetenzen.
Wirkungen der Juli-Revolution von 1830
Doch dies weist schon über die Ära Schupplers hinaus: dieser wurde,
längst geäusserten Wünschen entsprechend, vom Fürsten 1827 zuerst
nach Butschowitz und dann nach Hohenstadt in Mähren versetzt,
wo er 1833 verstarb, begleitet vom Respekt der Liechtensteiner. Der
Nachfolger Peter Pokorny, zuvor Justitiär der Herrschaft Sternberg,
war abermals ein Repräsentant autoritativ verstandener Herrschaft
— unvertraut mit den Besonderheiten Liechtensteins, ohne die Flexi
bilität Schupplers zog er rasch die Konflikte auf sich68.
Nachdem allmählich die Kriegsverfassung des Deutschen Bundes aus
gebaut worden war69 und auch im Fürstentum Liechtenstein Rekru
tenaushebungen forderte, brach eine neue Krise aus. Es war wohl
weniger das Gebot militärischer Schlagkraft als der Ausdruck poli
67 Vgl. die Überblicke bei Huber, Verfassungsgeschichte 1, S. 676 f. — Ehrle,
Volksvertretung. — Press, Landtage.
68 Quaderer, Geschichte, S. 58.
89 R. Scholz, Der Deutsche Bund und seine Wehrverfassung, Diss. Freiburg 1935.
— U. Hencke, Die Heeresverfassung des Deutschen Bundes und die Reform
pläne in-den Sechzigerjahren, Diss. .Ms.: Tübingen 1955. — W. Schnabl, Die
Kriegs- und Finanzverfassung des. Deutschen. Bundes,Diss. Marburg 1966. —
E. Wierihöfer,.Das Militärwesen des Deutschen Bundes, 1973. — W. Keul, Die
Bundesmilitärkommis'sion ,(1819-^1866)' als politisches Gremium. Ein Beitrag
zur Geschichte des Deutschen Bundes, 1977.
72
tischer Gerechtigkeit, dass nun Liechtenstein 55 Mann im Frieden,
73 im Krieg zu stellen hatte, die der Bundesfestung Landau zugeteilt
waren; das verursachte Kosten, griff tief in die Gewohnheiten der
Bevölkerung ein — und das wollten die Liechtensteiner nicht ein
sehen. Da immer noch die revolutionäre Welle nicht abgeebbt war,
die Europa nach der Pariser Julirevolution von 1830 erfasst hatte,
war die allgemeine Stimmung einer gesteigerten Opposition günstig:
nun brachen sich die angestauten Probleme Bahn70.
Über die Frage der Rekrutenaushebung hinaus artikulierte das Land
weitere Forderungen, vielfach die unerledigten Petitionen der ver
gangenen Jahre. Der Landvogt Pokorny war am Rande seiner Ner
venkraft und befürchtete eine allgemeine Erhebung; an der Spitze
der Opposition stand der Richter Joseph Schlegel von Triesenberg,
dem es zwar nicht am Oppositionsgeist, wohl aber an der Integra
tionskraft gebrach, um das Land hinter sich zu bringen. Er spielte
unter den Deputierten, die nun die Untertanen nach altem Muster
benannten, eine zentrale Rolle. Nun kam die Frage der Autokratie
von Fürst, Hofkanzlei und Landvogt wieder hoch: die lokalen Gra-
vamina dominierten, aber es traten doch schon politische Forderun
gen an ihre Seite. Vor allem wollte man neben den beiden bisherigen
Mitgliedern, dem Richter und dem Säckelmeister, die freie Wahl eines
dritten Deputierten jeder Gemeinde im Landtag, die Rechnungs
legung, die Reduktion der Schul- und Rekrutenkosten sowie die Min
derung der schweren Zollbarrieren gegenüber Österreich. Das Eigen
interesse der Gemeinden spielte in der Forderung nach Einschränkung
der Freizügigkeit eine Rolle.
Die doppelte Klammer von Österreich und Deutschem Bund gab dem
Landvogt und der Hofkanzlei letztlich einen unüberwindlichen Rück
halt in dieser Debatte. Man versicherte sich in Wien sogleich der
Hilfe Metternichs, notfalls seiner militärischen Intervention. Zur
Beruhigung wurde eine Kommission ins Land gesandt, die mit vier
Deputierten und den Richtern der Gemeinden verhandelte. Anders
als einst Schuppler hat diesmal Pokorny keine vermittelnde Rolle
70 Die Julirevolution hatte eine Wirkung im gesamten Deutschen Bund — sie
markierte eine Zäsur in seiner Entwicklung. Die Kräfte der Bewegung brachen
sich wieder Bahn — eine neue Welle von Verfassungen wurde erlassen. E. R.
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte 2. Immer noch: H. v. Treitschke,
Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, 31890.
73
gespielt. Die Hofkanzlei suchte zu temporisieren in der Absicht,
einerseits nicht nachzugeben, zugleich aber auch die prestigemindernde
auswärtige Intervention zu vermeiden. Allein im Streit um den Ben
derer Pfarrer Konzett mit drei Gemeinden opferte man den offen
sichtlich nicht ganz korrekten Kleriker, um die Gemüter zu beru
higen.
Die Opposition im Lande flammte jedoch nochmals empor — aber
die unverblümte Drohung mit der gewaltsamen Intervention Öster
reichs brachte wieder Ruhe. Hinzu kamen Zwistigkeiten unter den
Untertanen, die der Hofkanzlei ihre Politik erleichterten — überdies
konnte der Fürst den verfassungsmässigen, von den Notabein des
Landes geprägten Landtag gegen die radikaleren Deputierten ausspie
len. Offensichtlich liess sich der Notabeincharakter der Richter
immer noch im Interesse des Landesherrn benützen. Schliesslich wur
den die Deputierten verboten und die Verfolgung der «Bösartigen»
angekündigt.
Unter dem neuen Fürsten Alois II. (1836—1858)
Der massive Druck brachte das Land zum Bewusstsein seiner aus
sichtslosen Position und damit zur Ruhe. 1832 entzündete sich jedoch
ein neuer schwerer Konflikt mit der Gemeinde Schaan um das Aus
wahlrecht des fürstlichen Oberamts bei der Richterbesetzung. Po
korny erkannte in der Gerichtswahl einen Hebel der Opposition, ihre
Gesinnungsgenossen nach vorne zu schieben; die Diskrepanz zwischen
Gemeindeeigentum und Freizügigkeit, die Probleme der Rekrüten-
stellung und andere offene Fragen schufen immer neue Konfliktstoffe
— Pokorny bemängelte auch, dass das Verhältnis zwischen Oberamt
einerseits und Gemeinden und Untertanen andererseits ungeklärt war;
die letzteren suchten neuerdings ihre Rechte weitgehend auszulegen.
So schlug der Landvogt eine strikte Reglementierung vor, und die
Hofkanzlei folgte ihm. Damit aber waren die Kräfte der Bewegung
gebrochen: im Grunde war das Land weiter zurückgeworfen als zu
vor — und hatte dennoch ein Stück Rechtsstaatlichkeit erreicht.
Dennoch geriet die Entwicklung bald wieder in Bewegung. 1833
wurde die von Pokorny gewünschte Abberufung ausgesprochen, die
man während der Unruhen aus Prestigegründen abgelehnt hatte. Der
Nachfolger Johann Michael Menzinger, Sohn von Schupplers Vor
74
gänger, war im Lande geboren71. Nach dem Tod Johanns I. setzte
überdies mit dem neuen Fürsten Alois II. (1836—1858)72 eine Locke
rung ein, ohne dass sich die Situation zunächst grundsätzlich wan
delte. Die Unruhen von 1831/32 waren noch einmal jenen von 1809
ähnlich: altrechtliche Züge, konkrete lokale Interessen, Wahl von
Deputierten, kurzum: der alteuropäischen Tradition zugehörig —
und doch setzten deutliche politische Töne ein. Möglicherweise hat
in den folgenden Jahren die Verbindung von katholisch und konser
vativ in den Schweizer Auseinandersetzungen, die ihren Höhepunkt
im Sonderbundskrieg erreichten73, ein stärkeres Eindringen des Libe
ralismus von Westen her gehindert. Erst das Jahr 1848 sollte dann
in den erneuten Auseinandersetzungen zu einer Politisierung und
Modernisierung führen. Das aber war nicht zuletzt der Tatsache zu
danken, dass nun Intellektuelle an die Spitze der Bewegung traten,
die den Ideen der Zeit den Weg ins Volk öffneten.
Bis 1847 wirkte die obrigkeitliche Struktur der Verfassung weiter in
undramatischen Landtagen; 1846/47 trafen die europäischen Hunger
jahre74 das Land mit voller Wucht und führten schnell kritische Ver
hältnisse herbei75. Im benachbarten Vorarlberg radikalisierte sich
1848 die Situation76 — zugleich gewannen Schweizer Einflüsse an
Boden. Freilich blieb die patriarchalische Struktur des Landes: ein
Liechtensteiner Kommunist wie Johann Allgäuer aus Eschen war
eher eine Kuriosität.
71 Menzinger, Familie Menzinger.
72 Eine Biographie Alois' II. fehlt. Vgl. Quaderer, Geschichte, S. 106 u. ö. Ferner:
C. v. Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich 15, 1866,
S. 140 ff. — A. M. D. Lowy, Alois Fürst von und zu Liechtenstein. Ein Toten
gedächtnis, 1859. —• Einiges Material bei: H. Stekl, Österreichs Aristokratie
im Vormärz. Herrschaftsstil und Lebensformen der Fürstenhäuser Liechtenstein
und Schwarzenberg, 1973.
73 Jean-Charles Biandot, Der modernen Schweiz entgegen, in: Handbuch der
Schweizer Geschichte (wie Anm. 41) 2, S. 871—986.
74 W. Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch
einer Synopse, 1974, S. 359—396.
75 In Liechtenstein war die Situation durch die Rheinüberschwemmung des Jahres
1846 verschärft worden. Vgl. Quaderer, Geschichte, S. 114—119. — Ospelt,
Wirtschaftsgeschichte, S. 37. Schon das Hungerjahr 1817 hatte sich verheerend
ausgewirkt. A. Schädler, Das Hungerjahr 1817 in Liechtenstein, in: JBL 18
(1918), S. 9—25. Die liechtensteinische Auswanderung erreichte damals einen
Höhepunkt — sie war im 19. Jahrhundert stets ein Anzeiger für verschärfte
Krisensituationen im Land. Vgl. N. Jansen, Nach Amerika! Geschichte der
liechtensteinischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Amerika,
in: JBL 76 (1976), S. 5—222.
76 Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs 4, S. 293—341.
75
Peter Kaiser und die Revolution von 1848/49
Entscheidend dafür, dass das Jahr 1848 in Liechtenstein tiefe Spuren
hinterliess, war vor allem das Wirken des Lehrers und Rektors Peter
Kaiser, geboren 1793 in Mauren77. Nach Studien in Wien war er in
Freiburg in den Bannkreis des liberalen Rotteck und der Burschen
schaften geraten, gewann er Zugang zu der deutschen nationalen
Bewegung. Im Zeichen der Demagogen Verfolgungen musste sich Kai
ser in die Schweiz zurückziehen, wo sich ein Wandel zu einem beton
teren Katholizismus vollzogen zu haben scheint: den aufklärerischen
Traditionen ist Kaiser stets treu geblieben. Er begann das liechten
steinische Volk zu entdecken und schrieb 1847 eine Geschichte des
Landes im Stil des romantisch geprägten Demokraten78; dabei ver
herrlichte er die alten landschaftlichen Einrichtungen, die vom büro
kratischen Absolutismus zerstört worden waren. Das Buch verfiel der
scharfen Kritik des Landvogts Johann Michael Menzinger; bemer
kenswerterweise gab es jedoch der Fürst frei, allerdings nicht als
Schulbuch. Auch in der Praxis suchte Kaiser für sein Volk zu wirken,
so etwa 1840 an der Spitze einer Deputation nach Wien. Das Jahr
1848 sollte ihn in eine Rolle für Liechtenstein befördern, die der der
Erwecker vieler junger europäischer Nationen entsprach. Dass Kaiser
letztlich der Mässigung das Wort redete, wurde für die liechtenstei
nische Entwicklung prägend, fand jedoch auch einen Anhalt im Han
deln des Fürsten.
In Liechtenstein schien nach der Pariser Februarrevolution zunächst
alles ruhig zu bleiben79. Aber als am 13. März 1848 selbst Metternich
stürzte80, begann es auch hier zu gären; das doppelte Korsett der
Herrschaftssicherung durch Österreich und den Bund war entfallen.
Der Landvogt suchte der von Balzers und Mauren ausgehenden Be
77 F. J. Kind, Peter Kaiser 1793—1864, in: JBL 5 (1905), S. 6—38. — R. Ritter,
Peter Kaiser;. Sein Leben .und Werk, in: JBL 44 (1944), S. 5—34. — I. Müller,
Geistesgeschichtliche Studien über Peter Kaiser, in: JBL 44 (1944), S. 67—91.
— R. Allgäuer, Peter Kaiser (1793—1864). Beiträge zu einer Biographie, in:
JBL 63 (1964), S. 7—61.. —,1. Müller, Peter Kaiser, Charakteristik aus Doku
menten von 1838—1842, in: JBL 63 (1964), S. 65—132.
78 Kaiser, Geschichte (wie Anm. 1).
70 Zur liechtensteinischen Entwicklung. zwischen 1848 und 1866 grundlegend:
Geiger, Geschichte., Vgl. auch: Ders.,' Die liechtensteinische Volksvertretung in
der Zeit von 1848 bis .1918, in: Liechtenstein.; Politische Schriften 8, S. 29—58.
80 R. Kiszling, Die Revolution im Kaisertum Österreich 1848/49, 2 Bde., 1948. —
R. J. Rath, The Viennese Revolt of 1848, 1957. — F. Prinz, Prag und Wien
1848, 1968.
76
wegung die Spitze abzubrechen, indem er zu Gemeindeversammlungen
ermutigte und Ausschüsse wählen Hess, womit er die alte Verfassung
faktisch ausser Kraft setzte, ja, er rief in der kritischen Situation
sogar Kaiser um Hilfe an. Dieser entriss dann Menzinger rasch das
Gesetz des Handelns81. Die am 22. März 1848 in Schaan tagende
Versammlung der Gemeindevertreter, also gleichsam ein obrigkeit
lich gedeckter revolutionärer Konvent, wählte Peter Kaiser als Prä
sidenten und die Vaduzer Ärzte Karl Schädler und Ludwig Grass
in den Ausschuss. Schädler war der Sohn und Nachfolger jenes Lan-
desphysikus Gebhard Schädler, der im Gefolge der Reformmassnah-
men zu Anfang des Jahrhunderts ins Land gekommen war und zu
den Begründern eines modernen liechtensteinischen Gesundheitswesens
zählte82. Kaiser stellte sich an die Spitze der Bewegung und mässigte
sie zugleich; in seiner Adresse an den Fürsten politisierte er jedoch
die Forderungen, indem er sie durch Grundvorstellungen des deut
schen Liberalismus anreicherte. Die Zielsetzung erhielt damit prinzi
pielle Züge: eine freie Verfassung mit starken Kompetenzen des Land
tags und das Ende der Feudallasten waren die wichtigsten Punkte.
Eine ausgeprägte Gemeindereform sollte die Grundlage bilden.
Alois II. versprach vorsichtig, analog der deutschen und österreichi
schen Verfassungsentwicklung zu reagieren83. Genau dies aber führte
zu einer Distanzierung der Liechtensteiner von den österreichischen
Verhältnissen. Unverkennbar wirkten Kaisers Idealisierung der alten
Landschaftsverfassung, vielleicht auch Schweizer Gedanken. Bemer
kenswerterweise betonte man die Selbständigkeit Liechtensteins —
so wurde 1848 die erste Geburtsstunde eines modernen liechtensteini
schen Staatsbewusstseins84.
Geiger hat mit Recht bemerkt, dass die Ferne des Landesherrn ihn
dem unmittelbaren Druck des Volkes entzog. Alois II. suchte die
Rückversicherung Österreichs, während der Landvogt zunehmend auf
81 Über die Gegensätze in den Auffassungen Menzingers und Kaisers, vgl. Men
zinger, Menzinger, S. 42. Der Vater sei ein Gegner des Metternichschen Systems,
aber auch der Schweizer Parolen Kaisers gewesen.
82 Geiger, Geschichte, S. 59.
88 Wie Alois II. dem Landvogt Menzinger mitteilte, wollte er dies zur Beruhigung
seiner Untertanen bekanntgeben.
84 Man kann natürlich auch die Jahre nach 1918 dafür in Anspruch nehmen.
Dennoch wird man die Vorgänge von 1848/49 für die Identitätsfindung der
Liechtensteiner nicht gering achten dürfen. Sie fanden damals ein politisches
Bewusstsein und waren sehr sorgfältig auf die Wahrung ihrer Identität bedacht,
auch wenn deutsch-patriotische Züge nach wie vor sehr lebendig waren.
77
Schweizer und Vorarlberger Einflüsse verwies, auch auf den Vorbild
charakter der beiden revolutionierten Fürstentümer Hohenzollern85.
Er fürchtete vor allem den Anschluss an die Schweiz, während im
Lande auch die alte Idee eines Aufgehens in Österreich da und dort
zu spüren war.
Fürst Alois wollte die Reformaufgaben dem erneuerten Landtag
überlassen: die Feudallasten sollten — er berief sich auf das Privat
eigentum — gegen Entschädigung beseitigt werden. Dass der «Land
vogt» in «Landesverweser», das «Oberamt» in «Regierungsamt» um
benannt wurden, war kein blosser Etikettentausch. Der Fürst war
ehrlich für eine Erneuerung engagiert, auch bereit, eigene Rechte und
Einkünfte aufzugeben. Der dominierenden Forderung nach Erhaltung
der Selbständigkeit des Landes trat er gerne bei. Endgültige Entschei
dungen verschob der vorsichtige Landesherr auf den Abschluss der
Verfassungsentwicklungen in Deutschland und Österreich.
Aber das Zugesagte genügte nicht mehr; enttäuschte Erwartungen
führten zur Radikalisierung — es kam zu Ausschreitungen gegen ver-
hasste Beamte. Republikanische Ideen deuteten sich an. Als am
16. April die Landesausschüsse tagten, die stillschweigend an die
Stelle des Landtags getreten waren, schufen sie jedoch einen Sicher-
heitsausschuss zur Erhaltung der Ruhe, der auch Gemeindesicherheits
ausschüsse unter der Oberaufsicht der Richter kreierte. Dies bedeutete
den entscheidenden Sieg der gemässigten Kräfte, die sich auf die
Autorität von Peter Kaiser stützen konnten. Immer stärker aber
brach sich unter der Federführung Kaisers auch das liechtensteinische
Landesgefühl Bahn, das auf die Souveränität des Landes pochte,
allerdings das Untertanenverhältnis durch den unmittelbaren Zugang
zum Landesfürsten ersetzt wissen wollte. Menzinger schloss sich
Kaiser an, aber der Fürst zögerte angesichts der Behandlung seiner
Beamten. Er berief sich erneut auf die liberalen, heiligen Prinzipien
85 Zur Revolution von 1848/49 in Hohenzollern: E. Gönner, Die Revolution von
1848/49 in den hohenzollerischen Fürstentümern und deren Anschluss an Preus-
sen, 1952. Bezeichnend ist die weitere ständige Rückwirkung der Entwicklun
gen in Hohenzollern-Sigmaringen und: Hohenzollern-Hechingen auf das Für
stentum Liechtenstein. Bezeichnenderweise kannte der: Laridvogt Menzinger den
hohenzollern-hechingischen' Geheimen Rat. Frank, der wie er aus einer Beamten-
fämilie stammte,: die über 'mehrere Generationen einem kleinen Landesherrn
diente'! Frank vermittelte, 1849 aus Sigmaringen den Rechtspraktikanten Markus
Kessler, der seinerseits ;später Anna Menzinger, die Tochter des LandvÖgts,
heiratete. Menzinger, Menzinger.
78
des Privatvermögens, und mit der Forderung nach Rechtsgleichheit
traf Alois die lebendige Abwehrhaltung gegen die Fremden. Ent
scheidend aber war, dass auch der Fürst mit der grundsätzlichen
Zusage einer erweiterten Kompetenz des Landtags vorsichtig den
Anschluss an die liberalen Forderungen der Zeit fand.
Die provisorische Verfassung
Nun aber wurde der liechtensteinischen Bewegung ihr fähigster Kopf
entzogen. Peter Kaiser wurde in allgemeiner indirekter Wahl zum
Vertreter des Fürstentums in der Frankfurter Paulskirche gewählt86.
Zugleich radikalisierte sich die Stimmung erneut. Abermals fürchtete
Menzinger den Anschluss an die Schweiz87. Die Forderung der Bun
desversammlung, dass Liechtenstein sein Kontingent zu mobilisieren
habe, versprach nichts Gutes, denn es rührte an ein altes Gravamen
des Landes. Für den Fürsten wurde die Situation prekär — er stand
zwischen der offensichtlichen Unfähigkeit, seinen Bundespflichten
nachzukommen, und einer allgemeinen Rebellion des Landes. Es
zeigte sich, dass niemand zu mobilisieren war. Im Zusammenspiel
mit dem Gesandten Holzhausen versuchte man ein dilatorisches Spiel
in Frankfurt. Dass ausgerechnet die Unmöglichkeit einer Truppen
parade zu Ehren des neugewählten Reichsverwesers in Frankfurt das
Reichskriegsministerium gegen Liechtenstein mobilisierte, mutet eher
grotesk an.
Die revolutionären Ereignisse waren in Liechtenstein kanalisiert wor
den; so konnten am 5. Mai 1848 fünf Vertrauensmänner gewählt
werden, die mit dem Landesverweser Menzinger an der neuen Kon
stitution arbeiten sollten. Da ein kompetenter Jurist fehlte, zog man
den Maurener Franz Joseph Oehri88 zu, einen Schulkameraden Kai
sers und k. k. Militärauditor, der indessen mit den praktischen Pro
blemen recht vertraut war; in dem Verfassungsrat herrschten die
liberalen Tendenzen vor. Das zeigte sich auch in den Entwürfen,
besonders an dem aus Frankfurt zugeschickten von Kaiser, während
88 Die Wahlversammlung fand Ende April in Vaduz statt.
87 Es lässt sich freilich nicht ausschliessen, dass Menzinger auf diese Weise auch
den Fürsten und dessen Hofkanzlei zu mobilisieren trachtete, um stärkere Rük-
kendeckung zu erhalten.
88 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 21, 1870, S. 12 f.
79
Oehri mehr die Notwendigkeit einer verbleibenden starken staat
lichen Autorität betonte. Kaiser öffnete sich den herrschenden Lehren
des Liberalismus in fast dogmatischer Weise und kombinierte sie mit
den von ihm so hoch-gehaltenen Liechtensteiner Traditionen. Der
Landesverweser sollte den Rang eines dem Landrat verantwort
lichen Ministers erhalten, dem Fürsten verblieb bloss ein aufschieben
des Veto89. Andererseits hielt Kaiser am politischen Ubergewicht der
Besitzenden fest; die Feudalrechte sollten aufgehoben werden.
Der Landvogt Menzinger missbilligte dies, aber in den Diskussionen
setzte sich der von Kaiser propagierte, relativ doktrinäre Liberalis
mus durch: im Sinne Benjamin Constants90 waren Fürst und Volk
gleichermassen Träger der Souveränität. Uber beide wölbte sich der
Staat. Fürstliche Erlasse bedurften der Gegenzeichnung des Landes
verwesers als Spitze der Regierung — der Landrat bestand aus 24
gewählten Mitgliedern. Die Domänen sollten nur noch zum Niess-
brauch des Fürsten dienen.
Menzinger, der an dem Entwurf mitgearbeitet hatte, relativierte ihn
in seinen Berichten — der Hofkanzlei war er ohnehin zu radikal,
sie hoffte auf einen Umschwung. Fürst Alois II., an sich einer Ver
fassung geneigt, taktierte hinhaltend: er wollte die grundsätzlichen
Entwicklungen in Frankfurt abwarten. Dies war nicht nur blosses
Temporisieren, sondern Ausdruck eines gefährlichen Zwiespalts, denn
der Fürst wollte nicht durch allzu rasches Handeln in einen bedroh
lichen Gegensatz zur Entwicklung in Österreich geraten, die seine
Stellung empfindlich schwächen konnte. So trug Alois der Entwick
lung insoweit Rechnung, als er den Verfassungsentwurf provisorisch
in Kraft setzte, allerdings unter Ausklammerung der rechtlich heik
len Fragen: Stellung des Fürsten, Verhältnis zum Deutschen Bund,
Staat und Kirche. Den relativ radikalen Forderungen der Liechten
steiner waren damit Grenzen gezogen, auch wenn der Fürst gewillt
war, notfalls — bzw. wenn die Umstände es gestatteten oder erfor
derten — noch einen Schritt weiterzugehen.
88 Die Konstruktion entsprach nicht ganz den Gegebenheiten des Kleinstaates —
und auch nicht • dem damaligen . Kräfteverhältnis zwischen dem Landesfürsten
und dem Land; sie-war wohl zu .'theoretisch gedacht.
90 Zu Constant grundsätzlich: L. Gall, Benjamin Constant, Seine politische
Ideenwelt und der deutsche Vormärz, 1963. -
80
Die provisorische Verfassung war dennoch populär; sie entsprach
übrigens vielfach den gemässigten Korrekturen, die norddeutsche
Fürsten nach dem Scheitern der Revolution vornahmen91. Der Fürst
sah im Landrat eine Barriere gegen radikale Bestrebungen: eine allge
meine indirekte Wahl nominierte die Kandidaten, wobei Peter Kaiser
bezeichnenderweise die meisten Stimmen erhielt. In einer Versamm
lung aller Bürger in Vaduz am 20. Mai 1849 wurden die 24 Land
räte nach einem umständlichen, offensichtlich auch nicht unproble
matischen Wahlverfahren bestimmt — man spürte die Wirkung von
Peter Kaisers Verherrlichung der älteren Verfassung. Präsident wurde
der Landesphysikus Karl Schädler. Der Landrat hatte rasch ange
sichts einer drohenden Finanzkrise Ordnung zu schaffen; deshalb
verzichtete er darauf, die veralteten Feudallasten zu beseitigen.
Mit einer neuen Gemeindeordnung sollte die kommunale Autonomie
als Korrelat zum Verfassungsstaat befestigt werden: dabei trennte
man nach Schweizer Muster die Genossengemeinde, also die am Ge
meindevermögen Beteiligten, von der politischen Gemeinde mit einer
erstaunlichen Polarisierung der Institutionen. Menzinger zögerte, der
Fürst lehnte diese Lösung ab.
Gemässigte Reaktion in Liechtenstein
Es war dann schon deutlicher Ausdruck der Defensive nach der ge
scheiterten deutschen Revolution, dass man die Verfassung zu retten
suchte, indem man den fürstlichen Wünschen in einem Kompromiss
nachzugeben bereit war, um wesentliche liberale Elemente zu retten.
Aber am 31. Dezember 1851 hatte Kaiser Franz Joseph die österrei
chische Verfassung wieder aufgehoben92 — er befand sich damit im
Gleichschritt mit dem wiederbelebten Deutschen Bund, der schon am
23. August die Rücknahme der revolutionären Errungenschaften ge
fordert und den Einzelregierungen dabei seine Rückendeckung an-
81 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 203—223.
82 H. H. Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsformen und Politik
1846—1860, 2 Bde., 1978. — E. Winter, Revolution, Neoabsolutismus und
Reaktion in der Donaumonarchie, 1969, S. 77—198. — F. Walter, österrei
chische Verfassungsentwicklung 1848—1859, in: Die Entwicklung der Verfas
sung Österreichs vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 21970, S. 68—85. — Aus
greifend: J. Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Ge
schichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von
1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bde., 1920/26.
81
geboten hatte: erst jetzt erwarb der Bundestag vollends seinen reak
tionären Zug, da er rücksichtslos noch einmal das monarchische
Prinzip durchsetzte93. Er bildete den sog. «Reaktionsäusschuss», der
in diesem Sinne die einzelstaatlichen Verfassungen durchforstete.
In Liechtenstein war bereits nach 1850 der Landtag nicht mehr ein
berufen worden: in der ihm-eigenen geschickten Art liess ihn Alois II.
de jure weiterbestehen und den Landratsausschuss amtieren — gegen
läufige Petitionen wurden missachtet. Sicher spielte dabei auch die
Beamtenvertreibung von 1848 eine Rolle, aber es liegt nicht ganz
ferne, dass man bewusst die Liechtensteiner die Folgen auskosten
lassen wollte. Menzinger und die Hofkanzlei, nicht zuletzt auch der
Fürst, wussten überdies, dass man in einer Zeit, in der die Entwick
lung rückläufig war, am besten grundlegende Entscheidungen ver
mied. Alois II. beriet im Juni 1852 mit dem Landesverweser Menzin
ger und dem Kanonikus Wolfinger94 die Verfassungsfrage: sich dem
Stil des österreichischen Neoabsolutismus annähernd, hob er die Er
rungenschaften von 1848/49 unter Berufung auf Wien und Frankfurt
wieder auf. Die Entwicklung in Vorarlberg sollte zum Massstab
werden95. So kehrte man pro forma zur Verfassung von 1818 zurück
— daneben blieb der Landrat weiter de jure bestehen, ohne je einbe
rufen zu werden. Einen Teil der Errungenschaften behielt der Fürst
bei. Der Bundestagsgesandte Holzhausen äusserte sich befriedigt über
diese Massnahmen.
Die Liechtensteiner nahmen die Entwicklung zunächst klaglos hin.
Dies ist nicht verständlich ohne die Erfahrungen, die im grösseren
Rahmen gemacht worden waren.. Die ersten Bewegungen hatten über
den Lokalpatriotismus, der wöhl noch nicht einmal ein Landespatrio
tismus war, bereits in atemberaubender Schnelligkeit zu einem deut
schen Nationalgefühl geführt, diffus noch, undifferenziert, die mög
lichen politischen Implikationen noch nicht einbeziehend, die Ronse
quenzen des Nationalstaats noch nicht durchdenkend. Der Weg des
liechtensteinischen Erweckers Peter Kaiser mag die Problematik illu
strieren.
93 E. E. Kraehe, A history of the German Confederation 1850—1866, 1948. —
A. O. Meyer, Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag in Frankfurt
(1851 bis 1859), 1927. — L. Gäll, Bismarck.' Der weisse' Revolutionär, 51983,
S. 127—172.
84 Geiger, Geschichte, S. 281.
85 Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs 4, S. 342^—351.
82
Peter Kaiser und Karl Schädler in der Frankfurter
N ational Versammlung
Der Abgeordnete erlebte die Hochstimmung in der alten Kaiserstadt
Frankfurt96. Dies kontrastierte mit den bescheidenen Erwartungen
der Liechtensteiner, ihren Hoffnungen auf eine Wirtschaftseinheit,
die die Probleme der engen Zollgrenzen beseitigen würde. Sie hofften
— aus schmerzlichen Erfahrungen —, dass die grössere Einheit nicht
noch höhere Opfer bedeuten würden, ja, es tauchte die Hoffnung
auf, zwischen Österreich und dem neuen Deutschland balancieren
zu können. Dies wollte auch der Fürst, um möglichst viel von der
eigenen Position zu retten: er erhoffte zunächst vom neuen Deut
schen Reich eine Stärkung seiner Stellung.
Es ist bekannt, dass sich Kaiser unter den sich ausbildenden Parteien
in der Paulskirche dem linken Zentrum97 zuordnete — ohne Frage
verfocht er starke demokratische Tendenzen, stimmte er mit den
grossdeutschen Republikanern für einen Präsidenten, wählte aber
dann den Reichsverweser Erzherzog Johann mit98. Offensichtlich
war Kaiser im Grunde seines Herzens Republikaner — wenn er auch
die praktische Unmöglichkeit einer Republik Liechtenstein erkannte,
so zog er diese Staatsform doch für das neue Deutsche Reich vor.
Andererseits lehnte er Radikalismus und demokratische Revolution
ab.
Schnell erkannte er, dass das grössere Deutschland höhere Lasten
bringen würde — im September 1848 hatte diese Aussicht wie die
98 Kaiser ergriff in der Nationalversammlung nur einmal das Wort. Kind, Kaiser,
S. 29. — Zur Nationalversammlung: V. Valentin, Geschichte der deutschen
Revolution 1848—1849, 2 Bde., 1930/31. — W. Mommsen, Grösse und Ver
sagen des deutschen Bürgertums, *1964. — R. Stadelmann, Soziale und poli
tische Geschichte der Revolution von 1848, 21970. — W. Klötzer, R. Molden
hauer, D. Rebentisch (Hg.), Ideen und Strukturen der deutschen Revolution
1848, 1974. — F. Eyck, Deutschlands grosse Hoffnung. Die Frankfurter Natio
nalversammlung 1848—1849, 1973. — M. Botzenhart, Deutscher Parlamenta
rismus in der Revolutionszeit 1848—1850, 1977.
97 Das «linke Zentrum» wollte eine starke Volksvertretung, an deren Vertrauen
das Reichsministerium gebunden sein sollte — es strebte eine parlamentarische
Monarchie an und war natürlich grossdeutsch. Huber, Verfassungsgeschichte 2,
S. 616.
08 Zu Johann neuerdings die bemerkenswerte Studie: E. Horr, Erzherzog Johann
als Reichsverweser. Der unveröffentlichte Briefwechsel mit Fürst Felix zu
Schwarzenberg aus den Jahren 1848 und 1849, 1981.
83
Furcht vor dem Verlust der liechtensteinischen Identität seine Begei
sterung bereits gedämpft. Er näherte sich dem Fürsten. Ohne Frage
aber blieb Kaiser doch ein grossdeutscher Patriot, wobei er die Selb
ständigkeit seiner Heimat mit der von ihm gewünschten starken
Zentralgewalt in Einklang zu bringen trachtete. Aber er sah sich
einer sehr intensiven Mediatisierungsdiskussion konfrontiert, die von
einzelnen betroffenen Fürsten sogar begrüsst wurde. Ihre Realisierung
hätte für Liechtenstein den Anschluss an Österreich bedeutet. Aber
die Zwangsmediatisierung scheiterte in der Paulskirche99. Kaiser
setzte sich konsequent für die Grundrechte ein und hoffte auf ihre
Aufnahme in Liechtenstein. Dort aber stiess die liberale Säkularisie
rung schon auf den entschlossenen Widerstand eines selbstbewusster
gewordenen Klerus.
Als er keinen Urlaub mehr erhielt, zog sich Kaiser nach Chur zurück
und verschwand aus der liechtensteinischen Politik; 1856 trat er sogar
aus dem Untertanenverband aus. Seinen Lebensweg teilte er mit
manchen der nationalen Erwecker Europas: die Position war noch
undifferenziert, von Idealen getragen, obgleich sich der Bruch mit
der politischen Realität schon andeutete. Am Ende scheint Kaiser auf
die Selbständigkeit Liechtensteins gesetzt zu haben — eine Gestalt,
die in ihrer Haltung von dem stürmischen Vorwärtsdrängen der Ent
wicklung überholt wurde. Und doch feiern die Liechtensteiner bis
heute Kaiser mit Recht als einen Mann, der entscheidend zu ihrer
staatlichen Identität und ihrem Landespatriotismus beigetragen hat.
Der Nachfolger in Frankfurt, der Landratspräsident Dr. Karl Schäd
ler100, erlebte nicht nur den Niedergang der Nationalversammlung,
sondern auch die Tragödie der nationalstaatlichen Entwicklung
Deutschlands mit — das sich abzeichnende Ausscheiden Österreichs
betraf Liechtenstein unmittelbar. Zunächst verstand er es, die stei
genden Anforderungen der Nationalversammlung an das liechten
steinische Truppenkontingent zu reduzieren; er bemühte sich, die
drängenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen — aber die deutsche
Frage betraf ihn vor. allem, obgleich er sie stärker als Kaiser aus einer
ökonomischen Perspektive sah.
99 E. Hübner, Die Mediatisierungsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung,
1923. — Geiger, Geschichte, S. 137—141. Geiger stellte fest, dass offensichtlich
in Liechtenstein die Reichsgesetze nicht veröffentlicht wurden. Geiger, Ge
schichte, S. 137, Anm. 161.
100 Zu Schädler : Geiger, Geschichte, S. 141—155.
84
Anders als jener war Schädler ein Pragmatiker — er litt unter dem
sich verschärfenden deutschen Dualismus, aber im Zweifelsfall op
tierte er für Österreich: dass er dem «österreichischen Club»101 und
gleichzeitig dem rechten wie dem linken Zentrum angehörte, war
doch eine Rechtsverschiebung gegenüber der Position Kaisers, auch
wenn Schädler in der Schweiz ein Vorbild für den deutschen Bun
desstaat sah. Er war für weitgehende Volksrechte, Schutz der Ver
fassung durch das neue Reich, aber Autonomie vor dessen Interven
tionen — Vorstellungen, die an die Praxis des Alten Reiches er
innerten.
Schädler wurde jedoch immer mehr zum pragmatischen liechtenstei
nischen Interessenvertreter. Er vermochte jedoch nicht zu verhindern,
dass für die geplanten Volkswahlkreise das kleine Fürstentum bereits
mit österreichischen Gebieten verbunden war. Schädler fürchtete,
dass auf Dauer die hohen Kosten des Bundes dem Fürsten Selbstän
digkeit und Souveränität seines Landes verleideten. Möglicherweise
würde er des Tatbestands überdrüssig, dass er ständig aus eigenen
Mitteln zuschoss: Man musste in Liechtenstein erkennen, dass man
sich finanziell unter dem fernen Fürsten besser stand als unter Öster
reich.
Fürst Alois II. im Gefolge der österreichischen Politik des
Fürsten Felix Schwarzenberg
Mit der österreichischen oktroyierten Verfassung vom 4. März 1849
war das Verhältnis der Paulskirche zum Habsburger Reich in die
Krise geraten. Die Alternative war nun die Sprengung Österreichs
oder seine Trennung von Deutschland — Fürst Felix Schwarzenberg
setzte auf eine schwarz-gelbe Priorität102, die Paulskirche entschied
sich nun für ein preussisches Kaisertum103: für Schädler eine qualvolle
Situation, die der Verzicht Friedrich Wilhelms IV. von Preussen nur
101 Wahrscheinlich identisch mit dem «Pariser Hof», dem Schädler ohnehin ange
hörte. Insgesamt vertrat er einen ziemlich autonomen, fraktionsungebundenen
Standpunkt.
102 E. Heller, Fürst Felix zu Schwarzenberg, Mitteleuropas Vorkämpfer, 1933. —
A. Schwarzenberg, Prince Felix zu Schwarzenberg, Prime Minister of Austria
1848—1852, 1946. Vgl. auch Horr, Erzherzog Johann als Reichsverweser.
103 Schädler wollte statt dessen mit einer Anzahl österreichischer Abgeordneter ein
Reichsdirektorium. Geiger, Geschichte, S. 152.
85
wenig linderte. Die Verfassungsfrage scheiterte an der Eigenstaatlich
keit der Bundesstaaten — damit aber war die Paulskirche am Ende.
Revolution und Nationalversammlung von 1848/49 haben für die
Selbständigkeit Liechtensteins tiefe Spuren gezogen. Deutlich wurde,
dass, da die Schweizer Alternative nicht denkbar und der Fürst dem
Kaiserhaus viel zu eng verbunden war, auch das Fürstentum durch
österreichisches Gebiet vom übrigen Deutschland abgetrennt war,
Liechtenstein nicht anders konnte, als weitgehend den österreichi
schen Entwicklungen zu folgen. Die Ideen des Liberalismus fanden
ihre Grenzen an der Realität: die Paulskirche und ihre Erfahrungen
hatten in vieler Hinsicht ernüchternd gewirkt. Während aber in den
kleineren Staaten Deutschlands die Impulse des Nationalgefühls als
mächtige Unterströmung fortwirkten, geriet Liechtenstein — Fürst
und Volk — wie kein anderes Land zwischen die Fronten. Für den
Fürsten war die Entscheidung klar, dem Land blieb keine andere
Wahl: man wird konstatieren müssen, dass die Erfahrungen der
Paulskirche die Möglichkeit einer nationalen Lösung ohne Österreich
für Liechtenstein als irreal erscheinen Hessen, dass seine Bindung an
das Schicksal des Kaiserstaats offenbar wurde. Der Traum Peter
Kaisers von einem liberalen Liechtenstein Hess sic h gegen Österreich
und gegen die Reserve eines diesem eng verbundenen Fürsten nicht
realisieren. Das hat es dem Land erleichtert, sich der Phase der Reak
tion zu fügen.
So gut die liechtensteinische Geschichte des 19. Jahrhunderts erforscht
ist, so sehr bleibt die Gestalt des Fürsten Alois II. ein Schemen104.
Man wird jedoch seine Rolle nicht gering schätzen dürfen. Paradoxer
weise war die Situation unter Johann I., einem josephinisch gepräg
ten Autokraten, sehr viel einfacher. Alois II., u. a. erzogen von Fried
rich Schlegel, weitgereist, nicht ohne romantische Züge, wie die Aus
gestaltung von Eisgrub105 erweist, zeigte durchaus moderne Tenden
zen — er war langjähriger erfolgreicher Vorsitzender des landwirt
101 Vgl. die Anm. 72.
105 Eisgrüb wurde im neugotischen Tudor-Stil umgebaut. Darin drückte sich nicht
nur der Kunstsinn des Fürsten aus. Die. Neigung der österreichischen ]ünd deut
schen Hocharistokräten zum Stil der englischen; Gotik, scheint mir ein'starkes
Identifikationsbedürfnis mit einer Gruppe^ des europäischen'Adels zu zeigen,- der
es am besten-gelungen war, deri; Ausgleich'mit den gefährlichen, die alt-euro
päische Welt bedrohenden modernen: Kräften in * Staat und Gesellschaft zu
erreichen. Zum Umbau von Eisgrüb, vgl. Stekl, Aristokraten, S. 177.
86
schaftlichen Vereins in Österreich, der sich agrarische Innovationen
zum Ziel gesetzt hatte. Aber ohne eine Biographie lassen sich nur vor
läufige Akzente setzen. Wie mancher deutsche Standesherr oder
Kleinfürst war Alois tief beeindruckt von England, das er durch
Reisen und durch eine diplomatische Mission kannte. Der Adel hatte
durch die Anpassung an die moderneren Zeiten dort eine erstaunlich
ausgeprägte Herrschaft behaupten können.
Alois war ein Mann beträchtlicher parlamentarischer Erfahrungen
im vormärzlichen Sinne und gehörte dem Herrenstand wenigstens in
Schlesien, Mähren und Niederösterreich an — es ist bekannt, dass
er auf dem niederösterreichischen Landtag des öfteren das Wort er
griff im Sinne einer Modernisierung adeliger Herrschaft, die zugleich
aber auch Stabilisierung bedeuten sollte106. Frühzeitig regte er dort
die Umwandlung der überholten Feudalrechte durch eine günstige
Ablösung an — der Fürst wusste gut, dass eine blinde Verteidigung
des Vergangenen wenig fruchtete. Seine elastische Haltung in den
revolutionären Unruhen von 1848/49 weist ihn als einen geschickten
und überlegten Politiker aus107.
Naturgemäss war seine Distanz zu den revolutionären Ereignissen
unverkennbar — Alois wollte den flüchtigen Metternich in Felds
berg aufnehmen108. Es scheint, dass die schwarz-gelbe Loyalität stär
ker war als seine konservativ-reformerischen Tendenzen im Hinblick
auf die Verfassung seines kleinen Landes: die Brüder des Fürsten
fochten als hohe Offiziere der kaiserlichen Armee für die Integrität
108Bibl, Niederösterreichische Stände, S. 117, 201, 252, 286, 314 f. Der Fürst wird
als engagierter Teilnehmer der Diskussionen geschildert, der regelmässig den
Landtag besuchte und vor allem im agrarischen Bereich einen gemässigt konser
vativen Standpunkt vertrat, der durchaus offen für Reformen war. Wenn man
über die Aktivitäten des Fürsten mehr wüsste, könnte man auch seine Politik
im Fürstentum besser bewerten. Leider weiss man über sein Wirken auf den
Landtagen in Mähren und Schlesien derzeit überhaupt nichts. Wie bereits sein
Vater Johann I. hatte auch er bemerkt, dass ein echt autokratisches Regiment
angesichts der steigenden Fülle der Geschäfte nicht mehr durchzuhalten war.
Stekl, Aristokraten, S. 43, Anm. 16. Alois II. rekrutierte bewusst hervorragend
qualifizierte Beamte für seine Hofkanzlei, Ebd. S. 53, 90 f., 97 — auch um die
soziale Versorgung der Beamten kümmerte sich der Fürst.
107 Interessant ist, dass selbst das wohlhabende Haus Liechtenstein durch die poli
tische Lage 1848 finanziell unter Druck geriet — der Kredit reduzierte sich,
und man hatte Probleme bei der Tilgung der Schulden, die man für den Um
bau der Wiener Gebäude gemacht hatte. Stekl, Aristokraten, S. 27.
108 Metternich flüchtete mit Pferden des Fürsten Alois II. Srbik, Metternich 2,
S. 289.
87
der Monarchie gegen die revolutionären Kräfte109. So fand sich
Alois II. schliesslich in der Nähe des Ministerpräsidenten Schwarzen
berg, und er folgte ihm in Richtung auf den Neoabsolutismus. All
dies spiegelte sich unverkennbar in seiner Politik gegenüber dem
eigenen souveränen Staat. Aber Alois war auch der Mann, der durch
aus die Notwendigkeit der Erneuerung sah und auch diesen Weg
hätte einschlagen können. Er hätte ohne Frage den reformerischen
1860er Jahren ein anderes Profil gegeben als der gutwillige, aber noch
unerfahrene Johann II. So war es ein Verhängnis, dass der Tod den
Fürsten bereits 1858 hinwegraffte.
Konservative Bundespolitik und österreichischer
Zollvertrag
Er hatte freilich zuvor eine bemerkenswerte, für das Fürstentum
Liechtenstein folgenreiche Weichenstellung vorgenommen. In ihr
spiegelte sich auch sein Verhältnis zur Kirche, geprägt durch eine
Hinwendung zum erneuerten Katholizismus, der schon politisch viru
lent wurde: 1850 hatte Alois II. einen zusätzlichen Gesandten auf
dem erneuerten Bundestag bestimmt. Die Wahl fiel auf Justin Timo
theus Baltasar von Linde (1797-—1870)110, der sich als katholischer
Westfale benachteiligt fühlte und damit zum entschiedenen Preussen-
gegner wurde — aus einer ursprünglich aufklärerischen Position
schwenkte er immer mehr zu einer «ultramontanen» Haltung. Linde
hatte 25 Jahre in Hessen-Darmstadt gewirkt, vor allem als Kanzler
der Universität Giessen, aber auch als konservatives Mitglied der
Stände. In Giessen hatte er sich als reaktionärer Administrator und
vorzüglicher Reformator der Universität erwiesen111. Es ist bezeich
nend für Linde, dass er gleichermassen der Vertrauensmann Metter
nichs und der grosse Protektor einer wissenschaftlichen Revolution
war: in der Biographie Justus von Liebigs spielt Linde eine zentrale
Rolle112. Der hochkonservative, katholische Linde gehörte auch der
109 Hier zeigt sich erneut die Doppelrolle des Fürstenhauses — der Chef des
Hauses ist regierender-souveräner Fürst, die.Brüder gehören der Armee oder
der Bürokratie der Habsburger, Monarchie an. Dies wiederholt sich bei man
chen anderen Mitgliedern des Deutschen Bundes, ist aber nirgendwo so ausT
geprägt wie beim Hause Liechtenstein.
110 ADB 18, 1883", S. 665—672. Ich beabsichtige-eine kleinere Studie über die
Tätigkeit Lindes.
111 P. Moraw, Kleine Geschichte der Universität Giessen 1607—1982,1982, S. 152 f.
112 Vgl. J. Volhard, Justus Liebig, 2 Bde., 1909.
88
österreichischen Bundestagsgesandtschaft an und passte in den Kreis
Schwarzenbergs und des Wiener Neoabsolutismus. Alois II. wusste
ohne Frage, was er mit dieser Ernennung tat — Linde gewann auch
bestimmenden Einfluss auf den unerfahrenen Thronfolger.
Wie allenthalben in Deutschland suchte die Regierung auch in der
Folge in Liechtenstein die politische Lethargie durch wirtschaftliche
Erfolge zu kompensieren; es zeugt abermals vom grossen Geschick
Alois' II., dass er den Erlass zur Beseitigung der konstitutionellen
Errungenschaften mit dem Vertrag vom 5. Juni 1852 koppeln konnte,
der den Zollanschluss an Österreich festlegte und damit grundlegende
Hemmnisse für die ökonomische Entwicklung Liechtensteins besei
tigte113. Der Vorgang bedeutete aber auch eine Distanzierung vom
preussisch bestimmten Deutschen Zollverein. Das widersprach der
bisherigen Haltung der Liechtensteiner, die einen allgemeinen Deut
schen Zollverein dem Anschluss an Österreich vorzogen. Es wird
sich zeigen, dass dahinter ein guter politischer Instinkt gestanden
hatte. Liechtenstein konnte allerdings aus dem Vertrag beträchtliche
Vorteile gewinnen, da Österreich sich von dieser kleinen Partner
schaft eine Werbewirkung versprach, die die preussischen Vorteile
durch den Zollverein ausgleichen sollte. Überdies kompensierte der
Zollvertrag die beträchtlichen Steuerausfälle nach 1848.
Der Zollvertrag Hess die k. k. Finanzbeamten an die Schweizer
Grenze vorrücken: die Präsenz der österreichischen Staatsmacht im
Lande bedeutete auch eine Stabilisierung der liechtensteinischen
Obrigkeit. Diese sah strikt auf die formale Wahrung der Souveräni
tät, aber es war unverkennbar, dass das Ubergewicht Österreichs
wuchs — kein Zufall, denn die Entscheidung war auch ein Ausfluss
der schwarz-gelben Haltung des Fürsten, der sich dem Kurs von
Schwarzenberg und Bruck anschloss. Die Konsequenz war die Uber-
tragung der österreichischen Steuer- und Staatsmonopolsysteme, der
Anschluss an die österreichischen Handelsverträge, die die gesetz
geberischen Abhängigkeiten ergänzten und ausbauten.
Trotz dieser vordergründigen Souveränitätsminderung bedeutete der
Zollvertrag einen weiteren entscheidenden Schritt zur staatlichen
Konsolidierung: die Garantie eines Mindesteinkommens aus Zöllen
113 Geiger, Geschichte, S. 185—214. — Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 358—388.
— A. Hager, Aus der Zeit der Zoll- und Wirtschaftsunion zwischen Österreich
und Liechtenstein von 1852—1919, in: JBL 61 (1961), S. 25—58.
89
erwies sich als entscheidend für die bislang nie gelungene finanzielle
Sicherstellung, da sie ein stabilisierendes Element bei allen Budgets
war. Auf der anderen Seite wurden Belastungen beseitigt und erste
Industrialisierungsversuche begünstigt. Überdies konnte man nun die
drückenden Bundeslasten, eine unbequeme Nebenfolge der Souverä
nität, viel leichter bewältigen. Der Vertrag war weder durch den
Landrat noch durch das alte Ständeparlament gebilligt worden: der
Fürst argumentierte aus einer europäischen Tradition heraus, dass es
sich hier um Hoheitsrechte handelte, die ständischer Zustimmung nicht
bedurften. Der Vertrag war nicht einmal in Kenntnis des Landesver
wesers geschlossen worden — für etwaigen Widerstand im Fürsten
tum stand sogar k. k. Militär bereit. Der Landesvikar sollte für
Propaganda von der Kanzel sorgen114. Das liechtensteinische Volk
jedoch akzeptierte den Vertrag zunächst gern, aber bald setzte die
Einzelkritik ein — sei es an den Getränkesteuern, sei es an einer
Zusatzabgabe für den italienischen Krieg 1859.
Die liechtensteinische «Neue Ära»
Der liechtensteinische Neoabsolutismus — unverkennbarer Spröss-
ling des österreichischen — dauerte bis 1857 an, allerdings auch
mit Unstimmigkeiten zwischen Wien und Vaduz. Nicht einmal der
Ständelandtag von 1818 wurde einberufen, die Feudalabgaben, der
Zehent blieben. Alles wurde obrigkeitlich geregelt. Allmählich stockte
man auch die Landesverwaltung wieder auf, namentlich die Polizei,
ein weiterer Schritt zu verstärkter staatlicher Durchdringung115.
Aber 1856 kam es zu einer Petition der Gemeinden, als weder der
Ständelandtag noch der postrevolutionäre Landtag einberufen wurde.
Menzinger unterstützte sie, wollte aber einem künftigen Landrat
nur beratende Funktionen zubilligen. 1857 berief dann der Fürst um
einer Steuer willen den alten Ständelandtag wieder ein und ging
damit den österreichischen Entwicklungen doch um einen Schritt vor
aus — dies aber gab den Liechtensteinern eine Plattform, ihre Ver
fassungsforderungen vorzutragen, die — d ies wurde immer deutlicher
— Voraussetzung aller anderen Erneuerungen waren: im schulischen,
kirchlichen, gemeindlichen Bereich.
114 Darin wird die noch immer sehr bedeutende Rolle des Klerus deutlich.
116 Geiger, Geschichte, S. 216—247.
90
Mit dem neuen Fürsten Johann II.116 begann zwar auch eine «Neue
Ära» für Liechtenstein. Sie wurde aber partiell immer wieder abge
bremst durch den enormen Einfluss des Bundestagsgesandten Linde,
der die alten Praktiken des Bundes und die Revolutionsfurcht ver
körperte. Ein neues Schulgesetz und die Freigabe des Weges zu einer
erneuerten Verfassung leiteten die Modernisierung ein.
Bemerkenswerterweise erklärten die Landstände auf dem ausseror
dentlichen Landtag am 3. März 1859 ihre Inkompetenz für die Re
form und forderten eine neue Landesversammlung, die kompetentere
Leute wählen sollte: also ein Rückgriff auf das revolutionäre Muster
von 1849. Der Landesverweser drängte auf Befassung und verwies
auf das Modell der Hohenzollern-Sigmaringer Verfassung von 1833117,
obgleich dieser Staat mittlerweile in Preussen aufgegangen war118.
Dies hing möglicherweise mit dem Regierungsamtsadjunkten Markus
Kessler119 zusammen, aber Sigmaringen galt längst als ein einiger-
massen vergleichbarer Staat120. Menzinger formulierte einen Entwurf
und formte den neuen Landrat nach den alten Landständen, so dass
er selbst die Schlüsselrolle in einem Scheinparlamentarismus spielen
konnte. Die Gesetzgebung sollte sich an Österreich anschliessen, der
Bund als Garant und Schiedsrichter bei Verfassungskonflikten wir
ken. Aber die Entwicklung kam nicht voran, das Land wurde un
ruhig, ein Besuch des Fürsten weckte Hoffnungen, doch Linde bestand
auf strikter Beachtung der österreichischen Entwicklung — er er
119 K. v. In der Maur, Johann II. Fürst von Liechtenstein: Ein Gedenkblatt zum
50jährigen Regierungsjubiläum, in: JBL 8 (1908), S. VII—XXX. — K. Hoss,
Fürst Johann II. von Liechtenstein und die bildende Kunst, 1908. — F. Wil
helm, Fürst Johann II. von Liechtenstein, in: Neue österreichische Biographie
1815—1918. Erste Abt., 7. Bd., 1931, S. 180—190. — J. Ospelt, Erinnerungs
blatt zum hundertsten Geburtstage des Fürsten Johann II., in: JBL 40 (1940),
S. 5—17. — A. Feger, Johann II. Fürst von Liechtenstein, in: JBL 29 (1929),
S. 13—42.
117 Druck der hohenzollern-sigmaringischen Verfassung von 1833: K. H. L. Pölitz
u. F. Bülau: Die Verfassungen des deutschen Staatenbundes seit dem Jahre
1789 bis auf die neueste Zeit, 2. Abt., 1847, S. 1226—1259. Dazu: S. Graf
Adelmann von Adelmannsfelden, Die Grundlagen der Verfassung und des Ver
waltungssystems der hohenzollernschen Fürstentümer, Diss. Greifswald 1899.
118 Die Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen und von Hohenzollern-Hechingen
hatten sich dem Königreich Preussen angeschlossen, um damit einen ersten
Schritt zur nationalen Einigung Deutschlands zu tun.
118 Markus Kessler wurde nach seiner Rückkehr in die Heimat Bürgermeister von
Sigmaringen.
120 Der Vorbildcharakter der hohenzollernschen Verfassungsentwicklungen für das
Fürstentum Liechtenstein war schon lange deutlich. Dabei spielte natürlich das
grössere und entwickeltere Sigmaringen eine stärkere Rolle als Hechingen.
91
wies sich als Gralshüter des monarchischen Prinzips. Der Landtag
von 1860 drängte dann auf Wiederbelebung der Übergangsverfassung
von 1849, dabei trat mit dem Landesphysikus Karl Schädler einer
der führenden Männer der Revolutionszeit erneut in eine Schlüssel
rolle. Das Scheitern des Neoabsolutismus in Wien, d. h. der aus der
Furcht vor der Revolution erwachsenen Diktatur des Militärkabi
netts, gegenüber den Erfordernissen einer modernen Zeit wurde 1859
durch die Niederlage Franz Josephs im italienischen Krieg mani
fest121. Nach dem Oktoberdiplom von 1860 brachte das Februar
patent von 1861 die Rückkehr zu verfassungsmässigen Verhältnissen
im Gesamtreich und in den Kronländern, d. h. auch in Vorarlberg122.
Damit aber war die entscheidende Voraussetzung der bisherigen
restriktiven Politik entfallen. Liechtenstein musste sich beeilen, um
für die Entwicklung der 1860er Jahre nicht das Schlusslicht zu bilden.
Der neue Fürst Johann II. ergriff nun die Initiative — der Gralshüter
des veralteten Bundessystem, Linde, hatte offenbar die Notwendig
keit von Massnahmen eingesehen und suchte darin zugleich den Für
sten zu bremsen. Es entsprach der Tradition, dass der Fürst zunächst
das administrative Terrain zu stärken suchte, indem er den alternden
Landvogt Menzinger gegen einen neuen tüchtigen Administrator,
Karl Haus von Hausen123, austauschte. Hausen identifizierte sich mit
den Liechtensteinern, ohne die Loyalität gegen den Fürsten preiszu
geben, so dass die angestaute Verfassungsfrage, aus der durchaus harte
Konflikte zu entstehen drohten, nun doch noch zu einem gedeihlichen
Ende kam, obgleich es anfangs ganz anders ausgesehen hatte.
Zwischen Monarchie und Liberalismus
Der Salzburger Hausen formulierte einen Verfassungsentwurf, der
deutliche Rücksicht auf österreichische Entwicklungen nahm124: aller
dings bedeutete der Entwurf einen taktischen Kunstgriff, der die
Rechte des Volkes weit zurückdrängte, denn er basierte auf der Vor
121 E. Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 21911. — W. Goldinger,
Von Solferino bis zum Oktöberdiplom, in: MÖStA 3 (1950), S. 106—126. —
F. Fellner, Das «Februarpatent» von 1861. Entstehung und Bedeutung, in:
MIÖG 63 (1955), S. 549—564.
122 Bilgeri, Geschichte Vorarlbergs 4, S. 352—366.
123 A. Schädler, Karl Haus von Hausen, in: JBL 6 (1906), S. 5—17.
124 Vgl. Geiger, Geschichte, S. 248—285.
92
arlberger Verfassung, die jedoch in dem föderativen System der Mo
narchie eine Kompetenzteilung zwischen Gesamtreich und Kronland
voraussetzte, bei nicht allzu grossen Kompetenzen des Kronlandes.
Wenn also in der neuen Liechtensteiner Verfassung der Fürst gleich
sam die Rolle von Kaiser und Reichstag zusammen übernahm, wäre
für das Land herzlich wenig übriggeblieben. Der Entwurf Hausens
hätte die Kompetenzen des Landtags sehr eng gezogen und dem Für
sten nahezu unumschränkte Möglichkeiten gegeben, was natürlich die
eigene Stellung aufgewertet hätte. Hausen hoffte auf einen Oktroy
der Verfassung.
Ohne Kenntnis dieser Vorstösse, sichtlich ausgelöst durch die ein
setzende liberale Ära in Österreich, machte der Landtag die Zustim
mung zum Steuerpostulat von 1861 von der Petition für eine frei
gewählte Landesvertretung abhängig. Nun setzte sich Hausen selbst
an die Spitze der Bewegung125 und leitete eine ganze Reihe von Ge
setzen ein, die der Erneuerung des Landes und seiner wirtschaftlichen
Kräftigung dienten — für die neue Landesbank wurde sogar ein
Kontrollrecht des Landtags vorgesehen. In der Verfassungsfrage
balancierte er geschickt zwischen Wien und Vaduz, die tatsächliche
Entwicklung war in hohem Masse sein Verdienst. Johann II. erreichte
das Steuerpostulat durch eine Verfassungszusage. Einig waren sich
alle Beteiligten, dass sich die Erwartungen der Liechtensteiner nicht
länger anhalten Hessen — für den Kompromiss war aber auch ent
scheidend, dass der Fürst entschlossen war, eine Verfassung zu geben.
Deutlich wurde nach der Politisierung der Liechtensteiner von
1848/49, dass sie nun auch pragmatischer zu werden begannen; auch
der Landtag hatte stets die Kompromissmöglichkeiten im Auge, vor
allem war er sich einig, und es gab keine Gruppen, die sich ausspielen
Hessen. D er vom Landtag statt eines Verfassungsrats gewählte Aus-
schuss erkannte sogleich die Einseitigkeit des Hausenschen Entwurfs
und füllte die fehlenden Passagen mit den Attributen eines souverä
nen Landes auf, ohne dass wie 1848/49 die Grundsatzkonflikte be
sonders hochgespielt wurden. Man nahm sogar eine ganze Reihe von
Positionen des Entwurfs von 1848/49 zurück: der Fürst erhielt die
höchste Gewalt und Verwaltung sowie das absolute Veto; man blieb
bei den Forderungen nach legislativen Kompetenzen des Landtags
125 Offensichtlich hatte Hausen bemerkt, dass er mit seiner früheren restriktiven
Politik keinen Rückhalt bei Fürst Johann II. und bei der Hofkanzlei mehr
bekommen würde.
93
bei Steuern, Staatsverträgen und Militärfragen, und man strebte nach
Emanzipation von der Hofkanzlei. Die Ministeranklage freilich dege
nerierte zur Anzeige beim Fürsten. Der Landesverweser erhielt das
Gegenzeichnungsrecht des konstitutionellen Ministers, als der sich
Hausen seit längerem schon gebärdete.
Die Verfassung von 1862
Ein leider bislang unbekannter deutscher Jurist präsentierte eine Neu
fassung auf der Grundlage der Sigmaringer Verfassung von 1833 —
abermals zeigte sich der südwestdeutsche Kleinstaat als geeignetes
Vorbild: der Fürst wurde zum pouvoir neutre im Sinne Constants —
bemerkenswert das Einrücken eines Schiedsverfahrens nach altem
Stil in das Verfassungsrecht, also die Benennung dreier souveräner
Staaten durch die Landstände, unter denen der Fürst einen auswählen
konnte. Immerhin gewannen die Landstände die Verantwortlichkeit
des Landesverwesers. Aber Linde suchte möglichst viel von den alten
Prärogativen des Fürsten festzuhalten: Gesetzesinitiative, Verfügung
über das Militär, vor allem die Notstandsklausel für Krisensituatio
nen und die Autonomie der Nachfolgeregelungen im Hause von den
Entscheidungen des Landtags — in einer Situation, in der die Stellung
der Landessouveränität auf der Position des Fürsten im Bunde ruhte,
eine nicht ganz abwegige Überlegung. Auch war für Linde typisch,
dass er allemal dem gut funktionierenden Staat im Sinne einer funk
tionalen Restauration den Vorzug vor den Freiheitsrechten des Volkes
gab in einer merkwürdigen Mischung zwischen doktrinärer Über
betonung und pragmatischer Kompromissbereitschaft. Andererseits
ist zu, sagen, dass allzu starke Demokratieforderungen mit dem
Notabeincharakter des Landes und den Ausschliesslichkeitstendenzen
der Gemeinden zusammenstiessen: Immerhin ergab sich ein tragfähi
ger Kompromiss, und der Fürst, der sich zuletzt weitgehend heraus
gehalten hatte, unterzeichnete am 26. September 1862, die letzten
Kompromissvorschläge aufgreifend126. Linde sah etwas resigniert den
allzu weit gehenden Räum für liberale Tendenzen — Hausen, der
längst die Rolle des stärken konstitutionellen Ministers zu spielen
getrachtet hatte, war wohl der Erfolgreichere127.
126 Druck: Liechtenstein Politische Schriften 8, S. 273—294.
127 A. Schädler, Die Thätigkeit des liechtensteinischen Landtags, in: JBL 1 (1901),
S. 81— 176, hier: S. 84—89.
94
Nun hatte Liechtenstein im Rahmen der konstitutionellen Monarchie
eine erneuerte Verfassung erhalten, die bis 1921 gültig blieb128: die
monarchische Tradition und das neue politische Bewusstsein der
Liechtensteiner hatten sich durch das Geschick Hausens zu einem
Kompromiss gefunden. Geiger hat mit Recht darauf hingewiesen,
dass man über manche Ordnungen im Deutschen Bund hinausgelangt
war129. Man wird aber andererseits doch die immensen Schwierig
keiten sehen müssen, die einer Lösung entgegenstanden. Der Fürst
blieb an erster Stelle der Mann des Wiener Hofes — die Rücksicht
nahme auf die österreichischen Entwicklungen war seit 1815 notge
drungen gewachsen; sie hatten durch die Zollverträge einen neuen
Höhepunkt erreicht. Ohne Frage konnte Johann II. nur in einem
begrenzten Rahmen entgegenkommen, ohne seine eigene österrei
chische Position zu gefährden. Das galt noch in einer zweiten Hin
sicht: für den gewaltigen Hausbesitz war der Fürst ein zwar moder
nisierungswilliger, aber doch patriarchalischer Herr geblieben130.
Auch hier durfte er die Spannungen zu seiner souveränen Herrschaft
nicht zu gross werden lassen. Schliesslich blieb die Ferne des Landes
herrn ein Problem für Liechtenstein, das die Verfassung bestimmte.
So war der Verfassungskompromiss von 1862 eine bedeutende Lei
stung, auch wenn die herrschaftlich-monarchischen Elemente sehr
stark blieben131.
Hausen, der schon vor dem Verfassungskompromiss die Rolle des
konstitutionellen Ministers angenommen hatte, wurden als weitere
Regierungsmitglieder der Vaduzer Bürgermeister Johann Georg Mar
xer und der Gampriner Vorsteher Franz Joseph Kind beigegeben.
Karl Schädler wurde Präsident des neuen Landtags. Allenthalben
war man zufrieden, zumal gleichzeitig ein wirtschaftlicher Auf
128 Herbert Wille, Die Verfassung von 1921 — Parteien und Kirche, in: Müller
(Hg.), Fürstentum Liechtenstein, S. 63—91.
120 Geiger, Geschichte, S. 302—304.
,so Es scheint, dass Johann II. nicht die ausgeprägt politischen Züge hatte wie sein
Vorgänger Alois II. — er war eher ein Freund der Künste und ein grosser
Gutsherr, ein milder Landesvater als ein ausgeprägter Politiker. All dies er
leichterte ohne Frage die Evolution der liechtensteinischen Verfassung. Zum
Besitz des Hauses Liechtenstein vgl.: F. Kraetzl, Das Fürstentum Liechtenstein
und der gesamte Fürst Johann von und zu Liechtenstein'sche Güterbesitz, *1873,
e1914.
191 Am 29. Oktober 1862 fand die Eröffnung des neuen Landtags in einer aus
geprägt patriotischen Atmosphäre statt.
95
schwung einsetzte132. Dennoch vollzog sich allmählich wieder eine
Gewichtsverschiebung vom Landtag neuen Typs zu dem ausgebauten
bürokratischen Apparat mit: dem Landesverweser an der Spitze. Da
für hat man bisher die starke Persönlichkeit Hausens und seiner
Nachfolger verantwortlich gemacht. Allerdings hat auch die nun
einsetzende relativ starke legislative Tätigkeit des Landtags von selbst
die Beamtenschaft, zumal den Landesverweser, durch die .wachsenden
Exekutionsaufgaben gestärkt. Hinzu kamen aber auch noch die Ent
rücktheit des Fürsten und die Auflösung des Deutschen Bundes.
Immerhin konnte man vor 1866 die Gemeindeverfassung verbessern,
die letzten Reste des Feudalismus beseitigen und eine Steuer- und
Gewerbeordnung erlassen.
Die Bundespolitik nach 1850
Die Neuregelung des Verhältnisses zu Österreich nach Auslaufen des
Zollvertrags verlief schliesslich recht zufriedenstellend, nachdem die
Kündigung durch die Habsburger Monarchie zunächst eine kritische
Situation heraufbeschworen hatte133. Die Stimmung im Lande ver
wies auf die Alternative der Schweiz, die freilich angesichts der Ge
samtkonstellation politisch nicht erreichbar war. Dabei artikulierte
sich eine offene Distanz zu Österreich, die durch die sichtlichen Vor
teile des Vertrages nicht ausgeglichen werden konnte — Ausdruck
des offenkundigen neuen Landesbewusstseins. Andererseits erwies
sich auch die Einigung mit dem konstitutionellen Österreich, d. h.
nun auch mit dem Reichstag, als schwieriger. Aber auch Österreich
war im Zeichen des letzten Aufbäumeris gegen die kleindeutsche
Zolleinigung auf einen Kompromiss angewiesen134. So verblieben die
Zollverträge mit einigen Kompensationen für Österreich.
Die liechtensteinische Bundespolitik nach 1850 war vor allem die
Politik Lindes. Der Bundestag hatte im Zeichen des österreichisch-
132 Ospelt, Wirtschaftsgeschichte. — Geiger, Geschichte, S. 310—328.
133OspeIt, Wirtschaftsgeschichte,S. 371—375. — Geiger, Geschichte, S. 336—344.
134 H. Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, 1958.
— Herbert Mäthis, Österreichs:'Wirtschaft' 1848—1913. Konjunkturelle Dyna
mik und gesellschaftlicher Wandel"im Zeitalter Franz Josephs I., in: Bericht
über den 11. österr. Historikertäg (1971), 1972. — A. Wandruszka u. P. Urba-
nitsch (Hg.), Die Habsburger Monarchie 1848—1918. Bd. 1: A. Brusatti (Hg.),
Die wirtschaftliche Entwicklung, 1973.
96
preussischen Dualismus an Lebendigkeit gewonnen gegenüber der
Zeit des Einvernehmens unter Metternichs Regie135. Die liechtenstei
nische Position war jedoch durch die Abhängigkeit der Souveränität
von der Existenz des Bundes und vom Einvernehmen mit Österreich
gekennzeichnet. Das letztere wurde seit dem Neoabsolutismus durch
die Person Lindes sichergestellt, der gleichzeitig der österreichischen
Bundesgesandtschaft angehörte und von beiden Staaten bezahlt war.
Linde, der sich einst wegen seiner katholischen Konfession benach
teiligt gefühlt hatte, war ein entschiedener Gegner Preussens und zog
sich so Zorn und Abneigung des Berliner Bundestagsgesandten Bis
marck zu. Bismarck versagte ihm jedoch als einem «gewandten und
scharfsinnigen Dialektiker» die Achtung nicht136. Der Reichsstädter
Holzhausen verfolgte eine ähnliche Linie. Im Ringen um die Stim
men der 16. Kurie vermochte sich Linde gegenüber den preussischen
Parteigängern und den Lockungen Bismarcks durchzusetzen, so dass
sie gleichsam zu einer österreichischen Hilfstruppe wurde.
Allerdings befürwortete Fürst Alois II. eine Friedenspolitik und war
für einen Ausgleich unter den deutschen Grossmächten. Er wider
strebte der taktischen Volte Österreichs, das im Krimkrieg die anti
revolutionäre Solidarität der konservativen Ostmächte verliess137,
und sympathisierte mit einem Zusammengehen von Preussen und
Österreich; deutlich aber zeigte sich der geringe Spielraum darin, dass
der liechtensteinische Gesandte Holzhausen in diesen Fragen in der
16. Kurie strikt dem österreichischen Standpunkt folgte.
Noch 1849 war ein liechtensteinisches Kontingent ausgerückt, hier
gegen die badische Revolution138. Nun suchte der Fürst in der Mili
tärfrage angesichts ihrer enormen Kosten und ihrer Unpopularität
im Lande einen Ausgleich zwischen Bundestreue und praktischer
Minimalisierung herbeizuführen, die manchmal merkwürdige Folgen
zeitigte. Sogar das alte Projekt einer Wahrung der liechtensteinischen
Pflichten durch einen anderen Bundesstaat gegen Geldentschädigung
lebte wieder auf. Dieser neue Soldatenhandel Lindes scheiterte am
13SKraehe, History of the German Confederation. — Meyer, Bismarcks Kampf.
136 Zit. nach Geiger, Geschichte, S. 347.
137 Die antirussische Politik Österreichs im Gefolge der Westmächte führte nicht
nur zu einem Dilemma der Wiener Politik, sondern sie widersprach auch der
traditionell aristokratischen Struktur des Wiener Hofes — die Distanz des
Fürsten von Liechtenstein ist somit keine Besonderheit.
138 Geiger, Geschichte, S. 165—168.
97
Souveränitätsdenken des Fürsten Alois. Versuche Rechbergs, die in
der Tat problematische Bundestreue Liechtensteins in Militärsachen
zu verteidigen, führten zu einem der schwersten Zusammenstösse mit
Bismarck139. Aber der «kostspielige Nonsens» — so Fürst Alois —,
zeigte auch die Problematik der liechtensteinischen Position. Der ita
lienische Krieg 1859 machte dann die Diskrepanz zwischen Fürst und
Land vollends deutlich. Während der junge Johann II. nach den
Familientraditionen zu den kaiserlichen Fahnen eilen wollte, sah das
Land den Feldzug mit Unwillen und Distanz. Wenn auch Johann
die Armee aufbauen wollte, so war sie jedoch immer wieder Gegen
stand einer Kritik des Bundes.
Bundesreform und Schleswig-Holsteinische Frage
Bis 1863 war die Bundespolitik fast ausschliesslich Sache des seit
1850 bedingungslos im Gefolge Österreichs segelnden Fürsten — das
Land interessierte sich allein für seine konkreten Probleme und An
liegen. Die grundsätzliche Frage der nationalen Einheit Deutschlands
im Zeichen der Frankfurter Fürstenkonferenz140 verbreiterte jedoch
die Diskussion. Als der aus Bayern stammende Pfarrer Gmelch 1862
einen stark grossdeutsch-patriotischen Entwurf in den Landtag ein
brachte, verweigerte sich dieser141. Der junge Fürst seinerseits wollte
klugerweise den Bund nicht durch sprengende Präzisierungen be
lasten.
Genau dies trat ein: dem Sog der Bundesreformfrage konnte auch
Liechtenstein nicht entgehen. Die Liberalisierung der Einzelstaateri142
139 Geiger, Geschichte, S. 357—360.
140 E. Eyck, Bismarck, Bd. 1, 1941, S. 511—537. — H. v. Srbik, Deutsche Einheit.
Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, Bd. 4,1942, S. 39—77.
— Gall, Bismarck, S. 285—292.
141 Geiger, Geschichte, S. 365.
142 Sehr deutlich akzentuiert: L. Gall, Der Liberalismus als regierende Partei! Das
Grossherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, 1968. —
D. Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revo
lution und Reichsgründung, 1974. — H. Seier,. Liberalismus und Staat in
Deutschland zwischen. Revolution und Reichsgründung, in: Archiv für Frank
furts Geschichte und Kurist 54 (1974), S. 69—95. — H. A. Winkler, Preussi-
scher Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur' Geschichte der
deutschen Fortschrittspartei 1861—1866, 1964. —J.-J. Sheehan, Der deutsche
Liberalismus. Von den Anfängen im -18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg
1770—1914, 1983, S. 93—189.
98
brach den nationalen Problemen Bahn. Johann II. sah im Bund die
angemessene Form staatlicher Existenz Deutschlands — er konnte
sich dem dann gescheiterten Frankfurter Fürstentag von 1863 nicht
entziehen, auf dem Kaiser Franz Joseph sich die Kräfte des Libera
lismus und des Parlamentarismus nutzbar zu machen trachtete, die
auf Kosten der Souveränität der Einzelstaaten an einem künftigen
Bund verstärkt beteiligt sein sollten. Bemerkenswerterweise soll Linde
hier massgeblich mitgewirkt haben — der Vorstoss scheiterte schliess
lich an Preussen.
Die schleswig-holsteinische Krise143 leitete dann die Entscheidung
ein144. Dabei entsprach die Haltung von Fürst und Bundestagsge
sandtschaft der Österreichs, d. h. den zunächst gemeinsam operieren
den beiden deutschen Grossmächten, die auf Bundesexekution gegen
Holstein und Pfandbesetzung Schleswigs zielten. Mit dem Liebling
der Liberalen, dem Herzog von Augustenburg, hatte der Fürst wenig
im Sinn. Damit aber tat sich erstmals in einer allgemeinen Frage eine
Diskrepanz zum Land auf, das von (deutschem) nationalem und libe
ralem Geist erfasst war. Die Erinnerung an die Befreiungskriege
1813/15 wurde beschworen — die neue Landeszeitung griff Kon
gresseuropa, Fürstensouveränität und Bundestag an und trat für die
Rechte des Augustenburgers ein. Dies führte sogar zum Zusammen
wirken mit vorarlbergischen nationalen Bestrebungen145.
Vor allem begann der Landtag erstmals eine Gegenposition gegen den
Fürsten in einer aussenpolitischen Frage zu beziehen. Die Kürzung
von Lindes Gehalt auf ein Drittel war eine Demonstration: man
wünschte Auskunft, forderte die Option für den Augustenburger. Es
war aber eine Prärogative des Fürsten in Frage gestellt, wenn nun
über seine Bundespolitik Rechenschaft gefordert wurde. Der Fürst
zeigte bemerkenswerte Schwächen, als er den Landesverweser auf
den unmittelbaren Kontakt mit Linde verwies, der freilich ohnehin
mehr als der Fürst die Bundespolitik bestimmt hatte.
Linde und der Landesverweser konnten recht geschickt den aussen-
politisch noch unerfahrenen Landtag beruhigen. Immerhin unterzeich
143 J. Daebel, Die Schleswig-Holstein-Bewegung in Deutschland 1863/64, Diss.
Köln 1969. — Srbik, Deutsche Einheit 4, S. 81—164.
144 Schaedler, Thätigkeit, S. 103.
145 Geiger, Geschichte, S. 371 f. Kein Hinweis bei: Bilgeri, Geschichte 4.
99
neten 12 von 15 liechtensteinischen Abgeordneten die Protestnote des
deutschen Abgeordnetentages an den Bundestag für die Trennung
Schleswig-Holsteins von Dänemark und für die Einsetzung des
Augustenburgers. Der Begeisterung für die Eroberung Schleswig-Hol-
steins folgte rasch die Ernüchterung, als die beiden Grossmächte sich
zunächst über den Augustenburger hinwegsetzten und dann in Kon
flikt gerieten — die Option des Fürsten, der sich durch die Bewegun
gen des Landes nicht beirren Hess, war klar, in Liechtenstein jedoch
führte sie zu schweren Spannungen.
Fürst Johann II., das Land und der Deutsche Krieg von 1866
Die Stimme der 16. Kurie des Bundestages wurde auf dem Höhepunkt
der preussisch-österreichischen Krise 1866 für die Bundesmobil
machung, also für Österreich abgegeben146. Damit aber war der
Bruch herbeigeführt, und für Liechtenstein stellte sich die Frage des
Anteils an der Bundesexekution. Die antipreussische Stimmung im
Lande verband sich mit Sympathien für einen Erfolg des Bundes
(einschliesslich Österreichs) — als Garanten der nun immer stärker
befestigten Eigenstaatlichkeit.
Bemerkenswert war jedoch für die ungewöhnliche Situation des Lan
des, dass bei den Kriegskrediten nicht wie sonst üblich der Landtag
für den Souverän, sondern der Fürst für die Kreditaufnahme des
Landes Garantien abgab147. Das liechtensteinische Aufgebot musste
diesmal ausrücken. In engem Kontakt zu den Wiener Stellen ent
schied der Fürst rasch und ohne Konsultationen, dass sich sein kleines
Aufgebot an die k. k. Armee anschliessen sollte. Das Land allerdings
betonte demgegenüber, nur gemäss Bundesbeschlüssen vorgehen zu
wollen. Dies aber hätte eine direkte Teilnahme an der Bundesexeku
tion, d. h. ein Eingreifen in die deutschen Kämpfe gegen Preussen
bedeutet. Genau dies aber suchte Johann II. zu vermeiden, indem
er Österreich anbot, die Liechtensteiner als Sicherungstruppe an der
italienischen Grenze abzustellen; damit vermied er Kämpfe mit
146 A. Wandruszka, Schicksalsjahr 1866, 1966. — W. v. Groote u. U. v. Gersdorff
(Hg.), Entscheidung 1866. Der Krieg zwischen Österreich und Preussen, 1966.
147 Hier ist eine unverkennbare Kontinuität festzustellen; schon in der napoleo
nischen Zeit hätte der Fürst für das Land gebürgt.
100
Preussen und auch Verluste, entzog aber die Truppen der Verfügung
des Bundes148.
Dies aber verstiess diametral gegen die Forderungen des Landtags149
— Hausen, in dem Vorgang vom Fürsten zunächst übergangen, eilte
nach Frankfurt und versuchte verzweifelt, den Bundestag zu einem
entsprechenden Beschluss zu bewegen. Als er scheiterte und die Solda
ten nach Tirol abmarschieren sollten, richtete sich die Erregung des
Volkes gegen Hausen, obgleich der Fürst durch persönliches Ent
gegenkommen die möglichen Folgen zu lindern suchte. Die Verfas
sungskrise war da, denn am 6. Juli 1866 legten alle Abgeordneten
des Landtages Protest gegen den Ausmarsch nach Tirol ein: man
wollte nicht selbständig, sondern als Bundesglied handeln, und da
mit konnte der Gegner nur Preussen, nicht aber das durch die euro
päischen Mächtekonstellationen in den Konflikt gezogene Italien sein.
Aber die österreichischen Verbindungen des Fürsten überwogen den
Willen des Landes, auch wenn es in Hausen einen Rückhalt fand.
Johann war zwar angesichts der Erregung bereit nachzugeben, ver
zögerte auch den Ausmarsch — aber der Druck des Wiener Kriegs
ministeriums war schliesslich doch zu stark. Am 18. Juli reiste er
nach Vaduz, um durch die Anwesenheit seiner Person den Abmarsch
zu sichern, wobei allerdings auch der nahende Friede beruhigend
wirkte. Linde konnte überdies erfolgreich, aber fälschlich den Ein
klang mit den Bundesbeschlüssen suggerieren, aber auch er sah die
Problematik der Diskrepanz zwischen Fürst und Land. Andererseits
war angesichts der Stellung des Fürsten und der Umklammerung
Liechtensteins durch österreichisches Gebiet der Handlungsspielraum
minimal, aber das Land bäumte sich dagegen auf150. Insgesamt war
jedoch die Politik des Fürsten nicht ungeschickt. Seine Loyalität zur
Monarchie bedeutete die stärkste Sicherung des Landes — mit seinem
148 J. Ospelt, Der 1866er Feldzug des fürstlich-liechtensteinischen Bundeskontin
gents mit einer Lebensbeschreibung des Hauptmanns und Landestechnikers
Peter Rheinberger, in: JBL 24 (1924), S. 39—74. — F. Kuhn, Das Fürstlich
Liechtensteinische Truppenkontingent im Deutschen Bund 1816—1866, JBL 64
(1965), S. 153—165. — R. Allgäuer, Die Ehrenzeichen des Liechtensteinischen
Militärkontingentes, in: JBL 64 (1965), S. 167—175.
149 Schaedler, Thätigkeit, S. 135—140.
150 Vgl. die Adresse des Landtags an den Fürsten: Ospelt, 1866er Feldzug, S. 46 f.
Der Landtag sprach von einem «unseligen Bruderkrieg» und hoffte, dass das
Kontingent nicht ausgesendet werden müsste. Er verwies auf die allgemeine
Ratlosigkeit und fürchtete eine Gefährdung der Selbständigkeit. Als Ziel
strebte er eine «vollständige Neugestaltung der Bundesverfassung» an.
101
barn war weggefallen; die Schweiz konnte diese Rolle noch nicht
spielen, obgleich die lebhafte Innenpolitik der Jahre nach 1866 ohne
deren nachbarschaftlichen Einfluss nicht denkbar war. Sie beruhte
auf den konstitutionellen Errungenschaften von 1862, fand aber ihre
Grenzen in dem fortbestehenden System der engen Anlehnung an die
Monarchie, aber auch in einer noch immer patriarchalischen Gesell
schaftsstruktur. Besitzschwerpunkt und Anteil am höfischen System
einer europäischen Grossmacht überwogen die Bedeutung des kleinen
Landes, so sehr sich der Fürst darum bemühte. Es bedurfte des Zu
sammenbruchs des Habsburgerreiches und des Endes der österreichi
schen Grossmacht, dass die liechtensteinische Verfassungsentwicklung
wieder in Bewegung geriet.
Erstaunlicherweise also hatte sich der Deutsche Bund als Gegen
gewicht gegen die unbedingte Orientierung auf Österreich erwiesen,
die durchaus zum Aufsaugen hätte führen können. Aber darüber hin
aus bedeuteten Rheinbund und Deutscher Bund die Hüllen, unter
denen Liechtenstein relativ problemlos einen tiefgreifenden Trans-
formationsprozess vollziehen konnte.
Zusammenfassung
Im Alten Reich war es e ine arme, bäuerlich geprägte Herrschaft ge
wesen, erworben von einem mächtigen Haus der Wiener Hofgesell
schaft zur Erhöhung der Stellung — und zur Sicherung des öster
reichischen Einflusses an einem geographisch kritischen Punkt. Das
relative Desinteresse des Landesherrn verschonte zunächst Liechten
stein von Neuerungen und beliess es in altertümlichen Formen. Der
Rheinbund brachte ein erstes Gegengewicht gegen die Österreich-
Orientierung und leitete gleichzeitig eine vorsichtige josephinisch,
nicht napoleonisch geprägte Bürokratisierung ein, der die alte Land
schaft endgültig zum Opfer fiel. Die schwach ausgeformte altstän
dische Verfassung von 1818 bot kein eigentliches Gegengewicht gegen
Fürst, Hofkanzlei und Landvogt, aber sie trug doch zum Selbstbe-
wusstsein des Landes bei, da sie neben den entwickelteren Verfas
sungsformen der anderen Bundesstaaten stand. Überhaupt zeigte sich,
dass das Normensystem des Bundes immer wieder Modernisierungen
103
herbeiführte — der zunächst allzu weite Mantel der Souveränität
bedurfte gleichsam der Auffüllung. Diese erleichterte die Distanzie
rung zur Habsburger Monarchie, weil die Lage zwischen ihr und
der Schweiz die wachsende Eigenständigkeit begünstigte.
Die allmähliche Modernisierung. Liechtensteins trug schliesslich auch
zu einer Politisierung des Landes bei. Waren die Unruhebewegungen
von 1809 und auch noch von 1831/32 von einer traditionalistisch-
konservativen Grundlinie gekennzeichnet, so wurde diese in den Revo
lutionsjahren 1848/49 umgebogen in die Forderung nach einer grund
legenden Reform. Es ist kein Zufall, dass auch für Liechtenstein in
diesen Sturmjahren mit Peter Kaiser ein «Erwecker» auftrat. Gerade
die Revolutionsjahre machten deutlich, wie die geographische Lage
durch das politische Spannungsfeld zwischen Deutschem Bund und
Österreich ergänzt wurde, eine Belastung und zugleich eine Chance
Liechtensteins. Der Durchbruch der Revolutionsjähre hatte noch
grundsätzliche und dogmatische Züge getragen. In der Abwehr von
Reaktion und Neoabsolutismus brach sich im Land ein Pragmatis
mus Bahn, der zur Verfassung von 1862 führte. Dabei gaben politi
scher Rahmen und Spielregeln des Bundes dem Fürstentum nicht nur
Rückhalt, sondern auch Legitimation, seine konstitutionelle Ausfor
mung zu finden. Zugespitzt gesagt, die konsequente und steigende
Einbindung in den Bund machte Liechtensteins Souveränität zu mehr
als einem schönen Schein. Andererseits wird am Beispiel Liechten
steins sehr deutlich, dass auch der Bund einem Verdichtungsprozess
unterlag.
Hinzu trat aber noch ein weiteres Spannungsfeld. Anders als in allen
übrigen deutschen Bundesstaaten war der Fürst fern, regierte er das
Land über seine Wiener Hofkanzlei, bedeutete der souveräne Teil
seiner Besitzungen nahezu nichts für die Einkünfte seines Hauses —
das Fürstentum Liechtenstein aber behielt seinen Stellenwert für die
Rolle seines Landesherrn am Hof bei. Als Souverän war der Fürst
von Liechtenstein der erste unter dem Wiener Hofadel. Liechtenstein
war also der einzige Bundesstaat ohne Residenz. Dies klammerte
manche sonst typischen Entwicklungen aus, es gab kein kostspieliges
barockes oder biedermeierliches höfisches Leben, keine Adelsgesell
schaft in Vaduz. Damit entfielen auch grosse finanzielle Lasten —
und im übrigen behauptete Liechtenstein seine bäuerliche Tradition,
ein atypischer Vorgang, der das Land durchaus geprägt hat.
104
Zugleich aber behielt der Fürst die Führung der Aussenpolitik in
seiner Hand — anders als der Rheinbund wurde der Deutsche Bund
als politisches Forum allein Sache des Herrschers, auch wenn der
letzte Bundestagsgesandte Linde seinerseits dessen Politik bestimmte.
Das aber entzog das Selbstverständnis des Landes weitgehend den
schwankenden Ereignissen der Tagespolitik — am Bund interessier
ten nur die Seiten, die unmittelbar für das Land wirksam waren.
Zugleich aber wurde durch diese Konstellation der Fürst dem Hader
entrückt; trotz einzelner (teilweise starker) Konflikte blieb seine
Person stets unantastbar. Damit aber stand Liechtenstein abermals
in einem deutlichen Gegensatz zu vielen anderen kleinen deutschen
Staaten. Die Distanz der Dynastie zum Land Hess deren Prestige
unangetastet, ermöglichte aber dennoch dem Land eine relativ unge
störte Entwicklung.
Landvogt und später Landesverweser bildeten einen Puffer, hinter
dem der Landesherr in einer halb schiedsrichterlichen Rolle stand.
Von den bürokratischen Reformen Schupplers bis zur Rolle Hausens
als quasi-konstitutioriellem Minister war es ein weiter Weg, und der
Spannungen zwischen Landvogt und Land gab es viele. Aber sie
erfassten niemals die Fürsten. Deren Rolle bleibt beim heutigen Stand
der Forschung freilich noch etwas schemenhaft. Der Autokrat und
Militär Johann I., geprägt vom josephinischen Geist, stand dem Tal
des Rheines relativ fern. Interessant die Gestalt des Fürsten Alois II.,
der dazu berufen schien, eine neue Ära in Liechtenstein einzuleiten:
schon für ein konstitutionelles Zeitalter geboren, Verfechter einer
Stabilisierung durch Reform, jedoch darin stark dem neuen neoabso
lutistischen Österreich verbunden. Johann II. schliesslich, dem eine
lange Regierung beschieden war und der den Durchbruch zu einem
moderneren Typ des Konstitutionalismus ermöglicht hatte. Die Gene
rationenabfolge der Herrscher hat nicht zuletzt ebenfalls als ein
bestimmender Faktor auf die Entwicklung im Lande eingewirkt.
Wenig wissen wir über die Binnenstruktur der liechtensteinischen
Gesellschaft, die Verklammerung der Notabein, die eigentliche Rolle
des Klerus in einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich sichtlich
und zunehmend modernisierte. Sehr deutlich wird am Beispiel Liech
tensteins der gesamteuropäische Vorgang einer immer stärkeren und
immer bewussteren Mitsprache breiter Kreise, gleichsam einer lang
samen, unmerklichen Demokratisierung der Gesellschaft — an deren
105
Anfang die bürokratisch bestimmten Reformen standen. Auch hier
wären weitere Forschungen lohnend.
Deutlich wird eine enge Verknüpfung von Aussenpolitik und Innen
politik, von der Stellung Liechtensteins im Bund und seiner inneren
Modernisierung. Ohne Frage wurde die liechtensteinische Eigenent
wicklung begünstigt durch das geographische Spannungsfeld zwischen
Österreich und der Schweiz, durch das politische zwischen der
Monarchie und dem Deutschen Bund. Die geographische Lage ver
hinderte, dass trotz der Bewegung von 1848/49, die eindeutig natio
nale Züge trug, Liechtenstein auf Dauer Anschluss an die deutsche
Nationalbewegung fand. Die Umklammerung durch Österreich, die
Einwirkung durch die Schweiz, die Regierung eines österreichisch
mährischen Herrn, das Fehlen eines nationalbewussten Bürgertums
führten zu einer eigenen Prägung liechtensteinischen Selbstverständ
nisses. Es ist fast aufregend zu sehen, wie der regionale Geist des
Alten Reiches sich langsam wandelte zum Landesbewusstsein eines
souveränen Staates. Besonderheiten der Lage und des Schicksals
haben Ansätze, die in Deutschland einst vielfältig vorhanden gewe
sen waren, in Liechtenstein zu einer besonderen Ausformung und
Weiterentwicklung gebracht — so gesehen, ist liechtensteinische Ger
schichte ein über die Landesgrenzen hinaus interessanter Modellfall.
106
Kulturpolitik als Verpflichtung
europäischer Kleinstaaten
Georg Malin
Einleitung
Europa besitzt, was Kleinstaatlichkeit betrifft, eine uralte Tradition.
Die Kleinstaaterei scheint weitgehend eine europäische Angelegenheit
zu sein. Sie beeinflusste im Laufe der Zeit Europas Geschichte in un
terschiedlicher Weise. Die Vorliebe zum Kleinstaat war auf unserem
Kontinent bisweilen verdeckt, dann gefährdet, aber immer wieder
wirksam, gestaltend und den Lauf der Dinge beeinflussend. Die reiche
geographische Gliederung Europas, die abwechslungsreiche Land
schaft, günstige klimatische Bedingungen und unterschiedliche Bevöl
kerungsgruppen auf engem Raum gewährten dem Zusammenspiel vie
lerlei Menschen mancherlei Möglichkeiten der kulturellen Entwick
lung und Selbstdarstellung. Individualitäten erkennen sich wieder in
individualistischen Gemeinschaften. Dies dürfte dem kleinen Konti
nent die Grösse geben.
Nichts ist überdies so auf Individualität angewiesen wie geistige und
kreative Tätigkeit. Deshalb führen Wege über das kreative Indivi
duum zu agilen Gemeinschaften in überschaubaren Grössen. Der
Kleinstaat kann über die persönlichen Leistungen seiner Bürger und
über geistig-kulturelle Potentiale mit viel grösseren Gemeinschaften
in Verbindung treten. Wo aber nur reine Quantität zählt, ist der
Kleinstaat benachteiligt. Die kleinstaatlichen Abwehrmechanismen
reagieren auf überlastige Quantität mit List, Klugheit, Kreativität,
Bescheidenheit und Geduld. Darüber soll in den nachstehenden Aus
führungen am Beispiel Liechtenstein nachgedacht werden. Es ist sinn
voll, vorerst die Entwicklung des Kulturbegriffes aufzuzeigen, um
aus dem geklärten Begriffverständnis für die kleinstaatliche Gemein
schaft realistische Folgerungen abzuleiten und Entwicklungsmöglich
keiten anzudeuten. Deshalb sind die skizzenhaften Ausführungen all
gemeiner und theoretischer Art. Es wäre vielleicht angebrächt, nach
den grundsätzlichen Erläuterungen und nach einem Exkurs zur liech
tensteinischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts die konkreten
kulturellen Aktivitäten von Personen, Personenkreisen, Vereinigungen
und Organisationen in Liechtenstein darzulegen. Dadurch würde der
Rahmen der kleinen Studie gesprengt. Ausser einigen exemplarischen
Hinweisen auf kulturpolitisch bedeutsame Projekte und Organisatio
nen wird daher in der vorliegenden Arbeit auf Einzelwürdigungen
verzichtet.
109
Mit Nachdruck muss schon einleitend auf den steigenden Stellenwert
der Kulturpolitik im Zusammenhang mit der Entwicklung der Ge
sellschaft hingewiesen werden: Falls nicht weltweite Katastrophen
wie nukleare Vernichtung oder ökologische Zusammenbrüche die ge
genwärtige Entwicklung abblocken, wird der postmodernen Gesell
schaft aufgrund der entwickelten Technologie ein ungewöhnliches Mass
an Freizeit zur Verfügung stehen. Um diese Freizeit wird ein harter
Wettbewerb entstehen. Es wird entscheidend für die weitere Ent
wicklung der Gesellschaft sein, ob ein träger Konsum, übergewichtige
materielle Saturiertheit bei destabilisierter Ökologie die Zukunft
(ohne Zukunft) sein wird, oder ob die Gesellschaft den Uberstieg
aus der Versorgungsgesellschaft in eine kreative Gemeinschaft wagt.
Daran dürfte die Geschichte eines Tages die Leistungen unserer
Epoche messen, besonders jener des Kleinstaates.
Entwicklung des Begriffes Kultur
Mit dem Wort Kultur kann man (heute noch) wenig Staat machen.
Zuviele erschrecken ob des Wortes Kultur. Ihr haftet Realitätsfremde
an, ein Hauch unsoliden Weltverständnisses, überdehnte Freizeit,
elitäres Getue, Dandytum, Alibi für ernsthafte Arbeit, kurzum: eine
zur Daseinsbewältigung entbehrliche Sache. Im Zusammenhang mit
Staat gerät der Begriff Kultur bei vielen in zusätzliche zwielichtige
Zonen. Staatskultur oder gesellschaftlich verordnete Kultur tragen
ohnehin die Merkmale von Fehlleistung, Sterilität und, wenn es gut
geht, von wirkungsloser Propaganda und Werbung. Als Werbung
wird die historische Kultur allemal gebraucht und oft missbraucht.
Was soll es also?
In der Tat ist Kultur keine Grundvoraussetzung menschlicher Exi
stenz. Vielleicht kann sie es noch werden. Blosses Leben aber ist
kulturlos möglich. Wie bei allen Aussagen ist es vorteilhaft, diese
Annahme im Blick auf die geschichtliche Entwicklung zu relativie
ren. Die aktuelle Fragestellung kann über die historische Dimension
fundierter und gerechter angegangen werden. So möge zur Orien
tierungshilfe für zeitnahe Fragestellungen eine skizzenhafte Entwick
lung des Begriffes Kultur und des Kulturverständnis den nachfolgen
den Darstellungen vorausgehen.
110
Eigentlich bestand Kultur schon vor dem Begriff «Kultur». Es gab
hohe kulturelle Leistungen des menschlichen Geistes, bevor der Rah
menbegriff Kultur gebildet worden war. Werkzeuge, Geräte, Kult
gegenstände, Gebete und rituelle Handlungen dürfen sehr wohl als
frühe Zeugen kultureller Entwicklungen betrachtet werden. Die Or
ganisationsformen menschlicher Gemeinschaften wie Sippen, Stämme,
Dorfgemeinschaften, städtische Siedlungen und schliesslich Staaten
gewährten kulturellen Leistungen das Umfeld möglichen Gedeihens.
Ja sie selbst sind Ausdruck von Kultur. Weder die Ägypter, noch
die Kulturen des Zweistromlandes, noch die Griechen kannten das
Wort Kultur oder besassen ein Synonym für das lateinische Wort
«cultura».
Im Jahre 45 v. Chr. wurde Cäsar vom Senat zum Imperator auf
Lebenszeit ernannt. Marcus Tullius Cicero und viele andere gingen
in eine innere Emigration und zogen auf ihre Landgüter. Cicero
begab sich auf sein Gut in Tusculum und verfasste die «Tusculaner
Gespräche». Erstmals scheint Cicero dem Wort «cultura» eine neue
Bedeutungsdimension gegeben zu haben. Besass das Wort bis anhin
nur auf das Agrarische ausgerichtete Bedeutung, etwa im Sinne von
Pflege der Äcker und Wiesen, so sprach nun Cicero unvermittelt
von der Pflege der Seele (cultura animi) mittels der Philosophie.1
Der Begriff entfernte sich vom Umkreis bäuerlichen Wirkens; Kultur
wurde geradezu umgedeutet auf rein wissenschaftliches und musisches
Tun und als Kontrastbegriff feiner städtischer Lebensweise zum rohen
Landleben verwendet. Was anfänglich an Pflege dem Acker zuge
dacht war, verfremdete man im Laufe der Zeit zum Merkmal urba
ner, naturferner Lebensweise. Mit dem Untergang des römischen
Imperiums im 5. Jahrhundert verschwand vorerst auch der Begriff
«Kultur», weil das frühe Mittelalter vorweg agrarisch strukturiert
war. Kultur im Sinn der römischen Klassik war beinahe ein Jahr
tausend nicht mehr aktuell. Nicht dass deswegen die kulturellen Lei
stungen im Früh- und Hochmittelalter ausgeblieben sind; man
reflektierte in einer religiösen Gesellschaft nicht sosehr die Verfeine
rung des eigenen Geistes, sondern man verstand sich vielmehr als
1 Cicero, Gespräche in Tusculum, II, 13, übersetzt von O. Gigon, zitiert nach
Werner Raith, Das verlassene Imperium, Wagenbachs Taschenbücherei, Nr. 92,
8ff. In den nachstehenden Darstellungen folge ich allerdings mit Vorbehalten
den Auffassungen von Werner Raith.
111
Glied eines auf das ewige Heil zustrebenden Gottesvolkes. Hienieden
aber soll das Leben in Angemessenheit und Mass gestaltet werden.
Die Gegenbewegung zur nur religiös ausgerichteten Weltauffassung
setzte in der Renaissance ein. Die Humanisten disqualifizierten das
Mittelalter als roh und dunkel, eine Unterstellung, die heute noch
von vielen geglaubt oder mindestens als unreflektierte Redeweise ver
wendet wird. Aufklärung und Klassik orientierten sich ganz am
römischen Kulturbegriff. Dichter, Philosophen und Pädagogen be
kannten sich zu einem evolutiven Kulturbegriff, der über Stufen und
Ebenen zu immer grösserer Vollkommenheit und Komplexität führt.
Die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts galt als eine kaum über
bietbare Entwicklungsstufe, und auch die marxistischen Theoretiker
sahen im Gebrauch der menschlichen Schöpferkräfte, verbunden mit
dem Streben nach Vervollkommnung der Menschen, eine erstrangige
Aufgabe kultureller Betätigung. Die Philosophen Max Müller und
Alois Halder definierten Kultur als «Gestaltung seiner selbst und
seiner Welt, die der Mensch als geistiges Wesen vollbringt, also die
Entwicklung und Veredlung der natürlichen Fähigkeiten des Men
schen, der aus dem Menschen herausgesetzten äusseren Lebenseinrich
tungen, endlich der in der äusseren Natur gegebenen Existenzbedin
gungen. Die subjektive Kultur ist weithin mit Bildung und Gesittung
gleichwertig; objektive Kultur ist das vom Menschen geschaffene
Werk, besonders Wissenschaft, Kunst, Recht usw. Zur objektiven
Kultur rechnet man auch die Mittel der Kultur, wie Forschungsinsti
tute, Schulen, Theater, Wirtschaftsordnungen, soziale Einrichtun
gen»2.
Von der Bodenkultur zum kulturellen Schaffen in
Liechtenstein
Der fürstliche Hofrät Georg Hauer schrieb 1808 von Vaduz an Fürst
Johann I. (1760—1836) in Wien: «Wenn der Schöpfer seyn Schöp
fungswerk vollendet und die ersten Menschen zur Kultur des Bodens
1 Müller Halder, Herders kleines; philosophisches Wörterbuch, Freiburg 1958,
Stichwort Kultur. .Leopold- Kohr;'Die Überentwickelten oder: die Gefahr der
Grösse, Düsseldorf-Wien, 1962, 70ff. unterscheidet zwischen «biologischen» und
«kulturellen» Bedarfsgütern.
112
angesetzt hätte, so könnte man nicht weiter seyn.»3 In der Tat ver
wöhnte die Beschaffenheit des Bodens die Siedler im Gebiet des
heutigen Fürstentums Liechtenstein nicht. Ausser den spärlichen, gut
bewirtschaftbaren Äckern und Wiesen am Eschnerberg, den von Rüfe-
gängen geschützten Hanglagen an der rheintalseitigen Bergkette des
Dreischwesternmassives und nebst einigen Alpen musste die Bevölke
rung in der Talebene das bewirtschaftbare Kulturland dem Rhein
abtrotzen.4 Landvogt Josef Schuppler (1776—1833) schilderte zu
Beginn des 19. Jahrhunderts in poetischer Diktion die arkadische
Landschaft so: Der «Eschnerberg ist fruchtbar, und die Ansicht rei
zend. Auf seiner grössten nördlichen Höhe erquiken durchmischte
Laub und Nadelwälder das hingerichtete Auge; an der Ost-Ost-süd,
— und zum Theil westsüdlichen Abdachung prangen herrliche
Reeben in üppiger Fülle, und den andern Theil des Berges, samt den
sanft abhängigen Ebenen zieren zwischen ländlichen schlechten, mit
blühenden Baumgärten gruppirten Wohnungen, schöne Weingärten,
fruchtbare Felder, und flurreiche Wiesen.»5 Das Rheintal war dauern
der Überschwemmungsgefahr ausgesetzt, und durch versumpftes Ge
biet zogen «matte Wasser», sagte Schuppler um 1815.® Weni ge Jahre
vorher, um 1808, meinte der erwähnte fürstliche Inspektor Georg
Hauer, die wassergeschwängerten Riede sollten entsumpft und ihrem
«wüsten Zustande seit der Schöpfung» entrissen werden.7 Überdies
verhinderte ein abrupt wechselndes Klima den kontinuierlichen
Wachstum der Saaten, Sträucher und Bäume. «Der Südwind, nach
der Landessprache Pfän, geht hier schwülig und unglaublich stark,...
Nasses Thau-, treckendes kaltes- und schwülwarmes- und Schnee
wetter wechseln immerfort ab und wirken verderblich nicht nur auf
die Gesundheit der Menschen, sondern auch auf Baum, Wein und
Feldgewächse.» Soweit Schuppler in seiner Landesbeschreibung von
1815. Die liechtensteinische Agrarwirtschaft konzentrierte sich im
® Georg Malin, Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den
Jahren 1800—1815, Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein, Vaduz 1953, 44ff. (Abkürzung für das genannte Jahrbuch: JBL
1900ff.).
4 Walter Schlegel, Zur Geographie und Wirtschaft des Landes, Das Fürstentum
Liechtenstein, Ein landeskundliches Porträt, hrsg. von Wolfgang Müller, Bühl/
Baden 1981, 119ff.
5 Die Landesbeschreibung des Landvogtes Josef Schuppler aus dem Jahre 1815,
hrsg. von Alois Ospelt, JBL 1975, 223ff.
6 Alois Ospelt, Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahr
hundert, JBL 1972, 33ff.
7 Alois Ospelt, a. a. O., 1972, 34.
113
19. Jahrhundert auf Weinbau (Weiss- und Rotwein) und Viehzucht.8
Was Gewerbe und Industrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrifft,
so konnte Schuppler kurz und bündig bemerken: «Manufakturen oder
auf auswärtigen Absatz berechnete Gewerbe giebt es im Lande gar
keine.»8 Den gewerblichen Eigenbedarf deckten nebenberuflich als
Handwerker tätige Kleinbauern.
Unter den skizzierten Voraussetzungen waren die materiellen Grund
lagen für eine gedeihliche kulturelle Entwicklung nur in unzureichen
dem Masse vorhanden. Landvogt Josef Schuppler stufte den Liech
tensteiner zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch tief ein. «Die in-
telektuele und körperliche Bildung der Landesbewohner hat keines
wegs die dem Zeitgeiste angemessene Höhe erreicht, denn sie stehen
in dieser Hinsicht weit unter ihren Nachbaren.»10 Es schien sich alles
gegen das kleine, souverän gewordene Volk verschworen zu haben.
Die kulturelle Entwicklung war durch viele Erschwernisse blockiert:
Mangel an Lehrern, fehlender Bildungswille der Eltern und damit
auch der Kinder, ungenügend geschulter Klerus, manchmal mehr
religiöser Folklore als der Theologie verpflichtet und oft mehr im
Aberglauben als im Glauben verhaftet. Dazu kam das gänzliche
Fehlen Urbanen Klimas, gesellschaftlicher Gliederung, handwerk
licher Tradition; deshalb auch mangelhafte Voraussetzungen zur
beginnenden industriellen Produktion. Zins- und Schuldbriefe von
nachbarlichen ausländischen Geldgebern — ein Geldinstitut im Lande
gab es nicht — waren Atteste für wirtschaftliche und finanzielle
Insuffizienz Liechtensteins. Und der ganze Haufen verzweifelter
Kleinbauern war eingedeckt von demütigenden geschichtlichen Er
fahrungen, angefressen von Misstrauen gegenüber Neuerungen und
von der Angst gequält, in ein noch tieferes Loch des Verderbnisses
zu fallen als man schon lag. Das Bild, welches die liechtensteinische
Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot, musste
bejammerndswert gewesen, sein. Dürftig gekleidet, in Holzhütten
wohnend, von eintöniger, breiiger Nahrung zehrend, versuchte man
zu überleben. Kulturelle Fragestellungen waren ausserhalb des Kir
chenraumes gar nicht aktuell. Clemens Brentanos «Gockel, Hinkel
und Gackeleia» in Vaduz hat wirklich eine märchenhafte Realitäts
8 Alois Ospelt, a. a. O., 1975, 230ff.
9 Alois Ospelt, a. a. O., 1975, 239.
10 Alois Ospelt, a. a. O., 1975, 242.
114
ferne erreicht, als er schrieb: «Alle seltsamen, merkwürdigen und
artigen Dinge schinen mir aus Vadutz zu sein .. .»n Erst gegen Mitte
des 19. Jahrhunderts waren in Liechtenstein deutliche Zeichen vor
teilhafter wirtschaftlicher Entwicklung erkennbar.12
Einen unverkennbaren Anstoss zum wirtschaftlichen Fortschritt im
Fürstentum gab der Zollvertrag zwischen Österreich und Liechten
stein vom Jahre 1852. Bis anhin hatten die engen Zollgrenzen des
Kleinstaates jedes Aufkommen eines auf Export angewiesenen Ge
werbes oder einer Industrie verunmöglicht. Seit dem 1. August 1852
stand Liechtenstein das grosse Wirtschaftsgebiet der Donaumonar
chie offen.18 Das kleine Land gewann durch Einnahmen aus dem
Zollvertrag Geldmittel zu «Landeskulturzwecken».14 Im Zuge der
ersten Industrialisierungsphase des Fürstentums stiegen die Zollein
nahmen an, während das schwache, völlig unvorbereitete liechten
steinische Gewerbe unter der überlegenen österreichischen Konkur
renz litt.
Kulturelle Aktivitäten in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts
Mit der Besserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung und
des Staatshaushaltes setzten unverkennbare kulturelle Aktivitäten
ein. Im Jahre 1863 erschien die erste «Liechtensteinische Landeszei
tung» mit der programmatischen Feststellung: «Das Urteil der öffent
lichen Meinung ist die sicherste Bürgschaft für Recht und Sitte».
Ferner sollte der Blick des Lesers über die Grenzen des Landes hinaus
geöffnet werden.15 Es folgten zahlreiche Gründungen von kulturell
11 Clemens Brentano, Gockel, Hinkel und Gackeleia, Ein Märchen, Frankfurt 1838.
18 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man nur die wesentlichen
Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung nachzeichnen. Die Dissertationen von
Rupert Quaderer, Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815
bis 1848, JBL 1969, 5ff., Peter Geiger, Geschichte des Fürstentums Liechten
stein 1848 bis 1866, JBL 1970, 5ff., Alois Ospelt, Wirtschaftsgeschichte des
Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert, JBL 1972, 5ff., schildern ein
drucksvoll den beschwerlichen Weg Liechtensteins bis zum Ersten Weltkrieg.
«Peter Geiger, a.a.O., 1970, 186ff., Alois Ospelt, a.a.O., 1972, 262ff., 367ff.
14 Alois Ospelt, a.a.O., 1972, 369ff. Es handelt sich hiebei vor allem um Rhein-
wuhrbauten.
15 Peter Geiger, a. a. O., 1970, 311; Walter Wohlwend, Zeitungsgeschichte als Zeit
geschichte, Schaan 1981, 13. Erste Ausgabe am 12. April 1863.
115
tätigen Vereinigungen. Die Geistlichkeit organisierte sich um 1863
im Priesterkapitel. Ein Lehrerverein und ein Leseverein wurden um
die Mitte des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen. Gleichzeitig ent
standen die ersten Blasmusikgesellschaften und Theatervereine. Ein
landwirtschaftlicher Verein wurde in zwei Anläufen gegründet. Die
erste liechtensteinische Landesausstellung fand 1863 statt; ihr folgte
die zweite Ausstellung um 1895. Das Ausstellungsgut war schwer-
punktmässig auf Landwirtschaft und landwirtschaftliche Gerätschaf
ten ausgerichtet. Allenthalben entdeckte man neben der Nützlichkeit
der natürlichen Umwelt auch deren Schönheit. Moritz Menzinger
(1832—1914) aquarellierte liechtensteinische Landschaften; Reiser
schriftsteiler, Dichter und Stecher schilderten die landschaftlichen
Reize im Fürstentum Liechtenstein.16 Die Landeszeitung veröffent
lichte 1864 eine Statistik der Geisteskultur und eine «Statistik der
moralischen Kultur». Während der Wintermonate besuchten seit 1861
junge Handwerker Fortbildungsschulen und Kurse für technisches
Zeichnen.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass um 1847 die erste Ge
schichte des Fürstentums Liechtenstein von Peter Kaiser (1793—1864)
erschienen ist.17 Acht Jahre vorher wurde in Vaduz der Komponist
Joseph Rheinberger (1839—1901) geboren.18
16 Das Fürstentum Liechtenstein im Wandel der Zeit und im Zeichen seiner Souve
ränität, Vaduz 1956, besonders Beitrag von Hilmar Ospelt, 126ff.; Peter Geiger,
a.a.O., 1970, 312ff.; Alois Ospelt, a. a. O., 1972, 160, 21 Off.; Eberhard Schircks,
Der Lederstrumpfdichter schaut nach Liechtenstein, JBL 1964, 162ff.; Ausstel
lung im Liechtensteinischen Landesmuseum, Vaduz 1982, Moritz Menzinger
(1832—1914), Landschaftsaquarelle.
17 Peter Kaiser, Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein, Chur 1847; Franz
Josef Kind, Peter Kaiser, JBL 1905, 6ff.; Rupert Ritter, Peter Kaiser, JBL 1944,
5ff.; Iso Müller, Geistesgeschichtliche Studie über Peter Kaiser, JBL 1944, 67ff.;
Robert Allgäuer, Peter Kaiser (1793—1864), Beiträge zu einer Biographie, JBL
1964, 7ff.; Iso Müller, Rector Peter Kaiser, Charakteristik aus Dokumenten
von 1838—1842, JBL 1964, 63ff.; Peter Geiger, a.a.O., 1970, 52ff., 125ff.,
158ff„ 216ff.
18 Ich beschränke mich auf einige, wichtige Literatur: Hans Walter Kaufmann,
Joseph Rheinberger, JBL 1940, lOlff. (mit weiterer älterer Literatur); Harald
Wanger, Josef Rheinbergers Briefe an seine Eltern (1851—1872), JBL 1961,
59ff.; Martin Weyer, die Orgelwerke von Josef Rheinberger, Vaduz 1966;
Josef Rheinberger, Briefe an Henriette Hecker, hrsg. Hans-Josef Irmen, Vaduz
1970; Hans-Josef Irmen, Gabriel Josef Rheinberger als Antipode des Cäcilianis-
mus, Studien zur Musikgeschichte, des 19. Jahrhunderts, Band 22, Forschungs
unternehmen der Fritz Thyssen Stiftung,' Regehsburg 1970; Häns-Josef Irmen,
Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Gabriel Josef Rheinbergers,
Studien zur Musikgeschichte'des 19. Jahrhunderts, Band 37, Forschungsunter
nehmen der Fritz Thyssen Stiftung, Regensburg 1974; Harald Wanger, Josef
116
Hinter den hier unvollständig angereihten Vorgängen, die Anzeichen
einer kulturellen Entwicklung darstellen, steht der deutliche Wirt-
schaftsaufschwung des 1806 souverän gewordenen Kleinstaates. Der
Aufschwung bezog sich vorerst auf die Landwirtschaft (Ackerbau,
Obst-, Wein- und Gemüsebau, Tierhaltung), dann auf das Gewerbe
(Nahrungsproduktion, Gastgewerbe, Textilgewerbe, Holzverarbei
tung, Baugewerbe, Handel) und schliesslich auf die beginnende erste
Industrialisierungsphase. Die Anfänge der Industrialisierung riefen
nach der Regelung der sozialen Fragen im allgemeinen, wie Arbeits
zeit, Schaffung von Inspektoraten, Organisation der Arbeitnehmer,
Eingrenzung der Kinderarbeit (die 1865 grundsätzlich verboten
wurde). Alle aufgezählten Massnahmen und Vorgänge verursachten
Neuerungen im Geld- und Kreditwesen, was unter anderem durch
die Gründung der Liechtensteinischen Landesbank im Jahre 1861
zum Ausdruck kam.19 Das Wirtschaftswachstum zeitigte vorteilhafte
Auswirkungen auf das Verkehrswesen (Strassen, Eisenbahnbau in den
Jahren 1870/72, Postwesen und Energiewirtschaft). Bedingt durch
das wachsende Nettosozialprodukt erhielt der Staatshaushalt positive
Impulse.
Wenn man also die Entwicklung Liechtensteins in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts betrachtet, so fällt das stete Wachstum in allen
Bereichen der damaligen Wirtschaft auf. Damit setzte auch eine
merkliche Profilierung im eigentlichen kulturellen Bereich ein. Aus
der cultura agri wuchs eine cultura animi im Sinn der Wortentwick
lung bei Cicero. Wie reagierte die der blanken Armut entronnene
liechtensteinische Bevölkerung?
Zeichen setzen
Irgendwie musste der neue bescheidene Wohlstand im geistig-kultu-
rellen Bereich Ausdruck finden. Die vom traditionellen Christentum
des 19. Jahrhunderts geprägte Bevölkerung fand vorab im Bau reprä
sentativer Kirchen ein ausdrucksstarkes Zeichen frommer Selbstdar-
Gabriel Rheinberger und die Kammermusik, Gesellschaft Schweiz Liechtenstein,
Schriftenreihe Nr. 3, St. Gallen 1978; Josef Gabriel Rheinberger, Briefe und
Dokumente seines Lebens, hrsg. von Harald Wänger und Hans-Josef Irmen,
3 Bde., Vaduz 1982/1983.
18 Otto Seger, Hundert Jahre Liechtensteinische Landesbank, 1861—1961, Vaduz
1961.
117
Stellung. Pastorale Notwendigkeit und menschliches Bedürfnis nach
Selbstdarstellung griffen als treibende Kräfte wie eingespielte Zahn
räder ineinander und bewirkten eine rege kirchliche Bautätigkeit. Als
Ergebnis finden wir Kirchen, die weit über dem regionalen Durch
schnitt stehen und heute noch Wahrzeichen der meisten Gemeinden
sind.
Die alten Dorfkirchen, meist baufällig und für die wachsende Be
völkerung zu klein geworden, mussten nach dem damaligen Ver
ständnis abgebrochen werden. Eine Ausnahme bildet hierin Balzers,
wo nach dem Dorfbrand von. 1795 der Bau einer bescheidenen Kirche
nach Plänen von Franz Barraga 1807 erfolgte, die dann 1912 vom
bestehenden Bau des Wiener Architekten Gustav von Neumann ab
gelöst wurde.20 Mauren erhielt 1843 ein Gotteshaus in einem ländlich-
josephinischen Klassizismus nach Plänen des fürstlichen Bauihspek-
tors Laurenz Vogl aus Wien.21 In Triesen entstand 1841/45 eine
Kirche des Architekten Wegmüller, der in Wien ebenfalls in fürst
lichen Diensten stand.22 Schellenberg baute um 1855/56 aufgrund
eines Projektes des Architekten Ferdinand Malang eine erste, inzwi
schen abgebrochene Kirche; zur gleichen Zeit erstellten einige Bauern
in Hinterschellenberg die bestehende St. Georgs-Kapelle.23 Alsdann
trat im landesweiten kirchlichen Bauprogramm eine Pause ein. Zur
Jahrhundertwende aber bemerken wir wiederum eine neue Baufreu
digkeit: in den Jahren 1869/73 errichtete der bekannte Wiener Archi
tekt Friedrich von Schmidt die neugotische Kirche von Vaduz,24 und
zwanzig Jahre später, um 1893, war der grosse Architekt Gustav
von Neumann als Kirchenbauer in Schaan tätig25 und 1899 in glei-
20 Erwin Poeschel, Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein, Basel 1950,
34ff.; Georg Malin, Kunstführer Fürstentum Liechtenstein, Bern, 2. Auflage
1977, 65; Franz Büchel, Geschichte der Pfarrei Balzers, hrsg. Gemeinde Balzers
1982, 35ff.,
21 Erwin Poeschel, a. a. O., 1960, 258ff.; Georg Malin, a. a. O., 1977, 110.
22 Erwin Poeschel, a. a. O., 1950,' 108; Georg Malin, a. a. O., 1977, 76.
23 Erwin Poeschel, a.a.O., 1950, 276; Georg Malin, a.a.O., 1977, 129; derselbe,
Kapelle St. Georg in Schellenberg, JBL 1980, 7ff.
?4 Erwin Poeschel, a. a. O., 158f.; Georg Malin, a. a. O., 197, 21; Alois Ospelt,
100 Jahre Pfarrkirche Vaduz', 1973, 44ff., llOff. Schmidt war unter anderem
Erbauer des Wiener Rathauses.
2S Erwin: Poeschel, a. a. O., 1950, 83; Georg Malin, a. a. O., 1977, 59; Festschrift
Pfarrkirche Schaan 1978.
118
eher Funktion in Ruggell26. Eschen Hess 18 94 seine Kirche durch die
Stuttgarter Architekten Kleber und Beytenmiller entwerfen.27 Die
Kirche von Bendern ist 1875 und 1979 umgebaut und vergrössert
worden.28
Natürlich stand hinter den grosszügigen Kirchenbauprojekten auch
die Freigebigkeit von Fürst Johannes II. (1840—1929), der beson
ders um die Jahrhundertwende mit grossen Geldspenden derartige
Vorhaben unterstützte und führende Architekten aus Wien als Pro
jektverfasser verpflichtete. Der Optimismus aber und der beinahe
unerklärbare demokratische Wille, in kleindörflichen Verhältnissen
Kirchenbauten zu errichten, die in ihrer Dimension weit über das
Mass des funktionell Notwendigen hinausgingen, weist auf ein neu
gewonnenes Selbstvertrauen hin. Ein bescheidener Wohlstand ver
pflichtete die Gemeinden, die materiellen Errungenschaften in sakra
len Bauten zu überhöhen. Insgesamt wirken derartige kulturelle
Aktivitäten vor hundert Jahren geradezu modellhaft für die heutige
der Orientierung offenbar beraubte Wohlstandsgesellschaft, die nach
dem Verlust von Mitte und Kohärenz Gemeindezentren baut; die
Dörfer selbst aber zerfransen in ihrem optischen Bild in einer vom
Profit vermarkteten Landschaft, den Waldrändern und Berghängen
zu.
Der ersten Phase eines wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieges
Liechtensteins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte
während des Ersten Weltkrieges (1914—1918) und in den Jahren
danach eine schwere Krise. Die Geldentwertung in der darniederlie
genden Habsburger Monarchie und der ersten Republik Österreich
verursachten in Liechtenstein den Verlust des gesamten Sparvermö
gens der Bevölkerung in der Höhe von etwa 25 Millionen Schweizer
franken, eine für die damalige Zeit ungewöhnlich hohe Summe.
Schon während des Krieges musste die Baumwollindustrie wegen
Rohstoffmangel ihre Betriebe schliessen. Im Lande selbst kam zur
wirtschaftlichen Not die politische Ratlosigkeit beim Suchen nach
Wegen, die Liechtenstein aus einer verderblichen Isolation nach dem
26 Erwin Poeschel, a.a.O., 1950, 269; Alois Ospelt, 100 Jahre Pfarrkirche Ruggell
1874—1974, 52ff.
27 Erwin Poeschel, a. a. O., 1950, 229ff.; Gedenkschrift zur Renovation St. Martin
Eschen, 1977/1979, 7ff.
28 Erwin Poeschel, a. a. O., 1950, 246ff.
119
Ersten Weltkrieg herausführen sollten. Der Zollvertrag mit der
Schweiz von 1923 stellte neben vielen anderen glücklichen Umstän
den das Fundament einer vorteilhaften wirtschaftlichen und politi
schen Entwicklung des Kleinstaates dar. Die Wirtschaftskrise der
dreissiger Jahre und die gefahrvolle Zeit der nationalsozialistischen
Bedrohung, sowie die Düsternis des Zweiten Weltkrieges (1939—
1945) überwand Liechtenstein an der Seite der Schweiz. Nach dem
Zweiten Weltkrieg folgte ein wirtschaftlicher Aufstieg bei stabilen
politischen Verhältnissen. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur
Gestaltung kulturpolitischer Fragen waren gegeben. Die Frage aber,
ob wirtschaftliche Prosperität kulturelle Bedürfnisse weckt, kann
nicht im Sinne einer linearen Logik von Ursache und Wirkung be
antwortet werden.
Schwächen und Gefahren
Im Blick auf das rein Materielle scheint der Kleinstaat vorwegs auf
Eigenbedarf ausgerichtet zu sein. Die von Aristoteles geforderte
Autarkie als Kriterium staatlicher Existenz besitzt nach wie vor
grosse Aktualität. Das Ganze ist auch in kleinen Einheiten mehr sich
selbst genügend als der Teil.29 Autarkie ist jedoch nicht absolut zu
verstehen, sondern sie gilt innerhalb eines Bezugssystems autonomer
Gemeinschaften. Im Materiellen soll die Gemeinschaft also hinrei
chende Voraussetzungen aufweisen, um sich selbst zu genügen. Diese
Autarkie kann im Geistig-Kulturellen bei genügender Kreativität der
Glieder einer Gemeinschaft überstiegen werden. Ich meine, dass in
der Möglichkeit des Uberstiegs eine der grossen Chancen kleiner staat
licher Gebilde liegt: Der Stadtstaat Athen hat in geistigen Belangen
mehr zustandegebracht als der uniforme Koloss des Römerreiches.
Die zeitgemäss gewordene Einsicht, dass «klein schön ist», kann den
Kleinstaaten nur recht sein. Der Hang hin zur Qualität und der Ab
schied von materieller Menge oder mindestens das Misstraüen gegen
über blosser Quantität erscheint manchem politischen Denker wenig
stens modellhaft erstrebenswert zu sein.
29 Vgl. die in Anmerkung 2 angeführte Literatur, besonders die Werke von Leo
pold Kohr; ferner Graf Mario von Ledebur-Wicheln, Die optimale Dimension,
Ein Problem der politischen Philosophie, Liechtenstein Politische Schriften,
Band 6, 29, 44ff.
120
Dass bei derartigen Voraussetzungen die geistig-kulturellen Belange,
wie etwa Kunst und Wissenschaft, einen ganz besonderen Stellen
wert gewinnen, scheint jedermann einsehbar zu sein. Bevor wir uns
aber dieser Fragestellung zuwenden, wird es nützlich sein, die Gefah
renquellen, die dem staatlichen Kleingebilde dauernd zu schaden
drohen, aufzuzeigen. Die positiven Aspekte der Kleinstaaterei sind
schon wiederholt dargestellt worden. Es muss deshalb wenigstens an
satzweise und stichwortartig auf ambivalente Verhältnisse und auf
die Kehrseite der Medaille verwiesen werden. Umso mehr wird dann
die Bedeutung der Kulturpolitik im weitesten Sinne des Wortes als
lebensnotwendig erkannt werden. Geistig-kreative Arbeit ist eine von
der Grösse der Gesellschaft weitgehend unabhängige Tätigkeit.
Ferner scheint die eigentliche Kreativität nach wie vor eine Aufgabe
und Auszeichnung des Individuums zu sein und dies trotz Koordina
tionsausschüssen und Teams in der vibrierenden Wirrnis unüberschau
barer Agglomerationen. Das Profil des Einzelnen kommt in kleinen
Gemeinschaften deutlicher zur Darstellung. Der Einzelne trägt in
kleinen Verhältnissen mehrerlei Verantwortung. Wo normalerweise
Tausende von Schultern zum Tragen bereitstehen, liegt in Small-
Verhältnissen die ungeteilte Last auf einer Schulter. So wird der Ein
zelne in einem breiten Spektrum von Verantwortungen gefordert,
manchmal überfordert. Damit aber stehen wir schon mitten in der
Problematik kleinstaatlicher Existenz.
Dass der Kleinstaat ein anfälliges Gebilde ist, beruht schon in seiner
Konstitution. Klein und schwach gehen wie Geschwister zusammen.
Weil der Staat klein ist, ist er schwach. Alles Kleine tut sich gegen
über dem Grösseren schwer. Derart erscheint die kleinere Gemein
schaft gegenüber der grösseren im Nachteil zu sein. Schon der rein
materielle Umfang wird allgemein als eine spezifische Qualität ein
geschätzt. Die Waage schlägt bei Ungleichgewicht deutlich aus. Der
quantitative Aspekt benachteiligt den Kleinen. So sind z. B. die
Reserven des Mikrogebildes im Verhältnis zu grösseren Sozietäten
bald erschöpft, während die wuchtende Masse der Grossen durch die
Eigendynamik — selbst beim Versagen ganzer Verwaltungszweige
und Bevölkerungskreise — immer noch in ungebrochener Wirkung
weiterrollt, als ob Plan und Ordnung ineinandergriffen und der Staat
intakt wäre. Mit anderen Worten: Kleine Gemeinschaften sind allem
Unbill der Entwicklung viel intensiver und unvermittelter ausgesetzt
121
als die im Eigengewicht ihrer Masse stehenden und von ihrem Poten
tial gehaltenen mittleren und grossen Staaten. Im Kleinstaat ist nie
mand Passagier; alle gehören zur Besatzung. Auch das Private be
kommt hier bisweilen eine öffentliche Note. Niemand entgeht so
der gesellschaftlichen Kontrolle, was auf den Betroffenen lähmend
und hemmend wirken kann. Allerdings kann — und dies sei nicht
verschwiegen — aus der Dichte des Verpflichtungsnetzes des Bürgers
gegenüber der kleinen Gemeinschaft eine äusserst agile Behendigkeit
und Reaktionsgeschwindigkeit in Krisensituationen resultieren, die
im Gegensatz zu elefantösen Bewegungsabläufen grösserer Staaten
wiederum Vorteile aufweist.
Aus all dem folgert, dass der Kleinstaat von seinen Bürgern klug
und bedacht verwaltet, die verfügbaren staatlichen Mittel sparsam
eingesetzt und die Zahl der realistischen Möglichkeiten zum vorn
herein als sehr bescheiden veranschlagt werden müssen. Nichts ge
ziemt dem Kleinen so schlecht wie Überheblichkeit und Arroganz;
wenn Zwerge Riesen spielen, überschlägt das Lächerliche ins Wider
wärtige. Bei Kenntnisnahme dieser politischen Ethik, muss man sich
fragen, welche menschliche Gemeinschaft sich dieses ethischen Stan-
darts rühmen kann. Eigentlich überfordert das staatliche Kleingebilde
die politische Moral menschlichen Durchschnitts.
Wenn ein Staat existiert, und sei er noch so klein, so muss er als Staat
erscheinen und wirken. Man kann nicht ungestraft die Staatlichkeit
beanspruchen, sich jedoch der Wirkung und Erscheinungsweise des
Staatseins entziehen. Und sind alle Staaten letztlich gleichen Wesens,
so müssen sie sich wenigstens ähnlich und vergleichbar darstellen.
Das heisst nichts anderes, als dass auch dem Kleinstaat Pflichten aus
der Völkergemeinschaft und aus dem Beziehungsnetz der Staaten
untereinander erwachsen. Der Kleinstaat muss daher eine Aussen-
politik formulieren und die Interdependenz der Staaten annehmen.
In der Realisierung dieser Einsicht stecken Forderungen, Pflichten,
Einsatz und Aufwand im Obermäss. Deshalb flieht der Kleinstaat
gern vor aussenpolitischer Verantwortung in ein stilles Abseits oder
er versteckt sich unter der Tarnmütze des Zwerges. Bisweilen ver
sucht man im Kleinstaat, den Problemkreis Aussenpolitik zu verdrän
gen. Was man der in Anspruch genommenen staatlichen Souveränität
vorenthält, wird. mit populistischem Dörflertum kompensiert. Der
Schaden wird nicht ausbleiben.
122
Indessen ist keine Gemeinschaft so klein (bei richtiger Einschätzung
des Individuums), dass sie sprachlos nach aussen und standortlos
obendrein sein müsste und keine eigene Meinung haben dürfte. Wenn
die Kleinen überhaupt nichts für die Welt tun könnten, müssten sie
im Falle des Weltunglücks wie die Polizei zum Unfall kommen und
einfach das Vorgefallene registrieren. Dem aber kann nicht so sein:
die Völkergemeinschaft kennt nicht die Passivmitgliedschaft. Die
sachliche Argumentation wirkt allenthalben, auch wenn sie aus einer
kleinen Ecke kommt. Man rate deshalb Liechtenstein nicht, im Zei
chen eines sogenannten politischen Realismus, zu wesentlichen Pro
blemen der Welt zu schweigen und fatalistisch auf die verordnete
Zukunft zu warten, sozusagen auf dem Teppich bleibend (unter den
unsere Gesellschaft soviel Unrat gekehr hat). Es wäre ein tödlicher
Irrtum, zu glauben, es genüge, Liechtenstein als Staat auf Briefmar
ken zu vermerken und sich dafür noch bezahlen zu lassen.
Der Kleinstaat ist noch von weiteren negativen Elementen bedroht.
Ihm fehlt für Ideen und Aktionen eine eigentliche Breitenwirkung.
Jede Welle bricht schon im Entstehen am Grenzzaun. So droht das
Mässige bisweilen ins Kleinliche umzukippen. Enge Grenzen begün
stigen beschränkte Ansichten. Die Zustimmung der Gesellschaft ist
nie gross, auch nicht die Verweigerung. Resonanzlosigkeit ist in klei
nen Gemeinschaften eine latente Gefahr. Man lässt es geschehen;
man kennt ihn, der das sagt. Und da man alle kennt, ergreift man
fast nie die nasskalten Hände falscher Freunde. Das mag als mensch
lich empfunden werden. Manchmal aber wirkt vieles mickerig. Die
vermeintliche Kalkulierbarkeit der Gesellschaft kann zu unterkühl
ten Verhältnissen führen, in denen Spontaneität, Herzlichkeit, Offen
heit und Verständnisbereitschaft leiden. Das Fremde und der Fremd
ling stehen dann weit abseits, in einen Dunst von Misstrauen und
Verdächtigungen gehüllt. Es gibt nur ein Da. Dort ist schon das
Ausland.
Eines der schwierigsten Probleme des Kleinstaates, besonders des
Mikrostaates, scheint heute der Aufweis, das Selbstverständnis der
staatlichen Gemeinschaft, die Schaffung einer eigentlichen Identität
zu sein. Alle Vorstufen staatlicher Eigentümlichkeiten können bei
Kleinstaaten verhältnismässig eindeutig wahrgenommen werden:
Existenzmöglichkeit für das Individuum, menschliche Gemeinschaft,
wirtschaftliches Gedeihen der Gesellschaft, Sicherheit für die Be
123
wohner, politisches und soziales Leben. Aber das Spezifische, das
ganz Andere gegenüber den andern, der Unterschied zur Nachbar
schaft, die Gewissheit, dass (enge) Grenzen Eigentümlichkeiten einr
fangen, sei dies im Blick auf Topographie, Herkunft, Volkstum, Ge
schichte, Sprache und Religion, dies herauszuarbeiten, glaubhaft vor
zustellen und sich damit zu identifizieren, fällt im Kleinstaat schwer.
Dennoch muss das Selbstverständnis einer staatlichen Gemeinschaft
einer der Urgründe eigenstaatlicher Existenz sein. Nicht zufällig
kämpften die besten Bürger des jungen souveränen Fürstentums ge
rade in der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Klärung dieser Frage
stellungen. Diese Männer haben intensiv die Gewichtslosigkeit des
Kleinstaates im internationalen Kontext erfahren, und der Zweifel
an der eigenen Position wirkte lähmend auf jede Aktivität. Peter
Kaiser, der erste Abgeordnete Liechtensteins zur Deutschen National
versammlung in Frankfurt, gehörte dort keiner Partei an und fragte
1848 ob, «wenn das Ländlein nichts Eigenthümliches hat», es dann
nicht besser wäre, ganz, österreichisch zu werden. Gegen Ende 1848
sprach man in Frankfurt von der Beseitigung der über dreissig deut
schen «Despoten» und «Häuptlingen» von der Landkarte.30 Peter
Kaisers Nachfolger in der Paulskirche in Frankfurt, Karl Schädler,
quälten dieselben Gedanken: «sollen wir nicht jezt, wo es Zeit ist
und leicht gienge, selbstthätig auf Mediatisirung dringen, oder sollen
wir uns passiv am Schlepptau der Ereignisse uns durch diese früher
oder später mediatisiren lassen?» Schädler beklagte für Liechtenstein
den «Mangel an Stoff und Kraft zur Bildung eines Staates».31 Der
Mangel an Eigengewicht und Eigentümlichkeit liess Liechtenstein
neben anderen Gründen vor und während des Zweiten Weltkrieges
in gefahrvolle Zonen abgleiten, als eine aktive Minderheit Fragen
nach der Existenzberechtigung des Kleinstaates an diesen richtete.
Aber gerade aus der Kleinheit kann Kraft, Selbstvertrauen und Iden
tität wachsen.
Kulturpolitik als Mittel zur staatlichen Identität
Wenn unser Kleinstaat, um den Mangel an Eigentümlichkeit, Stoff
und Kraft aufzuwiegen, nach zusätzlichen Existenzialien ausschaut
und diese Eigenschaften im Kulturellen — und zwar im weitesten
30 Peter Geiger, a.a.O., 1970, 128, 130. Peter Kaiser an Menzinger, 2. Juli 1848.
31 Peter Geiger, a. a. O., 1970, 150.
124
Sinn des Wortes — zu finden glaubt, wird Liechtenstein nicht irre-
laufen. So bedeutsam und innenpolitisch fundamental wichtig öko
nomische Bedingungen sind, so sekundär werden sie immer im inter
nationalen Kontext sein, weil aller Produktion in Liechtenstein das
Gewicht der Masse fehlen wird. Die Rohstoffarmut des Landes, er
schwerte Zulieferung, das Fehlen eines Binnenmarktes, begrenzter
Einsatz von Arbeitskräften, Landmangel für industrielle Grossanla
gen und anderes mehr zwingen die liechtensteinischen Unternehmen,
ortsbedingte Besonderheiten zu berücksichtigen, indem hochentwik-
kelte Technologie und Forschung bei geringem Aufwand an Rohstof
fen der materiell aufwendigen Massenproduktion bevorzugt wird.
Dass der Dienstleistungssektor, ein in Liechtenstein relativ ausgebau
ter Erwerbszweig, in diesem Zusammenhang einen besonderen Stel
lenwert bekommt, liegt auf der Hand. Der Trend zum Ausbau der
Angebote an Dienstleistungen scheint gegenwärtig noch anzudauern.
Mit ca. 44 % Anteil an der Erwerbsstruktur der Wohnbevölkerung
Liechtensteins, ist nur mehr der Sekundärsektor mit ca. 52 °/o Anteil
noch stärker, während 3,4 °/o im agrarischen Bereich ihr Fortkom
men finden.32
Alle diese Hinweise deuten auf spezifische Tätigkeiten und Zielset
zungen des Kleinstaates, sofern er in einer im Umbruch liegenden
Welt Existenzberechtigung und Nachweis seiner Eigentümlichkeit
erbringen will. Allein schon die skizzierte Interessenkonzentration
im ökonomischen Bereich verursacht ihrerseits eine Kette von Mass
nahmen, welche zutiefst kulturpolitischen Charakter haben, so etwa
im Bildungsangebot des Schulwesens. Die eingangs angeführte Defini
tion der Kultur bietet in der ganzen Breite des Horizontes Zugänge,
die in angemessener Form die Eigenart kleinstaatlicher Gemeinschaf
ten geradezu begünstigen. Es wäre hier noch manches zu bemerken.
Wir sind aber gehalten, Abkürzungen zu gehen. Unsere Aufmerk
samkeit soll Aspekten der objektiven Kultur gelten, wie der Forschung,
Wissenschaft, Kunst und den Museen, Disziplinen unter anderem, wie
32 Benno Beck, Liechtenstein und seine Wirtschaft, Fürstentum Liechtenstein, Silva-
Verlag, Zürich 1978, 140ff.; Peter Meusburger, Bevölkerung und Wirtschaft, in:
Das Fürstentum Liechtenstein, hrsg. Wolfgang Müller, Alemannisches Institut
Freiburg i. B. 1981, 169; Peter Ritter, Der Stellenwert des Dienstleistungsplätzes
Liechtenstein, Präsidial-Anstalt, Vaduz 1983; Amt für Volkswirtschaft, Liechten
stein in Zahlen, Juni 1983, Tabelle 14.
125
sie in Rechenschaftsberichten von Regierungen stramm aufgereiht zu
handen der Parlamente angeführt werden.33 Vorerst noch einige Be
merkungen zu grundsätzlichen Einsichten im Verhältnis von Kultur
und Kleinstaat.
Mir scheint, dass die Erscheinungsweise einer Gemeinschaft auch
deren Wesen zeigt. Derartige Gebilde stehen in Selbstgenügsamkeit in
sich selbst und vermitteln durch ihre dynamische Vereinigung eigent
liche Einsichten in ihr Wesen. Die Rahmenbedingungen für alle
öffentlichen Tätigkeiten der gleichsam in Bandagen geschnürten Ge
meinschaften sind in der Verfassung definiert. Die auf eine Verfas
sung eingeschworene Gemeinschaft aber ist über Gesetze angewiesen,
die Strategien zu ändern, sich anzupassen und den Erfordernissen
der Zeit offen zu bleiben. Relativ unveränderlich sind dabei die in
der Verfassung hierarchisch strukturierten Grundsätze. «Wo immer
es Leben gibt, ist es h ierarchisch gegliedert», bemerkte Arthur Koest-
ler.34 So kommt der Verfassung der Charakter eines expressiven
Symbols zu, eine holographisch gebaute Sinngestalt und ein soziales
Kulturgut erster Ordnung.
Ein weiteres expressives und kulturpolitisches Zeichen einer Gemein
schaft ist neben der gesellschaftlichen Ordnung die in Verwaltung
genommene örtlichkeit, in welcher diese Gemeinschaft lebt. Welche
Strahlungskraft gestaltete Landschaften und örtlichkeiten haben, er
fährt jeder, der sich in die Zentren alter Mittelmeerstaaten begibt.
In Italien und Griechenland spürt jeder heute noch den Anspruch
ehemaliger Völker, Staat zu sein. Und Israels Kampf für seinen
Staat gründet in den alttestamentlichen Schriften mit ihrer ortsge
bundenen Eigenart, die zusätzlich durch die moderne Archäologie
aktualisiert wird. Nicht zufällig waren und sind führende israelische
Politiker entweder Berufsarchäölogen oder sie betreiben diese Diszi
plin als Liebhaberei. So vermag eine gestaltete Landschaft selbst mit
Ruinen, Trümmern und Fragmenten noch einen gemeinschaftsbilden
den Appell zu artikulieren. Wieviel mehr müssten dann intakte Sym-
" Ein sehr umfassendes Dokument für die Kulturpolitik in Deutschland ist der
Bericht Ständige Konferenz der Kulturminister,. Kulturpolitik der Länder 1979
bis 1981, hrsg. vom Sekretariat der Kulturminister der Länder in der Bundes
republik Deutschland, Bonn.1982.
34 Arthur Koestler, Der Mensch Irrläufer der Evolution, Bern und München
1978, 58.
126
bole bewirken, die in der Heissluft brennender Aktualität stehen!
Man müsste unter derartigen Gesichtspunkten die Landschaftspflege,
den Umweltschutz, Baugesetze und Zonierungen, Denkmalschutz und
Ortsbildpflege überdenken. Zu welch negativen Resultaten gerade in
den erwähnten Sparten die Entwicklung während der letzten Jahr
zehnten geführt hat, ist erschreckend. Die Haut unserer Erde ist
förmlich von einem Bau- und Architekturausschlag befallen. Schierer
Eigennutz verdrängte alle Eigentümlichkeit. Der Mensch erliegt dem
in hämmernder Reklame vermittelten Konsumzwang, eingeflöst
durch tausend Ösen, Drähte, Fasern, Kanäle, Wellenlängen bis hin
zur Fernsehmüllverwertung. Die Uniformität der angebotenen Archi
tektur und Wohnhäuser verwischt sogar die der Landschaft von der
Natur verliehene Eigenart und vermindert so die von Peter Kaiser
angeführte geringe Eigentümlichkeit des liechtensteinischen Staates.
Die Landschaft des Kleinstaates ist schnell verbraucht, die historische
Bausubstanz rasch vertan. Der Kahlfrass des Wohlstandes ist total.
Wer sich dieser Entwicklung entgegenstemmt, tut sich schwer. Nur
langsam wächst die Einsicht in die Zusammenhänge. Derweil gefähr
den Unkenntnis und Unverstand gegenüber kulturellen Vorhaben
grosse Chancen des Kleinstaates Liechtenstein.
Im Jahre 1969 hat Fürst Franz Josef II. von Liechtenstein dem Staat
Liechtenstein einen Querschnitt aus den Fürstlichen Sammlungen als
Leihgaben angeboten unter der Bedingung der Errichtung geeigneter
Ausstellungsräume. Zehn Jahre später wiederholte der Leihgeber das
Angebot und erweiterte dieses dem Umfang nach. In einem inter
nationalen Wettbewerb bezeichnete eine Jury das Projekt von Alex
ander Freiherr von Branca, München, als den Erfordernissen eines
Kunsthauses in Vaduz am angemessensten. Eine Gemeindeabstim
mung in Vaduz und eine Volksabstimmung auf Landesebene erbrach
ten 1980 für das Kunsthaus-Projekt Vaduz Mehrheiten. Und dann
folgte 1983 der fröhliche Einstieg in die Kunsthausproblematik über
eine Initiative gegen eine vom Vaduzer Gemeinderat beschlossene
WC-Anlage in den gemeindeeigenen Bauten des Kunsthauses; dann
im gleichen Jahr eine Initiative auf Vaduzer Gemeindeebene zum
Fragenkomplex des Kunsthauses Vaduz und der damit verbundenen
Gemeindebauten. Der Gemeinderat der Residenz Vaduz hielt die
Initiative für unzulässig. Schliesslich folgte der Gang über alle Stufen
von Instanzen mit Klagen, Beschwerden, Anfechtungen und Vor
würfen.
127
Indessen steht fest, dass kein Unternehmen geeigneter wäre, Eigen
tümlichkeit für Liechtenstein zu schaffen, als das Projekt Kunsthaus.
In keinem Vorhaben kann das Wesen des Kleinstaates Liechtenstein
einprägsamer dargestellt werden als in dem von Fürst und Volk
gewollten und verwirklichten Liechtensteinischen Kunsthaus Vaduz.
Eine repräsentative Auswähl von Exponaten aus einer der ältesten
und grössten Privatsammlung der Welt fände in einem Kleinstaat
Unterkunft, der um Spezifica bemüht ist. In der jahrhundertealten
Tradition des Fürstenhauses ist der Sitz des Fürsten auch Ständort
der Sammlung. Zum Staunen der Welt wird es daher möglich sein,
auf kleinstem Gebiet, in dichter Konzentration von Kulturgut die
Grundstruktur eines Kleinstaates offerizulegen und der Staatlichkeit
Liechtensteins eine weit sichtbare Sinngestalt zu verleihen. Vor dem
Hintergrund europäischer Geistes- und Kulturgeschichte steht nach
der Verwirklichung des Kunsthauses eine humane, friedfertige, waf
fenlose, entwicklungsfähige, überschaubare, bescheidene, auf Qualität
ausgerichtete Sozietät, in der polarisierten Einheit von Fürst und
Volk organisiert, welche Existenzberechtigung und Eigenart unter
anderem aus eben dieser Kultureinrichtung beziehen. Das Kunsthaus
wird überdies Bildungsangebote für alle Stufen und Arten der Wis
sensvermittlung ermöglichen; vom Kindergarten ausgehend, über
Schulen, Erwachsenenbildung, Freizeitgestaltung, Sommerkurse,
Seminare bis zur Zusammenarbeit mit Universitäten können Aktivi
täten entwickelt werden. Den Freunden Liechtensteins, dessen Gästen
und Besuchern können Einblicke ins kleinstaatliche Leben vermittelt
werden. Das Kunsthaus selbst wird einen qualitätsvollen städtebau
lichen Akzent für den Hauptort Vaduz darstellen. In vielen Bereichen
des öffentlichen Lebens sind über kulturelle Tätigkeiten im geplanten
Kunsthaus positive Auswirkungen zu erwarten.
Neben dem Kunsthaus besitzt Liechtenstein weitere Instrumente kul
tureller Art, um sich glaubhaft darzustellen. Die 1962/63 gegründete
Musikschule arbeitet auf- Landesebene mit Erfolg. Im Jahre 1981
zählte die Schule 1800 Schüler, d. h. 7% der Gesamtbevölkerurig
Liechtensteins.35 Daraus erwächst ein breites und tiefes Verständnis
der Menschen für Musik an sich, was wiederum auf Familien, Ge
meinschaften und Dörfer ausstrahlt. Damit nicht genug. Alljährlich
organisiert die Musikschule im Sommer Meisterkurse. Ausgewiesene
35 Josef Frommelt, Conseil de PEurope, Doc. 4760 Addendum, Assembl^e Parle-
mentaire, Rapport sur l'£ducation musicale, 70ff.
128
Fachkräfte aus Zentren des europäischen Musiklebens unterrichten
fortgeschrittene Schüler in verschiedenen instrumentalen Disziplinen,
sowie in Gesang. Der ausgezeichnete Ruf der Liechtensteinischen
Musikschule erscheint besonders geeignet zu sein, das Image des Klein
staates vorteilhaft zu beeinflussen.
Das Theater am Kirchplatz in Schaan leistet im liechtensteinischen
Kulturleben einen unübersehbaren positiven Beitrag. Nach beschei
denen Anfängen mit erfolgreichen kabarettistischen Produktionen
erhielt die private Genossenschaft im Jahre 1972 einen wegweisen
den Kleintheater-Bau. Über die sehr variationsreiche Bühne des
Kleintheaters gingen Theateraufführungen hervorragender deutsch
sprachiger Tournee-Theater, Ensembles, Eigeninszenierungen, Ballette,
Dichterlesungen, Vorträge, musikalische Darbietungen, Auftritte von
Instrumentalsolisten, Festivitäten und anderes mehr. Das Foyer ist
als Galerie benutzbar, so dass zeitgenössisches Kunstschaffen unter
dem Theaterdach immer wieder Unterkunft fand. Gerade über das
Theater am Kirchplatz verbindet sich in der Theaterwelt und in
Schriftstellerkreisen mit dem Namen Liechtenstein die Vorstellung
eines idealen kulturellen Werkplatzes.
Vielleicht den breitesten Widerhall fanden die spitzensportlichen
Leistungen der liechtensteinischen Skifahrer. Es würde zu weit füh
ren, wollte man die einzelnen Ereignisse aufführen. Neben der ange
borenen Begabung für spezielle Sportarten, der ausgezeichneten und
effizienten Organisation in Liechtenstein und der nachbarlichen
Hilfe der Schweiz und Österreichs beim Training war nach überein
stimmender Auskunft der Athleten vor allem das Gefühl, nicht der
Siege fordernden Masse heimatlicher Fans ausgeliefert zu sein, son
dern die Gewissheit, dass man auch mit geringeren Leistungen im
Dorf daheim auf jeden Fall willkommen sein wird, die eigentliche
Motivation.36
Das Liechtensteinische Landesmuseum gilt als vorbildliches Klein
museum, das seit der Eröffnung im Jahre 1972 im gotischen Gasthaus
«zum Hirschen» eine bleibende Stätte gefunden hat. Im Landes
museum findet vor allem Kulturgut aus dem liechtensteinischen
Staatsgebiet Unterkunft. Hier sind die sehr bedeutsamen prähistori
schen Funde untergebracht; das halbe Jahrtausend römischer Herr-
36 Rudolf Schädler, Olympia Führer, Vaduz 1980.
129
schaft wird einprägsam vorgestellt; die Epoche der Christianisierung
und des frühen Mittelalters erhielt durch die Bodenforschung in jün
gerer Zeit besonderes Profil; Hoch- und Spätmittelalter sind in
beachtlichen Werken kirchlicher Kunst dokumentiert, ebenso die
barocke Kunst; Volkskunde und Kunsthandwerk sind Abteilungen
des Museums, die im Ausbau begriffen sind. Bis zum Bezug des Liech
tensteinischen Kunsthauses werden Teile der weltberühmten Waffen
sammlung des Fürsten im Landesmuseum gezeigt.37
Die Reihe kulturell tätiger Organisationen könnte noch weitergeführt
werden. Die Leistungen des Historischen Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein sind allein schon durch die Herausgabe von mehr als
80 wertvollen Jahrbüchern zur Geschichte Liechtensteins ausgewie
sen. Er veranlasst und verwaltet die archäologischen Ausgrabungen
im Gebiet des Fürstentums, die weit über die Staatsgrenzen hinaus
für die Ur- und Frühgeschichte von Bedeutung sind. Zu jüngeren
Institutionen zählen die Liechtensteinische Staatliche Kunstsamm
lung, die Landesbibliothek, das Rheinbergerarchiv, das Briefmarken
museum und die diversen Ortsmuseen. Mit zugerechnet werden müs
sen die kirchlichen Organisationsformen, wie Kirchenchöre, dann die
ganze Skala von kulturell tätigen Ortsvereinen, Musikkapellen, Män-
ner- und Frauenchöre, folkloristische Vereinigungen und dergleichen
mehr. Sie alle leisten wesentliche Beiträge zur Selbstfindung des
Kleinstaates.
Hilfreiche Strukturen für den Kleinstaat
Es scheint heute eine grundlegende, völlig neue Einsicht in manche
Gebiete der Wissenschaften einzuziehen: Die Theorie der dissipativen,
offenen, energieverbrauchenden Strukturen wird, im Gegensatz zu
den geschlossenen Systemen, als ein dynamisches Modell zur Erklä-
ung evolutiver Vorgänge vorgeschlagen. Je komplexer eine offene,
energieverzehrende Struktur ist, desto anfälliger und verwundbarer
wird sie. Solche Gebilde sind in stetem Wechsel begriffen, weit ent
fernt von Gleichgewichtigkeit und Stabilität. Das wäre ihr Tod. In
stabilität erweist sich als Zugang zu einer entwickelteren Ebene, als
Schlüssel zum Überstieg und zur Transformation. Alsdann fügen
sich die Teile gestresst zu einem neuen Ganzen, zu einem System
37 Liechtensteinisches Landesmuseum Vaduz, Wegleitung, Vaduz 1975.
130
höherer Ordnung zusammen — oder sie gehen unter. Diese Grund
einsichten des belgischen Physikers und Chemikers Ilija Prigogine
wurden 1977 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.
Derartige Erkenntnisse sind natürlich geeignet, auch auf geisteswis
senschaftliche und humane Disziplinen übertragen zu werden. In der
Tat weisen Historiker darauf hin, dass kreative Minderheiten grosse
Gesellschaften neu organisieren können: «Die historische Analogie
ist so offensichtlich», sagt Prigogine. «Fluktuationen, das Ver
halten kleiner Gruppen von Menschen können das Verhalten einer
Gruppe insgesamt völlig verändern.»38 Unverkennbar setzt heute eine
Wanderung weg von der grossen, imponierenden Masse hin zur Qua
lität ein. Daniel Bell sieht in seinem Werk «Die nachindustrielle Ge
sellschaft» nach einer eingehenden Analyse von Gesellschaft, Wirt
schaft und Technologie die Auswirkungen auf den kulturellen Sektor
der nachindustriellen Gesellschaft darin, dass sich die Gesellschaft
vermehrt nach expressiven, sinnstiftenden Symbolen, geistigem Schaf
fen und ethischen Grundsätzen ausrichten wird. Auch Bell sieht unter
anderen die künftige gesellschaftliche Entwicklung in Richtung klei
ner Einheiten; er nennt sie «kommunale Gesellschaft».39 Man könnte
vereinfachend sagen, dass der gegenwärtige Trend, im Schatten töd
licher Raketen der Grossmächte die Vorzüge kleiner humaner Ge
meinschaften wieder zu entdecken und vermehrt zu schätzen, den
Kleinstaaten günstig ist.40 Sie sind nicht in der Lage, artzerstörende,
nukleare Vernichtungsmittel herzustellen. Damit wird Unvermögen
ein Garant der Art- und Lebenserhaltung. Auch ökologisch muss der
Kleine für Ordnung in der kleinen Wohnung sorgen. Ihm ist kein
Rückzug in andere Zimmerfluchten des Welthauses möglich. Die
Steigerung der eigentlichen Lebensqualität aber, die Vertiefung in
die Sinnzusammenhänge des Daseins, die Orientierung an expressi
ven Symbolen, die Aufwertung kulturellen Schaffens bei geringerem
Einsatz für blosse Existenzsicherung und gleichzeitigem Zuwachs an
Freizeit und Freiheit — all das sind Hoffnungen, um deren Verwirk
lichung im Kleinstaat zu arbeiten es sich lohnt.
88 Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung, Neue Dimensionen, Basel 1982,
193f.
S9 Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Rowohlt, 1979, 29f., 351ff., 363ff.
40 Gerard Batliner, Strukturelemente des Kleinstaates — Grundlagen einer liech
tensteinischen Politik — ein Versuch, Liechtenstein Politische Schriften, Band 1,
11 ff.; derselbe, Zu heutigen Problemen unseres Staates, Liechtenstein Politische
Schriften, Band 6, 1976, 197ff.
131
Licht und Schatten über der KSZE
Graf M. v. Ledebur'
Und wenn ich wüsste,
dass morgen die Welt unterginge,
ich würde dennoch heute
mein ^Apfelbäumchen pflanzen.
(Martin Luther)
' Die vorliegenden Ausführungen geben einzig die persönliche Auffassung des Ver
fassers wieder.
133
Einteilung:
Seite
1. Kapitel: Zehn Jahre KSZE 135
2. Kapitel: Entspannungspolitik 137
I. Geschichtlicher Rückblick 137
II. Grundsätzliche Analyse, Beginn 139
III. Definition der Elemente des Entspannungsbegriffes 140
IV. Vertiefung der Definition: ambivalentes Innehalten 143
V. Auflösung der Ambivalenz 144
VI. Folgerungen für den totalitären und den demokratischen
Partner 145
VII. Zentrale Folgerungen 146
3. Kapitel: Die KSZE 148
I.Vorgeschichte 148
II. Anlass und Ursache — Ziele und Wirkungen 153
III. Struktur des KSZE-Prozesses 156
1. Das Blaue Buch 157
Einheit in der Stellung der Teilnehmerstaaten —
Verfahrensfragen 158
Einheit in der Aufgabenstellung? 161
Einheit in der Durchführung? 166
2. Die Helsinki-Schlussakte 167
4. Kapitel: Die Folgekonferenzen — Der Entspannungsprozess
und seine Vertiefung 175
I. Die mittelfristige Perspektive: Taten und nicht Worte 176
II. Die langfristige Perspektive: Ausgewogenheit 178
5. Kapitel': Liechtenstein in der KSZE 182
I.Sicherheit 184
II. Verfahrensfragen 187
III. Der Dritte Korb —
Das menschliche Gesicht der Entspannung 188
6. Kapitel: Zusammenfassung 191
134
1. Kapitel: Zehn Jahre KSZE
Am 22. November 1982 waren es zehn Jahre, dass sich die Vertreter
von 33 europäischen Staaten, der USA und Kanada in einem auf der
Halbinsel Dipoli bei Helsinki gelegenen futuristischen Gebäude des
Syndikats der finnischen Architekturstudenten an einen Tisch setzten,
um in mühseliger Arbeit das sogenannte «Blaue Buch» auszuhandeln.1
Dieses Buch, genauer ist es ein Büchlein, enthält in 96 Sätzen die Ver
fahrensregeln, nach denen in der Folge im Auftrage der Aussenmini-
ster derselben Staaten in noch mühseliger Arbeit in Genf die soge
nannte Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammen
arbeit in Europa (KSZE) ausgehandelt wurde.2
Unterschrieben wurde diese Schlussakte durch die Regierungschefs der
selben 35 Staaten am 1. August 1975 in Helsinki. Auf der Grundlage
dieser beiden Dokumente, der Verfahrensregeln und der Schlussakte,
läuft seither der sogenannte KSZE-Prozess. Er hat neben einer Reihe
von Expertentreffen, die Spezialthemen gewidmet waren,3 vor allem
zu den Uberprüfungskonferenzen über die Durchführung der Hel-
sinki-Schlussakte geführt. Die erste dieser Uberprüfungskonferenzen
fand in Belgrad statt.4 Die zweite hat im Herbst 1980 in Madrid be
gonnen. Ihr Verlauf, von den Ereignissen in Polen unterbrochen, ist
im Moment noch nicht abzusehen.5
1 Vorbereitung: Konsultationen der in Helsinki akkreditierten Botschafter der
künftigen KSZE-Teilnehmerstaaten vom 22. November 1972 bis 8. Juni 1973.
2 Genfer Phase der KSZE vom 18. September 1973 bis 21. Juli 1975. Ihr ging
das Treffen der Aussenminister der Teilnehmerstaaten vom 3. bis 7. Juli 1973
in Helsinki voraus.
5 Expertentreffen der KSZE:
a) Wissenschaftliches Forum Hamburg, 18. Februar bis 3. März 1980;
Vorbereitungstreffen Bonn, 20. Juni bis 28. Juli 1978;
b) Friedliche Regelung von Streitfällen, 31. Oktober bis 11. Dezember 1978
in Montreux;
c) Wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit im Mittel
meerraum, 13. Februar bis 26. März 1979 in La Valetta, Malta.
4 I. KSZE-Folgetreffen Belgrad:
Vorbereitungstreffen: 15. Juni bis 5. August 1977;
Haupttreffen: 4. Oktober 1977 bis 9. März 1978.
6 II. KSZE-Folgetreffen in Madrid:
Vorbereitungstreffen: 9. September bis 10. November 1980,
Beschlüsse veröffentlicht 14. November 1980;
Haupttreffen: 11. November 1980 bis 9. September 1983.
Die vorliegenden Ausführungen wurden im wesentlichen im Herbst 1982 redi
giert. Die Ergebnisse des Madrider-Treffens bedingen keine weiteren Änderun
gen (siehe auch Fussnote 30).
135
Der so in seinem äusseren Ablauf umschriebene KSZE-Prozess ist
ohne Zweifel eines der kompliziertesten und gewagtesten Verhand
lungssysteme in der Geschichte der europäischen Diplomatie gewor
den. Er umfasst ausser Albanien alle Staaten Europas, sowie die USA
und Kanada.
Es gibt vorzügliche Veröffentlichungen an Hand derer man sich über
die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses, die schliesslich zur Kon
ferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa führte, sowie
über deren Verlauf orientieren kann. Dem Europa-Archiv kommt
das Verdienst zu, die wesentlichen Texte in zwei Bänden zugänglich
gemacht zu haben.6 Im folgenden geht es nicht darum zu wieder
holen, was man auch anderenorts lesen kann. Aus der Optik eines
neutralen Beobachters soll versucht werden, einen einzigartigen Vor
gang der europäischen Diplomatie der Nachkriegszeit, seinen beson
deren Platz im Entspannungsprozess, seine Struktur, mit seinen
Schwierigkeiten und Möglichkeiten so darzustellen, dass eine verant-
wortungsbewusste Wertung vorgenommen werden kann.
Warum ist das so schwer? Die KSZE wurde von vielen ihrer Befür
worter mit schlechten Gründen propagiert und von vielen ihrer Geg
ner mit ungenügenden Gründen, ohne Sachkenntnis verworfen.
Die KSZE ist ein Langzeit-Programm, ist Teil eines Ringens um die
Lösung des Ost-West-Konfliktes in Europa. Was immer man unter
einer solchen «Lösung» verstehen mag, ihren Wert oder Unwert wird
die KSZE erst dem zeigen, der bereit ist, sich der Gesamtheit der
bitteren Erfahrungen, die die europäischen Völker seit Beginn des
Ersten Weltkrieges, seit November 1917, und seit dem Zweiten Welt
krieg gemacht haben, zu stellen und der dann bereit ist, zu fragen:
Wie kann, wie soll es weitergehen? Die Kenntnis der wichtigsten
europäischen Konflikte dieses Jahrhunderts, deren Wirkungen ja
aktuell sind, muss vorausgesetzt werden.
• Beiträge und Dokumente aus dem Europa-Archiv:
a) KSZE-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Bonn 1976;
b) KSZE Das Belgrader Folgetreffen. Der Fortgang des Entspannungsprozesses
in Europa, Bonn 1978,
künftig zitiert als Europa-Archiv 1976 oder Europa-Archiv 1978 mit Seiten
angabe.
Weitere bedeutende Dokumentation bietet: Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (KSZE), 2 Bände, Köln 1973/1978, Verlag Wissenschaft und Politik.
136
Ebenso notwendig ist es aber auch, dass man sich mit den besonderen
Erkenntnissen der Strategie unter den Bedingungen des Atomzeit
alters vertraut macht. Diese Bedingungen zwingen die Mächte zu
ganz bestimmten Verhaltensmustern im Versuch, dem Gegner ge
wachsen zu sein, den Frieden zu sichern, die gegnerische Friedenswil
ligkeit abzutasten.
Wir beginnen daher mit einem Versuch, Klarheit über den Begriff
Entspannungspolitik zu gewinnen.
2. Kapitel: Entspannungspolitik
I. Geschichtlicher Rückblick
Aus dem Alptraum einer nationalsozialistischen totalitären Herr
schaft über Europa erwachten die Völker dieses Kontinentes nur, um
sehr bald zu erkennen, dass ein neuer Imperialismus und ein neuer
Konflikt ihre Freiheit bedrohten. In diesem Zusammenhang wird
heute oft der ideologische Gegensatz zwischen West und Ost und das
Ringen der Supermächte um die Weltherrschaft genannt, was die
Teilung des Kontinentes, den Kalten Krieg und das Wettrüsten ge
bracht habe.
Es muss aber mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass die Sowjet
union, eine seinerzeit mit Hitler verbündete Grossmacht, sobald der
Diktator gefallen war — ja schon vorher, in Jalta, in Teheran und
in Potsdam — die Lage ihrer erschöpften Nachbarvölker nutzte, um
ungehindert eine Politik der Annektion, der Kolonisation, der Um
siedlung und Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile in Angriff zu
nehmen und um sich vor ihren Grenzen eine Art freie Aufmarschbasis
zu schaffen.
Was aus russischer Sicht die Ursachen für diese Entwicklung sind,
kann hier nicht ausgeleuchtet werden. Jedenfalls sah sich Stalin als
Exekutor des lenin'schen Testaments veranlasst, diese Politik konse
quent zu betreiben. Um in jeder Art die sowjetische Vorherrschaft
gegen Westeuropa abzusichern, geschahen Dinge, wie wir sie in jüng
ster Zeit vielleicht in Südostasien beobachten konnten. Dies alles er
137
folgte im Namen einer Ideologie, im Namen eines Evangeliums vom
neuen Zeitalter und. seinem neuen Menschen. Diese Ideologie soll
rechtfertigen, dass alles menschliche Empfinden mit Füssen getreten
werden darf.
So entstanden die sogenannten Satellitenländer — ein neuer Begriff
in der europäischen Geschichte — und es erfolgte in ihnen die «Ab
stimmung mit den Füssen». Wo jede Möglichkeit zur Vertretung der
eigenen Meinung genommen war, wo Staatspolizei und Sicherheits
dienst mit seit dem Nationalsozialismus etwas veränderter Kopfbe
deckung neu auftraten, entschloss man sich zur Flucht in den damals
sogenannten «goldenen Westen».
Das Resultat einer im Tiefsten der Haltung ihrer Untertanen un
sicheren und auf Wahrung ihrer Position bedachten Führungsgruppe
in Osteuropa waren die Teilung Europas und der sogenannte Kälte
Krieg. Zwei Zentren stehen sich seither gegenüber, das eine monoli
thisch und straff geführt, das andere polyzentrisch, demokratisch,
beide miteinander rivalisierend, getrennt durch den Eisernen Vor
hang, dieser befestigt mit Mauern und schliesslich mit automatischen
Schiessanlagen. Das ist auch heute die Situation.
Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht erwähnen würden, dass
quer durch Europa, vom Nordkap bis zur Türkei, entlang der Elbe
und Donau, mitten durch Berlin, eine Linie von etwa 2500 Kilometer
Länge verläuft, an der Tag und Nacht einsatzbereit die fantastischste
Konzentration konventioneller und atomarer Streitkräfte liegt, die
die Welt je gesehen hat.
Und das Wettrüsten geht weiter, überall auf der Welt, aber ganz be
sonders an dieser Linie. Das ist die europäische Realität. Das, und
die Tatsache, dass seit 1945, mit Ausnahme der Niederschlagung von
Aufständen in Ungarn, Polen, der DDR und der CSSR, die Waffen
dank dem Gleichgewicht des Schreckens nicht über diese innereuro
päische Grenze losgegangen sind.
Diese von einer Seite im Namen einer Ideologie bewusst in Szene ge
setzte, entsetzliche Situation mitten in Europa wird nur deshalb über
sehen, weil es unter geschickter Ausnützung verschiedener Gruppen
interessen im Westen der sowjetischen Führung immer wieder gelingt,
mit einem Rauch- und Weihrauchvorhang ihre «Erfolge» zu tarnen.
138
Was soll in diesem Zusammenhang das Wort «Entspannung»? Werden
die Helden müde, lassen sie die Waffen sinken? Oder handelt es sich
um eine neue Kriegslist des einen oder des anderen? Nur in voller
Kenntnis aller dieser Umstände, dieser gewaltigen Interessengegen
sätze, des ans Ubermenschliche grenzenden Einsatzes von Energie und
Mitteln, dieser Abgründe von Gewalt, Angst, Leid und Schuld —
von Hass wollen wir nicht mehr sprechen; er führt in dieser Situation
nicht weiter — kann man auch einmal an Entspannung denken. Man
kann sich im vollen Bewusstsein der eigenen, gewiss relativen Stärke
und in der Entschlossenheit, die Prüfung, die einem durch den Willen
des Gegners auferlegt wurde, auszuhalten, auch einmal fragen, wie
es dem anderen zumute sein muss, wenn er nie zu seinem Ziel kommt.
Das Spiel mit der Entspannung wurde durch Chruschtschows Begriff
der friedlichen Koexistenz eingeleitet. Es sollte den Kalten Krieg ab
lösen. Es wurde weitergeführt durch Breschnews Formel «Sicherheit
und Kooperation». Beides entsprach immer auch der Idee: Klassen
kampf mit anderen Mitteln. Dies war seit eh und je ein Element der
russischen Politik. Seit Lenin, seit Molotow und Stalin, seit Rapallo
geistert der Plan eines neutralisierten, wirtschaftlich starken, politisch
dem Sowjetimperium gefälligen Westeuropa in den Diskussionen von
ideal gesinnten Intellektuellen. Diese Art Entspannung wäre die
schiefe Ebene, auf der man sich den Gedanken erlaubt, durch Wirt
schaftshilfe an den Ostblock den Druck auf wesentliche Positionen
des Westens auskaufen zu können. Der eigenen Führung ungewiss,
durch verständnislose Medien verunsichert, durch Irrtümer, Konzes
sionen und Abstriche erniedrigt, vermutet die öffentliche Meinung
im Westen hinter der Entspannungspolitik oft zu Recht ein Manöver,
mit dem irgendwelche Kreise ein Geschäft auf Kosten echter Sicher-
heitsinteressen machen wollen.
II. Grundsätzliche Analyse, Beginn
Aber ist, so fragen wir, nachdem Lenin die Grundsätze der Entspan
nungspolitik zuerst formuliert hat (Die Kapitalisten werden uns die
Stricke verkaufen, an denen wir sie aufhängen), nachdem die Sowjet
union es vorzüglich verstand, die Entspannungspolitik zu ihren Gun
sten auszunutzen (Wechselbad: Spannung — Entspannung — Span
nung, und Salami-Taktik: zwei Schritte vor, eine Konzession zurück),
und nachdem der Westen sich leicht mit sich selbst zerstreitet, verrät
139
und inkohärent vorgeht — ist deswegen die Entspannungspolitik viel
leicht doch noch nicht an sich schlecht, oder ist sie auf das Verhältnis
mit dem Osten nicht auch vorteilhaft anwendbar?
Hierbei muss präzisiert werden: Für echte Entspannungspolitik bietet
sich sicher nur ein enger Spielraum, dessen Grenzen und Möglichkeiten
genau erfasst und eingehalten sein wollen.
Entscheidend scheinen folgende Erkenntnisse:
— Es darf kein Missverständnis über den Begriff Entspannung vor
liegen.
— Die Entspannung wird nur in einer ganz bestimmten Situation
von beiden Teilen grundsätzlich bejaht werden.
— Abgesehen von dieser Ausgangslage bildet und fordert sie bei bei
den Rivalen ganz bestimmte Verhaltensmuster. Diese sind mehrdeutig
und müssen eindeutig aufgelöst werden.
— Schliesslich ist mit der Entspannung die Entscheidung resp. die
Lösung des Konfliktes noch nicht erreicht. Bestenfalls handelt es sich
um Entschärfung. Die Weiterführung der Rivalität muss im Gefolge
der Entspannung neu überdacht und neu bestimmt werden.
III. Definition der Elemente des Entspannungsbegriffes
Obige Zusammenfassung der einfachsten Regeln der Entspannungs
politik erweist sich in der Praxis als ungenügend. Es steht dafür, die
Analyse zu vertiefen. Entspannung darf echte Sicherheitsinteressen
nicht ins Wanken bringen. Entspannung ist wesentlich komplementär
nur innerhalb einer Marge denkbar, die Sicherheit für beide Rivalen
nicht ausschliesst. Wir erkennen dann, bis zu welchem Punkt die Ent
spannungspolitik ein stets mehrdeutiger Versuch bleibt, der durch
weitere Erkenntnisse über die wahren Absichten und Möglichkeiten
des Gegners abgesichert werden muss. Wiederholen wir also ausführ
licher:
1. Am meisten Verwirrung entsteht wohl dadurch, dass man sich über
den Ausdruck Entspannung im Unklaren ist und meint, das wäre nun
140
der neue Name für Friede. Entspannungspolitik gehört in das Kapitel
Krisenmanagement. Sie ist bestenfalls eine Vorstufe, ein Element des
Friedens, ein Augenblick der Besinnung, der im Moment akuter gegen
seitiger Bedrohung von beiden Seiten eingehalten wird, um noch
Schlimmeres zu verhindern. Dies setzt auf beiden Seiten Verantwor-
tungsbewusstsein, Wachsamkeit und effektive Kontrolle der Lage
voraus. Dann kann, um ein Bild zu gebrauchen, zwischen zwei Syste
men, die miteinander rivalisieren und die in unvermittelter Reaktion
explodieren müssten, so viel Dampf abgelassen werden, dass das Ver
hältnis weiterbesteht. Was in früheren Zeiten als ein Moment des
Abwartens zwischen zwei akuten Phasen der Auseinandersetzung
registriert werden konnte, wird unter dem Druck der atomaren Be
drohung zu einem Zustand gedehnt, der seine eigenen Gesetze hat.
Aus der Momentaufnahme eines Waffenstillstandes wird eine mit der
Zeitlupe feststellbare Bewegung. Der Sinn der folgenden Seiten ist es,
den Verlauf dieser Bewegung in einzelnen Phasen erkennbar zu
machen.
2. Entspannung setzt eine bestimmte Ausgangslage unter den Rivalen
voraus, nämlich die Erkenntnis, dass sich durch weiteres einseitiges
Anheben der Spannung nichts gewinnen lässt, dass der Gegner in der
Lage ist, dasselbe zu tun, und dass durch dieses Vorgehen für beide
Teile der Moment näherrückt, wo beide über die Grenze ihrer Lei
stungsfähigkeit in die Zone der Erschöpfung (Entropie) resp. der Zer
störung geraten. Eine Feststellung des Unentschieden ist also für beide
von Vorteil, und wie der andere, oft beschworene Satz heisst: «Die
Entspannung ist die einzig vernünftige Alternative.»
3. Sofern nicht einer wirklich einlenkt, läuft das Rivalitätsverhältnis
hernach begrenzt weiter und die Frage stellt sich, ob es begrenzt bleibt
oder ob die Spannung wieder gefährlich steigt. Jeder Rivale wird
versuchen, auf Nebengeleise auszuweichen, um sich im Zeichen der
Entspannung indirekt weitere Vorteile zu sichern, dort, wo sie für
den anderen weniger kritisch sind. Es zeigt sich also ein bestimm
tes Verhaltensmuster. Entspannung kann und darf vorerst wesent
liche Interessen, also echte Sicherheitsinteressen (essentials) der Riva
len nicht berühren oder verändern. Sobald die Rivalität auf Um
wege ausweicht, werden Nebengebiete latent kritisch. Die Entspan
nungspolitik erstreckt sich also zuerst auf einen marginalen Spielraum
und bleibt von den wirklichen Sicherheitsinteressen her gesehen stän
141
dig umkehrbar, schillernd und zweideutig. Aber das Verhalten der
Rivalen als Ganzes und in jedem Bereich, wo ihre Interessen sich
berühren, wird bald von ihr erfasst. Es gibt keine Entspannung in
Segmenten. Spannung oder Entspannung ist ein Zustand und kenn
zeichnet immer das Verhältnis als Ganzes. In diesem Sinne ist Ent
spannung unteilbar und unter Supermächten bald einmal global. Auf
der ganzen Bandbreite ihrer Beziehungen hat der Test eingesetzt, wie
weit es jedem von ihnen ernst ist, keinen Vorteil zu erreichen, der für
den anderen potentiell kritisch, also wirklich bedrohlich werden
könnte. Hier ist der Punkt erreicht, wo die Entspannung vertieft wer
den kann und wo sie verifizierbar werden muss.
Vertiefung heisst: ein Gegner gibt dem anderen zu erkennen, inwie
fern er bereit ist, Veränderungen in Kauf zu nehmen oder selbst solche
vorzunehmen, wodurch für. den anderen Teil zusätzliche Sicherheit
entsteht/Die Bereitschaft zur Entspannung wird zuerst im Einlenken,
im Verzicht auf marginale eigene Interessen dem Gegner signalisiert,
muss aber, um glaubhaft zu werden, immer näher im Gebiet der
«essentials» verifizierbar sein.
4. In diesem Punkt setzt eventuell ein Prozess ein, der von den für
jeden Teil noch marginalen Konzessionen zu den wesentlichen Punk
ten übergeht. Das ist der Schritt über die Entspannung hinaus. Hier
handelt es sich um die Bereitschaft, das immer noch grundsätzlich
ambivalente Verhältnis in eine eindeutige Beziehung überzuführen.
«Wir wollen die Entspannung irreversibel machen.» Auch dieser Satz
kann noch doppelt gedeutet werden: heisst irreversibel die Vorherr
schaft eines Teils, oder heisst irreversibel ein echtes friedliches Ver
hältnis? Wir kommen hierauf zurück.
5. Hinzufügen muss man gleich: Das ganze Gebäude der Entspan
nungspolitik gleicht einer Bühne, die auf schwankenden Brettern
schwankende Schauspieler zeigt. Da.s Grundverhältnis der Partner ist
stets im Fluss und kann.von einem Punkt her, wo keiner es erwartet,
plötzlich wesentlich gestört werden: überraschende Entwicklungen
der Waffentechnik, im Energiehaushalt, Erdöl, atomare Forschung,
innenpolitische Unruhen usw. Die Entspannung erfolgt also, wenn
überhaupt, jedenfalls nicht geradlinig, sondern trotz Wechselfällen
und Rückschlägen. Sie kann auch abbrechen und hernach wieder auf
genommen werden.
142
IV. Vertiefung der Definition: ambivalentes Innehalten
Fassen wir zusammen: Entspannungspolitik spielt einen gefährlichen
Gegner nicht verantwortungslos an die Wand, wo ihm nur Verteidi
gung mit den letzten Mitteln übrigbliebe. Insofern ist sie Komponente
einer echten Friedenspolitik. Sie führt ihn, richtig verstanden, bis zu
dem Punkt, wo der Rivale sich einschränkt, aber nicht wesentlich
bedroht fühlt, und wo er sich vor die Frage gestellt sieht, ob er selbst
einwilligen will, das Rivalitätsverhältnis neu zu überdenken und in
einer neuen, nicht mehr riskanten Dimension weiterzuführen.
Oft begnügt man sich mit dieser Analyse der Grundbegriffe, aber
hier setzen wieder bohrende Fragen ein. Entspannungspolitik kann
nämlich keineswegs auf Sicherheit verzichten, und so ist vom militä
rischen Gesichtswinkel ein hoher Grad von verifizierbarer Informa
tion eine Voraussetzung. Denn der Entspannung zwischen zwei Riva
len unterliegen möglicherweise bis zuletzt zwei Philosophien. Der eine
oder beide Rivalen bleiben latent aggressiv und warten auf ein mög
liches Fehlverhalten, eine Schwäche des andern, um das zukünftige
Verhältnis dann einseitig bestimmen zu können. Hier ist das Angebot
zur Entspannung zuerst einmal ein Schwächezeichen, ein Signal zum
beiderseitigen Atemholen, wonach es gilt, der Erste zu sein, um den
Rivalen in seiner Unterlegenheit zu fixieren. Wir können das die erste
Lesart des Wortes Entspannung nennen. Sie kommt jedem Rivalen
unmittelbar und ist völlig selbstbezogen. Sinn der Entspannung ist
hier wesentlich: Zeitgewinn und Täuschung des Gegners.
Eine andere Auffassung kann sich nur leisten, wer im Wesentlichen
sicher und im Rahmen seiner eigenen Bedingungen befriedigt ist. Dies
setzt militärisch, wirtschaftlich und politisch ein hohärentes, nicht
erpressbares, auf alle Krisensituationen eingespieltes Verhalten voraus.
Entspannung heisst hier eine flexible, auf alle Druckversuche einge
spielte Politik des Containment, die die Bereitschaft einschliesst, vom
Konflikt abzurücken, in dem Mass, als auch der Gegner bereit ist,
dies zu tun. Wir können dies die zweite, kritische, nicht unmittelbar
selbstbezogene Lesart des Begriffes Entspannungspolitik nennen.
Entscheidend ist trotz allem was gesagt wird: Beide Haltungen kön
nen nach aussen nicht grundsätzlich unterschieden werden. Im Kern
des Entspannungsvorganges steht auf jeder Seite eine Frage. Sie lautet:
143
Täuschung oder Loyalität zum Rivalen? Zwischen beidem liegt ein
Punkt der Umkehr, den jede Seite angesichts der Möglichkeit, durch
eine Eskalation der Spannung einen Gewinn einzustreichen, in eigener
Verantwortung finden muss. Das Entspannungsverhältnis ist bis zu
letzt bipolar, und jeder Pol kann, da er ja nicht durch eine Niederlage
bezwungen wurde, bis zuletzt die eine der beiden Zielsetzungen des
Entspannungsprogrammes — Einlenken oder Täuschung — selbst
bestimmen.
V. Auflösung der Ambivalenz
So stellt sich die Frage nach eindeutigem Ziel und Gehalt der Ent
spannungspolitik. Erst wenn beide Pole die gleiche Zielsetzung akzep
tieren, endet der Entspannungsvorgang in einem neuen Verhältnis:
entweder mit der Niederlage des einen resp. des anderen Rivalen,
oder zunehmend in einer, echten Kooperation beider in jenen Gebie
ten, in denen ihre Sicherheit nicht bedroht ist. Im Zentrum des Ent
spannungsvorganges steht also nicht mehr ein blosses Problem der
Macht, sondern eine Frage, die mit einer gewissen staatsmännischen
Einsicht in das Verantwortungsbewusstsein des Gegners ausgelotet
werden muss. Die Frage lautet: Meint es der Gegner ernst? Ist echter
Wille zur Verständigung unter Berücksichtigung der gerechten Inter
essen beider zwischen uns möglich? Oder sind wir Gefangene einer
katastrophalen Entwicklung, die wir beide nicht wollen? Hier, in dem
vollen Bewusstsein: Es gibt nur noch eine Alternative, die wir beide
nicht wollen, werden die Pole der Entspannungspolitik umkehrbar.7
Echte Entspannungspolitik ist also eine Gratwanderung zwischen den
eigenen Interessen, den dem Konflikt übergeordneten gemeinsamen
Interessen, und einem Abgrund — Täuschung durch den Rivalen. Sie
bewegt sich einem schmalen Rand entlang, bis ein Zustand erreicht
7 Es zeigt sich, nebenbei bemerkt,- auch der beschränkte Wert der Auffassung,
die Entspannüng , könne durch-den Test 'verifiziert werden. Wohl können die
beiden grundsätzlichen Haltungen nach aussen erst durch den Test, also wenn
sie verifizierbar sind,- unterschieden werden. Der Test stellt aber einen Vor
schubs an' Vertrauen in die Loyalität des Rivalen dar. Er kann daher meistens
nur in einem marginalen. Rahmen gegeben werden. Die Bereitschaft zum Test
ist also meist nur ein Signal an den Gegner, auf ein Entspannungsmänöver ein
zugehen. Es muss mehr'als Jein Test'vorliegen^ Es muss" die Marke vom Täu
schungsmanöver zur Loyalität erkennbar überschritten werden, damit Ver
trauen aufgebaut werden kann.
144
ist, wo sich die Rivalität im Gebiet der wesentlichen Bedrohung löst.
Diese Gratwanderung kann nur der durchhalten, der mit sich selbst
nicht mogelt, der also weiss, dass er einer unerbittlichen Prüfung
durch den Rivalen ausgesetzt ist, in der er keine Schwäche zeigen
darf. So muss man wachsam, mit sich selbst im Reinen sein und das
eigene wie das Verhalten des Gegners genau analysieren.8 Das sind
harte Anforderungen, sowohl für ein zentral gesteuertes, straff geführ
tes System wie für eine demokratische Gesellschaft oder ein lockeres
Bündnis. In beiden Strukturen löst der Entspannungsvorgang eine
interne Auseinandersetzung aus. Die ganze Gruppe ist jedesmal auf
Kohäsion, auf Uberwindung des Gegners, auf endgültige Entschei
dung des Konflikts im eigenen Interesse programmiert. Nun soll zu
rückbuchstabiert werden! Wie weit? Der Entspannungsvorgang löst
in jedem System eine zu seiner Aggressivität und Effizienz gegen
läufige Bewegung aus. Dies bedeutet also eine gewisse interne Krise.
Theoretisch wird man vorhersagen, dass diese Krise dann nicht zur
Auflösung des betreffenden Systems führt, wenn die Neuorientierung
deutlich innerhalb der ursprünglichen Motivation liegt.
VI. Folgerungen für den totalitären und den
demokratischen Partner
Es ist nützlich, auch noch die Folgerungen zu betrachten, die sich aus
obigem für zwei verschieden geartete Systeme ergeben:
Es gibt überall Falken und Tauben. Die Auseinandersetzung zwischen
ihnen muss innerhalb der Führung integriert werden. Eine totalitäre
und eine demokratische Führungsstruktur werden mit dieser internen
Auseinandersetzung aber in verschiedener Weise belastet.
8 Dies ist ein wichtiger Punkt: Mit sich selbst im reinen sein! Jeder Stratege hat
gelernt: das eigene System muss kohärent und zielstrebig funktionieren. Es darf
in wesentlichen Bedürfnissen nicht erpressbar sein. Sonst begibt man sich mit
verminderten Chancen in die Auseinandersetzung.
Die marxistische Theorie spricht denselben Gedanken in etwas anderer Form
aus. Das ganze Werk von Karl Marx ist eine Darlegung, dass die bürgerliche
Welt mit sich selbst nicht im reinen ist, ja grundsätzlich nicht kohärent sein
kann. Die sogenannte freie Gesellschaft leidet in der marxistischen Perspektive
an einer konstitutiven Dialektik von Ausbeutungsverhältnissen. Und nur der
Marxismus ist kohärent. Ihm wird bei aller momentan bedingten materiellen
Schwäche daher endgültig der Erfolg zufallen.
145
Die totalitäre Führung braucht keine Erklärungen abzugeben. Die
Auseinandersetzung über die Zielsetzung ihrer Politik kann bis zu
ihrer eigentlichen Verwirklichung verdeckt bleiben. Mit anderen Wor
ten: Die Ambivalenz dieser Entspannungspolitik bleibt hier trotz
allen öffentlichen Beteuerungen in Wirklichkeit bis zuletzt erhalten.
Die Führung eines demokratischen Systems muss den ungeheuren Auf
wand, den das Rivalitätsverhältnis tatsächlich bedeutet, nicht nur
psychologisch rechtfertigen. Dies geschieht auch im totalitären System.
Sie muss den hierfür nötigen Einsatz an Mitteln und das zielbewusste
Verhalten von der eigenen Öffentlichkeit bestätigt erhalten. Die
demokratische Führung kann vor ihrer Öffentlichkeit also nur mit
dem Argument des minimal absolut notwendigen Einsatzes bestehen.
Sie wird hierauf durchleuchtet und im Budget, besonders auch im
Wehretat, festgelegt. Der demokratischen Führung bleibt also nichts
anderes, als ihre Bereitschaft zur milderen, zur weniger entscheidenden
Deutung des Entspannungsverhältnisses von vorneherein bekanntzu
geben. Das ist aber für den anderen Pol vorerst schon ein Signal mit
bestimmter Wirkung! Unter der Voraussetzung, dass die eigentliche
Stärke, die Kohärenz und die Überlegenheit einer demokratischen
Gesellschaft der totalitären Führung nicht eindrücklich bekannt sind,
bedeutet dies direkt eine Aufforderung an sie, bis zum Beweis des
Gegenteils mit der harten Lesart des Begriffes Entspannung weiter
zufahren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Missverständnis über den gültigen
Sinn des Wortes Entspannung zwischen zwei derart verschiedenen
Führungsstrukturen Uberhand gewinnt, ist also nicht gering. Ja, diese
Wahrscheinlichkeit muss vorausgesetzt werden, wenn man den Dialog
verantwortungsvoll im Sinne der friedlichen Auflösung des Rivali
tätsverhältnisses führen will.
VII. Zentrale Folgerungen
Selbstverständlich zeigen die bisherigen Überlegungen ein Modell der
Entspannungspolitik in analytischen Zügen. Daraus kann man jedoch
folgendes erkennen: Die Entspannung ist etwas Sekundäres. Sie kann
zwischen zwei Rivalen, die sich bedrohen oder bedroht fühlen, erst
eintreten, wenn jede Drohung für den Angreifer selbst immer wieder
sinnlos wird. Das Primäre, das Entscheidende ist also die eigene
146
Sicherheit, verbunden mit einer elastischen Fähigkeit, auf jeder Stufe
eines Angriffs zu einem angemessenen Gegenschlag oder wenigstens
einer glaubhaften Gegendrohung auszuholen.
Der Entspannungsdialog wird daher im Sektor Sicherheit nur ausser
ordentlich langsam vorankommen und marginale Resultate bringen.
Hier müssen andere Realitäten überzeugen. Hier geht es um Hard
ware, d. h. um die Möglichkeit, die Spannung auch anheben, den Kon
flikt notfalls auch einseitig entscheiden zu können. Die Entspannungs
politik betrifft zuerst nur Software, d. h. Gespräch, unverbindliche
Aufklärung über die Absichten des Gegners, über seine Bereitschaft
zur Kooperation.
Auf die Dauer hingegen zielt die Entspannungspolitik, so marginal
sie sonst erscheint, auf einen sehr zentralen Punkt, nämlich auf das
Motivationszentrum des Rivalen. Entweder gilt es, diesen gegenüber
seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen einzuschläfern und zu täu
schen (erste Variante), oder es geht darum, ihn zur Besinnung zu
bringen, d. h. ihn in seiner aggressiven Rivalität, die das Verhältnis
letztlich allein bestimmen will, umzustimmen (zweite Variante).
Dabei kann man feststellen, dass beide Haltungen bis zu einer end
gültigen Entscheidung im einen oder anderen Sinn nach aussen kaum
zu unterscheiden sind und der eine vom anderen ständig erwarten
muss, dass der Rivale vom potentiellen Partner wieder zum Gegner
wird. Die ganze Kritik der westlichen Entspannungsgegner ist eine
Warnung vor der ersten Variante. Die ganze östliche offizielle Kritik
an der Entspannungspolitik ist eine Warnung vor der zweiten. Die
östliche Führung ist also sehr präzis, wenn sie fürchtet, dass Entspan
nung und Koexistenz mit Konvergenz verwechselt werden könnte.
Die Warnungen, die von beiden Seiten erhoben werden, zeigen, dass
in der Entspannungspolitik das eigene Motivationszentrum durch den
Gegner berührt werden kann. Erst in dieser Berührung kann die Aus
einandersetzung über den Inhalt der Entspannungspolitik erfolgen.
147
3. Kapitel: Die KSZE
Nachdem die Grundmuster der Entspannungspolitik in ihrer Doppel
deutigkeit formuliert wurden, kann man zur KSZE übergehen. Es
wird oft übersehen, wie präzise die KSZE und die ganze Entspan
nungspolitik in der Sicherheitspolitik eingebettet bleiben muss. Für
die Hauptbeteiligten wäre es unmöglich, wesentliche Interessen ihrer
Sicherheit wegen Aufklärung über eventuelle friedliche Absichten
ihres Rivalen aufs Spiel zu setzen. Daher kann man erst aus einer
nüchternen Sicht des Verhältnisses von Entspannung zu Sicherheit
prüfen, ob die KSZE wenigstens im Ansatz die Möglichkeit enthält,
über das reine Entspannungsverhältnis, also über die antagonistische
Rivalität von Konfliktsparteien hinauszuwachsen.
I. Vorgeschichte
Der Versuch, die Vorgeschichte der KSZE aufzuzeichnen, wird not
wendigerweise fragmentarisch und dem Vorwurf der Subjektivität
ausgesetzt bleiben. Einmal ist der Zugang zu den entscheidenden
Quellen noch verschlossen. Dann ist die Gratwanderung zwischen
Sicherheitsinteresseri und Verständnis für Entspannungspolitik und
die damit verbundenen Konzessionen noch nicht zu Ende. Erst am
Ende dieses Weges wird sich zeigen, ob man sich nicht verstiegen hat.
Durch die folgenden Ausfühningen soll die Beobachtung von Phasen
erleichtert werden, in denen der ursprüngliche Koriferenzgedanke
nicht in seiner Zielsetzung, wohl aber in seiner Struktur Veränderun
gen erfahren hat. Gleichzeitig wird darauf hinzuweisen sein, in wel
cher Weise das Projekt einer Sicherheitskonferenz andere Entspan
nungsverhandlungen, insbesondere MBFR (Multilateral Balanced
Force Reductions) und SALT (Strategie Arms Limitation Talks),
START (Strategie Arms Reduction Talks) respektive INF (Inter-
medium Nuclear Forces) ergänzt, respektive ihnen nach- und über
zuordnen ist.
Der Gedanke einer Sicherheitskonferenz lässt sich mindestens bis zum
Jahr 1954 Zurückverfölgen. Die Initiative geht von der Sowjetunion
aus. 1954, anlässlich der Frage des Beitritts der Bundesrepublik
Deutschland zur Nato und parallel zum Entstehen des Warschau
paktes, entwarf Molotow den Plan, den Aufbau von Militärblöcken
148
in Europa durch eine Offensive von Friedensschalmeien zu unterlau
fen. Weisen wir darauf hin, dass diese doppelte Strategie seit Lenin
in der marxistisch dialektischen Analyse von Kräfteverhältnissen
bestens begründet ist. öffentlich deklariertes Ziel der sowjetischen
Politik ist seit 1954 ein «Gesamteuropäisches System der Sicherheit».
Der Warschaupakt von 1955 enthält in Artikel 11 eine Klausel, die
seine Auflösung vorsieht, sobald dieses System geschaffen ist. Die
sowjetische Aufrüstung wird als «verdeckte strategische Dimension»
parallel zur «Friedenspolitik» vollzogen.
In der ursprünglichen Vorstellung der Sowjetunion sollte eine Frie^
denskonferenz alle europäischen Völker inklusive Russland, aber ohne
USA und Kanada, vereinen. Die Konferenz sollte zur Demonstration
aller «friedliebenden Kräfte» gegen den amerikanischen Militärismus
werden. Ein bedeutender Abstrich an diesem Projekt erfolgte 1965,
nachdem die Bundesrepublik längst Mitglied der Nato war. USA und
Kanada wurden zur Teilnahme aufgefordert.9
Im Vordergrund des sowjetischen Interesses steht 1965 und weiterhin
die «Lösung der deutschen Frage». Nachdem die Sowjetunion durch
mehr als zwei Jahrzehnte die Teilung Deutschlands betrieben hatte,
geht es ihr nun um die Anerkennung von zwei deutschen Staaten,
indirekt natürlich um die Anerkennung der westlichen Grenze ihres
östlichen Imperiums. Die Konferenz würde durch Anerkennung der
Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa praktisch einen
Friedensvertrag, der die Teilung Deutschlands besiegelt, voraus
nehmen.
Den schwersten Rückschlag erleidet das Konferenzprojekt, das ja
eine Demonstration der Friedensliebe der Sowjetunion sein sollte,
1968 mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Tschechoslowakei
(Breschnew-Doktrin). Dennoch ist der Konferenzgedanke und die
sowjetische Entspannungspolitik seit dem Jahr 1968 vor allem mit
dem Namen Leonid Breschnew verbunden.
9 Der Rapackiplan von 1964, der die Neutralisierung Deutschlands vorsah, ist
in diesem Zusammenhang zu sehen, ebenso aber auch das von Präsident de
Gaulle vorgeschlagene «Europa vom Atlantik zum Ural» und der Vorbehalt
Frankreichs gegenüber der Nato, ferner die Initiative der Bundesrepublik vom
März 1966, welche eine Truppenreduktion und Friedensgarantien für Europa
vorsah, und der Vorschlag Dänemarks vom Juni 1966 an die Nato, eine Ent
spannungskonferenz zwischen beiden Militärbündnissen durchzuführen.
149
In der Folge ist für das Zustandekommen der «Sicherheitskonferenz»
vor allem das Viermächteabkommen über Berlin sowie die sogenannte
«neue Ostpolitik» der Regierung W. Brandt von Bedeutung. Im Vier
mächteabkommen über Berlin wird der Status dieser Stadt und die
Verantwortung, die die vier Alliierten weiter für ganz Deutschland
tragen, festgelegt. Die Sowjetunion tritt etwa 1970 auf den Gedanken
von Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Waffen
arsenale (SALT) ein. Etwa gleichzeitig beginnt in Deutschland unter
Führung von Willy Brandt die «neue Ostpolitik». Die Frage der An
erkennung einer deutsch-deutschen Staatsgrenze findet zwischen bei
den Teilen Deutschlands eine in gewisser Hinsicht vorläufige Rege
lung.10
Aus all dem können wir erkennen, dass in den Jahren von 1954 bis
1970 ein Konsolidierungsprozess, der nach dem Zweiten Weltkrieg
durch das Vorgehen der Sowjetunion in Europa entstandenen Lage
erfolgt. Dieser Konsolidierungsprozess umfasst den Aufbau der beiden
Militärblöcke, Warschaupakt und Nato. Er umfasst implizit die An
erkennung einer innereuropäischen Grenze, inklusive der exponierten
Lage Berlins, eine Grenze, die von keiner Seite durch militärische
Aktionen in Frage gestellt werden darf. Er umfasst die Konsolidie
rung wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse. Aber die Bedro
hung geht weiter. Ihren deutlichsten Ausdruck findet sie im Minen
gürtel, im Stacheldraht und in der Berliner Mauer. Wohl vollzieht
sich zur gleichen Zeit der westeuropäische Einigungsprozess. Damit
entsteht eine der stärksten Wirtschaftsmächte, fähig, das Wohlergehen
der Menschen nicht nur in Europa, sondern in weiten Teilen der Erde
sicherzustellen. Gleichzeitig verwandelt sich aber Osteuropa in eine
immer bedrohlichere, waffenstarrende Kaserne. Wie soll es weiter
gehen?
So müssen wir uns die Frage stellen, was bedeutet es für Europa, wenn
etwa ab 1970 immer mehr europäische Staaten und schliesslich auch
die USA ihre grundsätzlichen Einwände gegen das Konferenzprojekt
10 Siehe hierzu Klaus Blech, Die - Prinzipienerklärung der KSZE-Schlussakte, in
Europa-Archiv 1976, Seite 109. Siehe besonders. Seite 121, Wahrung der Position
in der Deutschen Frage.,
Ferner Heinrich Mahnke, Die Konferenz über 'Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa und die Deutsche Frage, im Deutschland Archiv, VIII/1975.
150
fallen lassen und sich bereit erklären, diesen Gedanken wenigstens
näher zu prüfen.
Wir sehen in den Jahren 1970/71 eine wichtige Phase für die Entwick
lung des Konferenzgedankens. Damals müssen die Gegenvorschläge
der im Nordatlantikvertrag verbundenen westlichen Demokratien
zum sowjetischen Konferenzprojekt wenigstens in ihren Grundzügen
vorgelegen haben. Ebenso müssen diese Gegenvorschläge damals den
Staaten des Warschaupaktes zur Prüfung bekannt gegeben worden
sein.
Die Gegenvorschläge müssen umfasst haben:
— Den Namen einer Reihe von Prinzipien guten zwischenstaatlichen
Verhaltens, wie sie ursprünglich von der Sowjetunion ins Gespräch
gebracht worden waren und wie wir sie heute in der Prinzipien
erklärung der Helsinki-Schlussakte finden;
— Das Prinzip der souveränen Gleichheit, und als sein auf das Ver
handlungsverfahren angewandter Ausdruck das Prinzip des Konsen
sus;
— Die wesentlichen Elemente des heute sogenannten dritten Korbes,
nämlich: freier Fluss der Informationen und menschliche Kontakte;
— Und schliesslich schon der Hinweis auf den Teilnehmerkreis:
etwa 35 Staaten. Damit war 1971 neben der Teilnahme von USA
und Kanada indirekt auch die Teilnahme der europäischen Klein
staaten angesprochen.11
Der Sowjetunion ging es zu jenem Zeitpunkt eigentlich nur um die
Anerkennung der in Europa bestehenden Grenzen. Als weitere Kon
ferenzziele suchte sie wirtschaftliche Zusammenarbeit, sowie wenn
möglich die Einrichtung eines «ständigen Organs» der Sicherheitskon
ferenz zu erreichen — letzteres wohl um von da aus ein Wort beim
europäischen Einigungsprozess mitreden zu können.12 Doch ihre
11 Zur Aufzählung der Vorschläge siehe Pierre Harmel, Auf der Suche nach neuen
Formen Europäischer Sicherheit, Europa-Archiv 5/1971, Seite 39ff.
12 Siehe Marshall D. Shulman, Sowjetische Vorschläge für eine Europäische Sicher
heitskonferenz (1966—1969), Europa-Archiv 1976, Seite 1.
151
grundsätzliche Bereitschaft, die westlichen Gegenvorschläge als The
menkatalog einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa zu prüfen, war eine Voraussetzung für die finnische Regie
rung, bevor diese 1972 ihre Einladung zum Botschafter-Salon in Hel
sinki aussenden konnte.13
Zur gleichen Zeit lag die Zusage der Sowjetunion zu den Salt-Gesprä
chen und die Zusage des Warschaupaktes zur Teilnahme an MBFR
vor. Das ist bemerkenswert und kaum zufällig, denn konnte nicht
erst durch diese Zusagen, von denen die zweite freilich in gewissem
Sinn erst noch erfüllt werden muss, das Projekt der KSZE von jenen
Fragen entlastet werden, die die Sicherheit der beiden Rivalen und
ihrer Allianzen direkt betreffen? Und konnte nicht erst durch diese
Entlastung von Fragen, in denen die Position der Rivalen und die
Kohäsion der Allianzen gegenüber Dritten undiskutierbar hart ist,
jener Verhandlungsraum geöffnet werden, in dem die Teilnehmer an
der KSZE verhältnismässig unbelastet von den Zwängen der Militär
bündnisse ihre tieferen Motive prüfen können?14
" Siehe Paul Frank, Zielsetzungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen
Europäischer Sicherheitsverhandlungen, Europa-Archiv 1976, Seite 41ff. Siehe
ebenso Pierre Harmel in der oben angeführten Stellungnahme.
14 Es lohnt sich über diesen Punkt weiter nachzudenken. Man kann beobachten,
dass sich in den frühen 70er Jahren drei Plattformen des Entspannungsdialoges
bildeten. Ist das zufällig oder hat jedes Forum seinen besonderen Zweck? Ist
dieser komplementär zu anderen?
Wir unterscheiden die strategische Ebene und hier
— den Dialog der Supermächte, damals SALT, heute START, respektive INF,
— den Dialog zwischen den Militärbündnissen, nämlich MBFR, sodann die
politische Ebene, hier die KSZE.
Wenn man die Ausgangslage, nämlich die grundsätzliche Bedrohung jeder frei
verantwortlichen Gesellschaft durch den Marxismus-Leninismus und die strate
gischen Bedingungen dieser Rivalität im Atomzeitalter, bedenkt, wird man wahr
scheinlich zur Auffassung kommen, dass es nicht erste Aufgabe von Entspan
nungsgesprächen sein kann «Resultate zu bringen», sondern vielmehr dafür zu
sorgen, «dass nichts passiert». Zuerst muss jedes Missverständnis über Verteidi
gungsbereitschaft und «wesentliche Interessen» ausgeräumt werden. Erst in zwei
ter Linie kann auf vernünftige Begrenzung und auf die Gefahren, die der
Rüstungswettlauf für beide Systeme (Entropie) bringt, hingewiesen werden.
Jenseits der strategischen Gespräche und nur insofern sich mit militärischen
Mitteln keine Veränderung der politischen Landschaft erzwingen lässt, ergibt
sich der politische Entspannungsdialog, der auf die Bildung von Vertrauen und
auf eine Änderung in der Motivation des Partners abzielt.
Allein die Tatsache, dass im Ost-West-Konflikt drei solche Plattformen des
Dialoges von beiden Seiten zugestanden werden, zeigt mit welcher Vorsicht
sich die Mächte auf die Entspannung hinbewegen und trotz allem Antagonis
mus einen Ausweg vor dem Schlimmsten suchen.
152
II. Anlass und Ursache — Ziele und Wirkungen
Wenn man die skizzierte Entwicklung in Rechnung stellt, kann man
sich fragen, ob der sowjetische Wunsch nach einer Konferenz der
friedenswilligen Kräfte Europas nicht eher Anlass zu derselben, ob
ein bestimmter Schnittpunkt der Interessen beider Allianzsysteme
nicht eher als Ursache des Zusammentretens der KSZE anzusehen ist.
Liegt dieser Schnittpunkt der Interessen nicht dort, wo 25 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges die politischen Führungsstellen beider
Militärallianzen, aus verschiedenen Motiven, in Kenntnis der Risiken
für das eigene Lager und der zu erwartenden Taktik des Gegners, den
Moment für gekommen erachten, wo durch Eröffnung einer zweiten
Front die mit den bisherigen Methoden des Kalten Krieges unerreich
bare Entscheidung des Ost-Westkonfliktes in Europa auf einem neuen
Terrain gesucht werden soll?
Damit beginnt das diplomatische Ringen um die endgültige Version
der Entspannung in Europa. Um diesen Zweck zu erreichen, um das
Gespräch über Sicherheitsinteressen hinaus in jenen stillen Raum
zu tragen, wo ohne Sieger und Besiegte das Motivationszentrum
des Gegners ansprechbar wird, dazu brauchen beide Allianzen die
Diplomatie — nicht nur ihre eigene, sondern die Diplomatie der nicht
in den Konflikt verwickelten neutralen Staaten Europas. Wohl blei
ben also im KSZE-Prozess Zweideutigkeiten und Täuschungsmanöver
an der Tagesordnung, für die eine wie für die andere Seite Gegeben
heiten, mit denen gerechnet, Versuchungen, mit denen gespielt wird.
Und möglicherweise vervielfältigen sich mit der KSZE Doppeldeutig
keiten und Verunsicherungen, die der Entspannungspolitik ohnehin
unterliegen, so dass östliche Strategen an westlichen Friedensinitia
tiven und Verwirrspielen ihre helle Freude haben können.
Dennoch ist die Frage zu prüfen: unterliegt der KSZE nicht mög
licherweise eine schöpferische Zweitdeutigkeit, eine sogenannte «con-
structive Ambiguity»?
Kann aus einem Entspannungsdialog, dem zwei Lesarten des Begriffes
Entspannung doppeldeutig unterliegen, von denen jeweils die eine
der anderen Seite dadurch suggeriert werden soll, dass man sich be
reit erklärt, die Lesart der Gegenseite zur Kenntnis zu nehmen —
kann aus dieser Bereitschaft tödlicher Rivalen, sich höflich gemein
153
sam aufs Glatteis zu führen — denn so muss man wohl den Hinter
grund und ursprünglichen Gedanken der KSZE verstehen — kann
aus diesem verzweifelten Versuch — gerade insofern er nicht so ge
lingt wie es sich die Urheber vorstellen — nicht auch etwas Neues
entstehen?
Man wird sich der Vorstellung von einem neuen, entspannten Ver
hältnis unter den Staaten Europas, das da sozusagen mitten im Kalten
Krieg plötzlich in Sichtweite kommt, nur mit grösster Vorsicht
nähern. Dieses Terrain ist offenbar schillernd wie die Entspannungs
politik selbst. Von ihr versprechen sich beide Allianzen zuerst die
Förderung ihrer eigenen Absichten. Wenn man, von einer realisti
schen Betrachtung der Verhältnisse in Europa ausgehend, Klarheit
über die echten Möglichkeiten für ein neues Verhältnis unter den zu
künftigen Teilnehmern einer KSZE gewinnen will, wird man von
vornherein sagen müssen:
1. Ein sogenanntes neues, entspanntes Verhältnis kann vorerst nur
hypothetisch sein. Die ganze Entspannungspolitik ist vorerst bei der
Sicherheitspolitik auf Kredit entliehen. Ein entspanntes Verhältnis ist
nur denkbar unter der Voraussetzung, dass glaubhafte Abschreckung
gegen jede denkbare Bedrohung existiert. Wer dies nicht einsieht, der
wird seine Sicherheit vernachlässigen und ist dann erpressbar. Die
Entspannungspolitik in ihrer ersten Leseart, Fixierung in der Unter
legenheit, geht an ihm in Erfüllung.
2. Unter der ersten und daher zwischen Rivalen nicht diskutierbaren
Voraussetzung, dass jeder-die Lage sicherheitspolitisch im Griff hat,
bevor man sich auf das Terrain der Entspannungspolitik vorwagt,
wird es denkbar, dass man sich in einer gewissen Abstraktion von der
Realität vom strategischen Kräftefeld auf die Ebene der politischen
Gespräche begibt. Nur so kommt es zu jener .Plattform, die wir als
KSZE kennen, an der die einzelnen Staaten Europas unerwarteter
Weise als gleichberechtigte Partner , und nicht mehr entsprechend
ihrem Kräftepotential oder ihrer Zugehörigkeit zu Militärallianzen
teilnehmen und die normalisierte Ausgestaltung ihrer Beziehungen
diskutieren.
3. Aber auch dann ist dieses neue gemeinsame Terrain — zuerst jeden
falls — marginal. Es bleibt begrenzt auf jenen schmalen Raum, in
154
dem die Ausgestaltung ihrer Beziehungen, die Zusammenarbeit über
den Ost-Westkonflikt hinweg für dessen Entscheidung im Sinn von
Sieger und Besiegten nicht kritisch ist. Wohl tendiert jede Partei da
hin, diesen marginalen Raum zu überspielen. Aber das kann zwi
schen Rivalen, die sich kennen, nicht gelingen.
4. Innerhalb obiger Einschränkungen — auch das muss gesagt sein —
wäre so ein neues Verhältnis ein Schritt auf die Normalisierung hin.
Es wäre eingeschränkt offen und frei — etwa so frei und nor
mal wie die Bewegungen eines Schwerverletzten, der aus dem Koma
aufwacht und die ersten «freien Bewegungen» versucht. Es tut noch
alles weh, aber vorsichtig geht es doch. Es ist nützlich, sich zuerst
dieses Bild von der KSZE vor Augen zu halten, während sie in der
Absicht ihrer Initiatoren ursprünglich etwas anderes sein sollte, näm
lich Schmierseife auf einer schiefen Ebene, die dem Rivalen als glän
zendes Parkett präsentiert wird. Kann ein derart belastetes Vorgehen
zielführend sein? Wer sich das alles gründlich überlegt, wird von
Schwierigkeiten nicht überrascht sein.
Der in Aussicht genommene Dialog der Diplomaten erweist sich zu
erst als ungeheuer zeitraubend, ja steril. Jeder Vorschlag der dar
auf abzielt, Entspannung dem Rivalen als schiefe Ebene zu suggerie
ren, muss zuerst auf diese sterile Sinnlosigkeit reduziert werden. An
schliessend stellt sich die Frage, ob auf dem schmalen Saum der von
diesem oder jenem Vorschlag vielleicht übrig geblieben ist, eine aus
gewogene Gegenüberstellung von Forderungen möglich ist, die für die
Bildung eines Ansatzes von Vertrauen unter den Rivalen genügt und
den Menschen, die in den angesprochenen Ländern leben müssen, in
ihren konkreten Umständen doch viel bedeutet. So sichert man sich
ab, zuerst gegenüber den Interessen der Allianzpartner, dann gegen
über den Rivalen, und schliesslich erfolgt unter genügendem Druck
der eigenen Wünsche und Hoffnungen unter Umständen ein kleiner
Schritt, der vielleicht etwas über das eigene Sicherheitsbedürfnis hin
ausgeht.
Solche kleinen Schritte erfolgen aus der Sinnlosigkeit, in der sterilen
Koexistenz zu verharren. Sie erfolgen aus der Aussichtslosigkeit, die
Rivalen im Entspannungsprozess von ihrer Grundhaltung abzubrin
gen. Sie erfolgen wie das «Warten auf Godot», aus dem lautlosen Auf
brechen zur schliesslich einzig möglichen, selbstverständlichen Alter
155
native: richten wir es uns doch unter den gegebenen Umständen so
vernünftig ein, wie es geht. Vielleicht können wir aufgrund der dann
gemachten Erfahrungen das gemeinsame Verhältnis vertiefen. Es ist
klar, dass diese Politik der möglichen kleinen Schritte in erster Linie
den Interessen der neutralen Teilnehmer am KSZE-Prozess entspricht,
wenn sie im Wesen auch das Interesse aller Teilnehmer enthält.15
Die KSZE ist ein Ringen jenseits des Kampfes um Positionen der
Stärke, abseits von der Hardware, in der dünnen Luft scheinbarer
Nebensächlichkeiten, Marginalien zur Sicherheit. Während die Aus
einandersetzung um strategische Positionen weitergeht, ja in den
Zyklon überzugehen droht, der alles verschlingen kann, treffen sich
die Teilnehmer hier in seinem stillen Auge, um sich hinter verschlos
senen Türen die Frage zu stellen: was ist denn wirklich unsere Ab
sicht? Die KSZE ist wesentlich diese Besinnung. Eine Besinnung, die
meist wiederum jenseits von Argumenten im scheinbar absurden War
ten zu erfolgen hat. Die Frage, die gestellt werden muss, lautet also:
wie ist es möglich, Gegner und Allianzsysteme, die auf gegenseitige
Aufhebung programmiert sind, so an einen Tisch zu bringen, dass sie
eingestandener- oder uneingestandenermassen sich dieser Übung der
Besinnung unterziehen müssen? Wie ist es möglich, sie dort zu halten?
Gibt es Resultate? Wenn wir die Verkettung dieser innersten Motive
des KSZE-Prozesses erfasst haben, stellt sich die Frage nach seiner
äusseren Form, nach seinem Aufbau.
III. Struktur des KSZE-Prozesses
Sehr viel Hartnäckigkeit und Geduld war nötig, um den KSZE-Pro
zess in jene Form zu giessen, in der er sich, dem Ablauf seiner inneren
Dialektik entsprechend, «ohne Sieger und Besiegte» fruchtbar voll
ziehen kann. Noch mehr Hartnäckigkeit und Einsicht wird nötig
sein, um ihn clurch die Einhaltung dieser Strukturen zu bewahren und
damit seine Wirksamkeit sicherzustellen.
Mit grosser Vorsicht haben sich die beteiligten Mächte an die Auf
gabe herangetastet. Man darf vermuten, dass das Festhalten an unab
15 Mit «neutral» wird hier ein weiterer Kreis angesprochen, als jene Staaten, die
ihre Neutralität völkerrechtlich erklärt haben. Das Wort bezeichnet unter den
Teilnehmern in erster Linie jene Staaten, die sich an der strategischen Rivalität
in Europa nicht beteiligen.
156
dingbaren Positionen einerseits, die Notwendigkeit trotz der Gegen
sätze miteinander in Kontakt zu bleiben anderseits, die ehemals alli
ierten Sieger, die Vertreter des besiegten Deutschland und die Ver
treter der vier neutralen Staaten Europas an einigen besonders sensi
tiven Stellen, etwa bei der alliierten Kontrollkommission in Berlin,
dazu zwangen, das Auskommen miteinander zu finden. Auf diese
Weise wurden in den Jahren 1955—1970 erste Vorstellungen dar
über gewonnen, wie ein Verhandlungsmechanismus über den euro
päischen Abgrund hinweg funktionieren könnte.
1. Das Blaue Buch
Den eingangs erwähnten Konsultationen, dem sogenannten «Bot
schaftersalon von Helsinki», fiel die Aufgabe zu, in der Form einer
Empfehlung an die beteiligten Regierungen die Voraussetzungen ab
zuklären, unter denen die betreffenden Staaten bereit wären, an einer
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mitzu
wirken.
Es ist müssig, eingehend darauf hinzuweisen, von welcher Seite welche
Anregungen oder Forderungen eingebracht wurden: der Gewaltver
zicht, das Prinzip der Rotation des Vorsitzes und des Tagungsortes
etwa von Rumänien, Sicherheit im Mittelmeer von Malta, der Ge
danke der obligatorischen friedlichen Streitregelung von der Schweiz,
Unverletzlichkeit der Grenzen von der Sowjetunion, menschliche
Kontakte über Grenzen hinweg und Informationsfreiheit von der
westeuropäischen Staatengruppe, den USA, etc.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass in monatelänger Besinnung auf jede
der einem einzelnen der 35 Teilnehmerstaaten unabdingbaren Forde
rungen ein Ganzes, ein gemeinsames Vorhaben entstanden ist. Das
Resultat der Klausurtagung der Botschafter, das Blaue Buch, enthält
die verschiedenen Forderungen, die die einzelnen Staaten erhoben, als
integrierte Teile. Es legt die Stellung der Teilnehmerstaaten, die Soli
darität ihres Vorhabens und dessen Ablauf in der Zeit als Einheit
fest. Es zeichnet mit anderen Worten die Struktur des KSZE-Prozesses
als ein Ganzes vor. Dies erfolgt freilich schrittweise und nicht in
jedem Punkt mit der gleichen Deutlichkeit. So soll versucht werden,
jene Momente, die für das Zusammenwirken des Ganzen besonders
wichtig sind, etwas herauszustellen.
157
Einheit in der Stellung der Teilnehmerstaaten — Verfahrensfragen
Die Botschafter in Helsinki sind sich bewusst, dass sie Neuland be
treten. Es gibt kein Vorbild, kein juristisches Modell für das KSZE-
Verfahren. Es ist auch fraglich, was die Teilnehmer überhaupt ge
meinsam haben. Ihre Ausgangspositionen sind zu weit voneinander
entfernt.16 Daher muss für jeden Teilnehmer alles von den elementar
sten Interessen her abgesichert werden. So kommt dem Verständnis
von Verfahrensfragen, obwohl im Blauen Buch an letzter Stelle auf
geführt, eine ganz besondere Bedeutung zu. Schon in diesen Ver
fahrensfragen werden die Beziehungen der verhandelnden Staaten
auf eine Stufe gehoben, die im Nachkriegseuropa für viele neü ist.
Die KSZE gibt sich hier nicht nur eine Geschäftsordnung, sondern
ihr eigenes Recht. Bis zur endgültigen Sanktionierung des Blauen
Buches durch die Außenminister bleibt dies freilich Entwurf. Dieses
Recht gründet wesentlich in drei Punkten:
1. Die Konferenz findet ausserhalb der Zugehörigkeit von Teilneh
merstaaten zu Militärbündnissen statt.17
2. Die Staaten verhandeln miteinander als souveräne Partner unter
der Bedingung voller Gleichheit.18 Ein Zusatz Rumäniens hatte noch
geheissen: «... unbesehen ihrer Grösse, geographischen Lage oder dem
Grad ihrer wirtschaftlichen Entwicklung».
3. Beschlüsse werden durch Konsens gefasst.19
Wenn man diese drei Punkte bedenkt, fällt der Unterschied zwischen
KSZE und UNO ins Auge. Dort gelten Mehrheitsbeschlüsse. Das
1$ Vor allem von östlicher Seite wird immer wieder ein Vorbild genannt: der
Wiener Kongress. Die KSZE: ist nach dem-Wiener Kongress die grösste euro
päische aussenpolitische Veranstaltung. Aber stimmt der Vergleich? Der Wiener
Kongress besiegelt die Neuordnung Europas nach dem Sturz Napoleons. Er
führt zu einer Reihe von • völkerrechtlichen Übereinkommen. Hier endet die
Analogie.
Die KSZE führt, wie man sehen, wird, nicht zu völkerrechtlich bindenden Ver
trägen. Sie initiert einen Prbzess von der Projektion der Absicht zur Verwirk
lichung. Sie schützt die Ausgangsstellung der Teilnehmer, legt Ziel und einzelne
Massnahmen, die. zielführend sind, {als politische Verbindlichkeit fest.
17 Schlussempfehlungen der Helsinki-Konsultationen, Blaues Buch, Punkt 65.
18 Blaues Buch, Punkt 65.
" Blaues'Buch, Punkt 69.
158
Vetorecht im Sicherheitsrat steht nur den Siegern und ehemaligen
Alliierten zu. Bemerkenswert ist hier:
Die Grossmächte und die grösseren Staaten verzichten von vornherein
gegenüber Satelliten und Alliierten, erst recht gegenüber allen anderen
Staaten auf eine bevorzugte Stellung. Die Teilnehmer anerkennen
sich als gleichberechtigte Partner. Der seinerzeitige Zusatz Rumäniens
zeigt sehr klar, in welcher Hinsicht trotz verbaler Zusicherung Be
denken entstehen könnten.
Die Konsensusregel muss besonders bedacht werden. Sie wird heute
in internationalen Gremien, wenn grundsätzliche Schwierigkeiten zu
überwinden sind, zunehmend verwendet. In allen Fragen, in denen
eine Minderheit wesentliche Interessen der Mehrheit in der Hand
hält und in diesen Belangen nicht geneigt ist, sich der Mehrheit zu
beugen, wird man mit Vorteil die Konsensusregel verwenden.
Unter den KSZE-Teilnehmerstaaten liegen die Dinge etwas anders.
Einmal ist der Teilnehmerkreis auf 35 Staaten beschränkt. Dann ist
deren Verhältnis viel enger als in den Vereinten Nationen. So gibt
die Konsensusregel der KSZE grundsätzlich jedem Staat das Veto in
die Hand. Beschlüsse können nur einstimmig gefasst werden. Die
KSZE kennt keine Abstimmungen und Mehrheitsbeschlüsse. Wenn
einer nicht will, kann er, sei er auch der Kleinste, die Beschlussfassung
aller anderen verhindern. Dies ist der spezifische KSZE-Konsensus.
Die Regel wurde so gefasst, um in wirksamer Weise die wesentlichen
Interessen aller und damit vor allem den Entspannungsdialog der
Grossmächte zu schützen. Sie erlaubt aber jedem Staat das Vorhaben
aller anderen so lange herumzuschieben, bis die eigenen Essentials
erreicht, bzw. wenigstens abgesichert sind. Wenn man bedenkt, wie
sensitiv die Fragen sind, die an der KSZE verhandelt werden, wie
leicht Sicherheitsinteressen einzelner durch Mehrheitsbeschlüsse über
spielt werden könnten, wird man einsehen, dass diese Art Veto, wenn
auch schwerfällig, die einzig mögliche Garantie bietet.
Grossmächte können ihren Willen im übernationalen Geschehen de
fakto allerdings, ohne auf den Konsensus der Kleinen warten zu müs
sen, durchsetzen. So wird man einsehen, dass die Konsensusregel,
wenn sie gross und klein in wirksamer Weise wenigstens de jure auf
die gleiche Stufe stellt, wohl verhindert, dass den Grossmächten in
159
der KSZE unziemlich nahegetreten wird, dass diese Regel anderseits
eine ganz unerwartete Aufwertung der kleinen und der kleinsten un
ter den 35 Staaten mit sich bringt. Ja insofern als die Konsensusregel
wie überhaupt das ganze KSZE-Verfahren mit Konsensus angenom
men und jetzt nur mehr mit Konsensus aufgehoben oder abgeändert
werden kann, ist diese Regel der erste Ausdruck eines spezifischen
Willens der Teilnehmerstaaten, ihre Solidarität mit den wesentlichen
Interessen eines jeden, auch des kleinsten, unter ihnen zu bezeugen.
Diese Verfahrensregel schafft eine Kette von 35 Gliedern, die alle
gleichermassen schützt, innerhalb derer aber auch alle mit der Posi
tion des kleinsten Gliedes solidarisch sind. Diese Solidarität der
KSZE-Staaten mit den echten Interessen eines jeden von ihnen wird
ihren vollen Ausdruck freilich erst mit Annahme der Helsinki-Schluss-
akte, nämlich mit Annahme der zehn Prinzipien guten zwischenstaat
lichen Verhaltens finden. Die sogenannten Verfahrensregeln begrün
den also mit dem Katalog der zehn Prinzipien hernach eine spezifische
Einheit, die Solidarität der KSZE-Teilnehmerstaaten.
Keinem Teilnehmer, der wirklich Staat genannt werden will, kann
ferner die Aufgabe abgenommen werden, dass er sich als Völker
rechtssubjekt bewährt, dass er selbst den Mut aufbringt, für seine
wesentlichen Belange einzustehen.20
20 Die Frage, ob die Solidarität der KSZE-Teilnehmerstaaten nicht irgendwo eine
Grenze hat und ob die Teilnehmerstaaten nicht auch Gefangene der Korisensus-
regel werden können, stellt sich immer wieder.
Lehrreich ist in diesem Zusammenhang, das Verhalten der Republik Malta, ein
Inselstaat, südlicher gelegen als' Tunis, mit 316 km2 Oberfläche, einer Bevölke
rung von 300 000, durch seine strategische Position nicht nur der West-Ost-
Spannung in Europa.ausgesetzt.
Ist unter den Teilnehmerstaaten die Konsensusregel als oberstes Prinzip, des
Verfahrens festgelegt, kann* dann nicht jeder, auch der Kleinste, aus seiner
Stellung im Konsensus den archimedischen Punkt: machen, von dem aus er den
gemeinsamen Beschluss aller anderen aus den Angeln hebt und mehr oder
weniger rücksichtslos auf sich bezieht?
Im allgemeinen neutralisieren sich Forderungen zwischen Teilnehmerstaaten
und ihren' Sicherheitsinteressen bis auf einen,marginalen Punkt. Auf diesen
gerade noch gegenseitig erfüllbaren Wünschen baut ein eventuelles Verhandlungs
ergebnis auf, das dann'als Unterpfand-der eventuell möglichen Verständigung
für alle viel wiegt. Einem kleinen relativ unangreifbaren Land ist es möglich,
nach Erreichen dieses Verhandlüngsresultates seine Interessen durch Verweige
rung des Konsensus gegen die alleri anderen .zu setzen. Und es kann damit, wie
die Schlussakte und andere Beschlüsse der. KSZE:zeigen, viel erreichen.
Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Teilnehmerstaaten nicht bereit sind, eine
Erpressung hinzunehmen,' wodurch das Resultat ihrer Entspannungspolitik ins
gesamt in Frage gestellt wurde/Es-wurde in'solchen kritischen Momenten von
einem positiven und einem' negativen Sinn'des Konsensusprinzips gesprochen.
Der Sinn des Konsensus-könne nur- «negativ»- sein,' er' könne nur verweigert
160
Wenn man in der Vorbereitungsphase der KSZE von der Annahme
der Schlussakte noch weit entfernt ist, so muss man doch anerkennen,
dass sich die Teilnehmer mit Zielstrebigkeit der Definition eines neuen
entspannten Verhältnisses unter ihnen zugewandt haben. Man muss
anerkennen, dass Grossmachtsinteressen dabei weit zurückgestellt
werden. In der Geschäftsordnung der KSZE liegt eine Besinnung auf
unabdingbare Elemente einer europäischen Friedensordnung vor. Wie
weit diese Konzessionen doppeldeutige Taktik, oder ehrlich gemeint
sind, kann nur die Durchführung des Projektes zeigen.
Einheit in der Aufgabenstellung?
Freilich gilt das soeben über die Stellung der Teilnehmerstaaten Ge
sagte nur im Rahmen der für die KSZE vorgesehenen Agenda. Auch
dieser Abschnitt — Einheit des Vorhabens —, auf das sich die Teil
nehmerstaaten gemeinsam beziehen, will in seiner Struktur und in
seinen Grenzen durchleuchtet sein. Sein Titel lautet: «Tagesordnung
und die dazu gehörende Aufgabenstellung». Sein erster Absatz lautet:
«Bei der Durchführung der unten dargelegten Aufgaben wird die
Kommission das umfassende Ziel der Förderung besserer Beziehun-
werden, um eigene Interessen zu schützen. Er könne nicht positiv dazu ver
wendet werden, um andere zu einem Vorgehen zu veranlassen, das sie nicht
wollen. Diese Argumentation lässt sich an der KSZE nicht aufrecht erhalten.
Die Möglichkeit, den Konsensus zu verweigern, ist ohne jede Qualifikation
dritter Seite oder ohne jede notwendige Rechtfertigung das souveräne Recht
jedes Staates und per Definition Voraussetzung des Konsensus überhaupt.
Ausserdem wird im KSZE-Verfahren die Verweigerung des Konsensus unzäh
lige Male dazu verwendet, um den anderen daran zu hindern, die eigenen Inter
essen zu verletzen und andernteils um ihn zu bewegen, das zu tun, was er
nicht will (etwa im dritten Korb). Zwingen kann man an der KSZE weder
im positiven noch im negativen Sinne. Man kann durch Verweigerung des
Konsensus den Partner im Spiel, der ja auch eigene Wünsche hat, nur dazu
zwingen zuzugeben, wo ihn der Schuh drückt und wo also auf eine Verhand
lung einzulenken ist.
Die Argumentation über den Konsensus lässt aber erkennen, dass die Bereit
schaft das Prinzip einzuhalten, eine Grenze erreichen kann. Hier käme es zu
einem Bruch oder einer Suspendierung der Solidarität unter den Fünfunddreis-
sig. Jeder Staat war schliesslich so klug, diesen Bruch zu vermeiden.
Wer tiefer lotet kann erkennen, dass die Solidarität der Teilnehmerstaaten am
Willen den Entspannungsprozess in Europa verantwortungsvoll fortzusetzen
eine innere Grenze hat. Die Teilnehmerstaaten bleiben in dieser Verantwortung
grundsätzlich frei. Sie sind nicht Gefangene des Verfahrens. Der Kreis könnte
sich auflösen und, um einen weniger unter den gleichen Verfahrensregeln, sich
wieder bilden. Es wäre immerhin eine sehr gefährliche Erschütterung für alle,
vor allem für die kleineren Staaten die über wenig Druckmittel verfügen, ein
getreten.
161
gen zwischen den Teilnehmerstaaten und der Gewährleistung von
Bedingungen berücksichtigen, unter denen ihre Völker frei von jeder
Bedrohung oder Beeinträchtigung ihrer Sicherheit in Frieden leben
können.»21
Wohl wird hier das umfassende Ziel einer Friedensordnung für alle
35 Teilnehmerstaaten sehr schön angesprochen. Aber leider müssen
wir KSZE-Texte lesen lernen. Warum heisst es, dass dieses Ziel nur
«berücksichtigt» werden soll? Warum lässt sich die Kommission von
diesem Ziel bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge nicht einfach
leiten?
Hellhörig geworden, entdecken wir in diesem zweiten, dem wichtig
sten Abschnitt des Blauen Buches einen merkwürdig angelegten Wech
selschritt:
— Sicherheit für alle, aber vor allem für jeden Teil,
— Kooperation ja, aber soweit es einem jeden nützt,
— menschliche Kontakte und Informationsfreiheit, ja, aber nur «un
ter gegenseitig annehmbaren Bedingungen».
Je weiter wir in der Analyse des Textes fortschreiten, um so mehr be
merken wir die in der «Tagesordnung und Aufgabenstellung» der
zukünftigen KSZE eingebauten Bremsen und Rücksichten.
Dies zeigt sich bei den meisten Abschnitten im einzelnen, bei einigen
vielleicht auch erst dann, wenn man bemerkt hat, dass sie als Ganzes
irgendwo von einer Reserve umgeben, sozusagen in Klammern gesetzt
worden sind. Diese Reserven erfolgen im Namen der Staatsräson. Sie
schützen, ohne dass das offen gesagt wird, das bisher Erreichte, in
der gegebenen Situation also vor allem die Interessen der Grossmächte.
Sie signalisieren die Marge, die Bandbreite, den Verhandlungsspiel
raum, der durch die «guten Absichten» der KSZE nicht überschritten
werden darf. Deutlich wird dies gleich beim' Prinzipienkatalog, bei
der Auflistung der zehn Gebote der KSZE für gutes zwischenstaat
liches Verhalten unter den Teilnehmern. Diese zehn Prinzipien «sind
gleichermassen vorbehaltslos zu achten und anzuwenden, um allen
21 Blaues Buch, Punkt 13, Hervorhebung durch den Verfasser.
162
Teilnehmerstaaten die Vorteile zu sichern, die sich aus der Anwen
dung dieser Prinzipien durch alle ergeben».22
In welchen Worten Hesse sich als Einleitung zu den zehn Prinzipien
die friedliche Solidarität der Teilnehmerstaaten besser ausdrücken?
Der Friede ist ein unteilbares Ganzes, und er müsste sich aus der Ein
haltung der hernach aufgeführten Prinzipien selbstverständlich er
geben. Wo aber eines dieser Prinzipien nicht eingehalten wird, ist der
Friede offen oder potentiell bedroht. Wer wird hierüber zu befinden
haben?
Wenn wir neben den ersten Prinzipien — souveräne Gleichheit, Un
verletzlichkeit der Grenzen, territoriale Integrität der Staaten — an
die anderen denken, etwa: Nichteinmischung in innere Angelegen
heiten, Achtung der Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht der
Völker, dann erfassen wir, dass das Einverständnis der Teilnehmer
staaten nur auf Treu und Glauben aufgebaut ist, und dass sich die
wichtigsten Partner an der KSZE aus ihrer Verantwortung auch
werden herausreden können.
Im Abschnitt III. der Agenda «Zusammenarbeit in humanitären und
anderen Bereichen» ist der Wunsch nach Öffnung über die Staaten
grenzen hinweg besonders deutlich. Die zuständige Kommission soll
mit dem Ziel, zur Stärkung des Friedens und der Verständigung bei
zutragen, alle Möglichkeiten prüfen, die zu einer grösseren Zusam
menarbeit in der Verbreitung von Informationen, für Kontakte zwi
schen den Menschen und für die Lösung humanitärer Probleme füh
ren kann.23
Gleich im folgenden Abschnitt wird — allerdings nur für den KSZE-
Schriftgelehrten sichtbar — auf die dem Prinzipienkatalog innewoh
nende Dialektik, also auf die Staatsräson verwiesen.24 Wir finden in
diesem dritten Teil der Agenda die wichtigen Abschnitte über
22 Blaues Buch, Punkt 18, Hervorhebung durch den Verfasser.
25 Blaues Buch, Punkt 42.
24 Blaues Buch, Punkt 43. Hier heisst es: «Auf der Grundlage der vollen Achtung
der Prinzipien, so wie sie in der Aufgabenstellung für die Kommission in
Punkt I der Tagesordnung aufgeführt sind.» Unter voller Achtung der Prin
zipien versteht der eine oder andere Teilnehmer vor allem auch Prinzip 6,
Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
163
«menschliche Kontakte und Information», «Zusammenarbeit und
Austausch im Bereich der Kultur und der Bildung». So ermutigend
sich die betreffenden Texte anhören, der hellhörige Europäer wird
gewisse Ausdrucksweisen doch vermerken. Warum zum Beispiel die
Komparativa freiere Bewegung und Kontakte, freiere und umfassen
dere Verbreitung von Information? Warum heisst es hier nicht ein
fach «frei» oder «umfassend»? Ab wann kann man von freierer Be
wegung etwa über Grenzen sprechen, wenn eigentlich noch gar keine
Bewegungsfreiheit existiert? Offenbar besitzt ein Schwerverletzter
schon grössere Bewegungsfreiheit, wenn er aus dem Koma aufwacht
und die kleine Zehe bewegt? So kann durch den Komparativ aus der
freien Bewegung ein Minimalprogramm gemacht werden, und man
bleibt dem Buchstaben der Beschlüsse treu! Leider müssen KSZE-
Texte nicht nur so gelesen werden, wie der Gutgläubige sie verstehen
kann, sondern so, wie sie einer Staatspolizei, die freies Denken mit
allen Mitteln zu verhindern sucht, die Hände binden können. Man
merkt, dass trotz der besten Absichten überall ein Hintertürchen für
die Staatspolizei offengeblieben ist. Das Blaue Buch stellt die zukünf
tigen Aufgaben nur im Ansatz. Wenn auch «die Gegenseite» mit
arbeiten soll, kann deren Staatsräson nicht von vornherein ausge
schlossen werden. Für viele ist das ein Ärgernis. Der Ansatz zu einer
dem Sinn und der Dynamik der KSZE-Texte gegenläufigen Interpre
tation muss von vornherein erwähnt werden. Die bekannte Gegen
seite, die Vertreter ihrer Sicherheitsinteressen, ihrer Staatspolizei,
werden sich bis zu einem gewissen Punkt immer darauf versteifen
können, buchstabengetreu «musterhaft» dem KSZE-Text nachgelebt
zu haben. Ob dies der Fall war oder nicht, ob die Einmütigkeit der
Teilnehmerstaaten auch in der Durchführung ihres Programms bruch
los erhalten bleibt, darüber werden, wie man sehen wird, die Nach
folgekonferenzen der KSZE zu befinden haben.
Noch zwei Bemerkungen zur Agenda, diesem wichtigsten Kapitel des
Blauen Buches. Wer Abschnitt III liest, wird feststellen, wie verschie
den die Abschnitte «menschliche Kontakte und Information» einer
seits, die Abschnitte «Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der
Kultur», «Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Bildung»
andererseits, ausgefallen sind. Es gibt da einen Unterschied. So sehr
die beiden letzten Abschnitte grosszügige Initiativen im Bereich der
Kultur ahnen lassen, so sehr sind die beiden ersten vom engbrüstigen
Bemühen gekennzeichnet, primitive Selbstverständlichkeiten im Ver
164
kehr unter europäischen Staaten und ihren Bürgern sicherzustellen.
Damit gibt sich unmissverständlich zu erkennen, welche Schikanen
etwa bei Visumsausstellung, Eheschliessung, Arbeitsbedingung für
Journalisten etc. noch zu überwinden sind. Wir können vorläufig
darauf verzichten, den Abschnitt II im zweiten Kapitel des Blauen
Buches, «wirtschaftliche Kooperation», zu betrachten.
Mit all diesen Einschränkungen soll nun die Frage gestellt werden:
ist das Kapitel 2 a ls Zusammenfassung der Aufgabenstellung für eine
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa befriedi
gend oder unbefriedigend?
Die Einheit des Vorhabens und die Möglichkeit einer missbräuchlichen
dialektischen Interpretation dieser Einheit darf nicht verkannt wer
den. Vergessen wir aber nicht, die ganze Tagesordnung der zukünf
tigen KSZE steht unter einer grossen Klammer. Sie ergibt sich aus
der Einleitung zum Prinzipienkatalog und lautet:
«Die Kommission ist beauftragt, in Übereinstimmung mit den Zielen
und Grundsätzen der Vereinten Nationen jene grundlegenden Prin
zipien zu erörtern und zu formulieren, die jeder Teilnehmerstaat zur
Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit aller Teilnehmer
staaten in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten un
geachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme zu
achten und anzuwenden hat.»25
«Die zu formulierenden Prinzipien sollen in ein Dokument angemes
sener Form aufgenommen werden ... Dieses soll die Entschlossenheit
der Teilnehmerstaaten zum Ausdruck bringen, die Prinzipien in allen
Aspekten ihrer gegenseitigen Beziehungen und Zusammenarbeit glei-
chermassen und vorbehaltslos zu achten und anzuwenden, um allen
Teilnehmerstaaten die Vorteile zu sichern, die sich aus der Anwen
dung dieser Prinzipien durch alle ergeben.»26
Ist diese Sprache nicht klar? Bildet diese Einleitung zum Prinzipien-
katalög nicht auch die eigentliche Weisung zum III. Abschnitt der
25 Blaues Buch, Punkt 17, Hervorhebung durch den Verfasser.
26 Blaues Buch, Punkt 18, Hervorhebung durch den Verfasser.
165
Tagesordnung, dem späteren Korb III? Dort heisst es: «In ihrem
Schlussdokument formuliert die Kommission geeignete Vorschläge
auf der Grundlage der vollen Achtung der Prinzipien, welche die
Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, so wie sie in der Aufgaben
stellung für die Kommission in Punkt I der Tagesordnung aufgeführt
sind.»27 Dieser Satz ist also ein Rückweis der gerade in der Einbezie
hung aller Prinzipien nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt.
Wer an der letzten Endes doch klaren Aufgabenstellung des Blauen
Buches zweifelt und dessen Aussage dialektisch in Frage stellen will,
wird sich unter Missachtung einer Reihe von anderen allein hinter
Prinzip sechs, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, ver
schanzen müssen. Es zeigt sich hier eine Einstellung, die logisch zu
Ende gedacht, bedeuten würde: Die Teilnehmerstaaten geben sich,
ganz gleich was ihr gesellschaftliches System ist, gegenseitig die Zu
sicherung, friedliche Beziehungen einhalten zu wollen. Sie stellen sich
gleichzeitig einen Freibrief aus, die Menschenrechte und das Selbst
bestimmungsrecht der Völker etwa so zu verstehen, wie es jedem «in
seinen inneren Angelegenheiten» passt. Ist das der Sinn der zukünf
tigen KSZE? Es liesse sich wohl schwerlich ein zynischeres Programm
ausdenken. Man wird auf diese Haltung zurückkommen müssen. Sie
widerspricht jedenfalls wenn nicht dem Buchstaben, so dem Geist
und Sinn des Vorhabens wie dies das Blaue Buch in den angegebenen
Absätzen zusammenfasst.
Einheit in der Durchführung?
Die in den Verfahrensregeln vorgesehene Solidarität der Teilnehmer
staaten bezieht sich auf einen in der Tagesordnung der zukünftigen
KSZE vorgesehenen, ganz bestimmten Rahmen: die Ausgestaltung
ihrer friedlichen Beziehungen. Diese Ausgestaltung bleibt entspre
chend den unterliegenden Vorstellungen von Entspannung mehrdeutig
und einem zukünftigen Prozess überlassen. Von diesem Prozess finden
wir im Blauen Buch erst Andeutungen, die nur gerade ahnen lassen,
dass es sich um den Beginn eines Weges handeln könnte, der immer
mehr verpflichtend wird. Die Teilnehmerstaaten entschliessen sich
27 Blaues Buch, Punkt 43, Hervorhebung durch den Verfasser.
166
schrittweise zu ihrem Vorhaben, zu dem, was man später, seine Kon
tinuität voraussetzend, den KSZE-Prozess nennen wird.28
2. Die Helsinki-Schlussakte
Eine eingehende Würdigung dieses Dokumentes würde den Rahmen
der vorliegenden Arbeit sprengen. Es mögen folgende Hinweise ge
nügen:
1. Die Verfahrensregeln aus dem Blauen Buch, welche ja laut Be-
schluss der Aussenminister für die Phasen 1—3 der Konferenz ohne
hin gelten, werden auf alle zukünftigen Veranstaltungen der KSZE
ausgedehnt. Ein unscheinbarer Absatz am Ende des operativen Teils
der Schlussakte unterstellt also das ganze Geschehen dem, was wir
die «Solidarität aller KSZE-Staaten mit den wesentlichen Interessen
eines jeden, auch der kleinsten von ihnen» genannt haben.
2. Aus dem im Blauen Buch vorgesehenen Dokument über den Prin
zipienkatalog wird ein Dokument, das alle Aufgabenstellungen der
KSZE integriert, eben die Schlussakte.29
3. Die Schlussakte ist kein Friedensvertrag, wenn sie eingehalten und
durchgeführt de facto auch die Wirkung eines solchen haben müsste.
Sie ist vertragsrechtlich gesehen nicht verpflichtend, vor keinem Ge
28 Es lassen sich vorerst folgende Schritte unterscheiden:
Zuerst wird das Blaue Buch als gemeinsam approbierte Schlussempfehlungen
des Botschaftersalons den Aussenministerien der Teilnehmerstaaten zugeleitet.
Es folgt der Konsens der Teilnehmerstaaten. Diese erklären sich bereit, mit der
KSZE, wie in den Schlussempfehlungen der Vorbereitungsphase vorgesehen, zu
beginnen. Dieser Konsens wird der Regierung Finnlands mit Annahme der Ein
ladung an der Eröffnungsphase der Konferenz teilzunehmen, von jedem Staat
einzeln mitgeteilt.
In der Eröffnungsphase erteilen die Aussenminister den verbindlichen Auftrag
für die Arbeitsphase der KSZE. Letztere findet gemäss dem Prinzip der Rota
tion nicht mehr in Helsinki, sondern in Genf statt. Sie gilt der Ausarbeitung
der vorgesehenen Dokumente gemäss Verfahrensregeln, Tagesordnung und Auf
gabenstellung des Blauen Buches.
Einer dritten Phase wird es vorbehalten, die erarbeiteten Dokumente — es han
delt sich praktisch um ein Dokument, die Schlussakte — in ihrer Verbindlich
keit zu prüfen und gegebenenfalls wiederum durch Konsens zu sanktionieren.
Einem besonderen Ausschuss, dem Koordinations-Komitee der zweiten Phase,
bleibt es vorbehalten, zu prüfen, in welcher Form eine Fortführung der KSZE-
Verhandlungen über die 3. Phase hinaus angezeigt scheint.
29 Blaues Buch, Punkt 18.
167
rieht einklagbar. Sie ist eine politisch bindende Absichtserklärung,
den gegenwärtigen Zustand Europas allseits anzuerkennen und ihn
nur mit friedlichen Mitteln in einer bestimmten, noch zufriedenstel
lenderen Richtung zu ändern. Die Schlussakte ist wesentlich eine
Feststellung der Bedingungen für die Entspannung und ein Programm
für die Vertiefung der Entspännung in Europa. Als diese Absichts
erklärung der Teilnehmerstaaten erfordert sie in erster lXme Einhal
tung der zehn Prinzipien und Durchführung aller darin ins Auge ge-
fassten Massnahmen.
4. Diese Einhaltung, diese Durchführung und die Vertiefung des Ent
spannungsprozesses wird mit der Schlussakte einklagbar, nicht vor
einem Gericht, sondern vor dem oder den Nachfolgetreffen der
KSZE.
Ausgehend von diesen Bemerkungen muss man lernen, die Schluss
akte mit einem rechten und einem linken Auge zu lesen. Die folgen
den Ausführungen beabsichtigen den Blick hierfür zu schärfen. Nie
mand der sich für den Zustand des geteilten Europa interessiert, kann
von dieser Lektüre dispensiert werden.30 Und niemand sollte über
rascht sein, wenn er hier dieselbe Dialektik wie im Blauen Blich vor
findet, eine Dialektik zwischen feindlichen Rivalen und ihrer Sicher
heit, zwischen möglichen Partnern und ihrer Kooperation, tiefer be
sehen eine Dialektik, die innerhalb selbstzufriedener Systeme und
eingemauerter Ideologie aufbricht, die den Bruch zwischen deren
Staatsräson und Menschenrechten offenbart. Was im Blauen Buch als
mögliche Themen der KSZE skizziert war, liegt in der Schlussakte
als ausgefeiltes Programm; vor. Und es kann bei dem Abgrund, der
zwischen beiden Teilen Europas vorläufig klafft, auch nicht über
raschen, dass alles komplizierter wird. Zuerst muss die Garantie vor
liegen, dass die Mauern halten,, dass nicht alles ins Rutschen kommt.
39 Ein Beschluss der Teilnehmerstaaten lautet: «Der Text der vorliegenden Schluss
akte wird in jedem Teilnehmerstaat veröffentlicht, der ihn so umfassend wie
möglich verbreitet und'bekanrit macht»,.Konferenz über.Sicherheit und.Zusam
menarbeit in Europa, Schlussakte 1975, deutscher Text dortige Seite 71. Künftig
zitiert Schlussäkte mit Seitenangabe;' Dementsprechend'wurde der Text der
Helsinki Schlüssakte am 18. .Oktober 1975 im Liechtensteiner < Volksblätt und
im Liechtensteiner Vaterland veröffentlicht.' Aiifgrund'-eirier ähnlichen Empfeh
lung der Teilnehmerstaaten wurde auch das abschliessende Dokument des Madri-'
der-Treffens nach Beschluss der Fürstlichen.Regierung, am >14. Januar 1984 in
den liechtensteinischen; Tageszeitungen publiziert und- so jedem liechtensteini
schen Haushalt zugänglich gemacht.
168
Dann aber ist die Lage erst recht unbefriedigend. Es braucht Koope
ration. Es braucht die Öffnung zum «Feind». Die Öffnung aber zu
welchen Bedingungen? «Zu gegenseitig annehmbaren Bedingungen»,
also zum kleinsten gemeinschaftlichen Nenner! So wird auf Öffnung
bestanden, diese wieder zugemauert, doch ein kleines Fenster belassen
und auch dieses weiter gegen frische Luft abgedichtet. Die Schlussakte
strotzt stellenweise von solchen Rücksichten, Hinweisen und doppel
ten Bezügen. Zum Teil erreichen die sprachlichen Formulierungen die
Verzwicktheit von KSZE-Chinesisch. Die korrekte Interpretation
scheint einer Klasse von KSZE-Mandarinen vorbehalten. Ist die
Schlussakte also doppeldeutig, etwa im Sinne einer weiteren konstruk
tiven Doppeldeutigkeit der KSZE? Diese Frage wird sich in den
35 Teilnehmerstaaten jeder deutlich stellen müssen.
Ist die Schlussakte ein fauler Kompromiss? Oder entsprechen die
Aussagen, die hier zustande kamen einem verantwortungsvollen
Grundgedanken, den man eigentlich bejahen kann? Um in dieser
Frage klar zu sehen, ist es unerlässlich, sich mit den aus der Diskussion
um die KSZE bekannten Begriffen substanziell und ausgewogen aus
einanderzusetzen.
Die Schlussakte enthält mehrere Teile, unter ihnen:
— die Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teil
nehmerstaaten leiten;
— das Dokument über vertrauensbildende Massnahmen und be
stimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung (Ankündigung mili
tärischer Manöver und militärischer Bewegungen, Austausch von Be
obachtern etc.);
— Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissen
schaft und der Technik, sowie der Umwelt (Handel, Geschäftskon
takte, industrielle Kooperation, Schiedsverfahren, Verkehr etc.);
— Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum;
— Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen (Mensch
liche Kontakte, Familienzusammenführung, Eheschliessung, Reisen,
Tourismus, Zugang und Austausch, Arbeitsbedingungen für Journa
169
listen, Zusammenarbeit im Bereich der Kultur, im Bereich der Bil
dung etc.);
— schliesslich Folgen der Konferenz.
Die Schlussakte enthält also in umfassender Weise gemeinsame Aus
sagen und Entschlüsse der Teilnehmerstaaten, wodurch der Entspan-
nungsprozess in Europa verwirklicht werden kann. Sie ist in diesem
Sinn ein substanzielles Dokument.
Was versteht man unter ihrer Ausgewogenheit? Die Schlussakte ent
hält grundsätzlich drei Teile, nämlich:
— Sicherheit,
—1 Zusammenarbeit,
— humanitärer Bereich,
ferner den vierten Punkt:
— Folgen der Konferenz.
Diese drei Teile stehen in einem ganz bestimmten Zusammenhang.
Der erste Korb «Sicherheit» ist politisch. Er garantiert nämlich den
«politischen Bestand» jedes Teilnehmerstaates unabhängig von seiner
Grösse, Lage, wirtschaftlichen Entwicklung oder seinen gesellschaft
lichem System. Jedermann weiss, was damit gemeint ist. Die Sowjet
union hatte stets grösstes Interesse an diesem Korb. Er ersetzt ihr so
zusagen einen Friedensvertrag, Anerkennung der in Europa bestehen
den Grenzen, ja Anerkennung der in den verschiedenen Staaten be
stehenden «Systeme». Aber auch die Staaten Westeuropas haben ein
Interesse an Garantien für ihr Bestehen und das Bestehen ihrer Ord
nung. Die Sowjetunion^ in Kenntnis dieses , Interesses, versucht aus
dem ersten Korb stets jene Argumente zu schöpfen, die die Fortent
wicklung eines neuen, nicht eindeutig marxistischen, gemeinsamen,
Verhältnisses zwischen den Teilnehmerstaaten und ihren Bewohnern
verhindern.
Der zweite Korb ist scheinbar unpolitisch, wirtschaftlich. Es handelt
sich um Massnahmen,-die die Produktion und den Austausch von
Gütern zum gegenseitigen Vorteil stimulieren sollen. In Wirklichkeit
170
ist gerade dieser Korb auch hochpolitisch, aber zwischen West und
Ost wenig kontrovers. Er enthält eine reiche Palette von Angeboten
der Zusammenarbeit. Staaten mit kommunistischer Planwirtschaft
haben dringendes Interesse, in Westeuropa wenigstens ihre Rohstoffe
abzusetzen und ihren veralteten Produktionsapparat durch westliche
Technologie zu ergänzen. Die westlichen Demokratien haben ein
echtes Interesse an Kontakten mit der osteuropäischen Wirtschaft,
nicht weil hier besonders zu verdienen wäre, sondern weil eine sach
liche, verantwortungsbewusste, keineswegs allein von Profit bestimmte
Zusammenarbeit zwischen West und Ost auch die bestehenden poli
tischen Spannungen versachlichen, die Menschen aus der Tyrannei
ihrer ideologischen Vorstellungen herausführen und befriedigen
könnte.
Der dritte Korb ist als «politisch» bekannt. Er bezieht sich auf «das
menschliche Gesicht der Entspannung». Er lässt eine deutlich west
liche Stossrichtung erkennen. Die Worte menschliche Kontakte und
Informationsfreiheit stehen im Vordergrund. Hier wird offenbar
versucht, das in den Oststaaten bestehende Monopol für die Defini
tion der öffentlichen Meinung zu unterlaufen. Wenn sich diese ein
seitige Auffassung vom dritten Korb durchsetzen sollte, wäre dies ein
grosser Gewinn für die östliche Seite. Da das Verhältnis zwischen
KSZE-Staaten keine Sieger und Besiegte kennt, wäre die Suggestion
vom westlichen Charakter des dritten Korbes gleichbedeutend mit
dessen uneingestandener Neutralisierung.
Eine Besinnung auf die Struktur der Schlussakte und den KSZE-
Dialog zeigt vielmehr: So wie der ursprünglich weitgehend von der
Sowjetunion inspirierte Prinzipienkatalog, enthält der dritte Korb
gerade mit seinen ursprünglich vom Westen inspirierten Forderungen
den entscheidendsten Beitrag der Helsinki-Schlussakte zu einer Über
windung der West-Ost-Spannung in Europa. Er ist gerade damit ein
klares, wenn auch grösstenteils auf Durchführung harrendes, gemein
sames Bekenntnis aller Teilnehmerstaaten. Ähnliches gilt, nebenbei
gesagt, hinsichtlich des 7. Prinzipes, Achtung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten.
Dies wird noch deutlicher, wenn man folgendes überlegt:
— Zum Kapitel menschliche Kontakte und den Stichworten Familiäre
171
Bindungen, Familienzusammenführung, Eheschliessung, Reisen, Tou
rismus, Jugend, Sport:
Welcher dieser Punkte wäre für die Entscheidung der West-Ost-Riva-
lität im Sinne von Sieger und Besiegten wirklich ausschlaggebend?
Wo könnte sich der gute Wille, jenseits der Bedrohung Vertrauen
auf- und Misstrauen abzubauen eher zeigen? Wo wäre es eher mög
lich, Leiden und Trennung zu beenden, Versöhnung zu schaffen?
Hier muss man gleich auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit und
ihre unbehinderte öffentliche Ausübung in allen KSZE-Teilnehmer-?
Staaten hinweisen. Wohl wird man dem Staat ein Aufsichtsrecht über
den Missbrauch dieser Freiheit dort zugestehen, wo andere durch diese
Freiheit in ihren Rechten verletzt werden könnten. Aber müssen wir
nicht in weiten Teilen Europas in erster Linie vom Missbrauch der
staatlichen Macht gegenüber Gläubigen sprechen? Gläubige, die in
keiner Weise in der Lage sind, die staatliche Autorität, die sich durch
ihr Verhalten selbst diskreditiert, in Frage zu stellen! Wie leicht
könnte hier auf zahllose Schikanen, ja auf skandalöse Brutalitäten
verzichtet werden. Wo würde es letzten Endes dem Staat weniger
kosten, auf die Gefühle seiner Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und
zu einem entspannten Verhältnis beizutragen?
— Zur Informationsfreiheit. Auch hier handelt es sich um das ge
meinsame Bekenntnis der KSZE-Staaten zu einem geistigen Prinzip
und die Bereitschaft zu einer geistigen Auseinandersetzung, eine Auf
gabe, mit der sich Politiker und Diplomaten, ganz gleich, wo sie in
Europa beheimatet sein mögen, oft recht schwer tun. Das entschei
dende daran haben vielleicht recht unbequeme Gruppen, die Friedens
bewegungen, vorläufig mehr in Westeuropa, die fast völlig zerschla
genen Gruppen zur Beachtung der Helsinki-Schlussakte in Osteuropa,
erkannt. Es geht um den Menschen als unantastbaren Träger eines
Gewissens, der zum doppeldeutigen Inhalt auch der Entspannungs
politik in Kenntnis aller Hintergründe, frei und verantwortungsbe-
wusst Stellung nehmen können muss. Nur so kann dem Frieden wirk
lich gedient werden, und werden nicht Massen gegen Massen indok-
triniert.
So bildet der erste Korb in gewisser Weise die Voraussetzung dafür,
dass feste Brückenköpfe auf jeder Seite des europäischen Abgrundes
172
bestehen. Im zweiten Korb zeigen sich Wege und Geleise, die in beiden
Richtungen zur Zusammenarbeit führen. Der dritte Korb entspricht
einer gemeinsamen Verantwortung für die Menschen, die unter ge
wissen gemeinsamen Voraussetzungen in Europa leben.
Wenn man den spezifischen Charakter der drei Körbe in diesem
Sinn erfasst, zeigt es sich, dass vorhandene Vorstellungen von Ent
spannung in dieser Dreiteilung verdeckt weiter bestehen. Die drei
Körbe ergänzen einander, entsprechen verschiedenen Aspekten fried
licher Zusammenarbeit. Jeder von ihnen ist unerlässlich, damit die
Teilnehmerstaaten zusammen ein gleiches Interesse an der Fortfüh
rung der KSZE haben. Das ist es, was man die Ausgewogenheit der
Schlussakte nennen kann. Es ist eine qualitative Ausgewogenheit, die
sich quantitativ nicht direkt messen Hesse. D ie qualitative Ausgewo
genheit der Schlussakte wird immer erst durch eine Auseinanderset
zung unter den 35 Teilnehmerstaaten zu erreichen sein. Die Schluss
akte ist also Ausdruck einer politischen Spannung, die die Teilnehmer
staaten verbindet, die aber noch nicht bewältigt und überwunden ist.
Ihre Aussage ist in diesem Sinn, wenn auch holprig, lesbar und ein
deutig. Sie wurde unterschrieben von 35 Regierungschefs, nicht auf
grund eines gelungenen Täuschungsmanövers, sondern aufgrund von
deren Einsicht in eine tiefgreifende Schwierigkeit der europäischen
Völker, die es zu überwinden gilt.
Um in diesem Punkt klar zu sehen, muss man sich die Frage stellen,
was die Schlussakte an festen Abmachungen enthält und wieweit die
darin vorgesehenen Massnahmen unzweideutig über das hinausgehen,
was in der Aufgabenstellung des Blauen Buches noch offen blieb.
Es zeigt sich
— zum Prinzipienkatalog:
Die Teilnehmerstaaten erklären sowohl eingangs wie am Ende des
selben ihre Entschlossenheit, alle Prinzipien, ein jeder gegenüber allen
anderen, vorbehaltslos anzuwenden und zu achten. Sie erklären ferner
ihre Absicht, ihre Beziehungen zu allen übrigen Staaten im Geiste
dieser Prinzipien zu gestalten.
Der Prinzipienkatalog ist in allen seinen Teilen ein fest vereinbarter
Verhaltenskodex unter den Fünfunddreissig, gegenüber den übrigen
Staaten eine Absichtserklärung.
173
— Zu den weiteren ins Auge gefassten Massnahmen:
Hier lässt eine aufmerksame Lektüre Nuancen erkennen. Die Ankün
digung von Manövern in einer Grösse über 25 000 Mann etwa ist
verpflichtend. Die Massnahmen des zweiten Korbes werden meist mit
den Worten eingeleitet: Die Teilnehmerstaaten haben folgendes ange
nommen, werden Massnahmen treffen etc. Wir finden aber auch
schwächere Formeln, etwa beim Tourismus: die Teilnehmerstaaten
geben ihrer Absicht Ausdruck ... Im dritten Korb heisst es bezeich
nender Weise: die Teilnehmerstaaten erklären ihre Bereitschaft...
und drücken ihre Absicht aus, nunmehr zur Durchführung des folgen
den zu schreiten ... Hier folgen die Massnahmen betreffend mensch
liche Kontakte. Ähnlich heisst es zu Abschnitt Information: die Teil
nehmerstaaten drücken ihre Absicht aus ...
In diesem Sinn stellt die Schlussakte, wie oben gesagt, eine politisch
bindende Absichtserklärung dar, ein unter den Teilnehmerstaaten
gegebenes Versprechen. Dieses enthält Teile, die unmittelbar verbind
lich sind, etwa die Prinzipien, aber auch Massnahmen, die erst schritt
weise ins Auge gefasst werden. Wichtig ist, dass auch diese Mass
nahmen so begrenzt und marginal sie zuerst sein mögen, Teil des unter
fünfunddreissig abgegebenen Versprechens sind und damit aus der
Solidarität aller eingefordert werden können. Hier liegt der entschei
dende Punkt, indem die Schlussakte über das Blaue Buch, das erst
die Prüfung der gemeinsamen zu beschliessenden Massnahmen vorsah,
hinausgeht.
Die Schlussakte überlässt die Durchführung der beschlossenen Mass
nahmen einem Prozess, d. h. einem komplexen Vorgang, wobei die
diversen einzelnen Massnahmen entsprechend dem gemeinsamen Ver
ständnis aller und der verantwortungsbewüssten Klugheit eines jeden
Teilnehmerstaates so durchgeführt werden, dass die Gratwanderung
der Entspannung ohne Unfall beendet werden kann. Das wird in der
Schlussakte mit diesen Worten nicht gesagt, ist aber der. Inhalt ihres
vierten Korbes — Folgen der Konferenz —, über den wenig geredet
wird.
174
4. Kapitel: Die Folgekonferenzen —
Der Entspannungsprozeß und seine Vertiefung
Die Helsinki-Schlussakte, am 1. August 1975 unterschrieben, enthält
ein Kapitel «Folgen der Konferenz». Eigentlich müsste man nun über
legen, was aus den ursprünglichen Vorstellungen von einer «Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» inzwischen gewor
den ist. Wie weit haben sich die Vorstellungen gewandelt? Was ist
von den ursprünglichen Zielsetzungen erhalten geblieben und was
kann davon weiterwirken? Was hat das Belgrader Folgetreffen, was
hat Madrid für das Zusammenleben in Europa gebracht? Wie kann
es weitergehen? Eine faszinierende Aufgabe, auf die wir hier jedoch
nicht eingehen können.
Nachdem in den vorhergehenden Seiten die Spannungen und Zwei
deutigkeiten, die dem KSZE-Geschehen latent unterliegen, aufgezeigt
wurden, geht es nun darum darzustellen, wie dieselben in einem Pro
zess aufgearbeitet werden können. Es kann auch in diesem Abschnitt
keine Wertung des bisher an Folgekonferenzen konkret erreichten
vorgenommen werden. Mit so einer Wertung würde in der Tages
politik Position bezogen. Die Frage, die angesichts der Fortführung
der KSZE gestellt werden muss, lautet vielmehr: Wie gelingt es den
Teilnehmerstaaten, das seit Beginn der Konferenz zwischen ihnen
immer deutlicher erkennbar gewordene neue, entspannte Verhältnisse
in die Wirklichkeit überzuführen?
Man kann hier eine mittel- und eine langfristige Perspektive unter
scheiden. Die mittelfristige Perspektive wird vor allem durch folgen
den Abschnitt der Schlussakte bestimmt: «Die Teilnehmerstaaten er
klären ferner ihre Entschlossenheit, den durch die Konferenz einge
leiteten multilateralen Prozess fortzusetzen, indem sie einen vertieften
Meinungsaustausch vornehmen, sowohl über die Durchführung der
Bestimmungen der Schlussakte und die Ausführung der von der Kon
ferenz definierten Aufgaben, als auch im Zusammenhang mit den von
ihr behandelten Fragen über die Vertiefung ihrer gegenseitigen Bezie
hungen, die Verbesserung der Sicherheit und die Entwicklung der
Zusammenarbeit in Europa und die Entwicklung des Entspannungs
prozesses in der Zukunft.»31 In der Schlussakte sind eine, möglicher
31 Helsinki-Schlussakte, Seite 69. Hervorhebungen vom Verfasser.
175
weise mehrere Folgekonferenzen, die diesem Mandat Rechnung tra
gen, vorgesehen. Die langfristige Perspektive wird in der Schlussakte
als Möglichkeit nicht ausgeschlossen.32
Aus den diesbezüglichen Texten spricht die Vorsicht der Teilnehmer
staaten, sich in der Führung des Entspannungsdialoges ihrer Freiheit
zu begeben, eine Vorsicht, die wie schon dargelegt in der Doppel
deutigkeit desselben begründet ist.33
I. Die mittelfristige Perspektive:
Taten und nicht Worte
Mittelfristig, von Folgetreffen zu Folgetreffen und während den
Folgetreffen geht es zwischen den Teilnehmerstaaten um Vertrauens
bildung öder um Erosion des Vertrauens.
Die KSZE ist ein multilateraler Prozess — eben eine Gratwanderung.
Der Weg ist vorgeschrieben durch die Schlussakte. Die Teilnehmer
sind verbunden durch die Verfahrensregeln. Das Vorhaben lässt sich
mit keiner völkerrechtlichen Prozedur vergleichen. Nur allzu leicht
werden zur Erklärung neuer Vorgänge alte Begriffe herbeigeholt.
Damit werden Erwartungen geweckt, die irritieren müssen. In
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: ist so ein Nachfolge
treffen ein Tribunal? Die Nachfolgekonferenzen sind eher ein
Marschhalt der Seilschaft; ein Rückblick mit der Frage: kommt jeder
mit? Ein Ausblick: wie weiter? Dem dient ihr doppelter Auftrag:
Vertiefter Meinungsaustausch über die Durchführung der Helsinki-
und weiteren Beschlüsse einerseits, über die möglichen Massnahmen
zur Vertiefung des Entspannungsprozesses andererseits.
Es war ausserordentlich wichtig,; bei der Vorbereitung der Folgetref
fen diese beidenlAufträge deutlich zu unterscheiden und nicht jenen
nachzugeben, die jeweils die Durchführung von seinerzeit beschlos-
38 Helsinki Schlussakte, Seite;69.
33 Unter das Kapitel «Folgen der Konferenz» fallen laut Schlussakte auch die
sogenannten «Expertentreffen der: KSZE». Diese stellen neben den eigentlichen
Folgetreffen flankierende Massnahmen im KSZE-Prozess dar, so dass wir. sie
in der vorliegenden Betrachtung-beiseite lassen'können.
176
senen Massnahmen vom Zugeständnis weiterer Forderungen — so
nobel diese auf dem Papier aussehen mögen — abhängig machen
wollten!34
In diesem Sinn haben wir weiter oben gesagt: An den Nachfolgekon
ferenzen wird die Durchführung der beschlossenen Massnahmen im
vertieften Meinungsaustausch einklagbar. Der vertiefte Meinungsaus
tausch stellt in sich selbst einen wichtigen Auftrag der KSZE dar.
Denn nur in Einhaltung der zehn Prinzipien und Durchführung der
beschlossenen Massnahmen wird das zwischen den Teilnehmerstaaten
auf dem Papier beschworene neue Verhältnis real. So muss an den
Nachfolgetreffen, zwar hinter geschlossenen Türen, von wo nur ge
wisse Echos nach aussen dringen, und ohne Absicht zu reiner Polemik,
gestützt auf die Schlussakte, aber in schonungsloser Offenheit, den
Gründen für Verzögerung und für das weitere Bestehen von Spannung
und Unmenschlichkeit in Europa nachgegangen werden. Dies ge
schieht nicht im Sinn eines Tribunals, sondern im Sinn einer gemein
samen Gewissenserforschung betreffend die vorbehaltslose Einhaltung
der zehn Prinzipien und Durchführung der hiermit verbundenen
Massnahmen entsprechend der souveränen, aber solidarischen Ver
antwortung eines jeden und aller KSZE-Teilnehmerstaaten. Nur wer
von Vorstellungen klassisch völkerrechtlicher Beziehungen aufgrund
bestehender Verträge ausgeht, wird sich darüber beklagen kön
nen, dass diese gemeinsame Gewissenserforschung Einmischung in
seine inneren Angelegenheiten bedeutet, oder wird sich darüber be
klagen können, dass die in Helsinki beschlossenen Massnahmen juri
stisch nicht bindend und einklagbar sind. Das Verhältnis der KSZE-
Staaten ist ein anderes. Es ist Ausdruck einer Schicksalsgemeinschaft
am Rand eines Abgrundes. Die Solidarität besteht trotz aller ebenfalls
vorhandenen politischen, strategischen, wirtschaftlichen, tiefer gese
hen ideologischen, das menschliche Wesen berührenden Gegensätze.
So sind die Teilnehmer verpflichtet, mit Klugheit, Festigkeit und Ver
antwortung für das einem jeden Zumutbare, als Partner, nicht als
Richter, die Durchführung und Einhaltung der Schlussakte gemein
sam zu überprüfen. Dies ist für den KSZE-Prozess lebenswichtig,
denn dieser ruht im wesentlichen auf seiner politischen Glaubwürdig
keit. Sonst versinkt das durch die KSZE neu gewonnene Terrain ins
'* Man vergleiche hierzu die Beschlüsse der Vorbereitungstreffen für Belgrad und
für Madrid. Sie tragen dieser Notwendigkeit Rechnung.
177
Irreale. Es wird wieder zur Projektion, zur Fata morgana, hinter der
jene herlaufen, die die Doppeldeutigkeit der Entspannungspolitik
nicht durchschauen. Eine Grossmacht hätte durch ein Missverständnis
über den solidarischen Charakter des KSZE-Prozesses — eine Soli
darität, der gegenüber es keine Neutralität gibt — ihr ursprüngliches
Konferenzziel, Einschläferung des Widerstandes, erreicht.
II. Die langfristige Perspektive: Ausgewogenheit
Im Zusammenhang mit der Erfüllung des eben beschriebenen ersten
Auftrages an das oder die Nachfolgetreffen stellt sich die Frage nach
Prüfung von weiteren Massnahmen, welche der Vertiefung des Ent
spannungsprozesses dienen können. Hier wird es unumgänglich, die
langfristige Perspektive einzubeziehen.
Auch um langfristig klar zu sehen, muss man unnachsichtig fragen:
Was ist an der KSZE real? Ist nicht alles Papier? Ist die Sicherheit
der Teilnehmerstaaten tatsächlich grösser geworden, oder wird das
Bewusstsein ihrer Sicherheitsinteressen gerade durch die KSZE ein
geschläfert? Hat es irgend eine Grossmacht weiter in der Hand, das
bisher Erreichte durch ihr zynisches Vorgehen gegenüber anderen
Staaten vom Tisch zu wischen? Wenn man zur Auffassung kommt,
dass schon einiges geschehen ist, dass sich das Verhältnis unter den
35 Teilnehmerstaaten seit 1972 in vielen Punkten gebessert hat, dann
darf man sich der weiteren Frage dennoch nicht verschliessen: Ist die
KSZE mit allem bisher Erreichten, mit allem darin investierten guten
Willen und den demonstrierten Konzessionen der Grossmächte, nicht
weiterhin eine Fata morgana, eine ideale Projektion, in hervorragen
der Weise geeignet, den Zielen einer Grossmacht politisch Vorschub
zu leisten?
In subtiler Weise könnte der KSZE-Prozess, der eine ausgewogene
Komposition von Motiven enthält, so dass das gemeinsame Vorhaben
als Ganzes allen nützt und keinem schadet, von seinem Ziel abgelenkt
werden. Er könnte immer noch den Interessen einer Grossmacht ge
fügig gemacht werden. Langfristig müssen also all jene Bestrebungen
beachtet werden, die dazu führen, das was bisher gemeinsam erreicht
wurde, wieder zu zersetzen und umzufunktionieren. Das Auseinan
derfallen der besonderen Solidarität der Teilnehmerstaaten kann un
bemerkt auf mehreren Wegen erreicht werden.
178
Folgende Fragen müssen in aller Offenheit gestellt werden:
— Fördert nicht gerade eine Täuschung über den Wert des bisher
Erreichten bei vielen kleineren Teilnehmern einen realen Bewusst-
seinsschwund ihrer Sicherheitsinteressen?
— Übersieht man die Notwendigkeit, den stärksten europäischen
Teilnehmerstaat ausserhalb der Hypothese der KSZE sehr real zur
zweiten Lesart der Entspannung zu verpflichten?
— Sind sich alle demokratischen KSZE-Teilnehmerstaaten bewusst,
dass der dritte Korb, neben dem ersten und dem zweiten, «ihr Korb»
ist, oder überlassen sie hier die Initiative einer Militärallianz?
— Existieren Tendenzen, die KSZE im Verlauf der Zeit immer mehr
in ein Forum für Sicherheit und Hardware umzufunktionieren und
den dritten Korb so hoch zu hängen, wie im ersten Korb Konzes
sionen gegenüber einer Supermacht gemacht werden?
Im weiteren Verlauf der Folgetreffen nehmen die Teilnehmerstaaten
zu Vorschlägen Stellung, welche geeignet sind, den Entspannungs-
prozess zu vertiefen. Hier gehen sie notwendigerweise weiter auf die
dem Entspannungsdialog unterliegende Doppeldeutigkeit zu. Das
Ringen um die eine oder andere Lesart wird härter. Dies ist begrüs-
senswert. Aber die Anforderungen an Geduld und Einsicht für die
notwendige Solidarität werden auch grösser. Es ist verständlich, dass
die Grossmächte und ihre Allianzen ihre primären Motive im Dialog
vorschieben. Es ist verständlich, dass die Sowjetunion mit spektaku
lären Friedensinitiativen und Abrüstungsvorschlägen auftritt, die von
allen auf ihren Realismus hin geprüft werden müssen. Es ist verständ
lich, dass die in ihrer Militärallianz führenden westlichen Demokra
tien auf ihren Vorstellungen von Menschenrechten, Informationsfrei
heit und Bürgerinitiativen zugunsten der Durchführung der Helsinki-
Schlussakte bestehen. Im Namen der Solidarität aller KSZE-Staaten
sollte keine Forderung, welche grundsätzlich, und sei es nur als eine
Komponente, geeignet ist, den Helsinki-Prozess zu ergänzen, zurück
gewiesen werden. Es ist aber ebenso darauf zu achten, dass dieser in
der Ausgewogenheit seiner drei Teile — Sicherheit, Kooperation und
menschliche Verhältnisse — respektiert wird. Freilich ist diese Aus
gewogenheit nur qualitativ und nicht quantitativ messbar. Man kann
179
nicht das Verhältnis zwischen Raketen in Europa mit der Behandlung
von getrennten Familienangehörigen verrechnen. Um eine qualitative
Ausgewogenheit zwischen den Forderungen der Schlussakte wird
immer lange gestritten werden müssen. Grundsätzlich wird die Über
legung gelten, dass alle drei Körbe der Schlussakte gleichwertig er
halten und ausgebaut werden müssen, dass ein Fortschritt in der Aus
arbeitung vertrauensbildender militärischer Massnahmen und Ab
rüstung in gleicher Weise von Fortschritten auf dem Gebiet der wirt
schaftlichen Zusammenarbeit und dem Abbau menschenunwürdiger
Hindernisse zwischen Teilnehmerstaaten begleitet sein sollte.
Bei der Belastung, die lange Verhandlungen für alle Teilnehmerstaa
ten bedeuten, ist eine Versuchung nicht zu übersehen: Die qualitativ
bedeutenden, politisch aber als weniger entscheidend empfundenen
Massnahmen des dritten Korbes drohen in den Hintergrund zu rut
schen. Die Staaten haben ein Interesse, Fragen unmittelbarer Bedro
hung zuerst zu lösen. Ist das die Aufgabe der KSZE? Führt das nicht
langfristig gesehen zu einer gefährlichen Verschiebung jener Ebene,
an der alle als gleichberechtigte Partner sitzen?
Die Frage stellt sich. Sie kann bewältigt werden, wenn die Teilneh
merstaaten weiterhin das solidarische Interesse am ausgewogenen
Fortschritt des KSZE-Prozesses anerkennen. Es kann.aber über diese
Frage auch eine Umwertung des KSZE-Prozesses scheinbar zugunsten
des ersten Korbes, Sicherheit, für alle, erfolgen, in Wirklichkeit wohl
ein Abgleiten in Fragen, wo nur die Interessen der Allianzen unmit
telbar verrechnet werden. Vom Standpunkt der neutralen Staaten aus
müssen diese Tendenzen mit grösster Aufmerksamkeit verfolgt wer
den.35 Ist ihr eigentlicher Platz nicht dort, wo in einer gewissen
Distanz vom strategischen Geschehen in ausgewogener Weise alle
Aspekte der Ordnung in Europa zum Zuge kommen, sich alle Kom
ponenten berühren, die zu einer friedlichen Entwicklung in Europa
beitragen können? Diese durch Mitwirkung aller eminent auf quali
tative Steuerung des Entspannungsprozesses bezogene Struktur der
KSZE gilt es langfristig zu erhalten. Die aufgeworfenen Fragen zeigen,
mit welcher Unerbittlichkeit der Folgeprozess der KSZE unter dem
Gebot des Realismus, stellt; Es ist ein geistiger, ein echt europäischer
Realismus. Ein Realismus, der nicht nur Butter und Kanonen aner
35 Siehe Anm. 15.
180
kennt, ein Realismus, der in den Machtverhältnissen das europäische
Menschenbild will und bejaht.
Langfristig steht die Solidarität der KSZE-Teilnehmerstaaten vor
einer historischen Probe. Ihr Vorhaben gleicht einem Versuch von
35 Männern, einen Betonklotz, der sie alle belastet, von verschiedenen
Seiten aufzuheben und an eine andere Stelle zu tragen. Wenn eine
Seite nachgibt, wird sie den Betonblock auf ihren Füssen liegen haben.
Hierin gibt es keine Neutralität. Und dabei kann man nicht einmal
sicher sein, dass alle ehrlich mitmachen. Die Gefahren, die eintreten
können, werden noch deutlicher, wenn man nicht an einen Betonklotz,
sondern an einen grossen Blechtank denkt, der Flüssigkeit enthält.
Eine plötzliche Verschiebung des Gleichgewichtes kann eine ganze
Mannschaft zum Straucheln bringen. Man muss sich ganz klar sein,
dass auch solche Spiele an den Folgetreffen beginnen können, und dass
die KSZE-Partner sie im Hinblick auf ihre gemeinsame Zukunft lang
fristig im Auge behalten müssen.
Als hellhörig gewordener Europäer muss man in Sachen Nachfolge
treffen alle jene Tendenzen genau beobachten, die entweder darauf
abzielen, einen KSZE-Staat aus seiner Verantwortung für die «kleinen
beschlossenen Massnahmen im dritten Korb» vorzeitig zu entlassen,
oder die anderseits darauf abzielen, die KSZE-Nachfolgekonferenzen
mit spektakulären Massnahmen für Frieden und Abrüstung zu über
laden. Die grösste Gefahr besteht weiterhin darin, dass die KSZE zu
einer Werbeaktion für die verdeckten Ziele einer Supermacht degene
riert. Die Treue in der Durchführung der «kleinen» Massnahmen des
dritten Korbes, wobei Grossmächte wirkliche Grösse zeigen können
und ihre veränderte Haltung allen echte Sicherheit geben würde,
wäre wahrscheinlich signifikanter als Abrüstungsverhandlungen, bei
denen Gleichschritt in Hardware immer nur sehr schwerfällig zu er
reichen ist und letztlich niemandem ausser den Grossen echte Sicher
heit gibt. Insofern hätten die neutralen und nichtpaktgebundenen
Staaten Europas vor allem ein Interesse daran, den dritten Korb nicht
aus der Hand zu geben und die Initiative hier nicht einer Militär
allianz zu überlassen.
181
5. Kapitel: Liechtenstein in der KSZE
Gelegentlich wird die Frage gestellt, was kann ein Staat wie Liechten
stein in der KSZE tun? Wenn wir den Ost-West-Konflikt als solchen,
oder besonders seine strategische Dimension ins Auge fassen, so wird
die Antwort lauten: nichts!
Eine Besinnung auf den besonderen Platz, den die KSZE im Ent
spannungsvorgang einnimmt, eine Besinnung auf ihre Struktur und
auf die Stellung der einzelnen Staaten in ihr, ergibt ein anderes Bild.
Die vorhergehenden Überlegungen haben gezeigt, es ist nicht Aufgabe'
der KSZE, den ganzen Bogen der Entspannungspolitik abzudecken;
Die KSZE ist eher ein politischer Überbau für dieselbe. Dies gilt
wenigstens für die KSZE in ihrer gegenwärtigen Struktur.
Die Teilnehmer finden sich zur Konferenz von einer bestimmten
sicherheitspolitischen Voraussetzung ausgehend zusammen. Diese stille
Voraussetzung lautet: 1. Das Verhältnis der Supermächte ist zwar
gespannt und labil, global gesehen aber doch ausgewogen (Gleichge
wicht des Schreckens). 2. Kein europäischer Staat, vor allem keine
Grossmacht, profitiert davon, wenn sie ihr Gewicht dazu einsetzt,
die bestehenden Verhältnisse in Europa einseitig zu verändern. 3. Ver
suchungen einer Grossmacht, in Europa einseitig aus dem Kreis all
jener auszubrechen, die durch die Entspannung gemeinsam Nutzen
ziehen, können de facto jederzeit durch den Druck einer anderen
Macht aufgewogen und zurückgebunden werden.
Diese drei Punkte müssen in ihrer inneren Logik gesehen werden. Das
sicher labile Gleichgewicht der Abschreckung muss zwischen den
Grossmächten und ihren Allianzen laufend direkt und so kohärent
verrechnet werden, dass sein Bestehen ausser Frage steht. Hierüber
kann gar nicht diskutiert werden. Aber erst durch den dritten Punkt
ist de facto — über das Prinzip des Konsensus hinaus, das in der poli
tischen Arena stets etwas theoretisch wirken könnte — jener Aus
gleich der Machtpositionen gegeben, von wo aus alle Staaten, ob gross
oder klein, auf der gleichen Ebene miteinander sprechen können. Jen
seits dieser strategischen Voraussetzungen, entsteht dann für alle ein
homogenes Feld, auf , dem sich über den Katalog der Prinzipien guten
Benehmens, über Sicherheit und Kooperation erst von gleich zu gleich
reden lässt. Hier kann die Rückkehr von der Machtpolitik, die An
182
erkennung der souveränen Gleichberechtigung, die Besinnung auf die
zehn Prinzipien erfolgen. Hier können jene Massnahmen beschlossen
werden, die für die Entscheidung des Ost-West-Konfliktes im Sinn
von Sieger oder Besiegten nicht kritisch sind, die aber vertrauensbil
dend wirken, die Solidarität mit allen Beteiligten festigen und den
Menschen konkrete Erleichterungen im gespaltenen Europa bringen
können. Man muss diese Voraussetzungen der KSZE beim Namen
nennen. Man muss sich vorstellen, was es bedeutet, wenn Grossmächte
sich dem Kodex eines Wohlverhaltens in Europa beugen und bereit
sind, als Gleiche unter Gleichen ihren Platz einzunehmen. Wenn man
diesen Schritt von Machtpolitik zur Besinnung auf aufrichtige poli
tische Beziehungen — der freilich bis zum erfolgten Abbau der strate
gischen Uberkapazitäten noch hypothetisch ist — in Rechnung stellt,
dann ist auch klar, in welchem Verhältnis die Stellung der euro
päischen Kleinstaaten dadurch aufgewertet wird, dass sie an der
KSZE als gleichwertige Partner mitmachen. Diese Aufwertung zeigt
sich vielleicht am eindrücklichsten am Beispiel des Vatikans. Dieser
Staat hat strategisch kein Gewicht, ist aber wie vielleicht kein zweiter
dazu berufen, den KSZE-Prozess als Prozess, der vielleicht Frieden
in Europa bringt, von innen her zu durchdringen, ihm alle Aufmerk
samkeit in jenen Punkten entgegenzubringen, in denen aufrichtige
Entspannung auf dem Spiel steht. Man muss auch auf die besondere
Stellung des Vatikans zwischen den Grossmächten und ihren Absich
ten an der KSZE verweisen. Das Interesse, das der heilige Stuhl dem
Thema Frieden und dem Thema Frieden in Gerechtigkeit, den The
men Abrüstung, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Glaubens- und
Gewissensfreiheit entgegenbringt, war, so vermuten wir, ein Grund,
weshalb die europäischen Kleinstaaten seit 1970 überhaupt in die
Überlegungen, die zur KSZE führten, einbezogen wurden.
Aber gilt bei aller Wahrung der Proportionen das, was für den Vati
kan gilt, nicht auch für sie? Sind die europäischen Kleinstaaten nicht
auch daran interessiert und sogar berufen, den KSZE-Prozess in einer
ganz bestimmten Richtung zu ermutigen und zu beleben? Bringen
nicht auch sie bestimmte Erkenntnisse zum Thema Frieden, zum
Thema Gerechtigkeit und Rücksicht, zum Thema Menschenrechte,
staatliche Ordnung und soziale Sicherheit?
Die europäischen Kleinstaaten wären in einer zynischen Rechnung
der Machtpolitik bestimmt ein Anachronismus. Dem ist entgegenzu
183
halten, dass heute alle Staaten von der Einsicht ausgehen müssen, dass
reine Machtpolitik im Atomzeitalter in Europa ein Anachronismus ist.
Mit der Wiederaufnahme des politischen Dialoges jenseits strategi
scher Machtverhältnisse gemessen die Kleinstaaten unwillkürlich das
Wohlwollen aller, vor allem auch der grossen Rivalen im Konflikt.
Und tatsächlich haben die Kleinstaaten eine besondere Position im
KSZE-Dialog. Sie sind für das Gesamtverhältnis unbelastend. Aber
sie sind mit einigen sensitiven Punkten des KSZE-Prozesses besonders
verbunden und hiermit auch besonders qualifiziert, im Interesse aller
ihr eigenes Interesse zur Geltung zu bringen.
Der Satz, «An der KSZE wird unter Bedingungen souveräner Gleich
heit verhandelt», bedeutet also auch für Liechtenstein eine reale
Chance. Wie weit ist das Fürstentum darauf vorbereitet, diese Chance
zu nutzen? Was sind seine wesentlichen Interessen und was kann es
zum KSZE-Dialog beitragen? Man kann hier drei Bereiche unter
scheiden: Sicherheit, Verfahrensfragen, Zusammenarbeit im humani
tären Bereich.
I. Sicherheit
Liechtenstein tritt als völlig unbelasteter Partner in das KSZE-Ge
schehen ein. Keiner seiner Nachbarn bedroht seine Existenz. Niemand
kann sich durch die Existenz Liechtensteins bedroht fühlen. Liechten
stein trägt nicht im geringsten Schuld am Konflikt, der in Europa
entstanden ist und der Europa noch immer in zwei heterogene Hälften
trennt. Diese unbelastete Stellung Liechtensteins ist die wichtigste
Voraussetzung für alles weitere.
In seiner Aussenpolitik ist Liechtenstein aber in ausgesprochenster
Weise daran interessiert, dass die Beziehungen zwischen allen euror
päischen Staaten jenen gleichen, deren es sich zwischen seinen Nach
barn, der Schweiz und Österreich, erfreut. Ein Gleichgewicht des
Schreckens als einziger Ausdruck für Sicherheit in ganz Europa kann
hier nur als tragisch ungenügend empfunden werden. Ein Kodex
friedlichen Wohlverhaltens, wie er in den zehn Prinzipien der KSZE
zum Ausdruck kommt, stellt, sofern er tragfähig ist und eingehalten
wird, einen grossen Fortschritt dar. Liechtenstein hat also durchaus
Interesse daran, jene Solidarität aller europäischen Staaten gestärkt
184
zu sehen, worin auf Grossmachtpolitik vorbehaltlos verzichtet wird.
Auch wenn die KSZE-Schlussakte kein bindender Vertrag ist, ist es
für Liechtensteins völkerrechtliche Stellung von erheblicher Bedeu
tung, dass darin die Anerkennung Liechtensteins als gleichberechtigter
Partner in einem Vorhaben zum Ausdruck kommt, das fast alle Staa
ten Europas, Kanada und die Vereinigten Staaten vereint.
Nach der Mitgliedschaft bei der EFTA 1960, nach dem Zusatzabkom
men zum Abkommen der Schweiz mit den Europäischen Gemein
schaften 1972 und vor der bald folgenden Aufnahme in den Europa
rat 1978, öffnet sich 1972 in der KSZE für Liechtenstein der Kreis
aller Staaten, die für die weitere Entwicklung der europäischen und
nordatlantischen Verhältnisse von Bedeutung sind.
Die Stellung Liechtensteins in diesem Kreis ist grundsätzlich geprägt
von der Solidarität aller Teilnehmer mit dem ernsten Wunsch fried
licher Selbstbehauptung eines jeden von ihnen. Die KSZE-Schlussakte
begründet durch politischen Willen einen Zustand der Solidarität, der
erst festgeschrieben, dann wirklich erreicht und schliesslich auch er
halten werden muss.
Liechtenstein kann mit Genugtuung feststellen, in diesem Kreis Auf
nahme gefunden zu haben. Er hat sich die Lösung einer der gefähr
lichsten Perioden der europäischen Geschichte zur Aufgabe gemacht.
Aber jeder Teilnehmer muss sich bewusst sein: man ist nicht Mitglied
der KSZE, dadurch dass man einmal dabei war und unterschrieben
hat. Man bleibt Mitglied dadurch, dass man sich solidarisch bewährt.
Der KSZE-Prozess ist langsam, ein historisches Werden, aber er
umfasst zunehmend die Ausgestaltung der friedlichen Beziehungen
unter den Teilnehmerstaaten entsprechend den zehn Prinzipien.
Für die völkerrechtliche Stellung und für die Sicherheit der Grenzen
Liechtensteins stellt die Helsinki-Schlussakte, die die Unterschrift des
liechtensteinischen Regierungschefs neben jener von 34 anderen
KSZE-Teilnehmerstaaten trägt, sicher ein bedeutendes Dokument dar.
Sie bezeugt, dass dieses Dokument nicht ohne Mitwirkung und Kon
sens auch Liechtensteins zustande kam. Sie verpflichtet alle Teilneh
merstaaten auch gegenüber Liechtenstein, zu ihrer gegebenen Unter
schrift und neben den anderen darin vorgesehenen Massnahmen zu
den zehn Prinzipien als Grundlage ihres Verhaltens gegenüber Liech
185
tenstein zu stehen. Dies ist eine Aussage, die in ihrem Rang mit den
feierlichen Vereinbarungen des Wiener Kongresses wohl verglichen
werden kann, der aber im Zeitalter der Atomwaffe im heutigen
Europa eine ganz besondere Bedeutung zukommt.
Trotzdem muss man sich bewusst sein: Papier ist Papier. Die Hel
sinki-Schlussakte sind Instrument der Entspannungspolitik und erst
mit der gelungenen Durchführung derselben werden sie Realität ge
worden sein. Die für die Zukunft wertvollste, allerdings auch opfer
reichste Perspektive ergibt sich aus dem Aufruf an Liechtenstein,
solidarisch mit allen arideren Teilnehmerstaaten, solidarisch, vor allem
auch mit den anderen Neutralen und nichtpaktgebundenen Teilneh
merstaaten, an der Präzisierung des Entspannungsprozesses in Europa
direkt mitzuwirken.36 Die Auffassung, Liechtenstein könne zwischen
seinen beiden Nachbarn friedlich leben, es hätte mit seiner Unter
schrift in Helsinki seine Pflicht getan und damit internationale An
erkennung erreicht, wie sie nun nach dem Helsinki-Gipfel nur noch
nachklingen könne, diese Auffassung, dass jetzt nur noch das Frauen
stimmrecht einzuführen und damit liechtensteinischerseits alles, was
KSZE-Staaten von ihm fordern könnten, getan sei, diese Auffassung,
sollte sie je liechtensteinisch gewesen sein, geht wesentlich an der
KSZE vorbei. Sie wäre eine Verkennung der politischen Realität wie
sie sich für die übrigen Teilnehmer darstellt. Eine solche Verkennung
würde einen Abstieg vom Helsinki-Gipfel bedeuten, der sich aussen-
politisch und souveränitätspolitisch auf Liechtenstein wohl negativ
auswirken könnte. Eine mangelnde Präsenz Liechtensteins würde un
ter den übrigen Teilnehmerstaaten wohl auch mit Bedauern registriert.
Warum mit Bedauern? Hat es Liechtenstein, wie andere europäische
Kleinstaaten, verstanden, in der KSZE in besonderem Sinn für ein
politisches Modell einzutreten, das in unersetzlicher Weise europäisch
ist, die europäische politische Vielfalt belebt und befruchtet, weil es
58 Hier sei ausdrücklich auf die genannte N +. N Gruppe an der KSZE verwiesen.
Diese Gruppe der neutralen und nicht paktgebundenen Staaten umfasst Öster
reich, Zypern, Finnland, Liechtenstein, Malta, San-Marino* Schweiz,-Schweden
und Jugoslawien. Die N + N Gruppe ist nicht • mehr als ein lockerer Konsul
tationsmechanismus. Eine Abstimmung, der politischen Haltung wäre bei der
Verschiedenheit der • Mitgli eder unmöglich. Die N + N ' Gruppe ist nicht ein
weiterer Block zwischen, den ^Militärbündnissen. Versuche, die - neutralen und
nicht paktgebundenen Staaten in diese Richtung zu drängen, würden zur «Neu
tralisierung der. Neutralen» führen. Die Stärke der Gruppe beruht nicht allein
in ihrer Vermittlertätigkeit im West-Ost'Gegensatz, sondern gerade darin, dass
jeder Teilnehmerstaat im eigenen Namen für seine eigenen Interessen und Ziele
eintritt.
186
im europäischen Menschen in seiner Würde und Freiheit wurzelt? Wir
werden auf die Frage gleich weiter eingehen.
Sind die Grossmächte durch die KSZE zur grundsätzlichen Aufgabe
ihres Grossmachtdenkens verpflichtet und die Kleinstaaten zur grund
sätzlichen Aufwertung ihrer Souveränität aufgestiegen, so ist doch
nicht zu verkennen, dass die Teilnahme an der KSZE die Kleinstaaten
materiell gesehen vor grösste Opfer stellt. Ein Kleinstaat wie das
Fürstentum Liechtenstein muss seine Energiereserven sicher unver
hältnismässig ausschöpfen.37
II. Verfahrensfragen
Es ist nicht zu übersehen, dass ein Staat wie Liechtenstein nicht nur
in eigenem, sondern im Interesse aller Teilnehmer in Verfahrensfragen
zur KSZE in einem besonderen Verhältnis steht. Liechtenstein ist un
belastet im Konflikt. Es ist machtpolitisch kein ernster Faktor, ebenso
wie die KSZE machtpolitisch keine Konflikte entscheiden kann, son
dern nur qualitativ auf Konflikte einwirken kann. Die KSZE hat
jedoch in Verfahrensfragen ein Vorgehen entwickelt, das die grund
sätzliche souveräne Gleichheit aller Staaten durch eine Reihe von
Massnahmen absichert. Die wichtigste von ihnen ist die Regel des
Konsens.
An der KSZE ergeben sich immer wieder Situationen, in denen die
Interessen oder auch nur die Wünsche einzelner Staaten, besonders
jener, die keinen bedeutenden Machtfaktor darstellen, unter Druck
geraten. Der Druck kann zunehmen bis zu dem Punkt, wo implizit
oder explizit die Gültigkeit der Regel des Konsensus oder auch der
Rotation bedroht erscheint. Es wird etwa vorgeschlagen, eine Ab
stimmung abzuhalten «nur um zu erfahren, was die Mehrheitsver
hältnisse sind», in Wirklichkeit aber, um einzelne Staaten, die sich
der allgemeinen Weisheit oder Kompromissfreudigkeit nicht beugen
wollen, zu isolieren.
37 Das Fürstentum Liechtenstein beteiligt sich an den allgemeinen Kosten der
Konferenz mit 0,20 °/o. Hinzu kommen die Auslagen für die Mitarbeit der
Delegation. Zur Ausarbeitung der Vereinbarungen über die Aufschlüsselung der
Beitragskosten (Blaues Buch, Punkt 90) hat Liechtenstein in entscheidender
Weise durch seinen damaligen Delegierten Graf A. F. Gerliczy-Burian beige
tragen.
187
Eine andere Verfahrensregel gerät in einem bestimmten Moment jeder
ernsthaften KSZE-Verhandlung regelmässig unter Druck. Sie lautet:
Die Arbeitsorgane der Konferenz können, falls sie es wünschen, die
von ihnen für zweckmässig befundenen Arbeitsgruppen einsetzen.
Die Arbeitsorgane und Gruppen stehen allen Teilnehmerstaaten
offen.38 Anlass zu kritischen Bemerkungen gibt auch immer wieder
die Regel 13. Sie lautet: «Während der Sitzungen führt der Vorsit
zende eine Rednerliste. Er kann diese mit Zustimmung der Teilneh
mer für geschlossen erklären. Er hat jedoch jedem Vertreter das Recht
auf Erwiderung einzuräumen, falls nach Abschluss dieser Liste ge
machte Ausführungen dies als wünschenswert erscheinen lassen.»39
Der kleinste Teilnehmer hat wie kein anderer das lebendigste Inter
esse daran, dass diese Verfahrensregeln, die für alle den klaren und
ausgewogenen Fortgang des KSZE-Dialoges sicherstellen, unverbrüch
lich eingehalten werden. Die liechtensteinische Delegation ist für ihre
diesbezügliche Haltung bekannt. .Verfahrensregeln geraten gewöhn
lich erst beim Eintreten einer kritischen Verhandlungsphase unter
Druck. Beobachtung der Interessen aller Partner, klare aber zurück
haltende Interpretation ihrer Anliegen und Festigkeit in der Forde
rung sind dann der Beitrag des Kleinstaates, der gleichzeitig auch
dem allgemeinen Interesse entspricht.
III. Der dritte Korb —
Das menschliche Gesicht der Entspannung
Wenn eine glückliche Fügung verhindert hat, dass Liechtenstein in
die beiden Weltkriege und in den Ost-West-Konflikt direkt verwik-
kelt wurde, so ist Liechtenstein mit diesen Konflikten doch nicht un
verbaut. Im Gegenteil: Zahlreiche historische und menschliche Be
ziehungen verbinden es mit allen Teilen der ehemaligen österreichisch-
ungarischen Monarchie. Mitglieder des Fürstenhauses wären in der
Vergangenheit in allen Teilen, Europas in hoher Stellung tätig. Am
europäischen Kulturerbe hat auch Liechtenstein bedeutenden Anteil.
Das Schicksal Deutschlands und Österreichs nach dem Ersten Welt
krieg, die Gefahr des Nationalsozialismus, hat auch Liechtenstein in
unmittelbarer Nachbarschaft eHebt. Die Leiden der Zivilbevölkerung
38 Blaues Buch, Punkt 68.
39 Blaues Buch, Punkt 87.
188
hat Liechtenstein aufgrund der Lage an seiner östlichen Grenze im
Zweiten Weltkrieg, aufgrund zahlreicher familiärer Bindungen mit
Menschen in den betroffenen Ländern kennengelernt. Die Aufgabe
eines kleinen, neutralen Landes besteht nicht darin, zu richten, son
dern darin, zu verstehen und zu helfen. Dies geht klar aus den Stel
lungnahmen der Vertreter Liechtensteins an der KSZE hervor. Ver
stehen und helfen heisst allerdings auch: zu den Ursachen von Leid
und Unglück klare Stellung beziehen.40
Wer die Gestaltung künftiger friedlicher Beziehungen unter allen
Staaten Europas im Auge hat, wird die Ideologie des Marxismus
nicht übersehen. In der einen oder anderen Variante ist der Marxis
mus zu einer der stärksten politischen Bewegungen unseres Jahrhun
derts geworden. In Liechtenstein kann man das kleine Modell einer
politischen Gemeinschaft erkennen, die ohne Ideologie Arbeiter und
Unternehmer, Bürger mit ihren Familien und einem Monarchen in
lebendiger Gemeinschaft vereint. Diese Gemeinschaft strahlt, obwohl
sie klein ist, wegen ihrer Menschlichkeit und Würde über ihre Gren
zen hinaus. Befriedigend für Liechtenstein ist es festzustellen, dass
diese Ausstrahlung, ohne dass darüber viele Worte verloren werden
müssen, auch an der KSZE von allen Teilnehmern zur Kenntnis ge
nommen wird.
Es kann sich so gerade mit denen, die anderer Meinung sind oder
von anderen Gegebenheiten und Erfahrungen herkommen, ein Dialog
anbahnen, der in Zukunft vielleicht noch zunimmt, in eben dem
Mass, als sich die KSZE dem einen grossen Thema ihrer Aufgaben
stellung nähert: dem siebten Prinzip, Menschenrechte, und dem drit
ten Korb: Zusammenarbeit im humanitären Bereich. Es ist gemein
same Uberzeugung der KSZE-Staaten, dass die Achtung der Men
schenrechte und die Erleichterung von Kontakten und Informations
austausch zwischen ihren Bürgern an sich ein Weg ist, eine friedliche
Beziehung zwischen ihnen zu entwickeln, zu schützen, zu stärken.
Um die Bedeutung des dritten Korbes im KSZE-Prozess zu erkennen,
darf man nicht, wie weiter oben dargestellt, einfach von der Per
spektive ausgehen, es müsse ein Loch in die intakte marxistische
Mauer geschlagen werden, und es müssten die Bürger der Oststaaten
40 Vergleiche hierzu die liechtensteinische Eröffnungserklärung von Herrn Regie
rungschef A. Hilbe in seiner Eigenschaft als Aussenminister am 5. Juli 1973.
189
sozusagen mit westlichem Gedankengut infiziert werden. Ebenso
wenig wird die Auffassung zielführend sein, Kontakte und Informa
tionsfreiheit seien sehr zu begrüssen, nachdem erst einmal eine mar
xistische Ordnung in ganz Europa errichtet wurde. Man muss sich
vielmehr darüber Rechenschaft geben, dass die Achtung der Men
schenrechte und Grundfreiheiten, wozu insbesondere auch die Glau
bens- und Gewissensfreiheit gehört, ebenso wie die Massnahmen, die
im dritten Korb vorgesehen sind, einerseits Marginalien zum Sicher
heitsverhältnis zwischen Militärallianzen sind; d. h. sie sind für die
Entscheidung der Rivalität — Sieger und Besiegte — nicht wesent
lich. Andererseits sind diese Massnahmen für die Bildung von Ver
trauen zwischen Staaten und Regierungen von einer unersetzlichen
Qualität. Sie sind mit dieser Qualität für den KSZE-Prozess wesent
lich. Je entschiedener sich das Verhältnis zwischen den Teilnehmer
staaten normalisieren soll, um so unabdingbarer wird die freie Sicher
heit der einzelnen Menschen im gesamten Gebiet der Teilnehmer
staaten. Nicht eine verantwortungslose, willkürliche Freiheit soll im
portiert werden, wie der Osten oft vermutet und gelegentlich zu
vermuten Anlass hat. Es geht vielmehr um ein freies, Verantwortung
tragendes Vertrauensverhältnis zu den eigenen und zu anderen staat
lichen Organen. Dies kann den Frieden zwischen den Teilnehmer
staaten stärken. Im gleichen Zusammenhang muss man auch die
Glaubens- und Gewissensfreiheit erwähnen. In diesem Sinn ist die
Respektierung der Menschenrechte, die Durchführung der in den
Schlussakten und weiteren Folgekonferenzen im dritten Korb be
schlossenen Massnahmen ein wesentlicher Teil der Entspannung. Das
Verständnis für die hier erforderliche Vorgehensweise zwischen West-
und Osteuropa ist ein unerlässlicher Teil des KSZE-Dialoges.
In diesem qualitativsten Punkt ihres gegenseitigen Verhältnisses hat
auch der europäische Kleinstaat unmittelbar seinen Platz. So wenig
er im Gespräch über militärische Aspekte der Sicherheit und ver
trauensbildende Massnahmen entscheidend zur Lösung der bestehen
den Schwierigkeiten wird beitragen können, so sehr kann der Klein
staat, gerade weil er im Konflikt unbelastet ist und natürlicherweise
die freie Sicherheit der Bürger im nationalen und übernationalen
Geschehen sucht, den übrigen Teilnehmern hier voraus sein. Er kann
auf dem für den West-Ost-Konflikt bedeutenden, aber letzten Endes
für den Ausgang des Machtkonfliktes nicht entscheidenden, marginalen
Gebiet des dritten Korbes das profilieren, was schliesslich allen nützt.
190
Er hat in den Fragen der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Ehe
schliessung zwischen verschiedenen Staatsbürgern, der Reisen und
Kontakte der Jugend etc., und wie die Themen des dritten Korbes
alle heissen mögen, sowohl die eigene Glaubwürdigkeit wie das allge
meine Interesse für sich, wenn auch noch nicht alle Staaten dies so
empfinden mögen.
Diese Qualifikation des Kleinstaates verbindet ihn mit der humani
tären Tradition der neutralen Staaten Europas und mit dem Zentrum
der Themen, die zwischen den KSZE-Partnern zur Debatte stehen.
Dort muss er bescheiden, humorvoll, aber unerschütterlich auf die
Vermenschlichung der Beziehungen unter den KSZE-Partnern hin
wirken. Und er wird gehört.
6. Kapitel: Zusammenfassung
In einem weiten Bogen wurde versucht, dem nachzugehen, was uns
die KSZE als Verhandlungsmechanismus zwischen West und Ost in
Europa begreifen lässt. Dieser Verhandlungsmechanismus wurde aus
der Notwendigkeit, mit der latenten Drohung eines nuklearen Kon
fliktes leben zu müssen, entwickelt. Die KSZE ist keine Alternative
zum Gleichgewicht des Schreckens. Wer sie so verstehen würde, ver
fällt einer trügerischen Suggestion. Die KSZE kann, richtig verstan
den und durchgehalten, komplementär zu einer kohärenten Sicher
heitspolitik einen Weg über das Gleichgewicht des Schreckens hin
aus zeigen. Sie kann vertrauensbildend wirken und damit auf dem
schmalen Band marginaler Konzessionen, ohne Sieger und Besiegte,
ein Weg zu Verständigung und Frieden werden. Dieser Weg führt
schliesslich notwendigerweise in die Prüfung der Vorstellungen eines
friedlichen menschlichen Zusammenlebens und damit in den Begriff
der Menschenrechte und des Menschenbildes, das den Parteien im
West-Ost-Konflikt unterliegt.
Es wurde versucht, die KSZE sine ira et studio als Methode, als oft
endlos langsame Methode, am Rande von politischen, strategischen,
menschlichen Unmöglichkeiten begreiflich zu machen.
Die KSZE ist nicht nur eine Methode von Diplomaten. Sie ist in
methodischer Weise Auseinandersetzung und Konfrontation uner
191
bittlich entgegengesetzter, zum Teil auf gegenseitige Vernichtung
programmierter Standpunkte. Das Verfahren führt aufgrund seiner
Konzeption und aufgrund einer dialektischen Verkettung von Um
ständen zwischen West- und Ost-Europa unweigerlich in die Aus
einandersetzung hinein. Wer meint, sich draussen halten zu können,
verliert! Man beisst sich zuerst im Gegensatz fest. Und erst ein Läu-
terungsprozess, eine Besinnung auf das, was neben der notwendigen,
aber sterilen Konfrontation Gemeinsames übrigbleibt, zeigt vielleicht
einen Ausweg.
Als Regenschirm aus Papier wird die KSZE in einem apokalypti
schen Gewitter wenig nützen. Als farbenprächtiger Lüftballon, der
von einer Seite in Bewegung gesetzt wurde, um die Aufmerksamkeit
der europäischen Völker von der kohärenten Wahrung ihrer Sicher
heitsinteressen abzulenken, ist die KSZE schnell durchschaut.
Nur wenn man strengste Massstäbe anlegt, kann man «unter Furcht
und Zittern» hoffen, dass das KSZE-Verfahren vielleicht doch das
hervorgibt, was damit erreicht werden kann und erreicht werden
muss: ein neues, sicheres und menschenwürdiges Verhältnis zwischen
allen beteiligten Staaten und ihren Bürgern, ein Verhältnis, das allen
nützt und keinem schadet, weil die Ursachen von Furcht und Span
nung für die Menschen in Europa überwunden oder wenigstens ein
gedämmt würden.
Unter solchen strengen Voraussetzungen erkennt man ohne Euphorie,
wie weit sich die Teilnehmerstaaten bis jetzt in bedeutenden Schrit
ten diesem neuen Verhältnis genähert haben und wie weit dasselbe
auch jetzt noch zerbrechlich, unsicher und ungenügend bleibt. Aus
einer solchen Perspektive erkennt man, dass die eingeschlagene
Methode zielführend sein kann.
— In Verfahrensfragen,
— im Prinzipienkatalog,
— in der Ausgewogenheit der 3 Körbe und damit implizit im Be
kenntnis zu einem europäischen Menschenbild,
— und im Bekenntnis zur Fortführung, des yorgezeichneten Weges
erreichen die Teilnehmerstaaten* bedeutende Elemente für eine neue
192
politische Solidarität der europäischen Völker im Zeichen einer
echten Überwindung des Ost-West-Konflikts.
Man erkennt aber auch, dass diese neue Solidarität nur im aufrich
tigen Willen der Mächtigen gegeben ist, und dass sie damit tiefen
Spannungen und Störungen weiter ausgesetzt bleibt, die möglicher
weise über das hinausführen, was in der KSZE erreicht werden
konnte.
Liechtenstein als der wohl kleinste und unbedeutendste, darum aber
auch unbelastete Partner kann in der KSZE doch eine Wirkung aus
üben. Diese setzt genaue Kenntnis der Vorgänge, Offenheit für alle
zielführenden Bestrebungen, Festigkeit in Schwierigkeiten voraus.
Unter diesen Bedingungen wird Liechtenstein bei den andern neu
tralen und nicht paktgebundenen Staaten Stärkung finden und auch
in weitere Kreise der Konferenz einwirken können. Mit den Exper
tentreffen «Menschenrechte» in Ottawa 1985 und «Menschliche Kon
takte» in Bern 1986 kommt auf alle Teilnehmerstaaten, nach dem
oben dargelegten gerade auch auf Liechtenstein, eine besondere Be
währungsprobe zu. Tiefer als bisher gilt es, in die Problematik ein
zudringen und zu verstehen, wie die souveräne Verantwortung der
einzelnen Staaten in der Lösung von humanitären Fragen nicht im
Gegensatz zu ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber den ein
zelnen Menschen und ihren Rechten steht. Diese Verbundenheit in
der Respektierung des Menschen und seiner Rechte kann zwischen
West- und Osteuropa vorhanden sein, muss aber erst gefunden wer
den.
Das tönt reichlich optimistisch. Dennoch liegt hier ein wichtiger
Schlüssel zum KSZE-Prozess. Niemand wird die gegebenen Schwie
rigkeiten unterschätzen und von einer Lösung sind wir noch weit
entfernt. Aber selbstzufriedene Skepsis ist ein ebenso schlechter Rat
geber wie naiver Optimismus. Erst in einem vertieften gemeinsamen
Verständnis, einem erneuerten Bild vom Menschen und seiner men
schenwürdig verantworteten Gesellschaft kann die Spannung in
Europa und damit der KSZE-Prozess zur Ruhe kommen. Vorher ist
er Ausdruck einer verzweifelten Dialektik. Bleibt er dies, oder wird
ihm aus dem Zusammenwirken der 35 im zentralen Bereich der Men
schenrechte ein neuer Sinn erwachsen? Diese Frage ist unerbittlich
an uns gerichtet.
193
Liechtensteins Mitgliedschaft im Europarat
Prinz Nikolaus von Liechtenstein
Der folgende Beitrag soll über Entwicklung und Stand der Beziehun
gen Liechtensteins zum Europarat Auskunft geben, wobei die darin
geäusserten Ansichten einzig die persönliche Meinung des Autors
widerspiegeln. In einem ersten Teil (I) soll der Europarat als Orga
nisation vorgestellt werden; in einem zweiten Teil (II) werden die
Beziehungen Liechtensteins zum Europarat chronologisch dargestellt;
in einem dritten Teil (III) geht es um den heutigen Stand der Zu
sammenarbeit zwischen Liechtenstein und dem Europarat, und in
einem vierten Teil (IV) schliesslich soll die liechtensteinische Mit
gliedschaft aus heutiger Sicht bewertet werden.
195
I. Der Europarat
1. Geschichtliches
Der Europarat wurde im Jahre 1949 als erste politische Organisation
in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Am 5. Mai 1949
wurde das Statut des Europarates von 10 Staaten (Belgien, Däne
mark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Nor
wegen, Schweden und Vereinigtes Königreich) in London unterzeich
net, welches am 3. August desselben Jahres nach der 7. Ratifikation
in Kraft trat.
Die Idee, eine europäische Organisation zu gründen, in der die Staa
ten zusammenarbeiten und auf eine Einigung hinstreben sollten, war
nicht neu. Schon seit Jahrhunderten wurden solche Ideen formu
liert. Man denke z. B. an Kants Werk «Zum ewigen Frieden» aus
dem Jahre 1795. In der Zwischenkriegszeit wurden die ersten priva
ten Vereine zur Förderung der europäischen Einigung gegründet, so
z. B. die Paneuropa-Union im Jahre 1923. Auf der Ebene der Regie
rungen fanden diese Privatinitiativen vor dem Zweiten Weltkrieg
wenig Echo.1 Erst im Zweiten Weltkrieg fand dann die Einigungs
idee ihren mächtigsten offiziellen Vertreter in Sir Winston Churchill.
In einer Radiorede im Jahre 1943 schlug Sir Winston Churchill die
Gründung eines «Europarates» vor. Die Schrecken des Zweiten Welt
krieges blieben nicht ohne Wirkung auf die europäische Idee, so dass
ab 1945 viele entsprechende Initiativen auf privater und offizieller
Basis entstanden. Im Mai 1948 kam es zu einem grossen Kongress in
Den Haag, der von einem inzwischen gegründeten Koordinations
komitee der europäischen Bewegungen einberufen wurde und an dem
713 Delegierte aus 16 Staaten (darunter auch drei Liechtensteiner)
teilnahmen.2 Die Empfehlungen dieses Kongresses beeinflussten stark
die bald darauf begonnenen Arbeiten zur Gründung des Europarates.
Schon zu diesem Zeitpunkt waren aber die Meinungen recht unter
schiedlich, wie weit die Kompetenzen eines solchen Europarates gehen
1 Als eine Ausnahme sei der Vorschlag des französischen Aussenministers, Aristide
Briand, bei der 10. Session der Völkerbundsversammlung am 5. September 1929
erwähnt, der die Gründung einer europäischen Union im Rahmen des Völker
bundes vorschlug.
2 Siehe dazu: A. H. Robertson, «Le Conseil de l'Europe», 1962, S. 21.
197
und wie sie zwischen dem parlamentarischen und dem Regierungs
organ dieser Organisation verteilt werden sollten. Das schliesslich,
verabschiedete Statut des Europarates war dann Ergebnis eines Kom
promisses der divergierenden Staatenmeinungen, der eher den klein
sten gemeinsamen Nenner darstellte. Innerhalb eines Jahres nach
seiner Gründung umfasste der Europarat bereits 14 Staaten (zu den
Gründungsstaaten kamen: Griechenland, Island, Türkei, Bundesrepu
blik Deutschland). Die Art der Konzeption einer europäischen Eini
gung blieb die Hauptfrage, die sich auch in den ersten Jahren nach
der Gründung im Rahmen des Europarates stellte. Den Staaten und
politischen Persönlichkeiten, die eine wirtschaftliche und politische
Union forderten, standen jene gegenüber, die eine Form der loseren
europäischen Zusammenarbeit suchten. Versuche, einem grösseren
Integrationswunsch durch Änderung des Statuts oder durch die Mög
lichkeit von Teilabkommen im Rahmen des Europarates entgegenzu
kommen, scheiterten. Die integrationswilligeren Staaten begannen
deshalb nach Zusammenschlüssen ausserhalb des Europarates zu
suchen. So kam es 1951 zur Gründung der Europäischen Ge
meinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)3, und 1957 wurde durch die
Römer Verträge von 6 Staaten4 die Europäische Wirtschaftsgemein
schaft gebildet. Durch die Ausgestaltung dieser supranationalen Or
ganisation änderte der Europarat immer mehr seine Ausrichtung: Die
Organisation, die ursprünglich als Hauptmotor der europäischen
Einigung gesehen wurde, bekam immer mehr eine Brückenfunktiori
zwischen den Staaten, die in den Europäischen Gemeinschaften zu
sammengeschlossen waren und denen, die ausserhalb standen und
einen loseren Zusammenschluss suchten, ohne supranationalen Cha
rakter. In Wahrnehmung dieser Aufgabe hat der Europarat im Laufe
der Jahre seine Mitgliederzahl immer wieder erhöht, so dass heute
21 Staaten Mitglieder43 sind. Auch die vielen Konventionen, die
vom Europarat ausgearbeitet wurden und denen in gleicher Weise
Mitgliedsstaaten und Nichtmitgliedsstaaten der Europäischen Ge
meinschaften5 angehören, zeugen von der Brückenfunktion des Euro-
3 Vertrag vom 18. April 1951, am 25. Juli 1952 in Kraft getreten.
4 Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Nieder
lande.
4a Österreich, Belgien, Zypern, Dänemark, Frankreich, Bundesrepublik Deutsch
land,. Griechenland, Island, Irland, Italien, Liechtenstein, : Lüxemburg, Malta,
Niederlande, Norwegen," Portugal, Spanien,'-Schweden, Schweiz, :Türkei, Ver
einigtes Königreich.
s Auch die Europäischen Gemeinschaften als Organisation sind .Vertragspartei von
Konventionen des Europarates.
198
parates und von der wichtigen Rolle, die er in den letzten 30 Jahren
für die europäische Zusammenarbeit gespielt hat.
2. Aufbau
Jeder europäische Staat, der das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit an
erkennt, seinen Bürgern die Menschenrechte und Grundfreiheiten
garantiert sowie demokratisch organisiert ist, kann dem Europarat
beitreten.
Die beiden Organe des Europarates sind das Ministerkomitee und die
Parlamentarische Versammlung, denen ein Generalsekretär mit seinen
Mitarbeitern zur Seite steht.
a) Ministerkomitee
Das Ministerkomitee ist das eigentliche Leitungsorgan des Europa
rates. Einzig das Ministerkomitee kann verbindlich für die Organi
sation sprechen; es setzt die Arbeitsprogramme und den jährlichen
Haushalt fest und nimmt die Texte internationaler Verträge («Euro
päische Ubereinkommen») an, die für alle Staaten, von denen sie
ratifiziert wurden, verbindlich sind.
Das Ministerkomitee besteht aus den Aussenministern der 21 Mit
gliedsstaaten. In der Regel treten die Aussenminister zweimal jähr
lich in Strassburg zu einer nichtöffentlichen Sitzung zusammen, um
allgemeine politische Fragen zu besprechen, Richtlinien für die Arbeit
des Europarates festzulegen und sonstige wichtige Fragen, die die
Organisation betreffen, zu entscheiden. Der Vorsitz wechselt im
halbjährlichen Turnus. Zwischen diesen Sitzungen der Aussenminister
treten Delegierte der Minister — ständige Regierungsvertreter, die
beim Europarat akkredidiert sind6 — in der Regel jeden Monat zu
sammen,7 um die laufenden Geschäfte zu erledigen.
0 Diese Ständigen Vertreter bzw. Ministerdelegierten sind mit wenigen Ausnah
men Karrierediplomaten. 18 der 21 Ständigen Vertreter residieren in Strassburg
und haben teilweise einen grösseren Mitarbeiterstab. Die Vertreter von 3 Mit
gliedsländern (Irland, Island, Malta) haben ihre Büros in den jeweiligen Haupt
städten.
7 Durchschnittlich tagt das Ministerkomitee auf seinen verschiedenen Ebenen wäh
rend 60 Tagen im Jahr.
199
Jedes der 21 Mitglieder des Ministerkomitees hat eine Stimme. Nor
malerweise erfordern wichtige politische Entscheidungen und Emp
fehlungen an die Regierungen Einstimmigkeit. Gewisse Fragen wer
den mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet (z. B. Haushalt), und die
meisten Verfahrensfragen werden mit einfacher Mehrheit beschlos
sen.8
Das Ministerkomitee hat zahlreiche,9 ihm unterstehende Experten
ausschüsse eingesetzt, die sich aus Fachbeamten der nationalen Regie
rungen zusammensetzen. Diese Expertenkomitees haben vorwiegend
die Aufgabe, Texte für Konventionen und Empfehlungen auszuar
beiten und den Gedanken- und Informationsaustausch über aktuelle
Fragen zu pflegen.
Daneben gibt es regelmässig stattfindende Konferenzen der Fach
minister,10 welchen das Statut keine eigentliche Kompetenz einräumt.
Sie sind aber doch ein wichtiges Mittel zur Förderung der Zusam
menarbeit in Europa, indem sie den Ministern erlauben, gemeinsame
Standpunkte zu politischen Problemen zu finden.
b) Die Parlamentarische Versammlung11
Wenn auch das Ministerkomitee das Leitungsorgan ist und sich aus
Vertretern der Regierungen zusammensetzt, und die Parlamentarische
Versammlung, abgesehen von Wahlgeschäften, nur ein beratendes
Gremium ohne Gesetzgebungsbefugnis ist, ist doch sie es, die die
meisten Initiativen im Rahmen des Europärates unternimmt. Emp
fehlungen der Parlamentarischen Versammlung an das Minister
komitee stehen häufig am Anfang von wichtigen Arbeiten des Euro
parates. So geht ein grosser Teil der Europäischen Übereinkommen
auf Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung zurück. Die
8 Siehe dazu Artikel 20. des Statuts des Europarates vom 5. Mai 1949.
0 1982 waren es etwas über 100 Expertenausschüsse (die Zahl variiert ständig).
10 In folgenden Bereichen finden .regelmässig europäische Konferenzen der Fach
minister statt: Kultur, Erziehung," Sport, Justiz, soziale Sicherheit, Familie,
Raumplanung, Umweltschutz, Gesundheit,, lokale Angelegenheiten.
11 Im Statut des Europarates wird nicht von einer «Parlamentarischen Versamm
lung», sondern von einer «beratenden Versammlung» gesprochen. Die Bezeich
nung «Parlamentarische Versammlung»! geht auf . einen Beschluss der Parlamen
tarischen Versammlung zurück und ist die üblicherweise verwendete.
200
Themenkataloge der jährlichen drei Plenarsessionen12 umfassen ein
weites Spektrum, und neben den Empfehlungen an das Minister
komitee gibt die Versammlung Erklärungen und Stellungnahmen zu
den verschiedensten Fragen13 ab. Sie ist ein wichtiger Ort der Begeg
nung für europäische Parlamentarier. Von den ungefähr 30 Staaten
auf der Welt, die man heute als im eigentlichen Sinn demokratisch14
ansieht, sind 21 davon auch Mitglieder der Parlamentarischen Ver
sammlung.
Bei ihrer Errichtung im Jahre 1949 war die Parlamentarische Ver
sammlung die erste internationale parlamentarische Versammlung in
der Geschichte, die zwischenstaatliche Aufgaben wahrnahm. Die 170
Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung werden von ihren
nationalen Parlamenten gewählt oder bestellt, gemäss der Stärke der
politischen Parteien im jeweiligen Parlament. Die Zahl der Vertreter,
die jedes Land nach Strassburg entsendet, hängt von der Bevölke-
rungsgrösse des Landes ab, wobei die kleinsten Länder relativ stärker
vertreten sind als die grossen: So entsendet z. B. die Bundesrepublik
Deutschland 18 Abgeordnete und Liechtenstein als kleinstes Land
2 Abgeordnete.
Die Versammlung hat über 10 Kommissionen15, in denen die Vor
lagen vor der Beschlussfassung im Plenum erarbeitet und geprüft
werden. Für die Koordination zwischen dem Ministerkomitee und
der Parlamentarischen Versammlung sorgt ein gemischter Ausschuss.
12 Die drei Parlamentarischen Versammlungen dauern insgesamt 3 Wochen pro
Jahr.
1S Die meisten von der Versammlung behandelten Fragen betreffen aktuelle poli
tische Probleme in Westeuropa (Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer, Men
schenrechte, Umweltschutz usw.). Aber auch zu weltpolitischen Themen nimmt
die Versammlung häufig Stellung (Ost-West-Verhältnis, Situation im Nahen
Osten, in Lateinamerika usw.).
14 Die Kriterien für die demokratische Organisation eines Staates sind natürlich
umstritten, siehe dazu u. a.: «Report of the Parliamentary Assembly on the
Colloquy on the concept of democracy», 6 June 1983 (Doc. 5086 des Europa
rates). Bei der Zahl von ca. 30 demokratischen Staaten wird von den westeuro
päischen Demokratien als Massstab ausgegangen.
15 Die Kommissionen der Parlamentarischen Versammlung sind: 1. Politische Kom
mission, 2. Wirtschaftskommission, 3. Kommission für Sozial- und Gesundheits
fragen, 4. Juristische Kommission, 5. Kommission für Kultur und Erziehung,
6. Kommission für Wissenschaft und Technologie, 7. Kommission für Regional-
planung und Lokalbehörden, 8. Geschäftsordnungskommission, 9. Landwirt
schaftskommission, 10. Kommission für die Beziehungen mit den europäischen
Nichtmitgliedsstaaten, 11. Kommission für die Beziehungen zu den Parlamenten
und zur Öffentlichkeit, 12. Budgetkommission und 13. Kommission für Flücht
lings- und Wanderarbeiterfragen.
201
c) Der Generalsekretär und das Sekretariat
Der Generalsekretär, zusammen mit seinem Stellvertreter,154 wird
von der Parlamentarischen Versammlung auf Grund einer Kandida
tenliste seitens des Ministerkomitees für 5 Jahre gewählt. Er ist aus
führendes Organ für das Ministerkomitee und die Parlamentarische
Versammlung und ist beiden verantwortlich. Dem Generalsekretär
untersteht ein Sekretariat von ca. 850 Beamten. Neben dem «Greffe»,
das als Parlamentsdienst für die Arbeit der Parlamentarischen Ver
sammlung und ihrer Ausschüsse verantwortlich ist, bestehen inner
halb des Sekretariates verschiedene Direktionen, denen jeweils Ar
beitsbereiche, wie z. B. Fragen der Menschenrechte, politische Fragen
oder solche der Kultur zugeordnet sind.
3. Tätigkeit des Europarates
Das Statut sieht ausdrücklich vor, dass Verteidigungsfragen im Rah
men des Europarates nicht behandelt werden dürfen. Ansonsten sind
dem Europarat grundsätzlich alle Tätigkeitsbereiche offen. In der
Praxis arbeitet der Europarat vor allem in den Bereichen, in denen
es keine Überschneidungen mit anderen internationalen Organisation
nen gibt. So werden Wirtschaftsfragen nur am Rande behandelt,
nachdem für diesen Bereich andere europäische Organisationen vor
handen sind (EG, EFTA usw.). Die wichtigsten Arbeitsgebiete des
Europarates sind: Menschenrechte, Erziehung, Kultur und Sport,
Rechtsfragen, Jugendfragen, Sozialfragen, Umwelt- und Denkmal
schutz, öffentliches Gesundheitswesen, Kommunal- und Regionair
fragen.
Das wichtigste Mittel der Zusammenarbeit auf diesen Gebieten sind
die Europäischen Übereinkommen. Der Europarat hat in seiner über
30jährigen Geschichte über 110 Konvientionen16 ausgearbeitet und
verabschiedet. Diese vielen'Konventionen und Protokolle haben zu
bald tausend Ratifikationen geführt. Diese Übereinkommen erlauben
eine Harmonisierung staatlicher Tätigkeit auf europäischer Ebene.
Sie erleichtern auch die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Staaten.
Wollte man diese multilateralen europäischen Übereinkommen durch
15a Die Parlamentarische Versammlung wählt ausserdem auch ihren Greffier.
16 Siehe dazu: «Etat des signätures et des ratifications des Conventions et accords
du Conseil de l'Europe», Conseil de l'Europe, 1. Mai 1983.
202
bilaterale Verträge gleichen Inhalts ersetzen, bedürfte es vieler tau-
sender solcher Verträge. Die Europäischen Konventionen führen
also auch zu einer beachtlichen Ersparnis im personellen und finan
ziellen Bereich.
Ein weiteres Mittel, die europäische Zusammenarbeit zu fördern, ist
die Verabschiedung von Empfehlungen des Ministerkomitees an die
Regierungen der Mitgliedsländer. Diese Empfehlungen haben keinen
rechtlich bindenden Charakter; sie sind aber politische Richtlinien,
die in der Regel von den nationalen Behörden beachtet werden.
Die über 100 Expertenkomitees, die vom Ministerkomitee eingesetzt
wurden, erlauben auch einen regen Informationsaustausch zwischen
den einzelnen Ländern, und viele gesamteuropäische Probleme kön
nen so erörtert und manchmal einer Lösung zugeführt werden.
Als weitere Formen der Tätigkeit können genannt werden: Unter
stützung privater europäischer Organisationen (z. B. Vereine, die
auf dem Gebiete der Menschenrechte tätig sind), Vergabung von
Stipendien, Durchführung wissenschaftlicher Tagungen, Publikatio
nen.17
Zu einzelnen Arbeitsgebieten des Europarates sei kurz folgendes ge
sagt:
Menschenrechte: Kern der Tätigkeit des Europarates auf dem Gebiet
der Menschenrechte ist die Europäische Menschenrechtskonvention.
Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1950 unterzeichnet,18
hat eine besondere Bedeutung, da mit ihr zum ersten Mal ein rechts
verbindliches Instrument geschaffen wurde, das die wichtigsten
Grund- und Freiheitsrechte garantiert. Sie ist bis heute die einzige
Menschenrechtskonvention, die mit einem wirksamen internationalen
Instrumentarium zur Durchsetzung dieser Rechte versehen ist. Eine
Kommission und ein Gerichtshof in Strassburg garantieren den Schutz
der Grundrechte. Nachdem die Europäische Menschenrechtskonven
tion Gegenstand eines eigenen Artikels dieses Bandes ist, sei hier nicht
näher auf sie eingegangen.
17 Zu den verschiedenen Tätigkeiten des Europarates siehe: «Report on the activi-
ties of the Council of Europe, January-December 1982», Conseil de l'Europe
1983.
18 Alle Mitgliedsstaaten des Europarates sind Vertragspartei der Menschenrechts
konvention. Liechtenstein hat sie am 8. September 1982 ratifiziert.
203
Die Konferenz soll Gemeinde- und Regionalbehörden als internatio
nales Forum dienen. Die Konferenz arbeitet ähnlich wie die Parla
mentarische Versammlung des Europarates. Sie tritt einmal jährlich
in Strassburg zusammen und hat verschiedene Fachausschüsse. Ihre
Mitglieder sind gewählte Vertreter der Gemeinde- und Regionalbe
hörden der Mitgliedsstaaten. Wie die Parlamentarische Versammlung,
besteht sie aus 170 Delegierten und 170 Stellvertretern.
IL Die Entwicklung der Beziehungen Liechtensteins
zum Europarat
Sieht man von der Teilnahme von drei liechtensteinischen Vertretern
bei dem obengenannten privaten Kongress in Den Haag im Mai
1948 ab, hat Liechtenstein die ersten 20 Jahre nach Gründung wenig
Beziehungen zum Europarat gehabt. Dies mag verschiedene Gründe
gehabt haben: Liechtenstein war die ersten 20 Jahre nach Kriegsende
vor allem mit dem Aufbau seiner Wirtschaft beschäftigt; seine aus-
senpolitische Tätigkeit begann erst in den 60er Jahren ein grösseres
Ausmass anzunehmen. In den 50er Jahren und der ersten Hälfte der
60er Jahre standen für die liechtensteinische Aussenpolitik mehr das
Vertragsverhältnis zur Schweiz und die Beziehungen zu globalen in
ternationalen Organisationen im Vordergrund (Beitritt zum Inter
nationalen Gerichtshof, zum Weltpostverein, zur Internationalen
Fernmeldeunion usw.). Im europäischen Bereich galt das erste Inter
esse Liechtensteins der EFTA, der es 1960 durch ein Protokoll for
mell beitrat.
Gegen die zweite Hälfte der 60er Jahre befasste sich Liechtenstein
mit einer möglichen Annäherung zum Europarat, und es fanden die
ersten Kontakte mit Vertretern dieser Organisation statt. Ab 1969
wurden dann die Beziehungen mit zunehmender Intensität entwickelt.
In diesem Jahr erfolgte der erste offizielle Besuch des Regierungs
chefs in Strassburg (28. 10. 1969),23 und Liechtenstein trat den ersten
fünf Europäischen Konventionen bei. 1972 kamen zwei weitere
Europäische Ubereinkommen hinzu. Ab 1970 traten die ersten liech
tensteinischen Vertreter an verschiedenen, unter der Ägide des Euro
23 Siehe dazu: «Rechenschaftsbericht der Regierung des Fürstentums Liechtenstein
an den Hohen Landtag für das Jahr 1969».
205
parates organisierten Konferenzen und Tagungen, die sich mit Fragen
wie Naturschutz, Erfindungspatente, Umweltschutz, Denkmalpflege,
Heimatschutz befassten, auf.24
Parallel zu dieser Annäherung auf Regierungsebene nahmen seit 1971
liechtensteinische Landtagsabgeordnete auf Grund einer entsprechen
den Einladung regelmässig als ad hoc-Beobachter an Sitzungen der
Parlamentarischen Versammlung teil. In dieser Zeit fanden auch
direkte Kontakte zwischen einerseits dem Präsidenten der Parlamen
tarischen Versammlung und dem Generalsekretär und andererseits
dem Landtagspräsidehten und Vertretern der Regierung statt. Diese
Vorbereitungsgespräche, die inzwischen bestehende Mitarbeit Liech
tensteins im Europarat und vor allem die regelmässige Teilnahme
liechtensteinischer Abgeordneter als ad hoc-Beobachter in Strassburg
führten am 27. 11. 1974 zur Zuerkennung des offiziellen Beobachter
status an Liechtenstein in der Parlamentarischen Versammlung. Kurz
danach, am 7. März 1975, wurde die Anzahl der liechtensteinischen
Beobachter durch Beschluss des Ständigen Ausschusses der Parlamen
tarischen Versammlung von zwei auf vier, nämlich zwei Vertreter
und zwei Stellvertreter, erhöht.25 Die Verleihung des offiziellen Be
obachterstatus war für Liechtenstein ein wichtiger Schritt bei der
Entwicklung seiner Beziehungen zum Europarat, da gemäss der Pra
xis der Parlamentarischen Versammlung der Status eines Beobach
ters nur offiziellen parlamentarischen Vertretern von demokratischen
europäischen Nicht-Mitgliedsstaaten zuerkannt wird. In der Regel
war die Zuerkennung dieses Beobachterstatus eine Vorstufe zur Mit
gliedschaft. Einzige Ausnahme bildet bis heute eine Beobachterdele
gation von Israel. Die offizielle Beobachterstellung gab der liechten
steinischen Delegation die Möglichkeit, an sämtlichen Sitzungen der
Parlamentarischen Versammlung, jedoch ohne Stimmrecht, teilzu
nehmen und dort das Wort zu ergreifen. Sie konnten damit auch an
allen Arbeiten der parlamentarischen Kommissionen und den sonsti
gen Aktivitäten auf parlamentarischer Ebene teilnehmen.
Nach einem offiziellen Besuch des Generalsekretärs des Europarates,
Dr. Kahn-Ackermann, in Liechtenstein im März 1975 beschloss die
84 Siehe dazu: «Bericht und Antrag der Fürstlichen Regierung an den Hohen Land
tag über die Beziehungen des Fürstentums Liechtenstein* zum Europarat» vom
5. Mai 1975.
25 Siehe dazu: «Bericht und Antrag der Fürstlichen Regierung an den Hohen Land
tag über die Beziehungen' des Fürstentums Liechtenstein zum Europärät» vom
5. Mai 1975.
206
liechtensteinische Regierung die Beziehungen weiter auszubauen:
Liechtenstein trat in den Jahren 1976 und 1977 zwei weiteren Euro
päischen Übereinkommen bei und wurde im Januar 1976 Mitglied
des Wiedereingliederungsfonds des Europarates. Im Jahre 1976 war
Liechtenstein auch zum ersten Mal an Fachministerkonferenzen des
Europarates vertreten.26 Auch auf Ebene der Expertenkomitees
wurde vermehrt mitgearbeitet.
Als im Herbst 1976 Portugal dem Europarat beitrat und auch der
Beitritt Spaniens vor der Türe stand, stand Liechtenstein vor der
Frage, ob der Zeitpunkt nicht gekommen wäre, die Vollmitglied
schaft anzustreben. Kontakte zu Beginn des Jahres 1977 mit dem
damaligen Generalsekretär, Georg Kahn-Ackermann, ergaben, dass
dieser eine positive Haltung gegenüber den liechtensteinischen Ab
sichten einnahm. Auch der Präsident der Parlamentarischen Ver
sammlung des Europarates, Karl Czernetz, erklärte anlässlich seines
offiziellen Besuches in Liechtenstein, Ende März 1977, dass er die
Mitgliedschaft des Fürstentums Liechtenstein begrüssen würde.
Daraufhin beschloss die Regierung, exploratorische Gespräche mit
den Mitgliedsregierungen durchzuführen, zuerst auf Ebene der Stän
digen Vertreter beim Europarat in Strassburg, dann in den Haupt
städten der Mitgliedsländer. Es zeigte sich, dass grundsätzlich die
Mitgliedsstaaten einem Beitritt Liechtensteins positiv gegenüberstan
den. In einigen wenigen Mitgliedsstaaten stellte sich zu Beginn die
Frage, ob ein weiteres kleines Mitgliedsland im Europarat den Ent
scheidungsmechanismus nicht erschweren könnte.27 Liechtenstein
konnte aber überzeugend darlegen, dass der Entscheidungsmechanis
mus durch seinen Beitritt nicht erschwert werden würde und es, wie
andere kleine Staaten auch, die berechtigten Anliegen grösserer Staa
ten berücksichtigen würde.
Nach Durchführung dieser Vorsondierungen brachte die liechtenstei
nische Regierung mit Brief vom 4. November 1977 an den General
26 Siehe dazu: Die Rechenschaftsberichte der Regierung des Fürstentums Liechten
stein an den Hohen Landtag aus dem jeweiligen Jahr.
27 Diese Frage wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Mit
gliedsländer des Europarates nicht einmal 15 °/o der Bevölkerung aller Europa-
ratsstaaten repräsentiert und dass die vier grössten Mitgliedsstaaten (Deutsch
land, Frankreich, Italien, Grossbritannien) mit nur 4 Stimmen beinahe 70°/o
des Haushaltes der Organisation bestreiten und 11 Mitgliedsstaaten, also die
absolute Mehrheit, zusammen für nur 10% des Haushaltes aufkommen.
207
sekretär des Europarates den formellen Wunsch des Fürstentums
Liechtenstein zum Ausdruck, entsprechend Artikel 4 des Statutes des
Europarates vom Ministerkomitee eingeladen zu werden, dem Europa
rat als Mitglied beizutreten.28 Die Aussenminister der Mitgliedslän
der des Europarates haben dann in ihrer; Sitzung vom 24. November
1977 den liechtensteinischen Wunsch erstmals erörtert und «mit Be
friedigung das durch das Fürstentum Liechtenstein bekundete In
teresse, der Organisation beizutreten, zur Kenntnis genommen».
Das Ministerkomitee beschloss daraufhin, die verfahrensmässig vor
gesehene Stellungnahme der Parlamentarischen Versammlung zur
Frage der Mitgliedschaft des Fürstentums Liechtenstein einzuholen.
Das Büro der Parlamentarischen Versammlung beschloss, die Poli
tische Kommission und die Kommission für Nichtmitgliedstaaten
mit der Frage des liechtensteinischen Beitritts zu befassen. Beide
Kommissionen legten dem Plenum der Parlamentarischen Versamm
lung die Aufnahme des Fürstentums Liechtenstein in den Europarat
befürwortende Berichte und Anträge vor. Die Parlamentarische Ver
sammlung führte am 28. September 1978 anlässlich des zweiten Teils
der 33. Session eine Debatte anhand der vorgelegten Berichte durch.
Nach ausgedehnten Diskussionen mit divergierenden Ansichten, bei
denen vor allem Fragen im Zusammenhang mit der Kleinstaatlich
keit, der Einführung des Frauenstimmrechts auf Landesebene und
dem liechtensteinischen Gesellschaftswesen im Vordergrund standen,
verabschiedete das Plenum mit überwältigender Mehrheit eine Stel
lungnahme zugunsten der Aufnahme des Fürstentums Liechtenstein
als Vollmitglied in den Europarat.29 Das Ministerkomitee des Europa
rates auf Ebene der Ständigen Vertreter fasste daraufhin am 13. No
vember 1978 den Beschluss, Liechtenstein einzuladen, Mitglied des
Europarates zu werden, und setzte die Zahl der Vertreter Liechten
steins in der Parlamentarischen Versammlung auf zwei fest.30 Der
Landtag gab am 15. 11. 1978 seine Zustimmung zum Beitritt. Damit
konnte Regierungschef. Hans Brunhart am 23. November 1978 die
Beitrittsurkunde in Strassburg hinterlegen, wodurch Liechtenstein
mit gleichem Datum Vollmitglied wurde.
28 Siehe dazu: «Bericht und Antrag der Fürstlichen Regierung an den Hohen Land-
. tag betreffend den :Beitritt des. Fürstentums Liechtenstein zum Statut des Europa
rates» vom 14. November 1978.
29 Siehe dazu: «Avis N° 90 (1978)» der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates.
80 Siehe dazu: «Resolution (78) 48» des.Ministerkomitees des Europarates.
208
m. Mitarbeit Liechtensteins im Europarat
In den über 4 Jahren seiner Mitgliedschaft im Europarat hat Liech
tenstein seine Mitarbeit intensiviert. Diese Intensivierung entsprach
einem liechtensteinischen Bedürfnis, verstärkt am europäischen Ge
schehen teilzunehmen. Infolge seiner Kleinheit und seiner beschränk
ten Möglichkeiten kann Liechtenstein nur selektiv an den verschie
denen Tätigkeiten des Europarates mitwirken. Die Selektion hängt
weitgehend vom Interesse an der jeweiligen Tätigkeit ab und infolge
des kleinen Verwaltungsapparates der liechtensteinischen Landesver
waltung selbstverständlich auch vom verfügbaren Personal. Im fol
genden soll die liechtensteinische Mitarbeit in einigen Bereichen er
läutert werden.
1. Parlamentarische Versammlung des Europarates
Liechtenstein ist in der Parlamentarischen Versammlung des Europa
rates durch zwei Delegierte und zwei Stellvertreter repräsentiert. Sie
werden vom Landtag aus seiner Mitte gewählt, wobei auf den Par
teiproporz Rücksicht genommen wird. In der Parlamentarischen
Versammlung können die Stellvertreter Mitglieder von Kommissio
nen sein. Trotzdem die liechtensteinische Delegation die kleinste ist,
ist sie in den meisten der parlamentarischen Kommissionen präsent.31
Liechtenstein hat auch schon zwei Vizepräsidenten der Parlamenta
rischen Versammlung gestellt.32 Dass die Präsenz Liechtensteins in
der Versammlung eine aktive ist, beweisen auch die Voten in den
Plenarsessionen, Berichte und Motionen, die von den liechtensteini
schen Abgeordneten stammen.
Neben der aktiven Mitgestaltung des politischen Geschehens im
Rahmen der Versammlung des Europarates bietet dieses Gremium
unseren Abgeordneten auch die Möglichkeit, viele Anregungen zu
sammeln und Kontakte zu knüpfen. Auf keine andere Weise können
51 Die liechtensteinische Delegation ist in folgenden Kommissionen ständig ver
treten: Politische Kommission, Wirtschaftskommission, Kulturkommission, Kom
mission über Wirtschaft und Technologie, Kommission über Regionalplanung
und Lokalbehörden, Kommission über die Beziehungen zu europäischen Nicht-
mitgliedsstaaten, Kommission über Flüchtlinge und Wanderarbeiter.
32 Liechtensteinische Vizepräsidenten waren: Dr. Gerard Batliner und Dr. Franz
Beck.
209
Gespräche mit Parlamentariern und anderen Politikern der Nachbar
länder und anderer europäischer Staaten so häufig und intensiv ge
führt werden. Allein, wenn man sich die engen Verbindungen Liech
tensteins mit seinen Nachbarländern in politischer, wirtschaftlicher
und kultureller Hinsicht vor Augen hält, kann man den Wert solcher
Kontakte ermessen. Auch die schon mehrmals stattgefundenen Tagun
gen von Kommissionen der Parlamentarischen Versammlung in
Liechtenstein haben Parlamentariern anderer Länder ein verstärktes
Kennenlernen Liechtensteins ermöglicht.
2. Liechtensteinische Mitarbeit auf Regierungsebene
Auch in den verschiedenen Gremien der zwischenstaatlichen Zusam
menarbeit des Europarates (Ministerkomitee, Fachministerkonferen
zen, Expertentagungen usw.) hat Liechtenstein eine konstante Prä
senz entwickelt. Selbstverständlich ist die liechtensteinische Mitarbeit
in diesen Gremien anders als auf parlamentarischer Ebene: Die Par
lamentarier sprechen in ihrem eigenen Namen, bringen ihre persön
lichen Ansichten zum Ausdruck, und ihre Plenardebatten sind öffent
lich zugänglich; die Vertreter in den zwischenstaatlichen Gremien
hingegen sprechen normalerweise für ihre Behörden, und ihre Bera
tungen sind vertraulich.
a) Ministerkomitee
Liechtenstein war bisher an allen Sitzungen des Ministerkomitees auf
Ebene der Aussenminister durch seinen Regierungschef, Hans Brun
hart, vertreten. Der Regierungschef hatte an diesen Sitzungen immer
wieder die Gelegenheit, den liechtensteinischen Standpunkt zu verschie
denen europäischen Fragen zum Ausdruck zu bringen. Die informellen
Zusammenkünfte der Minister und hoher Beamter am Rande der
Aussenministertagungen erlauben Liechtenstein in besonderer Weise,
die Sicht europäischer Regierungen zu wichtigen politischen Entwick
lungen kennenzulernen.
Monatlich ein- bis zweimal finden Sitzungen des Ministerkomitees
mit insgesamt ca. 60 Sitzungstagen auf der Ebene der Ständigen Ver
treter oder ihrer Stellvertreter statt. Auch an all diesen Sitzungen ist
210
Liechtenstein präsent. Liechtenstein hat einen Ständigen Vertreter,
der in Strassburg residiert. Zwei Beamte des Amtes für internationale
Beziehungen in Vaduz nehmen die Funktion des ersten und zweiten
Stellvertreters wahr, wobei sie aber innerhalb dieses Amtes auch ver
schiedene andere aussenpolitische Agenden wahrnehmen. Die Haupt
aufgabe der Ständigen Vertretung ist die Vorbereitung und die Teil
nahme an den Sitzungen des Ministerkomitees. Weitere Aufgaben
der Ständigen Vertretung sind die Aufrechterhaltung des Kontaktes
zwischen den liechtensteinischen Behörden und dem Europarat, die
gegenseitige Information, die Mitarbeit in Arbeitsgruppen des Mini
sterkomitees, die Teilnahme an verschiedenen Tagungen des Europa
rates, die Koordination des liechtensteinischen Einsatzes in den ver
schiedenen Gremien der Organisation sowie Repräsentationspflichten.
b) Fachministerkonferenzen
Liechtenstein nimmt an beinahe allen Fachministerkonferenzen des
Europarates teil. Es sind dies vier bis fünf Konferenzen im Jahr.
Zumeist wird ein Mitglied der Regierung delegiert; in gewissen Fäl
len wird ein Beamter der Landesverwaltung entsandt.
c) Expertenkomitees
Das Ministerkomitee hat über 100 Expertenkomitees für die ver
schiedenen Arbeitsgebiete des Europarates eingesetzt. Selbstverständ
lich ist es für unser Land nicht möglich, die Mehrzahl dieser Komi
tees zu besetzen. Liechtenstein ist in ca. 15 °/o dieser Gremien prä
sent, wobei das Schwergewicht der Mitarbeit in folgenden Bereichen
liegt: Recht, Natur- und Umweltschutz, Kultur und Erziehung. Da
neben wird das jeweilige Leitungskomitee («Direktionskomitee») in
folgenden Bereichen besetzt: Menschenrechte, soziale Sicherheit,
Wanderarbeiterfragen, Jugendfragen, Sport. Die Mitarbeit in diesen
Expertenkomitees ist wichtig, da in ihnen die Konventionen und
Empfehlungen ausgearbeitet werden, bevor sie dem Ministerkomitee
vorgelegt werden. Daneben findet in diesen Komitees ein reger Ge
dankenaustausch statt, der es Liechtenstein erlaubt, die Entwicklung
der zur Diskussion stehenden Probleme in den verschiedenen Mit
gliedsländern kennenzulernen und eigene Anliegen und Informatio
nen vorzubringen.
211
d) Wiedereingliederungsfonds des Europarates
Als Mitglied dieser Organisation mit Sonderstatut hat Liechtenstein
Sitz und Stimme in seinen Organen (Direktionskomitee und Verwal
tungsrat) und nimmt an den meisten Sitzungen teil.33
3. Europäische Übereinkommen
v
Bevor Liechtenstein Mitglied des Europarates wurde, war es bereits
neun Übereinkommen des Europarates beigetreten. Heute ist es Ver
tragspartei von 29 Europaratsübereinkommen und Protokollen (siehe
Anhang). Diese Anzahl mag in Anbetracht der 113 Europaratsüber
einkommen nicht gross erscheinen. Es ist aber zu bedenken, dass die
durchschnittliche Anzahl von Ratifikationen pro Mitgliedsland un
ter 50 liegt und dass Liechtenstein das jüngste Mitgliedsland ist und
an der Ausarbeitung der meisten Konventionen nicht teilnehmen
konnte.
Die wichtigste von Liechtenstein ratifizierte Konvention ist die
Europäische Menschenrechtskonvention, der alle Mitgliedsländer bei
getreten sind. Die liechtensteinische Beitrittsurkunde wurde am 8. Sep
tember 1982 hinterlegt, wobei gleichzeitig die Erklärungen abgege
ben wurden, dass Liechtenstein das Individualbeschwerderecht zu-
lässt sowie die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte in Strassburg als obligatorisch anerkennt. Damit ist
es für jeden Liechtensteiner möglich geworden, nach Ausschöpfung
des innerstaatlichen Instanzenzuges seine Beschwerde direkt an die
Europäische Kommission für Menschenrechte in Strassburg zu rich
ten. Bisher ist noch keine liechtensteinische Beschwerde zugelassen
worden.
Als Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention und
als Mitglied des Europarates ist für Liechtenstein je ein Mitglied in
der Europäischen Menschenrechtskommission und im Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte.34
33 Siehe dazu: «Bericht und. Antrag der Fürstlichen .Regierung an den Hohen Land
tag betreffend den Beitritt zum Wiedereingliederungsfonds des Europarates»
vom 22. Oktober 1975.
34 Mitglied für Liechtenstein in der Europäischen Menschenrechtskommission ist
Dr. Gerard Batliner und im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Pro
fessor Ronald MacDonald, ein kanadischer Experte für Menschenrechte.
212
4. Finanzieller Beitrag Liechtensteins
In absoluten Zahlen gemessen ist der liechtensteinische Beitrag an
den Europarat gering. Er beträgt etwas über 100 000 SFr. im Jahr,
was 0,12% des Budgets des Europarates ausmacht. Relativ, pro
Kopf der Bevölkerung gemessen, ist aber der liechtensteinische Bei
trag mit Abstand der grösste und übertrifft die anderen um ein Viel
faches.35
Neben dem obligatorischen Mitgliedsbeitrag gibt unser Land immer
wieder Sonderbeiträge für spezielle Zwecke oder für Institutionen,
die mit dem Europarat verbunden sind.36
5. Andere Formen der Mitarbeit
Neben der Mitarbeit in den statutarischen Gremien der Organisation
nimmt die liechtensteinische Mitarbeit auch verschiedene andere
Formen an, die hier nicht alle erläutert werden können. Einige wei
tere Beispiele seien gegeben:
a) Besuche und Tagungen in Liechtenstein
Die Fürstliche Regierung lädt immer wieder hohe Vertreter des
Europarates (Generalsekretär, Präsident der Parlamentarischen Ver
sammlung usw.) nach Liechtenstein ein. Den Besuchern wird so die
Gelegenheit gegeben, Liechtenstein kennenzulernen und Fragen von
gemeinsamem Interesse mit unseren Politikern zu diskutieren. Neben
den höchsten Vertretern suchen auch immer wieder Experten der
Organisation unser Land auf, sei es um Informationen vor Ort zu
erhalten, oder sei es im Rahmen von Seminarien.
b) Sonderveranstaltungen
An verschiedenen Sonderveranstaltungen des Europarates, wie Aus
stellungen, Wettbewerbe, Begegnungen usw. hat Liechtenstein in
35 Liechtenstein zahlt ca. 4 SFr. pro Kopf der Bevölkerung pro Jahr, alle anderen
Mitgliedsländer zahlen weniger als 0,5 SFr. pro Kopf der Bevölkerung.
39 Liechtenstein zahlt z. B. einen jährlichen Beitrag an das Menschenrechtsinstitut
in Strassburg und hat mehrmals die Kunsthandwerkschule des Europarates «Pro
Venetia Viva» mit Spenden unterstützt.
213
irgendeiner Weise teilgenommen (Zurverfügungstellung von Objek
ten, Beiträgen, persönliche Präsenz usw.).
c) Information
Es werden jährlich eine Vielzahl von Fragebogen und andere Infor
mationsbedürfnisse des Europarates von unseren Behörden beant
wortet.37 Dies ist eine wichtige Komponente unserer Mitarbeit, vor
allem in Hinblick auf eine objektive Darstellung unseres Landes in
den anderen Mitgliedsländern.
d) Europäische Konferenz der Gemeinde- und Regionalbehörden
Liechtenstein delegiert jeweils zwei Gemeindevorsteher an diese Kon
ferenz.
IV. Bewertung der Mitgliedschaft Liechtensteins
im Europarat
1. Politische Aspekte
Liechtenstein war vor der Mitgliedschaft im Europarat Mitglied in
einzelnen europäischen Organisationen oder hatte ein besonderes Ver
hältnis mit anderen (EFTA, CEPT, ECE, EG). Entweder aber handelt
es sich dabei um Spezialorganisationen mit einem eng umschriebenen
Zweck und ohne politischen Charakter (CEPT, Europäische Patent
organisation), oder es handelt sich um Zusammenschlüsse, vor allem
wirtschaftlicher Art, bei denen in bezug auf die liechtensteinische
Zugehörigkeit das Zollvertragsverhältnis mit der Schweiz mitbestim
mend ist. Man kann daher sagen, dass der Europarät die einzige
europäische politische Organisation ist, der Liechtenstein als Voll
mitglied angehört.
Dies will nicht heissen, dass der Europarat das einzige politische
Forum in Europa ist, in dem Liechtenstein mitarbeitet. Wohl das
"Die meisten Anfragen betreffen statistisches Material (demographische Studien
usw.) und Auskünfte über die Gesetzgebung (Sozialgesetzgebung, Naturschutz
usw.).
214
politisch bedeutsamste Forum, an dem Liechtenstein teilnimmt, ist
die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Liechtenstein hat von Anfang an an diesen entspannungspolitischen
Treffen aktiv mitgearbeitet. Dabei ist aber zu bedenken, dass die
KSZE auf keinem völkerrechtlichen Vertrag beruht (bei der Schluss
akte von Helsinki handelt es sich um eine politische Absichtserklä
rung), und sie keinen institutionellen Charakter hat (jedes Folgetref
fen muss von den Teilnehmerstaaten jeweils vereinbart werden).
Auch sind die Möglichkeiten der europäischen Zusammenarbeit im
Rahmen der KSZE sehr begrenzt. Die Unterschiede zwischen den
Teilnehmerstaaten sind in vielen Bereichen zu gross, um eine engere
Zusammenarbeit zu suchen (man denke z. B. nur an die fehlende
Informationsfreiheit in den kommunistischen Ländern).
Dem auch in Liechtenstein immer stärker werdenden Wunsch, die
Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu suchen, entsprach am
besten die Mitgliedschaft im Europarat. Gemäss seinem Statut
schliesst der Europarat die Zusammenarbeit im Bereiche der Vertei
digung aus und ist nur am Rande mit wirtschaftlichen Fragen be
schäftigt. Auch für Liechtenstein ist die Zusammenarbeit in diesen
beiden Bereichen nicht relevant: Liechtenstein hat keine Armee, und
durch den Zoll- und Währungsvertrag mit der Schweiz und die Ab
kommen mit der EFTA und der EG ist Liechtenstein an einer wei
teren wirtschaftlichen Zusammenarbeit nur beschränkt interessiert.
Die Haupttätigkeitsbereiche des Europarates, wie sie weiter oben
aufgezählt wurden, sind auch diejenigen, in denen Liechtenstein auf
europäischer Ebene am nutzbringendsten mitarbeiten kann.
Man kann sich fragen, inwieweit Liechtenstein überhaupt an einer
Zusammenarbeit auf europäischer Ebene interessiert sein muss. Sicher
lich haben für einen so kleinen Staat die Beziehungen zu seinen
Nachbarn Priorität. Aber selbst wenn man nur an die Zusammen
arbeit mit unseren Nachbarstaaten denken würde, lässt sich vieles
besser und einfacher im multilateralen Bereich bewerkstelligen. Im
Rahmen des Europarates hat Liechtenstein automatisch viele Kon
takte zu seinen Nachbarn (politische, persönliche Kontakte auf allen
Ebenen; Informationen, die im Rahmen des Europarates weiterge
geben werden usw.) und kann viele Vertragsverhältnisse mit ihnen
über die Europäischen Ubereinkommen begründen, ohne in schwieri
gen bilateralen Verhandlungen Vertragstexte ausarbeiten zu müssen.
215
Daneben muss Liechtenstein aber in einem Zeitalter, in dem die Welt
nicht zuletzt wegen der modernen Kommunikationsmittel immer
kleiner wird und eine grössere europäische Einigung angestrebt wird,
auch daran interessiert sein, Kontakte zu Staaten, die nicht seine
Nachbarn sind, zu knüpfen. Auch dafür ist der Eüroparat ein gutes
Instrument, sind doch praktisch alle westeuropäischen Staaten in ihm
vertreten. Dabei ist zu bedenken, dass Liechtenstein ausser in seinen
Nachbarstaaten und bei internationalen Organisationen derzeit nicht
direkt diplomatisch vertreten ist.
Auch wenn langfristig die Unabhängigkeit Liechtensteins weitgehend
von seinem Willen abhängt, eigenständige Lösungen im innerstaat
lichen Bereich zu suchen, so ist doch die Anerkennung der Souverä
nität durch andere Staaten unabdingbar. Aus dieser Perspektive ist
die Mitgliedschaft im Europarat von Bedeutung: Gemäss dem Statut
des Europarates können nur souveräne Staaten, die rechtsstaatlich
und demokratisch organisiert sind, beitreten. Die Mitgliedschaft be
deutet somit nicht nur die Bestätigung der Souveränität durch die
anderen Mitgliedsstaaten und die Organisation, sondern es wird
gleichzeitig ein Zeugnis für den rechtsstaatlichen und demokratischen
Aufbau des beigetretenen Landes ausgestellt. Gerade für einen Klein
staat kann diese qualifizierte Bestätigung langfristig von Vorteil sein.
Daneben erhöht die Mitgliedschaft im Europarat und die damit ver
bundene Errichtung einer weiteren Aussenvertretung unseres Landes
ganz allgemein die Fähigkeit, mit anderen Staaten und internatio
nalen Organisationen zu verkehren, was ebenfalls seine aussenpoli-
tische Aktionsfähigkeit unterstreicht.
Bei der politischen Bewertung ist auch an die Stimme Liechtensteins
im Ministerkomitee, in den diversen Expertenkomitees und in der
Parlamentarischen Versammlung zu denken. Auf Grund des fehlen
den supranationalen Charakters und des beschränkten Tätigkeits
bereiches ist die Mitwirkung des Europarates, an politischen Gesche
hen zwar limitiert. Langfristig wird; der europäische Einigungspro-
zess durch den Europarat doch erheblich mitgestaltet. Man denke
nur an vereinzelte Konventionen (Menschenrechtskonvention, Sozial
charta, Rechtshilfekonventionen usw.) und an die vielen Empfeh
lungen an die Mitgliedsregierungen, die. nicht ohne Einfluss auf die
Politik bleiben. Liechtenstein kann in den verschiedenen Organen
des Europarates, besonders aber im Ministerkomitee, seine Ansichten
216
vertreten und vom Stimmrecht Gebrauch machen, was nicht ohne
Einfluss auf die Arbeit des Europarates bleibt. Natürlich muss hier
bei von den natürlichen Gegebenheiten ausgegangen werden, was
auch heisst, die verschiedenen Grössenverhältnisse der Mitgliedslän
der einzukalkulieren.
Der Beitritt Liechtensteins zum Europarat hat auch politische Her
ausforderungen gebracht. Der Europarat ist auch eine Plattform, von
der aus immer wieder versucht wird, die Politik der Mitgliedsländer
zu beeinflussen. Jede Mitgliedsregierung und auch jeder Abgeordnete
in der Parlamentarischen Versammlung haben ihre eigenen Vorstel
lungen über die Zusammenarbeit in Europa, die nicht immer iden
tisch sind. Ebenso wird häufig versucht, internationale Organisatio
nen als Forum zur Durchsetzung nationaler Interessen zu verwenden.
Es werden daher häufig Meinungen in Strassburg publikumswirksam
geäussert und Empfehlungen durch Mehrheitsentscheide verabschie
det, die den nationalen politischen Interessen oder Ansichten einzel
ner Mitgliedsländer zuwiderlaufen. Oft sehen sich Mitgliedsländer
in der Unmöglichkeit, den in Strassburg geäusserten Erwartungen
zu entsprechen. Man kann wohl sagen, dass jedes Mitgliedsland ab
und zu sozusagen auf die Anklagebank kommt. Bei Liechtenstein ist
es vor allem die Frage des Frauenstimmrechts, und wie bei einigen
anderen Mitgliedsstaaten die Ausländerpolitik und manchmal auch
das Holdingwesen. Diese unterschiedlichen Auffassungen und die
Wahrscheinlichkeit, ab und zu in Minderheit versetzt zu werden, ist
eine unabänderliche Komponente des Entscheidungsmechanismus
einer internationalen Organisation und insbesondere der europäischen
Zusammenarbeit. Soll eine gewisse Dynamik erhalten bleiben, ist
dies auch zu begrüssen. Dieser Entscheidungsprozess und diese Mei
nungsäusserungen auf internationaler Ebene können auch Anlass zu
gesunder Selbstkritik auf nationaler Ebene sein.
Den schwierigsten Stand im Europarat hat Liechtenstein zweifels
ohne bei der Frage des Frauenstimmrechts. Es gibt kein objektives
Kriterium, mit dem man das Fehlen des Frauenstimmrechts begrün
den kann, und man wird nicht darum herumkommen, diese Situa
tion als Unrecht zu bezeichnen. Liechtenstein ist die einzige Demo
kratie auf der Welt, in der die Frauen nicht stimmen dürfen. Gerade
in einer Organisation, die die Verteidigung der Menschenrechte als
eine ihrer ersten Prioritäten sieht, muss dieses fehlende Recht auf
217
Unverständnis stossen, selbst wenn gerade die ausgebauten demokra
tischen Rechte (Referendumsrecht) die Änderung der Situation bisher
erschwerten. Es ist zu hoffen, dass die Bemühungen der Fürstlichen
Regierung und des Landtages zur Einführung des Frauenstimmrechts
bald zum Erfolg führen. Auf der anderen Seite ist auch zu sehen,
dass die Mitgliedschaft im Europarat mit dem fehlenden Frauen
stimmrecht vereinbar ist. Auch die Schweiz wurde Mitglied, bevor
sie das allgemeine Frauenstimmrecht eingeführt hatte. Andere Staa
ten haben das Frauenstimmrecht auch vor nicht allzu langer Zeit
eingeführt.
2. Weitere Aspekte
In einem kleinen Land stehen oft weniger die politischen Aspekte
einer solchen Mitgliedschaft im Vordergrund, da sie weniger greifbar
sind, sondern es wird nach den materiellen Belastungen und Vortei
len gefragt.
Im vorhergehenden Kapitel (III. Mitarbeit) wurde über die.Mitarbeit
Liechtensteins im Europarat gesprochen und damit ebenso über die
finanziellen und personellen Belastungen. Finanziell kostet die Mit
gliedschaft wenig. Bisher beliefen sich die jährlichen Gesamtaufwen
dungen auf nicht einmal 300 000 SFr.;38 was 1,5 Promille des Staats
haushaltes ausmacht. Für unser Land, das relativ wenig internatio
nalen Organisationen angehört und dessen Gesamtausgaben für die
Aussenpolitik unter einem Prozent des Staatshaushaltes liegen, ist die
finanzielle Belastung durch den Beitritt von nicht besonderer Bedeu
tung.
Die personelle Belastung ist ein weiterer Aspekt. Eine kleine Staats
verwaltung, wie es die liechtensteinische ist (auch pro Kopf der Be
völkerung gemessen hat Liechtenstein eine der kleinsten Staatsver
waltungen Europas), hat selbst bei nur teilweiser Besetzung der ver
schiedenen Expertengremien Schwierigkeiten, die entsprechenden
Beamten und Fachleute freizustellen/Besonders für die Abgeordne
38 Die Rechnung 1982 der Fürstlichen Regierung weist für den Europarat folgende
Zusammenstellung .auf: Gehälter: 114 284.— SFr., Sozialbeiträge: -14 48 7.— SFr.,
Ständige Vertretung,in Strassburg: 17 716.— SFr., Reisespesen: 20 596.— SFr.,
Mitgliedsbeitrag: 105 464.—SFr.
218
ten des Landtages, einem fünfzehnköpfigen Milizparlament, ist die
Vertretung in der Parlamentarischen Versammlung mit grossen zeit
lichen Opfern verbunden. Während für das Staatspersonal insgesamt
die zeitliche Belastung durch Teilnahme an Tagungen des Europa
rates nicht einmal in Prozentzahlen ausgedrückt werden kann, so
werden 4 von unseren 29 Abgeordneten und stellvertretenden Ab
geordneten mehrere Wochen pro Jahr durch ihren Einsatz in der
Parlamentarischen Versammlung zeitlich gebunden.
Dieser personelle Einsatz bringt auf der anderen Seite erhebliche Vor
teile, wie dies im vorhergehenden Kapitel schon gesagt wurde. Man
kann in den verschiedenen Komitees und Kommissionen seine An
sichten zur Geltung bringen und Informationen über unser Land
weitergeben. Es können Kontakte mit hohen Beamten und ausgewie
senen Fachleuten anderer Mitgliedsländer geknüpft werden, was für
unsere Landesverwaltung immer wieder Früchte abwirft. Viele bila
terale Probleme können so leichter gelöst werden, und oft erhält
unser Staat dank dieser Kontakte auch direkte Schützenhilfe. Neben
den Kontakten sind auch die Informationen wertvoll, die unsere
Beamten in Strassburg bekommen. Sie lernen Probleme anderer Län
der und ihre Lösungen kennen, was ihnen bei ihrer täglichen Arbeit
zugute kommen kann. Gerade bei der Suche nach eigenständigen und
Liechtenstein angepassten Lösungen in Gesetzgebung und Verwaltung
ist der Zugang zu diesen Informationen wichtig.
Als weiteren materiellen Vorteil der Mitgliedschaft kann auch der
Werbeeffekt betrachtet werden. Durch die verschiedenen Publika
tionen, Beiträge in Radio und Fernsehen, Tagungen usw. des Europa
rates wird der Name Liechtenstein nach ganz Europa getragen. Man
kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Europarat einer der
billigsten Werbeträger Liechtensteins ist.
3. Schlussfolgerungen
Westeuropa, nicht nur das Europa der 10 EG-Mitglieder, wächst
trotz allen Schwierigkeiten immer mehr zusammen. Der Europarat
bietet Liechtenstein die Möglichkeit, wie keine andere Organisation,
in der es Mitglied ist, an diesem Prozess teilzunehmen. Die Organi
sation erleichtert es Liechtenstein, am europäischen Geschehen über
219
die Nachbarstaaten hinaus teilzunehmen. Daneben ergeben sich, wie
aufgezeigt, verschiedene konkret fassbare Vorteile.
Dem steht eine gewisse politische Herausforderung gegenüber, die
Liechtenstein, wie die anderen Mitgliedstaaten, zwingt, sich mit der
politischen Entwicklung-in Europa und manchmal auch mit Kritik
an seiner eigenen Politik auseinanderzusetzen. Auch kommt es zu
einer gewissen Belastung des personellen Apparates der Staatsver
waltung, die spürbar, aber nicht gravierend ist.
Insgesamt wird man wohl zum Schluss kommen müssen, dass die
Vorteile der Mitgliedschaft die Nachteile weit überwiegen. Man wird
auch in Betracht ziehen müssen, dass Liechtenstein erst am Anfang
seiner Mitgliedschaft im Europarat steht und sich langsam daran ge
wöhnen muss. Die Organisation hatte bereits eine 30jährige Ge
schichte, bevor Liechtenstein beitrat, was gerade für ein kleines Land
eine längere «Akklimatisierungsphase» notwendig macht. Im Laufe
der Jahre wird es möglich sein, die liechtensteinische Präsenz in
Strassburg immer aktiver zu gestalten und damit auch mehr von der
Mitgliedschaft zu profitieren.
220
Anhang
Stand der Ratifikationen, Beitritte und Unterzeichnungen durch das
Fürstentum Liechtenstein zu den Übereinkommen des Europarates
221
J fco
& R ü a
c r
• •>»
N
•2 -« ^ <3
• «•> » * >*
33
ON CN CM <N ON ON ON o f\ 00 00 00 f\ r\ hs 00
ON ON ON ON ON ON ON ON
L-H T-H Ĥ •«-H T-H
iTi ON ON ON in vD (N <N
sO 00 od 00 SO rn »•H oo
S-H 1-H -̂H
<U H3
C a>
C o
S g
"TD
C 3
J3 o 0) u u O
>
u CJ
:D
C o
6
S o
M <
<u C rt
8 & 2 —H 3 < w
c flj
o>
na c D 1H
Ü
c D
js u 0>
c v J3 u CO ö o>
n J2
-rt O
0) o N g
3 2
•* B1 ü £j
CO
fä
N «
fi CO
J-S 4-J
G o> M. > <•>
« a o'.S ' 0) .
c Q>
U CO c 0)
0> 1 -4
^ £ O J3 N U *± CO D <u -ß~Q
V5*g
3 .£ N -q
gi5
.2 Uh
S * >_s
o u «>
i^PÜ
0> i yu~ 4-> • ̂
.m jg CN ris <u > M
Jb ~Ü <5 G 3 3 »H
nO
M~0
C G P S
:S:8
3_C
*•£ u
W S
c -w
JI'P
2 c C 5i « -C
S.g
Ö ^ •Q O
o *? N W w
2 w _C«J U "T3 C/i
„ 6X3 E c
3 3
N-6 g g
•SB1
5-5
§6
* c ,_ u
-S-^ -Q ( L) -C
5'3 ^r wi M-. ij ~a
h «
< 2
3Ü N.
b0^ q> C §<£ p o
:rt ö "S ^_J tr w
-^-u-g
W S " '
^ CO ^. a>
E ^
N « a, o
Jd ^ o W
o <3
öS rt .ü co :rt
N S
c a>
e
& o
VD , rt
' D
CO Q> J3 U CO
:c3 a< o t-r D w
"U c p
o
u 4> «H Ih O >
"0
u <u
i0
c 0)
E
E o p*
<
C CO 5 D w N u
Oh O o JA O 2 4-> P
g w
a, ^
Ü-o
S e
3 S
N:cS
S '2
• - 2 a> p
^ E N h5
öß
C/5
c o >
bß c o 60 O
*5> pq
c a> M u »^
a>
Jh D N
S
E
S o
a
V
D
CA u JS u CA
:c3
O« C O <L> b. w 3 "S w -S
R <u &
R R O o s<l ä -
<N LTJ
• *H
*3'
Ü
Z
U £ VH «H Ih Z u z
CN <N
ü £
<N
Ih
222
Os ON OS 0s Os Os Os CS <N NO so r\ sO sO r\ sO 00 00 ON Cs 0s Os Os Os 0s Os Os T"H T-H *M T-H l-H l-M T-H T-H t-h
o o r4 o o <N o 0s Os <M T-H ^H T—« T-H T-H
00 od T-H 00 00 T-H od od oo <N fN T-H CN fN T-H <N
c o>
E
E o
V) 6X) C 3
3 <
CO
~c u
:c3 a o Im 3 w
3 C/)
Im V ~c u
3 Q>
a OS Im O
J3 4->
u CO 3 rt 4-J CO 3 <
C . <u ~o
Im o
T§ c o •3 b£
ö s
a s .
°f ^ i-1
.S o S o U| J2 o> o
-QiS
O J3 w u n (fl
0» c _C <u
ä E
:rt C d, <u O N ki c 3 rt
w s
3
e s HM
-o C 3
J3 o a> Im Im o >
~a
«M 0) M :3
C o
E
E o
< co
eo 3
n £
=3 ci<
2 2
8 w
8 s o+-a
co r* a § TT u
c 0>
U 03 CO Mm rt Im M c/)
c
ö js u
p4
^3
Im 4> M :3
C o
E
E o J4 c
<u M
O CO
J5 O
0) 60 c rt
* N CO
E 3
0) *T3
öß C 3 Mm Mm rt J3 o CO
<5
.2i "5 Im 0) -D :3
C o>
e
E o
c
*o Im O JD
o « w 6ß «O J m 0> C ^3
CO ,W>
:rt :«« a O O PL«
T3 c 3
_C u
Im Im o >
^3
4-> p _
Q'S w w 3 .! :3
o> _o :3
C 0)
6
E o
<
Z3 o
< 3 Im
Srt Q.
3 2
o S CO
2 ^3
2 c M 0 )
O« ti M :rt — ö w CO
*e CO « 3 3
N £
.• E
3 N
C 0)
*N c o 60
p4
c o >
*G u CO 3 rl u CO 3 <
C o> "O
Im «ü
:3
C o
E
E 0
1 £
-o c C rt 5 .9 h
e E
0) ^ 4-» J3 ^ U 0i
Im (U
•3 :3
C Q> C Mm S o_s
y £2 rt
S-6
S 0>
3
Ü
ä o >
uO G>
T3 C
£$Jä 00 Ü-u c 3.<2 5
JS :rt w o o, rt
c2 2
i w w N U
c E 3 o «j •p ^ «
§ 53^ > -rt W)
c ^ o JS~
u _Q V
Dia OJ WJ "5 V c J5 « u Ol
•" S4 :rt 3 n t*
o £f •i 5 3 ,2 W pq
c
:rt
_ 3 t5 3"0 3 N .N
N g «
^ J~ «
— '3 ̂ . IH U TD Ü3 « t2 *T3 u - r c s ? 3 JJ -u u J3 S
Ä Ü S &
o
o
o Im .
H « C MD 3
v O 4-* J3 "3
^ c 2J «
c e fl) tn -S °
u ^ co C w a> 0>
OJ <?i
"O-o 4> c N 3
3 O
J3 r^i U „ W Cs
6^ 3 «J
C<
O V
qj co
> C3 c-a
b 3 3 N
^ g
u,.« g
-'ü ;
oi ^
PflS?
2 -fcO
c ^ s «
-5"S
:rt
sO 00 O s0 Os <N CN CN CO
u «M u l^ VN Im u u z z z £ z z
223
I t>0
& R ä S
R R
* *4
N
.O
• m ^ W 0Q(^
ON r\ <N ^H <N (N NO hv rv 00 00 hs hs ON ON ON On ON ON ON r-H ••H T-H l-H T-H •H ^H
t-h T-H ON ON T-H T-H T-H
\d PO 00 in \D sD t-h CN t-h
CN
00
ON
ON
r\
CN
00 ON
o <N
«
S> R o
IN» rO m 00 CN m sO fs. m Tf m in m vO vD ND \0 hs
IH u «H u u IH C u Z z 2 z z Z £
224
s* CO ON O 0 00 OO 00 00 00 IX 00 • *4 ON 0N ON ON ON 0N ON T-H t-h T-H t-h T-H t-h ^H
*•» «N t-H t-h ^H IH N6 ö
^tr T-H . . , , m rx r\ r\ O OQ CN CN CN CN CN T-H CO
o oo ON
CA c 3 c
u 0> u <u
G
Ih
Ph
-3
Ih O -Q
:3
C <L>
E
£ o
e
<u
-O
D
V5 O jr: u CO
• H
O,
O «h
3
W
E*
TD
C
rt
Im O
td
3 J=
u c/)
c 4>
(4 4-J
3 N
G
* N
G 0>
60 rt o>
G o >
u v>
3 ri
N O V5
c 4>
TD
Im 4> M
:3
G o>
6
6 o ja g
0) M
O
</> <U
J3 o c/>
:c3
O«
O Ih
3
w
3
<
G 0)
"TD
IM 0)
:3
G o
E
6 o ja
c
'o Im O -Q
o
s:s -C cx
* •3 o •3 ja Oh d>
S £ 3 4>
«o
<L>
TD
3 4> ÖD
G
3
C a>
'rt
G .2
rt <ü
G 60 in 3 <L> O
S n G Ih
*- J5 0> rt 'H MH "^3 IH
Ih 4> _o
:3
O
s
Ih
:3
60
G
3 Ih QJ
G U
e » e.s O 1>
.S « (1) IH
g a
1 p-.
%> v> 4) 0)
J3-S u «/> «/ ) •3 <u 60 OH 3 p N
Ih 4-»
3 C
o l2 *O
3
<
c 0)
TD
4> -O
:3
C <u
E
£ o
.5 g>
a 2 J5 Ö
o .2
a g >s CJ * ->
Ü-S
OH ^
2<£
^3
e c E .Sä
3g
o> j-H bO ™o rt
•S«2
2§
o« >
ö_c
a §
3 3
N 2
3 e
£ V) 4>
TD
60
G
3
O.
E
:rt
v
PQ
Ih
3 N
C O
E
E o
c
Q>
-O
D Vi V
o co
:c3
a
o lH
3
w
a
o Ih
3
w
c
3 JZ u
0)
£
\D
TD
G
3
3
U Vi
G <L> 4-* Ih rt
2 "S
£ 3 N
C .2 * w
C <L> >
G O
C/} .
00 On
O <N
m 00 0N
ir>
m"
60 O
-£"e
iE §
3 •--2 0 •< T3
||s
1 ia 0> IH "
^ JF ^ IH PH 0>
C.S5 rn
<3"« §
o) !2
u, 4» «u 0> 6 0.-5
fcTD :3 .Q
«u TD
G QJ
^3 u c/l Ih 0>
:3 N
G o> Ih
60
o .s; o> *
:3
£td
£
0)
60
u o w l-Ä
_ 4) o> G -n Ih 0> Q> 6 0 60
• A G G
°-ZS;
Vi ' O <u +-»
o w h io «» «!h 4-» _C
:<« Gu
CLüJ « o td
>h G 2*
5 5'^
a> c
Ih «J
^•5
T3 S 2 o
G
I®
5-^ E 2 o
•so
S c _Q (U
:3
S.2
§ ^
2 f^i-s
w "£
?i c«
-fs c O <u
•- S
:3 e ^ E o <4 Ih V i
3 3
WN
G <u
G O Vi Ih
a>
>•
60
G
3
0) -Q
o
Ih 0> -Q
:3
G O
G
>
G
O
T}- m NO CN vO CO 00 0N 0 0 O 0 tH N 00 00 00 00 ON t-h T-H *-h
Ih u u 1̂ u u u IM* U
2 z z % Z
225
Liechtenstein und die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK)
Herbert Wille
Marzell Beck
Vorbemerkung
Das Fürstentum Liechtenstein ist am 23. November 1978 dem Euro
parat beigetreten. Es hat am 8. September 1982 die Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert. Sie ist
somit für das Fürstentum Liechtenstein am 8. September 1982 in
Kraft getreten.
Unter Ziffer I (Herbert Wille) werden Gedanken staats- und rechts
politischer Natur vorgetragen, die bei der parlamentarischen Be
handlung der EMRK wegbegleitend gewesen sind. Verfassung und
EMRK stehen in einer Wechselbeziehung, auf die näher eingegangen
wird. Dabei gelten die Ausführungen sowohl befürwortenden als
auch kritischen Argumenten.
In Ziffer II (Marzell Beck) wird die Eigenart und Bedeutung der
EMRK schwerpunktmässig beleuchtet und werden ihr Kontroll
mechanismus, die Wirkungen der Entscheidungen ihrer Kontroll
organe und ihre Auslegung im Blickpunkt der Untersuchungen ste
hen. In diesem Teil wird auch die Frage geprüft, ob der EMRK in
Liechtenstein Verfassungsrang zukommt und die bisherige Recht
sprechung des Staatsgerichtshofes zur EMRK dargestellt.
228
I. Verfassungspolitische Erwägungen
1. Gemeinsamkeiten von Verfassung und EMRK
1. 1 . Zielsetzung
Nach der Präambel des Statuts des Europarates verleihen die Mit
gliedsstaaten ihrer unerschütterlichen Verbundenheit mit den geisti
gen und sittlichen Werten Ausdruck, welche das gemeinsame Erbe
der Völker und die Grundlage der persönlichen und politischen Frei
heit sowie der Vorherrschaft des Rechtes bilden und auf denen jede
wahre Demokratie beruht.
Die EMRK verwirklicht diese Zielsetzung. Sie nimmt die Schaffung
eines «gemeinschaftlichen Ordre public» der freien Demokratien
Europas zum Schutze ihres gemeinschaftlichen Erbes an politischen
Überlieferungen, Idealen, Freiheit und Vorrang des Rechts als ihr
Ziel. Damit gehört sie in die Reihe der Bestrebungen, die zum Inhalt
haben, den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch
ein internationales Garantiesystem zu verbessern.1 Sie verfolgt damit
eine Zielrichtung, die im Einklang mit der liechtensteinischen Ver
fassung steht.
1.2. Tradition
Die Verfassung wie die EMRK stehen in einer Tradition. Für die
EMRK ist es das gemeinsame westeuropäische Erbe, das auf dem
Vorrang des Rechts beruht. Die Tradition der Verfassung liegt im
Ausbau und in der Weiterentwicklung der Grundrechte, wie sie
schon 1862 von der Verfassung vorgezeichnet wurden. Insoweit
nimmt sie an der westeuropäischen Rechtsentwicklung teil, wie dies
die Verfassungsbestrebungen von 1848/49 über die Verfassung 1862
bis herauf zur Verfassung 1921 dartun. Die Verfassung steht in einer
Rechtstradition, die, was die Grund- und Freiheitsrechte anbetrifft,
ihre Wurzeln in den Freiheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts hat.
1 Bericht des Bundesrates, in: Bundesblatt (BBl.) 1968 II 1068.
229
Der Katalog der Grund- und Freiheitsrechte unterscheidet sich nicht
stark von denen der anderen deutschen Bundesstaaten im 19. Jahr
hundert und heute von denen der Nachbarstaaten. Die Verfassung
von 1921 legt grosses Gewicht auf die politischen Rechte, wie sie in
der Initiative und im Referendum auf Gesetzes- und Verfassungs
ebene zum Ausdruck kommen.
Als weiteres Zeichen der Rechtstradition darf die Rechtsprechung
des Staatsgerichtshofes als Verfassungsgerichtshof angesehen werden,
der sich in grundlegenden Fragen an der Rechtsprechung der beiden
Nachbarstaaten orientiert, so dass deren Erkenntnisse in den Grund
zügen in der Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichts
hofes Eingang gefunden haben.2
1.3. Inhaltliche Beziehung
Der Bericht der Regierung vom 1. Juni 1982 an den Hohen Landtag
betreffend die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950, das Protokoll Nr. 2 zur
Konvention vom 6. Mai 1963 und die Abänderung des Gesetzes über
den Staatsgerichtshof vom 5. November 1925 streichen die enge in
haltliche Beziehung zwischen den verfassungsmässig und den von der
EMRK geschützten Rechten hervor.3 Er hält es aber nicht für emp
fehlenswert, der EMRK ausdrücklich Verfassungsrang zuzubilligen,
da die Grundrechtsgarantien der liechtensteinischen Verfassung jenen
der EMRK inhaltlich eng verwandt sind.4 Es heisst im Bericht der
Regierung, die EMRK führe zu einer verstärkten Verankerung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten in der liechtensteinischen
Rechtsordnung. Wohl seien die durch die Konvention garantierten
Grundrechte entweder in der liechtensteinischen Verfassung festge
schrieben oder gesetzlich verankert, doch bringe die Menschenrechts
2 Beispielsweise StGH 1961/1 (unveröffentlicht); hier wird zum Gleichheitsgrund
satz der Verfassung (Artikel 31 Absatz 1) die österreichische und schweize
rische Rechtsprechung und Lehre herangezogen.
3 Bericht der Regierung vom 1. Juni 1982 an den Hohen Landtag betreffend die
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. No
vember 1950, das Protokoll Nr. 2 zur Konvention vom 6. Mai 1963 und die
Abänderung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof vom 5. November 1925
(abgekürzt: Bericht der Regierung), 28ff.
4 Bericht der Regierung, 26.
230
konvention eine weitere Konkretisierung dieser Bestimmungen und
mache sie für Liechtenstein völkerrechtlich verpflichtend.5
Durch die Ratifikation der EMRK wurde dem verfassungsmässigen
Grundrechtskatalog ein zweiter, mit diesem grösstenteils identischer
Grundrechtskatalog überlagert. Dadurch wird aber in keiner Weise
die Staatsstruktur noch bestimmte Grund- und Volksrechte in Frage
gestellt. Dieses Geflecht von Normen, die aus der Verfassung und
der EMRK erfliessen, ergibt vielmehr einen verstärkten Grundrechts
schutz.
1.4. Auswirkungen der EMRK
Die Konventionsorgane treffen Entscheidungen, die ihrer allgemeinen
Natur und ihrer Ausgewogenheit nach Richtlinien für die nach wie
vor hauptsächlich zuständigen nationalen Gesetzgeber und Richter
abzugeben vermögen. Es ist offensichtlich, dass die Rechtsprechung
der Konventionsorgane innerstaatlich berücksichtigt wird. Die Kon
tinuität der Rechtsprechung und die Verallgemeinerungsfähigkeit der
Aussagen tragen denn auch wesentlich zur Bereitschaft der Gerichte
der Vertragsstaaten bei, den Konventionsorganen zu folgen. Dies
kann zu Änderungen in der innerstaatlichen Rechtsordnung führen.6
Die EMRK ist von ihrer Spannweite her in der Rechtsprechung ent
wicklungsfähig.7 Wenn auch die Verfassung in ihrem Grundrechts
schutz über den Gehalt entsprechender Normen in der EMRK hinaus
reicht, so zeigt sich doch, dass sie auch für die Verfassung von Be
deutung sein kann. Der Grundrechtskatalog der liechtensteinischen
Verfassung lässt sich in seiner Dichte nicht mit dem der Nachbar
staaten vergleichen. Trotzdem hat der Bürger durch die Verfassungs-
beschwerde7a einen gesicherten Grundrechtsschutz, der dem der Nach
5 Bericht der Regierung, 19.
6 Siehe dazu die Änderung der Strafprozessordnung, LGB1. 1981/39, sowie die
dem Landtag unterbreitete Regierungsvorlage betreffend die Schaffung eines
Sozialhilfegesetzes (Nr. 2/83) und zur Schaffung eines Strafvollzugsgesetzes
(26. Oktober 1982; und 12/83, Ergänzender Bericht vom 3. Mai 1983).
7 Dies hat der Marckx-Fall gezeigt; vgl. EuGRZ 1978, 234ff.
7a Die Ausführungen bei Jochen Abr. Frowein, Der europäische Grundrechtsschutz
und die nationale Gerichtsbarkeit, Berlin 1983, 9, sind unvollständig. Sie lassen
das liechtensteinische Gesetz vom 5. November 1925 über den Staatsgerichtshof,
LGB1. 1925 Nr. 8, Artikel 23 bis 43, ausser Betracht. Vgl. dazu das Urteil des
StGH 1982/65/V in: LES 1984, 3f.
231
barstaaten nicht nachsteht und der dem Rechtsschutzverfahren nach
der EMRK immer nur einen subsidiären und relativ unbedeutenden
Charakter zukommen lassen dürfte.8
2. Unterschiede zwischen Verfassung und EMRK
2.1. Inlandbezogenheit der Verfassung
Die liechtensteinische Verfassung hat von ihrer Entstehungsgeschichte
her den Grundrechtsschutz des Inländers im Auge. Dies unterscheidet
sie von der EMRK. Der Staatsgerichtshof kommt in einem jüngeren
Urteil darauf zu sprechen.9 Er führt u. a. aus: «In den rechts
staatlichen Bereichen besteht heute auch im Sinne der EMRK die
Tendenz, eine unterschiedliche Behandlung des Staatsbürgers und der
Fremden möglichst auszuschalten. Ein rechts- und gesellschaftspoliti
scher Rückblick in die Zeit der Erlassung des insoweit bis heute un
verändert gebliebenen und daher von den Behörden in diesem Geiste
anzuwendenden Verfassungsrechtes vom Jahre 1921 führt zur Er
kenntnis, dass sich der Kleinstaat Liechtenstein nicht so sehr den ver
fassungsrechtlichen Schutz der sich im Lande Liechtenstein aufhal
tenden Ausländer als vielmehr jenen der Landesbürger zum Ziel
gesetzt hat. Programmatisch drückt die Verfassung diese primär den
Landesbürgern zugekehrte staatliche Aufgabe in der Uberschrift zum
IV. Hauptstück mit dem Wortlaut ,Von den allgemeinen Rechten
und Pflichten der Landesangehörigen' deutlich aus. Es wird also nicht
die Regelung der in den Verfassungsrang gehobenen Rechte der
Rechtsunterworfenen allgemein, sondern nur der Landesbürger ver-
heissen.» An anderer Stelle findet sich in diesem Urteil des Staats
gerichtshofes ein Hinweis auf das Verfässungsrecht der Nachbar
staaten, das nach seiner Auffassung stärker dem System der Men
schenrechte zugewandt sei, beispielsweise das Verfassungsrecht in den
benachbarten Ländern Österreich und der Schweiz. Das Verfassungs
recht der beiden Nachbarstaaten lasse daher eine analoge Auslegung
gewisser allgemeiner Gattungsbegriffe, die als Kriterium für die
8 Dafür spricht die Änderung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof; vgl. den
Bericht der Regierung, 26f; die Gesetzesänderung datiert vom 30. Juni 1982.
LGBl. 1982/57.
• Urteil des StGH 1981/6 (unveröffentlicht) und Urteil des StGH 1982/65 in:
LES 1984,1.
232
Frage des Verfassungsranges gewährleisteter Rechte bestimmend
seien, für die liechtensteinische Verfassung nicht unbedingt zu.
2.2. Umfang des Grundrechtsschutzes
Die Menschenrechte der EMRK haben einen ausgesprochen punk
tuellen Charakter. Sie umreissen bestimmte individuelle Rechtsposi
tionen als Ausdruck eines vom europäischen Erbe getragenen Mini
malstandards für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und
Einzelperson.10 Jörg Paul Müller vertritt die Auffassung, die Funk
tion der Grundrechte im innerstaatlichen Bereich habe sich in der
Neuzeit wesentlich gewandelt. Sie seien von punktuellen Gewähr
leistungen besonders verfahrensrechtlicher Art zu umfassenden Ziel
setzungen für die Gestaltung eines offenen pluralistischen demokra
tischen Gemeinwesens geworden. Stellt man diese Reichweite des
Grundrechtsschutzes den punktuellen Gewährleistungen der Konven
tion gegenüber, wird einsichtig, dass diese jenen nicht ersetzen kann.
Trotzdem sind die Konventionsgarantien nicht bedeutungslos. Dies
erhellt aus einem jüngsten Urteil des Staatsgerichtshofes.11 Darin wird
festgehalten, dass gemäss Artikel 1 der Konvention die Vertragspar
teien allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen, also Staats
bürgern und Ausländern, die in Abschnitt I der Konvention nieder
gelegten Rechte und Freiheiten zusicherten. Somit müssten die in den
Artikeln 6 Absatz 1 und Artikel 13 der Konvention niedergelegten
Rechte zur Einlegung einer wirksamen Beschwerde bei einer natio
nalen Instanz den Landesangehörigen wie den Ausländern zustehen.
Die vom Staatsgerichtshof begründete Rechtsprechung12 hat demge-
mäss eine einschneidende Änderung erfahren.
2.3. Völkerrechtlicher Vertrag
Bei der EMRK handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag.
Es erwachsen aus ihr deshalb an und für sich nur den Vertragsstaa
ten völkerrechtliche Verpflichtungen. Die EMRK soll jedoch im in
10 So Jörg Paul Müller, Die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskon
vention, in: Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Anwendung
in der Schweiz (abgekürzt: Anwendung), 373.
11 StGH 1982/118 (unveröffentlicht).
18 Urteil des StGH 1981/6 (unveröffentlicht).
233
ternationalen Bereich gewisse Rechte einer kollektiven Garantie un
terstellen. Zu diesem Zwecke sichern die Vertragsstaaten, gestützt
auf Artikel 1 der Konvention, «allen ihrer Jurisdiktion unterstehen
den Personen die in Abschnitt I dieser Konvention niedergelegten
Rechte und Freiheiten zu». Die Absicht, nicht nur Verpflichtungen
für die Vertragsstaaten zu schaffen, sondern vielmehr Rechte zu be
gründen, auf die sich die ihrer Rechtshoheit unterstehenden Einzel
personen unmittelbar berufen können, geht auch aus der Formulie
rung verschiedener weiterer Artikel, vor allem des Artikels 13, her
vor.13 Die EMRK zielt aber nicht nur darauf ab, die in den Einzel
staaten getroffenen Regelungen auf dem Gebiete der Menschenrechte
zu ersetzen. Es handelt sich bei ihr um ein zwischenstaatliches Ab
kommen, das gewissermassen einen «Minimalstandard» aufstellt, der
von den beteiligten Staaten nicht mehr unterschritten werden darf.
Während Charakter und Umfang dieser Verpflichtungen vom Völ
kerrecht umschrieben werden, ist es eine Frage des jeweiligen Ver
fassungsrechts, inwieweit die einzelnen Vertragsstaaten im Rahmen
ihrer internen Rechtsordnung den eingegangenen Verpflichtungen
nachkommen. Die EMRK ist in das liechtensteinische Landesrecht
so inkorporiert, dass ihre direkte Anwendbarkeit vor Gerichten und
Verwaltungsbehörden zur vollen Entfaltung kommt. Eine Verletzung
der Garantien der EMRK kann mit Beschwerde beim Staatsgerichts
hof geltend gemacht werden. Damit ist der Direktbezug der EMRK
zu den Bewohnern des Landes in gleicher Weise gegeben wie durch
die Verfassung.
3. Bedenken gegen eine Ratifikation der EMRK
Man könnte der Meinung sein, dass die Anerkennung der Individual
beschwerde durch Liechtenstein wie auch der obligatorischen Ge
richtsbarkeit des Gerichtshofes14 zu übermässigen Souveränitätsein
bussen führten. Diese Befürchtung scheint jedoch angesichts der
Rechtsprechung der Konventionsorgane kaum berechtigt zu sein.
Das Recht des einzelnen, sich gegen liechtensteinische Entscheidungen'
bei einer internationalen Instanz zu beschweren, stellt zugegebener-
massen eine «Einschränkung» der staatlichen Rechtsordnung dar.
Doch darf deren Tragweite nicht überschätzt werden. Die Bedeutung
15 So Bericht des Bundesrates, in: BB1. 1968 II 1067; vgl. auch die vorhin zitierten
StGH-Entscheidungen.
14 Bericht der Regierung, 22f.
234
der EMRK dürfte für Liechtenstein in viel stärkerem Masse in der
innerstaatlichen Anwendung als in jener durch die Strassburger Or
gane liegen,15 wie dies die bisherigen Erfahrungen bereits bestätigen.
Die Rechtsprechung der Konventionsorgane war Anlass, die Auswir
kungen der EMRK auf das Landesrecht sorgfältig zu überprüfen,
denn diese Rechtsprechung hat aufgezeigt, dass die Konventions
garantien tiefer greifen können, als auf den ersten Anschein angenom
men werden kann. Es wurden denn auch Stimmen laut, die liech
tensteinische Rechtsordnung könnte unter Umständen durch die in
ternationale Rechtsentwicklung, die durch die EMRK herbeigeführt
werde, wenn nicht eingeebnet, so doch beeinträchtigt werden. Diesem
Anliegen kommen die angebrachten Vorbehalte entgegen.151 Es versteht
sich, dass ein Staat, der gehalten ist, vor einem internationalen Organ
Rechenschaft abzulegen, bemüht ist, den Umfang seiner Verpflich
tung so weit wie möglich darzustellen. Pierre Henri Imbert meint
denn auch, die Staaten, die Vertragsparteien werden, seien daher ver
sucht, sich durch Vorbehalte16 vor einer noch nicht feststehenden,
jedoch vorhersehbaren Auslegung zu schützen oder ganz einfach eine
Auslegung beiseite zu schieben, die gerade erst bestätigt wurde.17 Die
Vorbehalte erscheinen daher als eine Art Garantie, die Interessen des
Staates unter allen Umständen zu wahren.18 Die Prüfung der Kon-
ventionsmässigkeit der Rechtsordnung durch die inländischen rechts
anwendenden Behörden, aber auch durch die Konventionsorgane in
Strassburg, bleibt abzuwarten.
Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, dass bei der
Ratifikation der EMRK nicht sämtliche zukünftige Konfliktspunkte
erfasst werden konnten. Dies liegt im System des Durchsetzungs
mechanismus der EMRK. Es gibt bei jedem Grundrechtskatalog Kon
15 Dies beweist die jüngste Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes; vgl. StGH
1981/18, in: LES 1983, 39; StGH 1982/31, in: LES 1983, 105; StGH 1982/6,
in: LES 1983, 107; StGH 1982/31/V, in: LES 1983, 118.
15a Zu den liechtensteinischen Vorbehalten vgl. Claudia Westerdiek, Die Vorbe
halte Liechtensteins zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: EuGRZ
1983, 549ff.
16 Vgl. dazu den Katalog von Vorbehalten im Anhang I des Berichts der Regie
rung.
17 So Pierre Henri Imbert, Die Frage der Vorbehalte und die Menschenrechtskon
vention, in: Europäischer Menschenrechtsschutz, Schranken und Wirkungen,
herausgegeben von Irene Meier, Heidelberg 1982 (abgekürzt: Vorbehalte), 99.
18 So Pierre Henri Imbert, Vorbehalte, 99.
235
fliktspunkte, die erst in einem konkreten Anwendungsfall zum Vor
schein kommen. Es ist bekannt, dass auch bei gewissenhafter Vorab
klärung, wie dies bei der EMRK durch die Regierung der Fall war,
das praktische Leben doch wieder aussagedichter als der theoretisch
vorgedachte Fall ist, auch wenn zum Zeitpunkt der Ratifikation
durch Liechtenstein schon eine reichhaltige Rechtsliteratur und
Rechtsprechung zu den von der EMRK verbürgten Menschenrechten
und Grundfreiheiten vorlag. Zudem entwickelt die Rechtsprechung
der Europäischen Menschenrechtskommission und des Europäischen
Gerichtshofes eine gewisse Eigendynamik. Unter diesen Gesichts
punkten sind nicht voraussehbare Entwicklungen möglich. Es ist .aber
aus der Rechtsprechung der Strassburger Organe auch herauszuspü
ren, dass in erster Linie die nationalen Organe bestimmen, was der
nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der Moral ent
spricht. Gerichtshof und Kommission haben zutreffend anerkannt,
dass Unterschiede zwischen den Staaten bestehen können. In einem
Fall, der die Einziehung pornographischer Literatur in Grossbritan
nien betraf, hat der Gerichtshof deutlich gemacht, dass das Ein
schränkungsziel «Moral» nicht notwendig in allen Staaten gleich
ausgelegt werden müsse. Während das für die Moral einsichtlich er
scheint, ist im übrigen zweifelhaft, wie weit dieser Beurteilungsspiel
raum der Staaten wirklich geht. Sicher ist, dass sich Gerichtshof und
Kommission Zurückhaltung auferlegen.19 Sir Humphrey Waldock
führt aus20, der Gerichtshof lehne es ab, «sich an die Stelle der zu
ständigen innerstaatlichen Behörden zu setzen». Der Gerichtshöf
habe seine Auffassung über das Verhältnis zu den innerstaatlichen
Behörden nach der Konvention am ausführlichsten im Zusammen
hang mit der Doktrin vom «Beurteilungsspielraum» des Mitglied
staates entwickelt. Artikel 10 Absatz 2 EMRK überlasse den Ver
tragsparteien einen Beurteilungsspielraum, und dieser werde «sowohl
der staatlichen Gesetzgebung wie denjenigen Organen, darunter auch
den Organen der Rechtsprechung, die zur Interpretation und An
wendung der Gesetze angerufen seien, überlassen». Diese Doktrin
vom Beurteilungsspielraum sei eine der wichtigeren Schranken, die
die Kommission und der Gerichtshof entwickelt hätten, um die Effek-
10 In diesem Sinne Jochen Abr. Frowein, Die Europäische Menschenrechtskonven
tion in der neueren Praxis der Europäischen Kommission und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte, in: EuGRZ 1980, 237.
20 Die Wirksamkeit des Systems der Europäischen Menschenrechtskonvention, in:
EuGRZ 1979, 600.
236
tivität der Konvention mit den souveränen Rechten und Pflichten
der Regierungen in einer Demokratie in Einklang zu bringen.21
4. Befürwortung einer Ratifikation der EMRK
4.1. Nach innen
Es ist ein Grundzug liechtensteinischer Rechtspolitik, dem Recht
zum Durchbruch zu verhelfen. Dem Zugang zum Recht hat vor
allem die Verfassung von 1921 das Wort geredet. Rechtsstaat zu
sein, steht einem Kleinstaat wie Liechtenstein gut an. Die EMRK
wird positive Auswirkungen auf die Erhaltung und Entwicklung der
rechtsstaatlichen Institutionen haben. Sie trägt zur Verstärkung der
individuellen Freiheiten und ihrer rechtlichen Garantien bei. Die
ersten Anzeichen werden in der Rechtsprechung des Staatsgerichts
hofes sichtbar. Die EMRK gibt einen neuen Massstab bei der Suche
ab, der dem Ausgleich zwischen individueller Freiheit und Gemein
wohl gilt.22 Das kommt dem Einzelnen zugute, bringt die EMRK
doch eine Erweiterung der Rechtsmöglichkeiten. Die Änderung des
Gesetzes vom 5. November 1925 über den Staatsgerichtshof23 schafft
die Voraussetzungen, dass gegen eine Entscheidung oder Verfügung
des Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde beim Staatsgerichtshof
nach Erschöpfung des Instanzenzuges wegen Verletzung der Rechte
der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreihei
ten Beschwerde erhoben werden kann.
4.2. Nach aussen
Der Europarat hat eine europäische Entwicklung in Gang gesetzt, an
der Liechtenstein teilnehmen muss, will es sich als Staat ernstnehmen.
Die Ratifikation der EMRK ist die Konsequenz des Beitritts Liech
tensteins zum Europarat. Zur Absicherung der innerstaatlichen
Rechtsordnung sind Vorbehalte angebracht worden. Damit konnten
zum grössten Teil die Einwände gegen die EMRK aufgefangen wer
den. Angesichts der Bedeutung der EMRK auf die Mitgliedschaft
beim Europarat wäre ein zu langes Beiseitestehen von den andern
21 So Waldock, 602.
22 Urteil des StGH 1982/118 (unveröffentlicht).
23 Siehe Bericht der Regierung, 26.
237
Mitgliedsstaaten nicht verstanden worden. Zudem ist zu bedenken,
dass für einen Kleinstaat wie Liechtenstein es staatsnotwendig ist,
seine Stimme innerhalb des Europarates, d. h. einer Vielzahl von
europäischen Staaten, zur Geltung bringen zu können. Wie aus dem
Bericht der Regierung an den Hohen Landtag vom 14. November
1978 hervorgeht, wollte Liechtenstein mit dem Beitritt zum Europa
rat seine Verbundenheit mit bestimmten geistigen und moralischen
Werten, die das gemeinsame Erbe der Völker Westeuropas sind, be
kunden.24 Mit der Ratifikation der EMRK bezeugt Liechtenstein
sein Bekenntnis zu Europa, zu den Gründsätzen der individuellen
Freiheit, der politischen Freiheit und des Vorranges des Rechts, auf
die sich jeder echte demokratische Staat stützt. Die Ausstrahlungs
kraft der EMRK ist umso grösser, je mehr Staaten hinter ihr stehen.
Dies galt es aus liechtensteinischer Sicht in Rücksicht zu stellen. Dass
heute alle Mitgliedstaaten des Europarates ihr angehören, gibt der
EMRK ein besonderes Gewicht, das nicht ohne Nachhall bei aussen-
stehenden Staaten und anderen Kontinenten bleibt. Dies beweist,
dass verschiedene Staaten die in der EMRK gewährleisteten Rechte
in ihre Verfassung übernommen haben.
Die EMRK ist ein wichtiges Element gemeinsamer Rechtsentwick
lung der europäischen Staaten. Ihre gemeinsame Anwendung in den
Mitgliedsstaaten sowie durch die Konventionsorgane trägt zum Ver
ständnis der Probleme der andern Staaten und zur gegenseitigen Be
fruchtung und Entwicklung der Rechtsprechung über die Grund
rechte bei.24a Für Liechtenstein bedeutet denn die EMRK die Fort
setzung einer Verfassungstradition, die im 19. Jahrhundert ausge
prägte Formen angenommen hat. Zu erinnern ist an die oktroyierte
Verfassung von 1818, die in allen Staaten des Deutschen Bundes
stattzufinden hatte. Liechtenstein nahm an den Verfassungsbestre
bungen der Pauls-Kirche 1848 teil. Das Ergebnis der Pauls-Kirche
fand z. T. seinen Niederschlag in den Verfassungsentwürfen von
1848/49 und in der Verfassung von 1862, von der wiederum die heute
geltende Verfassung von 1921 ausgeht. Hat man diese Verfassungs
entwicklung vor Augen, so ist der Brückenschlag zur EMRK gege
ben. Liechtenstein steht in der europäischen Rechtsentwicklung.
84 Bericht der Regierung, 19.
24a So Dietrich Schindler, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskon
vention für die Schweiz, in: Die Europäische Menschenrechtskonvention und
ihre Anwendung in der Schweiz, Basel, 365.
238
II. Aspekte des Vertragswerkes der EMRK
1. Eigenart und Bedeutung
Die EMRK ist das wichtigste der im Rahmen des Europarates abge
schlossenen Ubereinkommen. Sie regelt die grundlegenden ideellen
und politischen Freiheitsrechte völkerrechtlich.25 Die Konventions
garantien haben Auswahlcharakter und sollen nicht alle denkbaren
ideellen, prozeduralen oder anderen Grundrechte erschöpfend ge
währleisten. Es sind bloss die in der Konvention enumerierten oder
die ihr durch eine ausgewogene Auslegung abzugewinnenden Rechte
und Freiheiten garantiert.26 Zu den in der Konvention geregelten
Rechten gehören die klassischen Menschenrechte (z. B. persönliche
Freiheit, Gewissens-, Religions-, Meinungsäusserungs- und Versamm
lungsfreiheit), ein Diskriminationsverbot sowie grundlegende Ver
fahrensrechte (z. B. Anspruch auf Garantien beim Freiheitsentzug,
auf rechtliches Gehör, auf ein gerechtes Gerichtsverfahren).
Was ist nun wesentlich und neu an der EMRK? Sechs Punkte seien
kurz hervorgehoben:27
1.Die Konvention begründet nicht nur Verpflichtungen für die be
teiligten Staaten, sondern darüber hinaus, mit unmittelbarer Wir
kung, Individualrechte.
2. Die Vertragsstaaten gewährleisten diese Individualrechte «allen
ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen». Das Völkerrecht hat
bisher den diplomatischen Schutz nur zugunsten eigener Staatsange
höriger zugelassen.28 Die EMRK gestattet nun jedem Vertragsstaat,
die Konventionsorgane auch zugunsten fremder Staatsangehöriger
anzurufen.29
25 Luzius Wildhaber, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonven
tion in der Schweiz? (abgekürzt: Verfassungsrang), in: Zeitschrift des Berni
schen Juristenvereins (ZBJV) 105 (1969), 250.
26 Luzius Wildhaber, Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonven
tion (abgekürzt: Erfahrungen), in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR)
98 (1979 II), 285.
27 Wildhaber, Verfassungsrang, 251 f.
28 Wildhaber, Verfassungsrang, 251.
29 Wildhaber, Verfassungsrang, 251.
239
3. Sie bezweckt nicht die Verdrängung, Ersetzung nationaler Grund
rechtsgewährleistungen, sondern die Errichtung und Sicherung eines
europäischen Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes.30 Unter
diesen Standard darf kein Staat fallen.31 Das dem Individuum gün
stigere Vertrags-, Verfassungs- oder Gesetzesrecht soll weiterhin
Vorrang gemessen.32
4. Anerkennt ein Vertragsstaat die Zuständigkeit der Menschenrechts
kommission zur Entgegennahme von Individualbeschwerden, so kann
sich eine Person gegen den eigenen Staat vor einer internationalen
Instanz beschweren.33
5. Die Konvention schafft durch die Festlegung des vorerwähnten
Mindeststandards den Kern einer europäischen Rechtsordnung34,
eines «ordre communautaire des libres democraties d'Europe».35 Der
EMRK kommt daher eine «Rechtsintegrationsfunktion»36 zu.
6. Die Konvention sieht einen originellen Mechanismus einer kollek
tiven Garantie durch eigens dafür errichtete Organe vor.37
Die EMRK stellt somit ein bedeutsames internationales Übereinkom
men dar. Sie ergänzt, verstärkt und untermauert auf völkerrecht
licher Ebene die nationalen Grundrechtskataloge. In Anlage und
Zielsetzung hat die Konvention einen objektiven, gewissermassen
50 Wildhaber, Verfassungsrang, 251.
31 Wildhaber, Verfassungsrang, 251.
32 Wildhaber, Verfassungsrang, 251; vgl. dazu auch Jörg Paul Müller, Anwendung,
in: ZSR 94 (1975 I), 373—405.
33 Liechtenstein hat die entsprechende Erklärung abgegeben und anerkennt vor
erst für die Dauer von drei Jahren die Zuständigkeit der Europäischen Kom
mission für Menschenrechte. Die gleiche Erklärung hat Liechtenstein auch hin
sichtlich der Zuständigkeit des Gerichtshofes abgegeben, vgl. dazu Bericht der
Regierung, 21—23.
34 Wildhaber, Verfassungsrang, 251; J. P. Müller, Anwendung, 373—405.
35 Wildhaber, Verfassungsrang, 251, und dort zitierte Literatur und Rechtspre
chung; derselbe, Erfahrungen, 292—295.
38 Wildhaber, Erfahrungen, 295, wo er neben der Rechtsintegrationsfunktion auch
noch auf die Präventiv-, Erziehungs-, Rechtsharmonisierungs- und Breitenwir
kungsfunktion der EMRK hinweist; derselbe, Verfassungsrang, 251.
37 Vgl. dazu J. P. Müller, Anwendung, 373—405; Wildhaber, Erfahrungen, 307—
317; derselbe, Verfassungsrang, 251.
240
«überzeitlichen und überstaatlichen Charakter».38 Im Vordergrund
steht weiterhin der innerstaatliche Grundrechtsschutz.
2. Der Kontrollmechanismus39
Mit der Kontrolle der EMRK sind drei europäische Organe (Kom
mission, Ministerkomitee und Gerichtshof) betraut. Sie wickelt sich
in sieben Stufen ab.40 Zunächst bedarf es der Erschöpfung des inner
staatlichen Rechtsweges (Art. 26 EMRK). Die Erschöpfungsregel
des Art. 26 EMRK verlangt nur die Ergreifung solcher Rechtsmittel,
die den Betroffenen offenstehen und angemessen, d. h. geeignet sind,
ihrer Beschwerde abzuhelfen.41
Liechtenstein hat zum Schutze der verfassungsmässig gewährleisteten
Rechte einen Staatsgerichtshof als Verfassungsgerichtshof errichtet.42
Art. 23 des Staatsgerichtshofgesetzes43 ist im Zuge der Ratifikation
der EMRK dahingehend abgeändert worden, dass die Verletzung der
Rechte und Garantien der EMRK ausdrücklich als Beschwerdegrund
zur Anrufung des Staatsgerichtshofes festgelegt worden ist.44 Gegen
eine Entscheidung oder Verfügung eines Gerichtes oder einer Ver
waltungsbehörde kann also beim Staatsgerichtshof nach Erschöpfung
des Instanzenzuges innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung der Ent
scheidung oder Verfügung nicht nur Beschwerde wegen Verletzung
verfassungsmässig garantierter Rechte, sondern auch wegen der Ver
letzung der Rechte der EMRK erhoben werden. Gegen Entscheidun
38 Wildhaber, Erfahrungen, 287; Marzell Beck/Thomas Hunziker, Erfahrungen mit
der Europäischen Menschenrechtskonvention — Zum Schweizerischen Juristen
tag 1979, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 200. Jg., 1979, Nr. 214, 37.
" Vgl. dazu insbesondere Wildhaber, Erfahrungen, 307—326, und dort zitierte
Literatur und Rechtsprechung; Stefan Trechsel, Das Verfahren vor der Euro
päischen Menschenrechtskommission, in: ZSR 94 (1975 I), 407—429; hier soll
lediglich ein kurzer Überblick gegeben werden.
40 Wildhaber, Erfahrungen, 308.
41 Vgl. Jean Raymond, La Suisse devant les organes de la Convention europ£enne
des Droits de l'Homme — Quatre ann£es d'exp^rience, in: ZSR (1979 II), 25—32,
und dort zitierte Literatur und Rechtsprechung der Strassburger Organe.
42 Vgl. dazu insbesondere Gregor Steger, Die Verwaltungs- und Verfassungsge
richtsbarkeit als Garantie des Rechtsstaates in Liechtenstein, in: Schweiz. Zen
tralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung (ZBl.) 63 (1962), 520—529
(zitiert: Steger).
49 LGB1. 1925/8; Bericht der Regierung, 26.
44 LGB1. 1982/57; Bericht der Regierung, 26.
241
gen und Verfügungen des Staatsgerichtshofes als erste und einzige
Instanz kann schliesslich binnen 14 Tagen ab Zustellung die Vor
stellung gemäss den Vorschriften über das einfache Verwaltungsver
fahren erhoben werden.45 Die Vorstellung ist ein Rechtsmittel46 und
kein Rechtsbehelf. Der Staatsgerichtshof prüft erneut, ob der ergan
genen Entscheidung oder Verfügung eine Verfassungs- oder Konven
tionswidrigkeit angelastet werden kann.47 Die vom Staatsgerichtshof
aufgrund einer Vorstellung getroffene Entscheidung oder Verfügung
ist endgültig. Erst dann kann ein liechtensteinischer Beschwerdefüh
rer die Kommission in Strassburg innerhalb einer Frist von sechs
Monaten nach dem Ergehen der Entscheidung oder Verfügung be
fassen.
Das eigentliche Strassburger Verfahren beginnt mit der Prüfung der
Zulässigkeit einer Individual- und Staatenbeschwerde durch die
Europäische Kommission für Menschenrechte. Im Gegensatz zur
Staatenbeschwerde ist die Annahme der Individualbeschwerde fakul
tativ und erfordert die Abgabe einer Erklärung nach Art. 25 EMRK.
Liechtenstein hat diese Erklärung abgegeben.48
Die Zulässigkeitsprüfung umfasst die Untersuchung, ob der Geltungs
bereich der Konvention eingehalten und die Zuständigkeit der Kom
mission gegeben ist (Art. 26 und 27 EMRK). In diesem Stadium übt
die Kommission gerichtliche Funktionen aus. Gegen ihre Entschei
dungen, eine Beschwerde zurückzuweisen, die sie als unzulässig an
sieht, gibt es kein Rechtsmittel, wie im übrigen auch die Entschei
dungen, mit denen sie eine Beschwerde annimmt, nicht angefochten
werden können; sie werden in völliger Unabhängigkeit gefällt. Nach
der Zulässigkeitsprüfung hat sie die Tatsachen durch kontradikto
rische Prüfungen und erforderlichenfalls eine Untersuchung festzu
stellen (Art. 28 lit. a EMRK). Sie Hält sich zur Verfügung der Par
teien, um «eine gütliche Regelung der Angelegenheit auf der Grund
lage der Achtung der Menschenrechte» zu erwirken (Art. 28 lit. b
EMRK). Damit nimmt die Kommission die Funktion einer Unter-
suchungs- und Schlichtungskommission wahr.49
45 LGB1. 1925/8, i. d. F. LGB1. 1979/34; vgl. dazu auch Landtagsprotokolle 1979,
Bd. I, 45—54 und 127—132.
48 Steger, Anm. 42, 525.
47 Steger, Anm. 42, 525.
48 Siehe LGB1; 1982/60; Bericht der Regierung.
49 Stefan Trechsel, Verfahren, 423f; Wildhaber, Erfahrungen, 310.
242
Kommt keine gütliche Regelung zustande, so arbeitet sie einen Bericht
aus, legt darin den Sachverhalt dar und nimmt zur Frage einer Kon
ventionsverletzung Stellung (Art. 31 Ziff. 1 EMRK). Der Bericht
der Kommission hat nicht den Stellenwert eines Entscheides, sondern
denjenigen eines Entscheidantrages. Er ist dem Ministerkomitee vor
zulegen und kann innert dreier Monate durch die Kommission oder
die betroffenen Vertragsstaaten (aber nicht durch private Beschwer
deführer) vor den Gerichtshof getragen werden (Art. 31 Ziff. 2;
Art. 32 Ziff. 1 und Art. 48 EMRK). Die Unterstellung unter die
Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes für Menschenrechte bedarf einer
Erklärung nach Art. 46 EMRK. Liechtenstein hat diese Erklärung
ebenfalls abgegeben.50
3. Wirkungen der Entscheidungen des Ministerkomitees
und des Gerichtshofes
Die Entscheidungen des Ministerkomitees und des Gerichtshofes sind
zwar endgültig und für den beklagten Staat völkerrechtlich verbind
lich. Sie entfalten aber weder kassatorische Wirkung, noch sind sie
auf dem Gebiete der Vertragsstaaten unmittelbar durchsetzbar. Die
europäischen Organe sind nicht befugt, konventionswidrige inner
staatliche Rechtsakte als nichtig zu erklären. Sie erklären weder
Rechtssätze noch Verfügungen oder Gerichtsurteile wegen Konven
tionswidrigkeit für nichtig.51 Ebensowenig können sie die Durchfüh
rung straf- oder disziplinarrechtlicher Massnahmen anordnen.52
Liechtenstein ist aber völkerrechtlich verpflichtet, die Entscheidung
der Konventionsorgane zu befolgen, also die Rechtsstellung des Be
schwerdeführers mit allen möglichen Mitteln so zu gestalten, dass sie
der Konvention entspricht. Dietrich Schindler hat eine Fülle hier
auftauchender Probleme in einer Studie analysiert.53 Er schlug u. a.
eine Verfassungs- bzw. Gesetzesänderung dahingehend vor, dass im
Falle eines Konflikts zwischen einem «Schweizer Urteil» und einer
konträren Entscheidung der Menschenrechtsorgane die Wiederauf
50 Siehe LGBl. 1982/60; Bericht der Regierung.
61 Wildhaber, Erfahrungen, 313f; J. P. Müller, Anwendung, 403ff.
52 Wildhaber, Erfahrungen, 314.
55 Dietrich Schindler, Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheide der Euro
päischen Menschenrechtskommission, in: Festschrift für Max Guldener, Zürich
1973, 273—290.
243
nähme des Verfahrens ermöglicht und der entstandene Rechtskon
flikt dadurch beseitigt werden soll.54 Jörg Paul Müller hält die Not
wendigkeit einer solchen Verfassungs- bzw. Gesetzesänderung für
nicht geboten, da sich bis anhin nur sehr wenige Konflikte dieser
Art zwischen Strassburg und Vertragsstaaten gezeigt haben.55 Kein
Land hat bisher eine Gesetzesäriderung im Sinne Schindlers vorge
nommen.56 Nach J. P. Müller ist in Österreich bereits die Zulässig
erklärung einer Beschwerde durch die Kommission als Grund für die
Wiederaufnahme eines Strafverfahrens anerkannt.57
Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, sich nach den Entscheidungen
des Gerichtshofes und des Ministerkomitees zu richten (Art. 53 und
32 EMRK). Als politisch zusammengesetztes Organ ist jedoch das
Ministerkomitee kaum je imstande, mit Zweidrittelsmehrheit einen
Vertragspartner «schuldig zu sprechen».58 In der Praxis neigt die
Kommission dazu, vor allem Fälle, in denen eine grundsätzliche
Meinungsverschiedenheit über die Tragweite der Konvention zur
Diskussion steht, dem Gerichtshof zu unterbreiten.
Der Gerichtshof kann, wenn die nationale Gesetzgebung nur eine
unvollkommene Wiedergutmachung gestattet, «eine gerechte Ent
schädigung» zusprechen (Art. 50 EMRK). Bisher hat er sich dabei
jedoch äusserst zurückhaltend gezeigt und sich nach der klassischen,
zwischenstaatlichen Praxis orientiert, d'ass bereits die gerichtliche
Feststellung einer Konventionswidrigkeit eine ausreichende Genug
tuung darstellen könne.59 Das Miniisterkomitee überwacht den Voll
zug der Urteile des Gerichtshofes (Art. 54 EMRK). Liechtenstein
wird also gegebenenfalls unter dem politischen Druck des Minister
komitees die entsprechenden Massnahmen zur Beseitigung einer allen
falls festgestellten Konventionswidrigkeit ergreifen müssen.
54 D. Schindler (Anm. 53), 287.
65 J. P. Müller, Anwendung, 404.
56 J. P. Müller (Anwendung, 404) vertritt die Auffassung, dass Österreich eine ent
sprechende Gesetzesänderung vorgenommen habe. Ich habe dies nachgeprüft und
festgestellt, dass Osterreich im Bereiche des Strafprozessrechtes keine entspre
chende Gesetzesänderung vorgenommen hat.
57 J. P. Müller, Anwendung 404; auch hinsichtlich dieser Ansicht habe ich in der
österreichischen Literatur keinen Beleg gefunden. . .
88 Wildhaber, Erfahrungen, 314.
89 Wildhaber, Erfahrungen, 314.
244
4. Die Auslegung der Konvention
Die EMRK ist ein multilaterales völkerrechtliches Ubereinkommen.
Der Unterschied zum Landesrecht zeigt sich schon in der Bestim
mung des massgeblichen Textes. Bei einem Erlass eines Gesetzes in
Liechtenstein ist der im Landesgesetzblatt kundgemachte Text mass
gebend. Anderes gilt für die Konvention. In ihrer Schlussformel er
klärt sie selbst den französischen und englischen Text der Konven
tion als massgebend. Die im liechtensteinischen Landesgesetzblatt
wiedergegebene deutsche Übersetzung hat somit keinen authentischen
Charakter. Auch für die liechtensteinischen Gerichte und Verwal
tungsbehörden sind die von der Konvention bezeichneten Texte und
Sprachen massgebend.
Die Auslegung völkerrechtlicher Texte und Verträge weist einige Be
sonderheiten gegenüber der Auslegung von innerstaatlichem Gesetzes
recht auf.60 Den präzisesten Ausdruck haben die in Lehre und Praxis
bis heute entwickelten Interpretationsgrundsätze des Völkerrechts in
Art. 31—33 der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969
gefunden.61 Danach ist ein Vertrag nach Treu und Glauben, in Uber
einstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem
Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines
Zweckes und Zieles auszulegen.62 Daneben ist die nachfolgende Pra
xis der Vertragsstaaten in der Anwendung des Vertrages zu berück
sichtigen.63 Erst in zweiter Linie werden die Materialien des Vertrags
entwurfes erwähnt.64Sie gelten als bloss sekundäre Auslegungsmittel.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Art. 31—33
der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 angerufen und aus
geführt, seine Rechtsprechung könne sich von den dort niedergeleg
ten, als Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht anzusehenden Grund
sätzen der Vertragsauslegung inspirieren lassen.65 Nach Wildhaber66
kann man die heutige Praxis der Konventionsorgane und namentlich
60 J. P. Müller, Anwendung, 401; Wildhaber, Erfahrungen, 301—307.
61 J. P. Müller, Anwendung, 401; Wildhaber, Erfahrungen, 303.
82 Siehe J. P. Müller/Luzius Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 2. Aufl., Bern
1982, 589f.
83 J. P. Müller, Anwendung, 401.
M Siehe Anm. 62.
88 Wildhaber, Erfahrungen, 303f. und die dort zitierte Rechtsprechung und Lite
ratur, insbes. Anm. 75.
88 Wildhaber, Erfahrungen, 303f.
245
des Gerichtshofes dahingehend umschreiben, dass bei der Auslegung,
der Konvention von den allgemeinen, gewohnheitsrechtlichen Aus
legungsregeln des Völkerrechts auszugehen ist.67 Es ist dabei aller
dings «den Besonderheiten der Konvention, ihrem objektiven Ver
pflichtungscharakter und ihren normativen, verfassungsrechtlichen
Gehalten und ihren flexibel und offen gefassten, ambitionös-program-
matischen Formulierungen angemessen Rechnung zu tragen».68 Anzu
streben ist eine teleologische Auslegung, die der Verwirklichung der
Vertragsziele und -zwecke am nächsten kommt, nicht eine restrik
tive, welche die Verpflichtungen der Parteien möglichst eng be
grenzt.69 Da besondere Organe zur Überwachung der Konventions
durchsetzung eingesetzt sind, wird man die massgebliche Praxis vor
allem in der Rechtsprechung dieser Organe suchen müssen.7® Die
richterliche bzw. quasirichterliche Rechtsfortbildung hat im Bereich
der EMRK eine besondere Bedeutung, da die darin verbrieften
Grundrechte desgleichen wie im Landesrecht der Konkretisierung be
sonders bedürftig sind.71
5. Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechts
konvention in Liechtenstein?
Die landesrechtliche Regelung der Zuständigkeit zum Abschluss völ
kerrechtlicher Verträge findet sich in Art. 8 der Verfassung. Der
Landesfürst vertritt den Staat in allen seinen Verhältnissen gegen
über dem Ausland. Vorbehalten bleibt die erforderliche Mitwirkung
der verantwortlichen Regierung. Wichtige Verträge (vgl. Art. 8 Abs.
2 Verf.) muss der Landtag genehmigen.72 Seine Zustimmung kann
er bloss en bloc erteilen und nicht einzelne Verträgsbestimmungen
67 Wildhaber, Erfahrungen, 303.
68 Wildhaber, Erfahrungen, 305.
89 Wildhaber, Erfahrungen, 305.
70 J. P. Müller, Anwendung, 401.
71 J. P. Müller, Anwendung, 401.
72 Bericht der Fürstlichen Regierung an den Hohen Landtag zum Postulat betref
fend die Überprüfung der Anwendbarkeit des -Völkerrechts im Fürstentum
Liechtenstein vom 17. November 1982 (abgekürzt: Bericht Anwendbarkeit des
Völkerrechts), 7, wonach die .Genehmigung durch den Landtag keine Ratifika
tion bedeutet. Sie stellt eine Ermächtigung'an-Regierung und Landesfürst dar,
einen bestimmten Vertrag zu ratifizieren.'Noch nach der Genehmigung können
Regierung oder Landesfürst die Ratifikation zurückhalten.
246
abändern.73 Das innerstaatliche Vertragsschliessungsverfahren wird
durch die Ratifikation des Landesfürsten abgeschlossen.
Die Verfassung selbst lässt also keinen Rückschluss zu, ob ein Staats
vertrag zugleich mit seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit ipso
iure auch innerstaatliche Geltung erlangt oder ob er erst durch einen
zusätzlichen Transformationsakt landesrechtlich verbindliche Kraft
erhält.74 Die Zustimmung des Landtages erfolgt in der Regel nicht
in Gesetzesform.75 Die Praxis des Staatsgerichtshofes geht davon aus,
dass ein formrichtig vom Landtag genehmigter und im Namen des
Landesfürsten ratifizierter internationaler Vertrag automatisch und
ipso iure zusammen mit der völkerrechtlichen auch landesrechtliche
Wirkung erlangt.76
Verfassung und Gesetz regeln die Rechtsquellenebene, auf der Völ
kerrecht steht, nicht.77 Die Spruchpraxis des Staatsgerichtshofes hat
eine Klärung insofern herbeigeführt als Völkervertragsrecht, das vom
Landtag genehmigt und im Landesgesetzblatt veröffentlicht worden
ist, mindestens auf Gesetzesstufe steht.78
Da ein völkerrechtlicher Vertrag in Liechtenstein nach der Ratifi
kation automatisch auch landesrechtliche Wirkung entfaltet, gilt die
EMRK seit dem 8. September 1982 auch als Landesrecht. Sie steht
mindestens auf Gesetzesstufe. Es wurde ausdrücklich darauf verzich
tet, ihr Verfassungsrang zuzubilligen.79 Sie geht somit immer frühe
ren Gesetzen und späteren und früheren Verordnungen vor. Auf
grund der Besonderheit und Eigenart der Konvention ist jedoch un
serer Ansicht nach der EMRK mit ihrem internationalen Rechts
79 Vgl. Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts (Anm. 72), 4.
74 Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts, 4.
75 Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts, 4.
76 Vgl. Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts, 5f., und die dort zitierten Staats-
gerichtshofentscheide StGH 1972/1 (veröffentlicht in: Entscheidungen der Liech
tensteinischen Gerichtshöfe von 1973—1978, 336—340), StGH 1975/3, StGH
1975/1 vom 29. April 1975 und vom 12. Januar 1975 (veröffentlicht in: Ent
scheidungen der Liechtensteinischen Gerichtshöfe von 1973—1978, 384—388
und 373—381), StGH 1977/4 (nicht veröffentlicht), StGH 1978/8 (veröffentlicht
in: LES 1981, 5—7); siehe auch Wildhaber, Erfahrungen, insbes. Anm. 15, 280.
77 Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts, 9—11; vgl. auch Wildhaber (Anm. 26),
280.
78 Bericht Anwendbarkeit des Völkerrechts, 9.
79 Bericht der Regierung, 26.
247
schutzmechanismus ein absoluter Vorrang vor entgegenstehendem
Landesrecht einzuräumen. Auch praktische Gründe sprechen hiefür.
Nehmen wir z. B. an, der Gesetzgeber würde heute eine Änderung
des Strafprozessrechtes verabschieden, die den Anspruch auf ein
faires Gerichtsverfahren nach Art. 6 der Konvention in offensicht
licher Weise verletzt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die
Konventionsorgane ein aufgrund der neuen Gesetzgebung ergangenes
konventionswidriges Urteil der liechtensteinischen Behörden als völ
kerrechtswidrig erklären und einen allfälligen Beschwerdeführer
schützen würden. Liechtenstein wäre also letztlich unter dem Druck
des Ministerkomitees80 gezwungen, sich dem Strassburger Entscheid
auf die eine oder die andere Weise zu fügen. Zweifellos könnte sich
Liechtenstein nicht auf den Vorrang des späteren innerstaatlichen
Gesetzes berufen. Die Grundrechtsgarantien der Verfassung und der
Konvention sind inhaltlich eng verwandt. Sie stehen in einer ver
schränkenden, befruchtenden Wechselwirkung und gegenseitigen Be
dingtheit.81 Für die Konkretisierung der verfassungsmässigen Indivi
dualrechte sind die Konventionsgarantien hinzuzuziehen, da sie ihrer
seits ihrer Natur nach einen verfassungswesentlichen Inhalt haben.
Ist der Gesetzgeber aber an die Verfassung gebunden, so ist er folge
richtig auch gehalten, sich den Gewährleistungen der Konvention
unterzuordnen. Unserer Ansicht nach nimmt daher die Konvention
— und hier folgen wir der ausländischen Literatur82 — Ubergesetzes
rang ein.
Zudem ist in Liechtenstein der F. L. Staatsgerichtshof82a als Verfas
sungsgerichtshof zur Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Gesetze
und der Gesetzmässigkeit der Verordnungen zuständig (Art. 11
StGHG). Völkervertragsrecht und somit die EMRK steht in Liech
tenstein mindestens auf Gesetzesstufe.83 Der Staatsgerichtshof kann
also eine spätere Verordnung von amteswegen oder auf Antrag einer
Partei, wenn er sie in einem bestimmten Falle unmittelbar oder bei
Vor- oder Zwischenfragen mittelbar anzuwenden hat, daraufhin
überprüfen, ob sie der EMRK widerspricht oder nicht. Auch bei spä
80 Das Ministerkomitee ist die zur Durchsetzung von Entscheidungen der Strass
burger Organe zuständige Instanz (Artikel 32 und 54 EMRK).
81 Wildhaber, Erfahrungen, 371.
82 Wildhaber, Erfahrungen, 279f. und die dort zitierte Literatur.
82a Siehe Anm. 7a.
83 Siehe Anm. 78.
248
teren Gesetzen stellt sich das Derogationsproblem (sprich: Konflikt
Völkerrecht — späteres Landesrecht) infolge der Funktion des Staats
gerichtshofes als Normenkontrollgerichtshof in abgeschwächterer Form
als in anderen Mitgliedsstaaten des Europarates. Der Staatsgerichts
hof kann jederzeit von amteswegen oder auf Antrag einer Partei im
Anlassfall über die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen erkennen
(vgl. Art. 24 StGHG). Bei der Auslegung der Bestimmungen der Ver
fassung wird er in Zukunft sicherlich die in der EMRK garantierten
Rechte und Freiheiten und die dazu ergangene Rechtsprechung der
Strassburger Organe berücksichtigen. Konventionsverletzungen kön
nen im gleichen Verfahren wie Verfassungsverstösse gerügt werden;
dies wird, zusammen mit dem Grundsatz der automatischen Über
nahme der EMRK und wegen des self-exekuting-Charakters der
meisten Konventionsrechte zu einer Verschmelzung von Konven
tions- und Verfassungsbeschwerde im Bereich der verfassungsmässig
gewährleisteten Rechte und somit der EMRK führen. Dies wird auch
dazu führen, dass spätere Gesetze konkret und abstrakt einerseits
direkt (so bei der konkreten Normenkontrolle) und andererseits indi
rekt (so bei der abstrakten Normenkontrolle) durch den Staatsge
richtshof auf ihre Konventionsmässigkeit bzw. -Widrigkeit überprüft
werden.
6. Die EMRK im Lichte der Rechtsprechung des
F. L. Staatsgerichtshofes
197784 nahm der Staatsgerichtshof in einer Entscheidung erstmals
auf die EMRK Bezug und hielt fest, dass dieselbe, obwohl das Für
stentum Liechtenstein sie noch nicht ratifiziert habe und somit durch
sie auch nicht gebunden sei, gewisse Ausstrahlungen zu entfalten ver
möge. Die Garantien der Menschenrechte und Grundfreiheiten könn
ten in Zweifelsfällen so gedeutet werden, dass ihr Gehalt dem durch
die EMRK geforderten Mindeststandard entspreche. Der Staatsge
richtshof billigte der EMRK also eine Art «indirekte Vorwirkung»
zu, indem er sich für verpflichtet hielt, in Zweifelsfällen liechten
steinisches Recht so auszulegen, dass es den Garantien der EMRK
entspreche.85 Verschiedentlich hat der Staatsgerichtshof in letzter
84 Dieser Entscheid ist nicht veröffentlicht.
85 Siehe Anm. 84.
249
Zeit die EMRK und die hiezu von den Strassburger Organen ent
wickelte Spruchpraxis zur Konkretisierung und Auslegung von liech
tensteinischen Rechtsvorschriften herangezogen.86 So hat er u.a. fest
gehalten, dass die Rückwirkung von strafrechtlichen Bestimmungen
jedenfalls den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, wie sie in Art. 7 Abs. 1
EMRK ihren Niederschlag gefunden haben, widerspreche.87 In einer
jüngeren Entscheidung schliesslich hat der Staatsgerichtshof festge
halten, dass sich aus den Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK ergebe, dass
«das verfassungsmässige Beschwerderecht nicht nur formeller Art
sein» dürfe, «sondern einen tatsächlichen; wirksamen Gehalt haben»
müsse, «so dass Entscheidungen innert angemessener Frist erfol
gen...»88 Erfreulich ist es schliesslich, vermerken zu dürfen, dass
der Staatsgerichtshof seine frühere Praxis, wonach das Recht zur
Beschwerdeführung (Art. 43 Verf.) nur den Landesangehörigen zu
stehe,89 änderte und festhielt, dass aufgrund von Art. 1 EMRK die
in den Artikeln 6 Abs. 1 und 13 EMRK niedergelegten Rechte zur
Einlegung einer wirksamen Beschwerde bei einer nationalen Instanz
den Landesangehörigen wie den Ausländern züstehen.90 Art. 31
(Gleichheitssatz) und Art. 43 Verf. seien inskünftig im Lichte der
EMRK auszulegen.
86 Vgl. dazu StGH 1981/14 vom 9. Dezember 1981, in: LES 1982, 169, wo der
StGH zur Frage, ob die Landesgrundverkehrskommission ein «Gericht» sei,
auch auf Artikel 6 EMRK Bezug nahm, die-Frage'dann schlussendlich jedoch,
da die Konvention damals'„'(9;12., 81) noch nicht ratifiziert .war,- a llein nach
den geltenden liechtensteinischen Bestimmungen entschied; vgl. des weiteren.das
Gutachten des Staatsgerichtshöfes vom' 30.-10. 1980, StGH 1980/9, wo er zur
Auslegung von Artikel .99 .< Absatz '2 , Verfassung die Spruchpraxis der: Euro
päischen Kommission für Menschenrechte und des Gerichtshofes heranzog (ver
öffentlicht in: LES 1982, 9).:
87 StGH 1981/18 (Beschlüss) vom 10. 2. 1981, in: LES 1983, 43; StGH 1982/36
vom 1. 12. 1982, in: LES 1983, 107ff.
88 StGH 1982/31/V vom lo! 2. 1983, in: LES 1983, 118f.
88 Siehe Anni. 9.
80 Siehe Anm. 11.
250
Über die Autoren
Marzell Beck, geboren 1952 in Triesenberg (Liechtenstein); Studium
der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg (Schweiz), lic.
iur. 1977, Freiburg; Assistent für öffentliches Recht und Völkerrecht
(Prof. Dr. L. Wildhaber) an der Universität Basel (1977—1979);
1980/81 Mitarbeit am Forschungsprojekt «Staatsrecht und internatio
nale Stellung des Fürstentums Liechtenstein» unter der Leitung von
Prof. Dr. Luzius Wildhaber, Basel; seit 1981 Praktikum bei Gericht
und Verwaltung und in Anwaltskanzlei.
Werner Kägi, geb. 1909; Studien der Rechte, der Philosophie, Ge
schichte und Theologie, 1936 Dr. iur.; Anwalts- und Gerichtspraxis;
1943 Habilitation für Staatsrecht; 1945 a. o. Professor, 1952 o. Pro
fessor mit Lehrauftrag für Staatsrecht, Verfassungsgeschichte, Kir
chenrecht und Völkerrecht; Hauptarbeitsgebiete — praktisch und
theoretisch —: Menschenrechte (insbes. Religionsfreiheit, Recht auf
Leben), Rechtsstaat, Föderalismus, Demokratie, Verfassungslehre,
Kirche und Staat, Minderheitenfrage usw.; wichtige Rechtsgutachten
z. H. des Bundesrates (Der Anspruch der Schweizerfrau auf Gleich
berechtigung, 1956, Der Jesuiten- und Klosterartikel der Bundesver
fassung, 1973); Dr. theol. h. c. der Universität Bern, Dr. iur. h. c.
der Hebräischen Universität Jerusalem; zahlreiche Veröffentlichun
gen und Vorträge (vgl. auch ausführliche Bibliographie in der Fest
gabe zum 70. Geburtstag, Zürich 1979, Anhang).
Mario Graf von Ledebur-Wicheln, geboren 1931; Studium der Sozio
logie, Nationalökonomie und politischer Philosophie an den Univer
sitäten Zürich, München und Standford, USA; Promotion Dr. phil.
1965, Universität Freiburg (Schweiz); Dissertation: «Die Begründung
des Staates und seiner gerechten Verfassung nach Aristoteles»; 1968
Eintritt als Botschaftssekretär bei der Botschaft des Fürstentums
Liechtenstein in Bern; vertrat seither Liechtenstein bei einer Reihe
von internationalen Konferenzen.
251
Prinz Nikolaus von Liechtenstein, geboren 1947; Studium der
Rechtswissenschaften an der Universität Wien, Promotion Dr. iur.
1973; 1973—1974 Research Assistant beim Internationalen Roten
Kreuz in Genf; 1975—1976 Rechtspraktikum bei Gericht und Lan
desverwaltung in Vaduz; seit 1978 Ständiger Vertreter des Fürsten
tums Liechtenstein beim Europarat in Strassburg.
Georg Malin, geboren 1926 in Mauren (Liechtenstein); Studium der
Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten
Zürich und Freiburg (Schweiz); Promotion Dr. phil. 1952; Bildhauer
ausbildung bei Alfons Magg, Zürich; Ausstellungen, Arbeiten in
öffentlichen Bauten und auf Plätzen; Publikationen zu historischen,
kunstgeschichtlichen und kulturpolitischen Fragestellungen; Konser
vator der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung.
Volker Press, geboren 1939 in Erding (Bayern); Studium der Ge
schichte an der Universität München; Promotion Dr. phil. 1966; Dis
sertation: «Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentral
behörden der Kurpfalz 1559—1619'» ;v 1967 Wissenschaftlicher Assi
stent in Kiel, 1968 in Frankfurt; 1971 o. Prof. für Mittlere und
Neuere Geschichte in Giessen, 1980 in Tübingen; derzeit dort Dekan
der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät; ca. 100 Publikationen vom
15.—20. Jahrhundert.
Herbert Wille, geboren-1944 in Balzers (Liechtenstein); Studium der
Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg (Schweiz); Promo
tion Dr. iur. utriusque 1970; Dissertation: «Staat und Kirche im Für
stentum Liechtenstein»; Autor verschiedener Beiträge zu Fragen des
Verhältnisses Staat und Kirche, Staat und Parteien, vorwiegend in
der Reihe: Liechtenstein Politische Schriften; Ressortsekretär der
Fürstlichen Regierung seit 1970.
252