LIECHTENSTEIN
POLITISCHE SCHRIFTEN
Band 58
Liechtenstein-Institut, Historischer
A NS
Kunstmuseum Licchtenstein (Hrsg.)
«Wer Bescheid weiss,
ist bescheiden»
Festschrift zum 90. Geburtstag
von Georg Malın
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft ==
a N
Liechtenstein
Politische Schriften
BAND 58
Liechtenstein-Institut, Historischer
Verein für das Fürstentum Liechtenstein,
Kunstmuseum Liechtenstein (Hrsg.)
«Wer Bescheid weiss,
ist bescheiden»
Festschrift zum 90. Geburtstag
von Georg Malin
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
Die vorliegende Publikation wurde durch grosszügige finanzielle Bei-
träge von Herbert Batliner, Eduard L. Hilti, Michael Hilti, Johannes
Matt und Guido Meier ermöglicht. Der Verlag und die Herausgeber
bedanken sich für die Unterstützung.
© 2016 Verlag der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft
Verlagsleitung: Dr. Emanuel Schädler
St. Luziweg 2, FL-9487 Bendern
ISBN 978-3-7211-1096-8
Satz und Gestaltung: Atelier Silvia Die Deutsche Nationalbibliothek ver-
Ruppen, Vaduz zeichnet diese Publikation in der Deut-
Aufnahme Seite 2: Daniel Ospelt, Vaduz schen Nationalbibliografie; detaillierte
Druck: Gutenberg AG, Schaan bibliografische Daten sind im Internet
Bindung: Buchbinderei Thöny AG, Vaduz unter www.dnb.de abrufbar.
Vorwort der Herausgeber
Mit der Herausgabe der Festschrift zu Ehren von Georg Malin, der in
diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feiert, möchten die drei beteiligten
Institutionen eine herausragende Persönlichkeit Liechtensteins würdi-
gen. Das Motto «Wer Bescheid weiss, ist bescheiden» haben wir der
Vaduzer Predigt von Georg Malin aus dem Jahr 1974 entnommen, die
unter diesem Titel als zweites Heft der Kleinen Schriften des Verlages
der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft erschienen ist. Be-
scheid wissen und bescheiden sein — das trifft mit Sicherheit auf den
Jubilar zu. Ebenso ist für das Wirken von Georg Malin bezeichnend,
dass so unterschiedliche Einrichtungen wie der Historische Verein für
das Fürstentum Liechtenstein, das Kunstmuseum Liechtenstein und das
Liechtenstein-Institut gemeinsam als Herausgeber fungieren. Bezeich-
nend deshalb, weil dies das breite und vielfältige Wirken von Georg
Malin widerspiegelt. Wenn heute die berufliche Spezialisierung immer
weiter voranschreitet, zeigt die Biografie von Georg Malin einen alter-
nativen Entwurf: Vielfalt an Aufgaben und Tätigkeiten, fortlaufender
Perspektivenwechsel, Vernetzung, Interdisziplinarität. Dies sind Zugän-
ge und Forderungen, die sich trotz oder gerade wegen des Spezialisten-
tums in einer komplexer werdenden Welt ohnehin zunehmend stellen.
Es ist den Herausgebern nicht leicht gefallen, eine Auswahl an Bei-
trägen sowie an Autorinnen und Autoren für diese Festschrift zu treffen.
Es hätten noch etliche weitere Themen von zahlreichen weiteren Perso-
nen abgehandelt werden können. Die Idee war, die Themen und Akti-
vitäten, die Georg Malin zeit seines Lebens beschäftigt haben, zur Spra-
che zu bringen. Die Beiträge sollen Anregungen geben, Bilanz ziehen,
Ideen liefern.
Kunst und Kultur stehen selbstverständlich an oberster Stelle. Die Bei-
träge in dieser Festschrift widmen sich dem Künstler Georg Malin, der
Staatlichen Kunstsammlung, welcher er als Konservator von 1968 bis
1996 vorstand, dem Kunstmuseum, der Kunstschule, aber auch der
Kunstkritik und dem Umgang mit der Kunst. Die Bilderstrecke in der
vorliegenden Festschrift zeigt ausserdem Skulpturen von Georg Malin
ım öffentlichen Raum in Mauren. Damit ist nur ein kleiner Ausschnitt
aus dem künstlerischen Wirken von Georg Malin dokumentiert.
Ein zweiter Themenblock widmet sich der Wissenschaft und For-
schung. Georg Malin hat eine wegweisende Dissertation über die politi-
sche Geschichte Liechtensteins des frühen 19. Jahrhunderts verfasst,
aber auch danach durch zahlreiche Publikationen seine wissenschaftliche
Leidenschaft weiter gepflegt. Die Beiträge in der Festschrift beleuchten
den Forschungsstand zur Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert,
die Quelleneditionsarbeit sowie weitere Aspekte der Geschichtsfor-
schung und der Forschungsförderung. Georg Malin war auch Grün-
dungsmitglied der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft im
Jahr 1951, die 1986 den Anstoss für die Schaffung des Liechtenstein-In-
stituts gab; er wurde 1953 Mitglied im Historischen Verein, in welchem
er von 1955 bis 1996 als Vereinsmitglied mitwirkte. Diese beiden Insti-
tutionen werden in der Festschrift deshalb porträtiert.
Von 1966 bis 1974 war Georg Malin Landtagsabgeordneter, von
1974 bis 1978 Regierungsrat. Im Themenblock Politik und Recht wird
daher ein Vergleich zwischen der Landtags- und Regierungstätigkeit in
den 1970er-Jahren und heute gezogen. Ein weiterer Beitrag widmet sich
dem Denkmalschutz, nicht nur weil er ein Anliegen Georg Malins ist,
sondern auch weil in seiner Regierungszeit ein neues und den modernen
Anforderungen genügendes Denkmalschutzgesetz ausgearbeitet und be-
schlossen wurde. Ein anderer Aspekt aus dem Gebiet des Rechts, der in
der Festschrift abgehandelt wird, ist der Schutz des geistigen Eigentums,
was für Künstlerinnen und Künstler sowie Kunstschaffende von grosser
Bedeutung ist und von Georg Malin energisch eingefordert wurde.
In einem Zeitungsinterview zu seinem 90. Geburtstag hat Georg
Malin auf die Bedeutung des Schutzes von Natur und Umwelt hinge-
wiesen — auch dies Ressorts, die er in seiner Regierungszeit betreute. Die
Beiträge in diesem Themenblock der vorliegenden Festschrift widmen
sich der Gefährdung und dem Schutz von Naturwerten sowie dem be-
wussten Umgang mit Landschaftsstrukturen.
6
Der Themenblock zu Kirche und Religion beruht einerseits darauf, dass
Georg Malin im Benediktinerkloster in Disentis das Gymnasium absol-
vierte. Ein Beitrag widmet sich speziell der benediktinischen Lebens-
form, ein anderer untersucht die Bedeutung von Internaten für die Eli-
tenausbildung in Liechtenstein. Das künstlerische Werk von Georg
Malin hat ausserdem Spuren in zahlreichen Kirchen, Kapellen und ande-
ren christlichen Einrichtungen hinterlassen. Die Gestaltung der Pfarr-
kirche Schellenberg kann dabei als Meilenstein betrachtet werden, da sie
bereits 1963 baulich und gestalterisch die Neuorientierung des Zweiten
Vatikanischen Konzils vorwegnahm. Diese kirchengeschichtlich bedeu-
tende Epoche wird daher auch in Beiträgen zum Vatikanum und zur
Synode im Bistum Chur abgehandelt.
Georg Malin gebührt Dank für seine grossen Verdienste. Wir freu-
en uns, ihm zu Ehren diese Festschrift herauszugeben. Wir bedanken
uns ferner bei allen Autorinnen und Autoren, die einen Beitrag verfasst
haben. Die Angefragten haben fast ausnahmslos zugesagt — auch dies
ein Ausdruck der hohen Wertschätzung für den Jubilar. Ein Dank geht
schliesslich an den Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesell-
schaft dafür, dass die Festschrift in das Verlagsprogramm aufgenommen
wurde, sowie an die privaten Sponsoren, an die Gemeinde Mauren und
an die liechtensteinische Regierung für ihre finanzielle Unterstützung.
Bendern/Schaan / Vaduz, im Juli 2016
Dr. Wilfried Marxer, Direktor des Liechtenstein-Instituts
Guido Wolfinger, Vorsitzender des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein
Dr. Friedemann Malsch, Direktor des Kunstmuseums
Liechtenstein
Grusswort
Es erfüllt einen Gemeindevorsteher mit grosser Freude, wenn er einem
Bürger seiner Gemeinde zum 90. Geburtstag gratulieren darf. Wenn es
sich dabei auch noch um einen vielseitig engagierten Künstler, Histori-
ker und Politiker handelt, ist man zudem sehr stolz. Vollkommen zu
Recht darf die Gemeinde Mauren stolz auf Georg Malin sein. Er, der am
8. Februar 1926 das Licht der Welt erblickte und den sein Lebensweg
von Mauren unter anderem nach Disentis, Zürich, Freiburg i.Ue. und
Paris führte, ist seiner Heimatgemeinde stets treu geblieben.
Georg Malin weiss, wo seine Wurzeln liegen. Ein Umstand, der in
Zeiten des steten Wandels und der Rastlosigkeit vieler Menschen nicht
unterschätzt werden darf. Aus seiner Heimatverbundenheit hat Georg
Malin zeit seines Lebens nie einen Hehl gemacht. So schrieb er seine
Dissertation zur politischen Geschichte Liechtensteins, forschte zur
Ur- und Frühgeschichte Liechtensteins und arbeitete wichtige Stationen
der Liechtensteiner Geschichte auf. Als Historiker leitete er einige der
wichtigsten archäologischen Ausgrabungen in Liechtenstein, unter
anderem auf dem Kirchhügel in Bendern, in Eschen und in Nendeln.
Aus dem grossen historischen Engagement erwuchs auch ein politisches,
das Georg Malin ebenfalls mit Weitblick und stets zum Wohl seiner Hei-
mat ausführte. Dies verdeutlichen seine Mitgliedschaften in der parla-
mentarischen Beobachterdelegation beim Europarat und in der Aussen-
politischen Kommission. Innenpolitisch setzte er als Regierungsrat für
Umwelt und Kultur neue Massstäbe. Dies gelang ihm auch in seiner
Tätigkeit als Mitbegründer und Konservator der Liechtensteinischen
Staatlichen Kunstsammlung. Durch seine weitsichtige und geschickte
Ankaufspolitik erhielt die Sammlung ein klares Profil, das Jahre später
die Grundlage für die Gründung des Kunstmuseums Liechtenstein bot.
Neben diesen beachtlichen Erfolgen als Historiker und Politiker hat sich
Georg Malin als Künstler stets weiterentwickelt. Auftragsarbeiten für
Sakralräume machten in den 1950er-Jahren den Anfang. Auch hier
schien Georg Malin seiner Zeit stets einen Schritt voraus zu sein. Dies
belegt beispielsweise die 1960 mit den Architekten Fritz Metzger und
Rudolf Schwarz erarbeitete Ausstattung der Kirche Schellenberg, die
neue Richtlinien des Zweiten Vatikanums vorwegnahm. Zahlreiche
Folgeaufträge führten Malin vermehrt ins Ausland. Doch auch hierzu-
lande sind die Kirchen von Schaan, Schaanwald, Ruggell und Mauren
wichtige Zeugen seiner künstlerischen Entwicklung.
Es darf nicht verwundern, dass aktuelle politische Themen in
Malins Kunst Einzug hielten. So setzte sich der Künstler beispielsweise
in der Skulptur «Atomkopf» mit der wachsenden Bedrohung der Welt
durch Atomwaffen auseinander. Später beherrschten Formen und Kräfte
aus der Natur sein Werk. Werkstoffe wie Eisen, Bronze oder Granit ka-
men zum Einsatz. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Schöp-
fung und den Elementen war bestimmend. Doch auch vor der Abstrak-
tion schreckte Georg Malin nicht zurück. Davon zeugen die zahlreichen
geometrischen Formen und Buchstaben-Skulpturen — alles Themen, die
auch sein malerisches Schaffen prägten.
Was für ein reiches Schaffen, was für ein erfülltes Leben! Für die
Gemeinde Mauren ist es eine besondere Freude und Ehre, dass einem so
vielseitig engagierten Künstler und weltoffenen Menschen mit der vor-
liegenden Festschrift jene Anerkennung zuteilwird, die ihm gebührt. In
diesem Zusammenhang bedankt sie sich ganz besonders bei den Heraus-
gebern - dem Liechtenstein-Institut, dem Historischen Verein für das
Fürstentum Liechtenstein und dem Kunstmuseum Liechtenstein — für
die Initiative zur Festschrift sowie deren Umsetzung. Das Land Liech-
tenstein ist stolz auf einen wahren Liechtensteiner, die Gemeinde Mau-
ren auf einen echten «Muurer»!
Geschätzter Georg, im Namen der Gemeinde Mauren gratuliere
ich Dir nochmals ganz herzlich zu Deinem runden Geburtstag und sage
Danke für all das, was Du für Deine Heimatgemeinde und Dein Hei-
matland getan hast. Mit Deiner Weltoffenheit und Tiefgründigkeit bist
Du ein Vorbild, das sich nicht nur jede Gemeinde wünschen kann, son-
dern auf das ein Kleinstaat wie Liechtenstein auch angewiesen ist. Für
10
Deinen Beitrag zur Geschichte und zur Zukunft des Landes gebührt Dir
unser aller Respekt, für Dein vorausschauendes Kunstverständnis unser
aller Bewunderung.
Wie hat schon der österreichische Lehrer, Dichter und Aphoristi-
ker Ernst Ferstl gesagt: «Wer hoch hinaus will, braucht starke Wurzeln.»
Es freut mich ausserordentlich, dass Du diese Wurzeln in Mauren gefun-
den und über all die Jahre so gut gepflegt hast. Auf dass sie Dir auch wei-
terhin viel Kraft und Lebensfreude schenken mögen!
Mauren, im Juli 2016
Freddy Kaiser
Vorsteher der Gemeinde Mauren-Schaanwald
11
Inhalt
I.
KUNST UND KULTUR
Georg Malin —- «In erster Linie bin ich Bildhauer ...»
Dagmar Streckel
Das Werden eines Museums. Von der Liechtensteinischen
Staatlichen Kunstsammlung zum Kunstmuseum Liechtenstein
Friedemann Malsch
Zum Werdegang des Kunstmuseums und von weiteren
bedeutenden Bausteinen der Zentrumsplanung Vaduz
Hubert Ospelt
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst - Erfahrungen
in Liechtenstein
Janine Köpfli
Kann man Kunst lernen? Zur kulturellen und gesellschaft-
lichen Bedeutung der Kunstschule Liechtenstein
Martin Walch
IT.
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert: Forschungs-
stand und Forschungslücken
Rupert Quaderer
19
41
61
81
99
113
13
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
Claudius Gurt
Die liechtensteinische Souveränität zwischen Rheinbund
und Wiener Kongress im Spiegel der Geschichtsschreibung
Fabian Frommelt
Forschungsförderung in Liechtenstein
Wilfried Marxer
Die Tätigkeit des Verlages der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft von 1972 bis 2015 — Rückblick
und Ausblick
Emanuel Schädler
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein:
Entwicklung, Stellenwert, Herausforderungen
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
KUNST UND ÖFFENTLICHER RAUM
Begegnungen mit Georg Malins Kunst in Mauren
Elisabeth Huppmann / Barbara Bühler (Fotografie)
HN.
POLITIK UND RECHT
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren
und heute —- ein Vergleich
Christian Frommelt
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
Herbert Wille
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
Georges Baur
14
129
147
173
189
209
231
291
313
331
IV.
NATUR UND UMWELT
Rote Listen —- Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart
Mario FE. Broggi
Siedlungsverdichtung unter Berücksichtigung von über-
geordneten Landschaftsstrukturen
Catarina Proidl
V.
KIRCHE UND GESELLSCHAFT
Zur Matura ins Ausland — Liechtensteins langer Weg
zu höherer Schulbildung
Martina Sochin D’Elia
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform:
Erinnerungen an Disentis
Günther Boss
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Franz Näscher
Jahre vor, während und nach der Synode 72 in Chur.
Erinnerungen, Erfahrungen und Einschätzungen eines
Schaaner Seniors
Georg Schierscher
VL
GEORG MALIN
Biografische Notizen
347
369
387
401
415
435
445
15
VII
ANHANG
Abkürzungsverzeichnis
Über die Autoren
16
453
457
1.
KUNST UND KULTUR
Georg Malin —
«In erster Linie bin ich Bildhauer ...»
Dagmar Streckel
Georg Malin ist der wichtigste Bildhauer und Plastiker der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Liechtenstein. 2016 feierte er seinen
90. Geburtstag. Malins Geschichte als Künstler beginnt 1947 in Zürich,
damals ist er einundzwanzig Jahre alt. Parallel zu den Studien von
Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie, in Zürich
und Freiburg i. Üe., ist Malin in Zürich von 1947 bis 1949 auch Schüler
ım Atelier des Bildhauers Alfons Magg. An der ETH Zürich belegt er
Kurse im Zeichnen bei Hans Gisler sowie in Zeichnen und Malen bei
Henry Wabel.
Mit der Dissertation «Die politische Geschichte des Fürstentums
Liechtenstein in den Jahren 1800-1815» schliesst er sein Universitätsstu-
dium 1952 in Zürich ab und ist während der beiden anschliessenden
Jahre als Kunsterzieher tätig. Danach kehrt er nach Liechtenstein zurück
und übt hier nebenberuflich die Funktion eines Laienrichters am Ober-
gericht in Vaduz ab 1954 für die Dauer von zwölf Jahren aus. Und wie-
derum parallel hierzu lebt er das Leben eines freischaffenden Künstlers
und Wissenschaftlers. Schon in den frühen Jahren ist Vielseitigkeit als
Kern seines Daseins offensichtlich.
«Es gibt unbestreitbar für jeden geschichtlichen Zeitraum Charak-
teristika, sehr spezifische Eigenheiten», schreibt Malin in einem Text von
1999, «die bewusst oder unbewusst Individuen und Gesellschaft, wenn
nicht prägen, so doch stark beeinflussen.» Ihn selbst haben sicherlich
die Jahre als Schüler im Gymnasium und Internat des Benediktinerklos-
ters von Disentis in Graubünden positiv geprägt. Diese Zeit in der heute
1 Georg Malin. Hinweise zu meinen Arbeiten, in: Farbe, Klang, Reflexionen / 5 Po-
sitionen. Piero Dorazio, Roland Goeschl, Gottfried Honegger, Heinz Mack, Georg
Malin. Raiffeisen-Landesbank Tirol (Hrsg.), Innsbruck 1999, S. 64.
19
Dagmar Streckel
beinahe schon überzeitlich anmutenden Institution, die um 700 n. Chr.
gegründet worden war, hat mit ihrer Aura grosser Dauerhaftigkeit und
überzeitlicher Ordnung den Sinn des jungen Malin für grosse Zeitläufe
und für Geschichte geschärft. In diesem Umfeld hat er 1947 die Matura
abgelegt.
Bis heute betont das Kloster — in der öffentlichen Selbstdarstellung
des Internats —, dass es nicht nur Wert auf die Vermittlung von Wissen,
sondern ebenso Wert auf die Ausbildung der Persönlichkeit der Lernen-
den legt. Gebet, Lektüre und das Tätig-Sein bilden den Kern der bene-
diktinischen Ordensregel, die bald 1500 Jahre zählt und deren Ziel es ist,
Gemeinschaft zu stiften und zu stärken. Das dortige Leben, das nach der
Massgabe des «ora, lege et labora» geregelt war, hat bei Malin nachhal-
tige Spuren hinterlassen und Wege vorgezeichnet: Ein aktives Leben in
Beständigkeit, Reflexion und Selbstdisziplin scheinen in seinem unge-
wöhnlichen, ungebrochenen Engagement für die Gemeinschaft seines
Landes weiter gewirkt zu haben. Im konkreten Fall geht Malins Blick
immer auch über die Grenzen seines Landes hinaus. Als Historiker
weiss er, ın verschiedene Richtungen gleichzeitig zu sehen, und ist,
diplomatisch denkend, an der Vernetzung mit dem ausserhalb Liegenden
interessiert.
Vita activa — Worte und Taten
Das christlich-mönchische Ideal eines tätigen Lebens im Dienst am
Nächsten und an der Gemeinschaft, das seinem Ursprung nach auf das
wesentlich ältere Gebot der Thora des Judentums (auch: 3. Buch Mose
19,18) zurückgeht, bildet auch den ethischen Hintergrund von Hannah
Arendts politisch-philosophischem Hauptwerk «Vita activa oder vom
tätigen Leben», das 1960 in deutscher Sprache erschien.“ Sie definiert Tä-
tig-Sein neu und entwickelt es als säkulares Ideal. Das Private als das
Nicht-Politische zieht sie hierbei nicht in Betracht. Arendt unterscheidet
2 Hannah Arendt. Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1996 (8. Auflage), in
der deutschen Übersetzung erstmals 1960, auch vor dem Hintergrund der nur we-
nige Jahre zurückliegenden Nazidiktatur in Deutschland, erschienen. Original: The
human condition, New York 1958.
20
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
drei Arten des Tätig-Seins nach der Massgabe von Nachhaltigkeit und
Dauer der Ergebnisse sowie des Potenzials zur Bildung öffentlicher Ge-
meinschaft. Dieser Ordnung entsprechend unterscheidet sie das Arbei-
ten, das Herstellen und das Handeln. Das Ergebnis von Arbeit dient der
Notwendigkeit der menschlichen Selbsterhaltung, wodurch es sich selbst
wieder verbraucht. Herstellen hingegen sieht sie als Tun auf einer höhe-
ren Ebene, das zweckdienliche, handwerklich gefertigte Gegenstände
schafft, aber auch Kunstwerke hervorbringen kann, die als Materialisie-
rungen von geistigem Gehalt von Dauer sind und das Leben bereichern.
Auf höchster Stufe vollzieht sich Handeln in Wort und Tat, ist soziales
und politisches Handeln, mit dem Potenzial, Prozesse in Gang zu setzen,
Neues entstehen zu lassen. Für Arendt bedeutet Handeln insbesondere
die Freiheit des Einzelnen, zu handeln, und ist damit die Grundlage von
Politik und vor allem die Grundlage von Demokratie.
Handeln bei Malin, vor allem in seinem Leben als Politiker, Histo-
riker und Künstler, entspricht Arendts säkularer Auffassung eines täti-
gen Lebens ohne Einschränkung. Handeln bei Malin ist immer aber auch
vor dem Hintergrund seines christlichen Glaubens zu sehen. Zwischen
1966 und 1974 ist er unter anderem Mitglied des Liechtensteinischen
Landtags, 1974 bis 1978 Regierungsrat für Umwelt und Kultur. Er war
der erste Konservator der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsamm-
lung von 1968 bis 1996. Malin hat archäologische Ausgrabungen in
Liechtenstein initiiert und geleitet, er war Gründungsmitglied der 1975
ins Leben gerufenen Liechtensteinischen Kunstgesellschaft wie der 1951
gegründeten Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft und eine
treibende Kraft der modernen Denkmalpflege. Nach Malins Ethik des
Handelns verhalte es sich, wie er sagt, ım Mikrostaat Liechtenstein wie
auf einem Schiff, nur dass es keine Passagiere gebe, denn hier gehöre
jeder zur Besatzung; international lasse sich Liechtenstein, so Malin, am
besten über Kultur positionieren.” In diesem Kontext ist auch Malins
Tätigkeit als Künstler zu verorten. Auch als Künstler ist er Teil der
Besatzung des Schiffes Liechtenstein.
3 Georg Malin sinngemäss zitiert, siehe auch: Zeitzeugen Liechtensteins: Georg Ma-
lin. Ein Film von Jürgen Kindle, Triesen 2013.
21
Dagmar Streckel
Der Künstler
In erster Linie ist er Bildhauer. Annähernd zeitgleich mit seinem Enga-
gement in der liechtensteinischen Öffentlichkeit hat Malin das Herstel-
len von Kunst begonnen. Herstellen und Handeln — im Sinne von
Arendt - bewegen und entwickeln sich bei ihm seit der ersten Hälfte der
1950er-Jahre gleichwertig und parallel. Seine Neigung zum Handwerk
hat er bereits als Kind entdeckt.* Als Künstler tätig sein zu können, ist
für Malin der Aspekt seines Lebens, der ihm besonders nahe ist.
Die Anfänge
Entsprechend Malins Feststellung, es gebe unbestreitbar für jeden
geschichtlichen Zeitraum Charakteristika, sehr spezifische Eigenheiten,
die bewusst oder unbewusst Individuen und Gesellschaft wenn nicht
prägen, so doch stark beeinflussen”, haben ihn auch andere Künstler
beeinflusst. Er hat die Plastiker und Bildhauer der Klassischen Moderne,
aber auch die seiner eigenen Zeit geschätzt und rezipiert. Sie haben ihn
beeinflusst, sind eine Inspiration für ihn gewesen: Constantin Brancusi
(1876-1957), Max Ernst (1891-1976), Henry Moore (1898-1986), Fritz
Wotruba (1907-1975), Eduardo Chillida (1924-2002), Max Bill (1908—-
1994) und Hans Josephsohn (1920-2012).
Brancusi war eine frühe Inspiration. In Malins Relief von 1954,
ohne Titel, einer polierten Bronze, äussert sie sich in formaler Hinsicht.
Organisch, elegant und hoch glänzend lässt Malin abstrakt-dekorative
Formen ineinanderfliessen. Das zeitgleich entstandene «Fabelwesen»
(1954/55), gehauen aus einem Block aus dunklem Balzner Marmor, weist
in dieselbe Richtung.
Malins grosser «Atomkopf» (1955/56), den er aus demselben Balz-
ner Marmor gehauen hat, hat sich im weiteren Sinne, wie die Moderne
seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, an primitiver afrıkani-
scher Plastik orientiert. Titel und Ausdruck des maskenhaften Gesichts
nehmen allerdings Bezug auf ein zeitgeschichtliches, um die Mitte der
4 Wie Anm. 3.
5 Wie Anm. 1.
22
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
1950er-Jahre in der Region aktuelles Thema: Die Risiken des Einsatzes
von Atomkraft zur Gewinnung von Energie wie auch als Waffe bei mili-
tärischen Auseinandersetzungen. Dieser Probleme war sich Malin
bewusst. Tief lässt er die Augen des Kopfes in ihren Höhlen liegen, unter
der stark gespannten Haut treten die Wangenknochen hervor. Insbeson-
dere hier lässt sich sein wesentlich später formuliertes Statement zur
Ethik künstlerischer Tätigkeit passgenau anfügen: «Die Anteilnahme an
allem, was die Gegenwart bewegt, muss als Widerschein in Gestaltungs-
prozessen erkennbar sein.»°
Die abstrakt-figurative Aussenplastik «Spannung» (1956), gefertigt
in polierter Bronze, lässt Brancusi in der Behandlung des Materials noch
einmal aufscheinen. Ebenso deutliche ästhetische Impulse liefert aber
auch die Plastik von Henry Moore für diese frühe Arbeit. Zwei gegen-
sätzliche Hälften einer gebogenen Gestalt, die Malin aus einem einzigen
schlanken und schlangenähnlichen Stück gefertigt hat, bewegen sich
spannungsgeladen oder vielleicht doch nur spannungsvoll mit ihren ge-
6 Wie Anm. 1.
Bronze-Relief, 1954 | Spannung, 1956
23
Dagmar Streckel
gensätzlichen Enden aufeinander zu und zugleich voneinander weg. Das
spitz-kantige, eckig-bedrohlich wirkende Ende greift an und weicht glei-
chermassen zurück. Das Gegenüber, elegant geschwungen und organisch
kugelig endend, weicht im unteren Teil zurück, während es im oberen Teil
die Nähe des Gegenübers zu suchen scheint. Hier treffen inhaltlich zwei
abstrakt-konträre Begrifflichkeiten aufeinander. Formal betrachtet, stos-
sen geometrische auf organische Formen. Die Qualität ihres Verhältnisses
variiert je nach Blickrichtung, was der tatsächlichen Komplexität polarer
Zuordnungen gleichkommt. «Spannung» ist die plastische Verbildli-
chung von nicht eindeutig aufeinander beziehbaren energetischen Gegen-
sätzen, deren Qualität je nach Standort eine andere Form annimmt.
Mit den gegenständlichen Bronzeplastiken «Gedeckter Tisch»
(1959/70) und «Darreichung von Früchten» (1959/80) auf jeweils kräfti-
gen Sockeln, die als Tische dienen und so Teil der Plastiken sind, lässt
sich formal wie inhaltlich auf Malins Ausstattungen sakraler Räume
schon zu dieser Zeit verweisen.”
7 Auf Georg Malins zahlreiche Ausstattungen von Sakralräumen seit 1954 wird im
Folgenden nicht weiter eingegangen. Dies wäre Stoff genug für eine gesonderte Un-
tersuchung.
Mann, 1959/62 | Blume, 1960/61
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
Auch Max Ernst war eine Inspiration in den Anfangsjahren. Der bogen-
förmig nach oben geöffnete Kopfschmuck der überlebensgrossen Aus-
senplastik «Mann» (1959/62) aus Stahl besitzt verwandtschaftliche Nähe
zum «König» von Ernsts Figurengruppe «Capricorn» (1948). Dass
Malin den «Mann» aus Blöcken konstruiert hat, verbindet ihn in beson-
derem Masse mit Fritz Wotrubas Bildhauerei und Architektur. Auch
Eduardo Chillidas plastisches Werk war ein früher Referenzpunkt für
Malin. Das Werk von Hans Josephsohn wird er ebenso gekannt haben.
Allen eignet die Affinität zur gebauten Plastik. Der Block in zahlreichen
Variationen wird auch zum Schlüsselelement von Malins Plastik.
Seine frühe Aussenplastik «Blume» (1960/61) - wie der «Mann»
baut sie sich aus einzelnen, aus Stahlblech geschweissten Bausteinen auf
— präsentiert sich innovativ im spannenden Widerspruch von Material
und Erscheinung. Füllige, wie unter Druck stehende, an den kurzen Sei-
ten miteinander verbundene Blöcke, deren Schweissnähte deutlich sicht-
bar bleiben, sind zu einer schematisiert einfachen Blume aus Stahlblech
addiert. Sie hinterlassen den täuschenden Eindruck, aus erdigem Mate-
rial wie Ton oder Lehm schnell, weil ungenau, herausgeschnitten zu sein.
Stahl konnotiert Erde.
Vergleichbares trifft auf die Aussenplastik «Totenvogel» (1960) zu,
ein surreales, dreibeiniges Mischwesen aus Pflanze, Mensch und Vogel,
das sich ebenfalls aus einzelnen Stahlblechblöcken zusammensetzt.
Masse, Block und Abstraktion
Malins Formfindungsprozess, die stilistische Ausrichtung seiner Plastik
klärt sich während der ersten Hälfte der 1960er-Jahre. Vor allem über die
in «Totenvogel» und «Blume» angelegte plastische Erfahrung entwickelt
sich der Aufbau seiner Arbeiten: Die Form des Blocks als Strukturele-
ment befindet sich nun im Zentrum seiner Bildhauerei und Plastik.
Mit der kleinen Bronze «Tier» von 1964 unterteilt er einen massi-
ven Block in zwei Partien, einen grösseren und einen kleineren Teil. Der
Verlauf der Kanten orientiert sich an natürlichen Formationen. Der Titel
verweist auf das Tierhafte der Plastik, die formalen Einheiten sind jedoch
weniger eindeutig als der Titel suggeriert, das heisst formal abstrakt und
komprimiert. Es geht hier primär um die Organisation von zwei unter-
schiedlich grossen, miteinander verbundenen Masseblöcken ohne Bin-
25
Tier, 1964
Dagmar Streckel
nenraum. Dass diese ein Tier darstellen, ist zweitrangig. Die beiden BIö-
cke Kopf und Hinterteil lassen den wie auch immer gearteten Säuger nur
erahnen, nicht aber eindeutig erkennen. Es geht hier um die Organisie-
rung von Masse und Block. Der formale Abstraktionsgrad ist hoch.
Formensprache
Ähnlich verhält es sich mit der aus zwei separaten Masseblöcken kompo-
nierten Skulptur «Stele und Kopf eines Kriegers» (1966/82), gehauen aus
schwarzem Marmor, und der Gedenkstätte «Stele und Schriftstein»
(1966) in Balzers, ebenfalls, wie im Titel benannt, aus zwei Masseeinhei-
ten komponiert. Beide charakterisiert das auf der Erde Lastende ebenso
wie das nach oben Strebende der Stele. Der Verlauf der Kanten und Li-
nien von «Stele und Kopf eines Kriegers» orientiert sich wie beim «Tier»
wieder an der bewegten Linie, derjenige von «Stele und Schriftstein» hin-
gegen fusst neu auf mathematischer Abstraktion und Perfektion.
Ab 1966 beginnt in Malins Werk das Moment bewusster Exaktheit
in den Vordergrund zu treten und manifestiert sich 1968 besonders
anschaulich mit dem massiven Relief «Igas» aus patiniertem Stahl. Neu
sind dabei die geometrisch-konstruktive Gesamterscheinung, eine sach-
lich-mathematische und nicht individuelle Handschrift. Kräftige Ring-
26
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
formen sind wie die Räder einer Maschine über die Breite des Reliefs
verteilt. Der Schweizer Plastiker Bernhard Luginbühl (1929-2011) hat
mit seinen Eisenplastiken, beispielsweise den «Grossen Zyklopen» in
Winterthur, in eine vergleichbare Richtung gearbeitet, allerdings mit
dem «Laissez-Faire» der Improvisation. Malin jedoch legt vor die
Schicht der exakt geschnittenen, schlanken Stelen von «Igas», die unter-
schiedlich vor- und zurücktreten, eine Lage wesentlich kleinerer, feiner,
wieder an der Form der Stele orientierter Blockformen. Struktur und
Halt geben vier diagonal verteilte Ringformen. Eine offene Ringform
bildet das Zentrum des Reliefs. Diese Ästhetik technoider Sachlichkeit
ist eine der Ableitungen des zentralen Themas von Masse, Block und
Abstraktion, das sich in zwei Hauptrichtungen entwickelt: zum einen in
die Richtung abstrahierender Vereinfachung von Gegenständlich-Orga-
nischem, zum anderen in die Richtung sowohl geometrischer als auch
technoider Abstraktionen.
«Osterkreuz» (1968), «Baum» (1969) und «Offene Knospe» (1970),
drei polierte Bronzen, veranschaulichen die bis dahin gefundenen Mög-
lichkeiten der Formalisierung organisch blockhafter Massen. Dabei
kreist Malin nach wie vor um das Strukturelement des Blocks. Das
kleine «Osterkreuz» (1968) lässt sich als Variation in Form eines präzise
gearbeiteten, kräftigen Aussenrings lesen, der sich aus jeweils zwei mal
vier gleichen Blockformen zusammensetzt. Diesen achtteiligen und wie-
Stele und Schriftstein, 1966 | Igas, 1968
27
Dagmar Streckel
der voluminös-fülligen Aussenring zitiert der damit verbundene Innen-
ring in wesentlich kleinerem Massstab. Die Kreuzform, die der Aussen-
ring trägt, spielt versteckt als Leerform mit.
Der «Baum» (1969) setzt sich aus fünf ähnlichen, zu kurzen Stelen
gelängten Blockformen zusammen, die das Wesen des Organischen in
einer zurückhaltend bewegt modellierten Form aufgreifen. Form und
Inhalt sind hier nahe beieinander. Die Wesensmerkmale eines Baumes
treten zeichenhaft in Erscheinung.
Wenn auch der Titel «Offene Knospe» (1970) einen Bezug zur
Natur herstellt, tritt der Aspekt des Organischen hier in rein geometri-
scher Abstraktion in Erscheinung. Malin hat sein Formenrepertoire
erweitert und arbeitet hier neu mit Segmenten der Kugel. Doch auch
diese drei Kugelsegmente, aus denen er die Knospe konstruiert, sind
letztlich als eine Variation der Blockform zu betrachten. Drei Kugelseg-
mente lasten wie halbierte breite Melonenstücke auf einem Sockel, mit
dem sie ein schmalerer Zwischenring verbindet. Hier geht es formal um
die Konstruktion einer auf Kugel, Ring und Kreis reduzierten Knospe,
und anders als beim «Baum» steht nun der Gegensatz von geometrisch
reduzierter Form und organischem Motiv im Vordergrund.
Dieser Antagonismus von organischem Motiv in geometrisch
reduzierter Form kommt in späteren Arbeiten wie der «Granit-Knospe>»
Osterkreuz, 1968 | Baum, 1969 | Offene Knospe, 1970
28
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
(1980/81) und vor allem der «Beerenfrucht» (1980/81) zum Tragen und
wird sich sogar noch vertiefen.
Der intellektuelle Künstler
Um 1970, im Alter von etwa 44 Jahren, hat Malin das abstrakte Vokabu-
lar seiner Bildhauerei systematisch in abstrakten Masse-Variationen von
Organischem, von Organisch-Geometrischem, von Geometrisch-Tech-
nischem bis hin zu kühl Technoidem ausformuliert. Formal Neues ent-
wickelt er immer aus dem Vorangegangenen in Ähnlichkeitsreihen. Die
Oberflächen sind klar und glatt, geschliffen und poliert. Malin denkt wie
ein Konstrukteur, bildet logische Ableitungen. Einmal gefundene
Lösungen werden zur Voraussetzung anderer, er spielt sie in neuen
Variationen durch und entwickelt sie weiter.
Das Symbolische
1971 entsteht ein «Rad» aus polierter Bronze in einer Auflage von zwei
Exemplaren, einmal für den Europarat in Strassburg sowie für die Liech-
Rad, 1971/73 | Kosmisches Zeichen, 1991/96
Dagmar Streckel
tensteinische Staatliche Kunstsammlung in Vaduz. Nie bedeutet eine
Form bei Malin nur sich selbst, wie etwa bei Max Bill und den Zürcher
Konkreten. Malin versteht das Rad als tradiertes Sinnbild vom ewigen
Kreislauf des Lebens, als ein Symbol fortwährender Bewegung. Sein
«Rad» lässt sich werkimmanent aus dem «Osterkreuz» (1968) wie aus
dem Relief «Igas» (1968) herleiten. Zugleich weist es aber voraus auf die
grosse Aussenplastik «Kosmisches Zeichen» (1991/96) aus Chromni-
ckelstahl, die selbst wiederum in zwei Varianten existiert: als «Kosmi-
sches Zeichen» sowie im doppelten Format als «O-Würfel» (1996/97) in
Cortenstahl.
Das frühe Bronze-«Rad» von 1971 glänzt lichtvoll und spiegelt den
Ort, an dem es steht. 1987 produziert Malin das «Rad» in einer zweiten
Material- und Ausdrucksvariante in Granit. Das steinerne Rad bleibt
anders als in Bronze ohne Bezug zur Umgebung, bezieht sich allein auf
sich selbst, betont die Massivität der Form und — verborgen im Material
— auch die Überzeitlichkeit der im Stein komprimierten Materie. Malin
testet die Wirkung der Form im anderen Material. Gleiches gilt für die
«Frucht» (1978) aus polierter Bronze und deren Zwilling, die «Frucht»
(1985) aus rotem Granit. Malin liebt das dezent Symbolische. Eine Form
bedeutet ihm nie nur sich selbst.
Ein Beispiel für Malins geometrische Formensprache ist die fünf-
teilige Reihe von Werken auf der Grundlage von Rechteck, Quader und
Tabernakel, 1973/74 | Erde, 1974 | Wasser, 1982
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
Zylinder, die über einen längeren Zeitraum von vierzehn Jahren entste-
hen. Die Reihe beginnt exemplarisch mit dem zylindrischen «Taberna-
kel» der Dreifaltigkeitskirche Bern (1973/74), gefolgt von den Reliefs
«Erde» (1974), «Wasser und Land» (1974), «Wasser» (1982) und «Luft»
(1987). Durch die Betitelung bindet Malin insbesondere die Reliefs
explizit an Natürliches an und verbindet sie mit der Symbolik von dreien
der vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft. Ihre formale Variation
im Rahmen verwandtschaftlicher Ähnlichkeit orientiert sich ebenso an
natürlicher Entwicklung — dem Werden in der Natur — wie an logischen
Ableitungen. Gemeinsam mit der Reihe «Fontäne» (1977)®, «Stele»
(1977), «Stele» (1978) und «Fünfstufige Stele» (1978) sollen sie hier für
die vielen anderen von Malins Reihenentwicklungen stehen.
Stein, Stahl und Bronze sind für Malin kongeniale Materialien. Er
liebt das Lastende, die spürbare Kraft der Masse, die Ruhe, die durch das
Lasten des massiven Blocks entsteht.
Würfel
Malin ist 60 Jahre alt, als die erste Serie der «Buchstabenwürfel» zu ent-
stehen beginnt. Der Kubus tritt an die Stelle des Quaders. Gerade diese
späten Kuben entstehen als symbolische Körper: Als Zeichen, also als
Formen, die über ihre konkrete Erscheinung als Würfel hinaus auch
noch für ein Anderes stehen; als Symbol, das je nach Kontext Sinnbild
einer bestimmten Vorstellung ist.
Symbolik und Vision
Deutlich tritt nun Malins Beschäftigung mit den Vorstellungen vom
Sein, mit der antiken Vorstellung von Urmaterie in den Vordergrund. Ihr
verhilft er als Künstler zur Form. Malin greift zurück auf Ideen der grie-
8 Nach dieser ersten «Fontäne», 1977, entsteht 17 Jahre später die monumentale, mass-
stabsgetreu 6,66-fach vergrösserte «Fontäne», 1994, Bronze Rohguss, 220 x 135 cm
Durchmesser, Privatbesitz Schaan, als weitere Ableitung. Vgl. «Kosmisches Zei-
chen» und «O-Würfel».
31
Dagmar Streckel
chischen Antike, nach deren Vier-Elemente-Lehre alles Sein aus vier
Grundelementen besteht. Dabei sind ihm die fünf Platonischen Körper
ein Begriff.
«[...] So gehen die kosmologischen Spekulationen in Platos Timäus
über die kleinsten Teile der Welt von der Annahme aus, dass ein leerer
Raum nicht existiert. Die uns bekannte Welt ist ein Gebilde von dicht
gefügten atom-artigen festen Körpern und jedes der vier Elemente ent-
spricht einem der fünf regelmässigen Körper [...]. Als Gott das Univer-
sum aus dem Chaos schuf, begann er damit [so Platon, d. A.], <ihnen
zuerst zur Unterscheidung Gestalt durch Form und Zahl zu geben. Die
in allen Einzelheiten beschriebenen Vorgänge sind die eines Muster-
Machers, dessen Urformen Dreiecke sind. Aus diesen machte Gott den
Würfel für Erde, das Tetraeder oder die Pyramide für Feuer, das Okta-
eder für Luft und das Ikosaeder für Wasser, und sparte das letzte, das
Dodekaeder, auf für das Universum, zu seiner Zierde». Wir glauben
nicht mehr, dass die Elemente aus regelmässigen, standardisierten For-
men bestehen [...]»°. Platons Vorstellung, der Würfel sei als atomare
Grundform das Sinnbild der Erde, wird Malin vertraut gewesen sein.
Nicht nur für Platon ist die Welt nach Gestalt, Form und Zahl
geordnet. Auch nach biblischer Vorstellung hat Gott die Welt nach Mass,
Zahl und Gewicht geordnet, liegt der Erschaffung der Welt also eine
exakte Systematisierung zugrunde, die von Zahlenverhältnissen
bestimmt wird. Im Alten und im Neuen Testament kommt der Zahl 4
eine symbolische und eine die Welt konstituierende Bedeutung zu
(4 Ursünden, 4 Kardinaltugenden, 4 hebräische Erzmütter, 4 Evangelien,
aber auch 4 Elemente, 4 Himmelsrichtungen, 4 Jahreszeiten etc.).
Malins erste Gruppe massiver «Buchstabenwürfel» basiert auf der
symbolisch-mystischen Bedeutung der Zahl 4 ebenso wie auf den tekto-
nisch-bildhauerischen Qualitäten des Kubus, dessen Länge, Breite und
Höhe gleich sind. Mit der Wahl des Würfels stellt er auch den Bezug zur
neutestamentlichen Vision des Himmlischen Jerusalem her, wie es in der
Offenbarung des Johannes geschildert wird. Dort offenbart sich die himm-
lische Stadt Jerusalem aus Jaspis und Gold in der Gestalt eines Würfels
(«Länge, Breite und Höhe sind bei ihr gleich», Offenbarung 21, 15-16).
9 Ernst H. Gombrich. Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der
Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 79.
32
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
Mit der Wahl des Würfels als zentraler Form seines Spätwerks greift
Malin antike und christliche Deutungs- und Bedeutungstraditionen auf.
Vorläufer
Am Anfang von Malins Interesse für Form und Symbolik des Würfels
steht die grosse «Beerenfrucht» (1980/81) in dunklem Basaltgestein. Jede
Seite der Würfel-Frucht hat er mit neun Halbwürfeln gleichförmig auf-
gerastert und abschliessend auf eine dezente Sockelplatte gesetzt. Die
geometrisch-kristallinen Formelemente von Beeren wie Brom- oder
Himbeere sind hier in ihrer Erscheinung auf das Einfachste zurückge-
führt. In der Reduktion zeigt sich die Idee der Gruppenbildung deutli-
cher, die Idee des Aufbaus der Gesamtform aus einzelnen Elementen.
Die Wiederholung der Einzelform verführt uns jedoch dazu, deren
wesentliche Eigenschaften zu übersehen: ein Phänomen der Wahrneh-
mung von Gruppen.
Auf der Grundlage dieser «Beerenfrucht» entwickelt Malin das
kleine Relief «Komposition mit 9 Würfeln» (1983) in polierter Bronze.
Kurz darauf testet er es in 16-facher Vergrösserung ein zweites Mal
(1983/84) in rotem Granit. Da Ordnung und Bedeutung im Falle einer
Wiederholung gleicher Formen gegeneinander wirken und das Wesent-
Beerenfrucht, 1980/81 | Komposition mit 9 Würfeln, 1983/84
33
Dagmar Streckel
liche übersehen lassen, scheint Malins Entscheidung für den singulären
Würfel folgerichtig.
Kontemplation und Meditation sind die Grundlage seiner Kunst.
Die Zuschreibung eines transzendenten Gehalts, wie von frühzeitlichen
Bildwerken bekannt, wird auf die Wahrnehmung eines neuzeitlichen
Bildes, hier des Würfels, übertragen und verleiht diesem ein enormes
Wirkungspotenzial.
Prototyp
Am Anfang dieser symbolischen Werkreihe steht Malins vollplastischer
Relief-Würfel (1986/87) in heller, unpolierter Bronze, den er für das
Kloster Disentis realisiert hat. Er ruht im Zentrum eines flachen, mit
einem Ring gefassten Brunnenbeckens im Innenhof des Klosters. Die
raue Oberfläche des Würfels spiegelt sich auf der glatten Wasserfläche.
Jede Seite ist mit einer Variation des Zeichens X versehen, das hier noch
nicht für den Buchstaben des Alphabets steht, sondern Teil des Haus-
zeichens der Herrschaft des Klosters ist, und im Klosterwappen als sil-
bernes Diagonalkreuz auf rotem Grund liegt.
Es folgen zahlreiche explizite Buchstabenwürfel in polierter
Bronze und kleinem Format nach. Das Projekt soll alle Buchstaben des
Würfel-Brunnen im Kloster Disentis, 1986/87
34
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
Alphabets umfassen. Es entstehen u.a. der «A-Würfel», der «T-Würfel»
und der «Z-Würfel» (1986), der «C-, D-, E-, F-, H-, I-, S-, T-, U-» und
der «V/M-Würfel» (1987).!° «Die Würfel dienen der Meditation»!, sind
durch die Form vergeistigte Materie!?, deren symbolisches Potenzial
(Zahl und Kubus) durch den Buchstaben als dritten Bedeutungsträger zu
einer Dreifachsymbolik gesteigert wird.
Malin selbst versteht zum Beispiel den Buchstaben T als Verweis
auf das griechische «theos» (Gott) und fertigt den Würfel in einer Form,
die einen antiken Tempelbau konnotiert. Der Betrachter hat die Freiheit,
ım E die Ewigkeit aufscheinen zu sehen oder im A den Anfang. Im H
vielleicht Heil und Heiligkeit. Doch auch profane und persönliche
Zuweisungen wie H für Heimat oder Hilti werden gedacht. Eindeutig ist
da der Kubus der kleinen «Kreuzstele» (1990), der das Symbol des Kreu-
zes auf den fünf sichtbaren Seiten des Würfels varliert.
10 Einige der massiven Buchstabenwürfel vergrössert Malin in Stahl oder Stein für den
Aussenraum. Exemplarisch sei hier der «M-Würfel» (1988) in schwarzem Granit,
poliert, 130 x 125 x 125 cm, für das Advokaturbüro Marxer & Partner, Vaduz, ge-
nannt.
11 Georg Malin. Skulpturen. Text Robert Th. Stoll, Bern 1987, S. 166.
12 Ebenda.
A-Würfel, 1986 | T-Würfel, 1986 | V/M-Würfel, 1987
35
Dagmar Streckel
Block — Balken —- Buchstabe
Zwischen 1989 und 1998 entsteht eine zweite Gruppe von «Buchstaben-
würfeln» (E, H, K, T, L,S, R, P, C, F, B, Q etc.), neu mit Binnenräumen,
die Durchblicke freigeben. Die Balkenkonstruktion löst den massiven
Würfel ab. Auch diese Werkgruppe entsteht in kleinen!? und grossen
Formaten für den Innen- und den Aussenraum.
Malin schafft offene, tektonische Würfel-Konstruktionen aus Vier-
kantbalken in poliertem Chromnickelstahl als Modul, die er in 90-Grad-
und 45-Grad-Winkeln verbindet. So entstehen Buchstaben, die sich der
grafischen Qualität von Runen!* nähern, den germanischen Laut- und
Begriffszeichen, die auch als Zahlen verwendet und als magische Zeichen
betrachtet wurden. Rune bedeutet «Geheimnis». Mehrere Bedeutungen
treffen im selben Runenzeichen zusammen. Über die mit dem jeweiligen
Buchstaben und seiner besonderen Form assoziierbaren Konnotationen
öffnet sich für Malin wieder ein weiter Bedeutungsraum. Da die Runen-
schrift nicht der alltäglichen Verständigung, sondern kultischen Zwe-
cken diente, erfährt die S$ymbolform des Würfels durch die Verbindung
mit den runenähnlichen und zeichenhaften Buchstaben wieder eine
enorme Bedeutungspotenzierung.
13 In einer Edition von je fünf Exemplaren.
14 Runen wurden auch auf Buchenholzstäbe geritzt, wovon sich das deutsche Wort
«Buchstabe» für die Lautzeichen des Alphabets ableitet.
L-Würfel, 1991 | S-Würfel, 1994
36
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
Am Beispiel des «L-Würfels» (1991), den er für das Projekt «Liechten-
stein-Landschaft» entwirft, lässt sich noch einmal Malins Engagement
für die Öffentlichkeit nachzeichnen: «Die Anteilnahme an allem, was die
Gegenwart bewegt, muss als Widerschein in Gestaltungsprozessen er-
kennbar sein.»!5 Es sollte eine Aktion «für die gemarterte Natur, und
gegen die «verbaute, zersiedelte, verstrasste Landschaft»! werden, die
jedoch nicht umgesetzt werden konnte.
«Kniender>»
Am Ende steht die Auflösung des Antagonismus von organischem
Motiv und geometrisch reduzierter Form in der Eindeutigkeit reiner
Abstraktion. Im Jahr 2000 entsteht ein «Kniender» mit den abstrakten
Mitteln der letzten Serie der Buchstabenwürfel, den Vierkantbalken in
Stahl. Nichts weist dabei auf eine menschliche Figur hin. Lediglich die
tektonische Ausrichtung und die Länge der Balken verweisen auf den
Aufbau und die Proportionen des menschlichen Körpers. Malin setzt
sich mit dieser Figur zur Skulptur des 20. Jahrhunderts in Beziehung. Er
misst sich mit ihr und nimmt im Titel wie auch formal Bezug auf Wil-
15 Wie Anm. 1.
16 Herbert Meier. Georg Malin, in: Georg Malin. Eine Ausstellung zum 80. Geburts-
tag, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz 2006, S. 8.
Kniender, 2000/2005
37
Dagmar Streckel
helm Lehmbrucks (1881-1919) «Der Gestürzte» von 1915 wie auch auf
Fritz Wotrubas «Die Stürzende» von 1944. Beide Skulpturen entstehen
in Zeiten des Krieges. Beide Figuren drücken Leid, Elend und Depriva-
tion aus.
Trotz des Wagnisses, seinen «Knienden» zum Zeichen zu reduzie-
ren, ihn ausschliesslich mit den linearen Mitteln der Vierkantbalken zu
konstruieren, ist es Malin gelungen, die Idee der existenziellen Not zu
transportieren und wahrnehmbar zu machen.
«Malin ist zweifellos heute der wichtigste Bildhauer aus Liechten-
stein. Seine Werke stehen nicht nur an zahlreichen öffentlichen und
privaten Orten im Land selbst, sondern auch in Österreich,
Deutschland, Italien, Russland, Norwegen, Frankreich und der
Schweiz. Auch das Kunstmuseum Liechtenstein ist im Besitz meh-
rerer Skulpturen, von denen drei an verschiedenen Orten in Vaduz
und Schaan dauerhaft öffentlich gezeigt werden.»"
17 Friedemann Malsch. Vorwort, in: Georg Malin. Eine Ausstellung zum 80. Geburts-
tag, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz 2006, S. 4.
38
Georg Malin - «In erster Linie bin ich Bildhauer ‚..>»
LISTE DER ERWÄHNTEN WERKE
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
Bronze-Relief, 1954, Bronze poliert, 41 x 28,5 cm, Privatbesitz (Abb. S. 23)
Fabelwesen, 1954/55, Balzner Marmor geschliffen und poliert, 29,5 x 25,5 cm,
Privatbesitz
Atomkopf, 1955/56, Balzner Marmor geschliffen und poliert, 52,5 x 28,5 cm,
Privatbesitz
Spannung, 1956, Bronze poliert, 163 x 154 cm, Privatbesitz (Abb. S. 23)
Gedeckter Tisch, 1959/70, Bronze poliert, 10,5 x 24 cm, Privatbesitz
Darreichung von Früchten, 1959/80, Bronze poliert, 20 x 21,8 x 21,8 cm, Privat-
besitz
Mann, 1959/62, Stahl schwarz patiniert, 468 x 230 cm, Privatbesitz (Abb. S. 24)
Blume, 1960/61, Stahl schwarz patiniert, 143,5 x 116 cm, Privatbesitz (Abb. S. 24)
Totenvogel, 1960, Stahl schwarz patiniert, 208 x 115 cm, Privatbesitz
Tier, 1964, Bronze poliert, 22 x 32 x 9 cm, Privatbesitz (Abb. S. 26)
Stele und Kopf eines Kriegers, 1966/82, schwarzer Marmor geschliffen und poliert,
109 x 18,5 x 20 cm und 64 x 19,5 cm, Privatbesitz
Stele und Schriftstein, 1966, weisser Marmor geschliffen, Stele: 360 x 70 x 55 cm,
Schriftstein: 55 x 165 x 115 cm, Gedenkstätte für Johann Baptist Büchel, Balzers
(Abb. 8. 27)
gas, 1968, Stahl patiniert, 107 x 184 x 54 cm, Hilti AG, Adliswil (Abb. S. 27)
Osterkreuz, 1968, Bronze poliert, 25 x 24,8 x 5,6 cm, Privatbesitz (Abb. S. 28)
Baum, 1969, Bronze poliert, 94 x 41,5 x 15 cm, Privatbesitz (Abb. S. 28)
Offene Knospe, 1970, Bronze poliert, 19,5 x 18 cm Durchmesser, Privatbesitz
(Abb. S. 28)
Granit-Knospe, 1980/81, Granit Rosso Balmoral, geschliffen und poliert,
405 x 160 cm Durchmesser, Schulzentrum Unterland, Eschen
Beerenfrucht, 1980/81, Diabas, geschliffen und poliert, 63,5 x 51,5 x 51,5 cm,
Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz (Abb. S. 33)
Rad, 1971/73, Bronze poliert, 40 x 120 cm Durchmesser, 1. Liechtensteinische
Staatliche Kunstsammlung, 2. Europarat (Foyer), Strassburg (Abb. S. 29)
Kosmisches Zeichen, 1991/96, Chromnickelstahl, geschliffen, 206 cm Durchmesser,
VPBank AG, Vaduz (Abb. S. 29)
O-Würfel, 1996/97, Cortenstahl, verschweisst, 444 cm Durchmesser, Industriean-
lage Hohenems
Rad, 1971/87, Granit Rosso Balmoral, poliert, 42 x 120 cm Durchmesser, Privat-
besitz
Frucht, 1980, Bronze poliert, 31 x 40,7 cm Durchmesser, Privatbesitz
Frucht, 1985, Granit Rosso Balmoral, geschliffen und poliert, 61 x 77 cm Durch-
messer, Privatbesitz
Tabernakel, 1973/74, Bronze poliert, Montage von massiven Formstücken,
85 x 43 cm Durchmesser, Dreifaltigkeitskirche, Bern (Abb. S. 30)
39
Dagmar Streckel
26. Erde, 1974, Stahlrelief blattvergoldet, 134 x 220 cm, Privatbesitz (Abb. S. 30)
27. Wasser und Land, 1974, Emailrelief, 150 x 500 cm, Hallenbad, Balzers
28. Wasser, 1982, Emailrelief, 138 x 221 cm, Privatbesitz (Abb. S. 30)
29. Luft, 1987, Emailrelief, 138 x 220 cm, Privatbesitz
30. Fontäne, 1977, Bronze poliert, 33 x 22 x 21 cm, Privatbesitz
31. Stele, 1977, Bronze, 42 x 15 cm Durchmesser, Privatbesitz
32. Stele, 1978, Bronze poliert, 31 x 15 x 15 cm, Privatbesitz
33. Fünfstufige Stele, 1978, Bronze poliert, 40 x 12 x 12 cm, Privatbesitz
34. Beerenfrucht (siehe Nr. 18)
35. Komposition mit 9 Würfeln, 1983, Bronze poliert, 6,5 x 19,5 x 19,5 cm, Privatbesitz
36. Komposition mit 9 Würfeln, 1983/84, Granit Rosso Balmoral, geschliffen und
poliert, 105 x 105 x 35 cm, Privatbesitz (Abb. S. 33)
37. Würfel-Brunnen im Kloster Disentis, 1986/87, helle Bronze, 150 x 150 x 150 cm,
Innenhof Kloster Disentis (Abb. S. 34)
38. A-Würfel, 1986, Bronze poliert, 15 x 15 x 15 cm, Privatbesitz (Abb. S. 35)
39. T-Würfel, 1986, Bronze poliert, 15 x 15 x 15 cm, Privatbesitz (Abb. S. 35)
40. U-Würfel, 1987, Bronze poliert, 15 x 15 x 15 cm, Privatbesitz
41. V/M-Würfel, 1987, Bronze poliert, 15 x 15 x 15 cm, Privatbesitz u.a. (Abb. S. 35)
42. Kreuzstele, 1990, Bronze poliert, 38 x 11 x 11 cm, Privatbesitz
43. E-Würfel, 1989, Chromnickelstahl, massiv, poliert, 34 x 34 x 34 cm, Privatbesitz
44. L-Würfel, 1991, Chromnickelstahl, massiv, poliert, 34 x 34 x 34 cm, Privatbesitz
(Abb. S. 36)
45. S-Würfel, 1994, Chromnickelstahl, massiv, poliert, 34 x 34 x 34 cm, Privatbesitz
(Abb. S. 36)
46. I-Würfel, 1997, Chromnickelstahl, massiv, poliert, 34 x 34 x 34 cm, Privatbesitz
47. Q-Würfel, 1998, Chromnickelstahl, massiv, poliert, Privatbesitz u.a.
48. Kniender, 2000/2005, Stahl, 34 x 62 x 18 cm /204 x 105 x 372 cm, Privatbesitz
(Abb. S. 37)
ABBILDUNGSNACHWEISE
Georg Malin. Skulpturen. Benteli Verlag, Bern 1987. Fotos Hans Gerber, Zürich:
$. 23 links, 24, 26, 27, 28, 29 links, 30, 34, 35
Georg Malin. Skulpturen. Benteli Verlag, Bern 2002. Fotos Giorgio von Arb, Zürich:
S. 23 rechts, 29 rechts, 33, 37
Georg Malin. Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz 2006. Fotos Basilius Malin,
Mauren: 5. 36
40
Das Werden eines Museums.
Von der Liechtensteinischen Staatlichen Kunst-
sammlung zum Kunstmuseum Liechtenstein
Friedemann Malsch
In den vergangenen Jahren haben die Kunstmuseen einen ausgesproche-
nen Boom erlebt. Neugründungen, Erweiterungen oder Neubauten sind
an der Tagesordnung, und dies nicht nur mit Grossprojekten wie zuletzt
der Eröffnung des Museums von Eli Broad in Los Angeles, den Bauten
für den Louvre in Dubai, dem geplanten Museum Moderner Kunst in
Katar oder den Erweiterungen für das San Francisco MoMA, die Tate
Modern in London, für das Kunsthaus Zürich und das Kunstmuseum
Basel. Auch in kleinerem Massstab wurde und wird ungebrochen erwei-
tert, auch im Rheintal: Das Kunstmuseum Liechtenstein hat seine
Erweiterung durch die Hilti Art Foundation 2015 eröffnet, das Bündner
Kunstmuseum erhielt im Juni 2016 einen neuen Erweiterungsbau, und
auch das Kunstmuseum St. Gallen wird um die Räume des Naturkunde-
museums erweitert, das einen eigenen Bau erhalten wird. Doch der Bau-
boom der Kunstmuseen ist zugleich auch Ausdruck ihrer Krise. Durch
die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte öffnet
sich zusehends eine Schere zwischen diesen Einrichtungen und ihren
Trägerschaften. Die Gründe hierfür sind vielfältig und noch längst nicht
wissenschaftlich belegt. Der Zusammenbruch marxistisch legitimierter
Gesellschaftsordnungen im Laufe der 1980er-Jahre und die zeitgleich
einsetzende Globalisierung mit ihrer Kapitalisierung aller Gesellschafts-
bereiche spielen ebenso eine Rolle wie die technologischen Revolutionen
von Digitalisierung, Internet und sozialen Netzwerken. Seit der Finanz-
krise 2008 stehen zudem die Museen unter erhöhtem wirtschaftlichem
Druck, dem sie vermehrt durch stärkeres Engagement in der Erschlies-
sung neuer Besuchergruppen zu begegnen versuchen. In solchem Bestre-
ben werden sie durch die Politik regelrecht getrieben.
41
Friedemann Malsch
An diesem Punkt lässt sich die Krise vielleicht am besten erkennen: Der
politische Druck auf die Museen entsteht durch ein verändertes gesell-
schaftliches Verständnis ihrer Rolle. Sie sollen sich selbst legitimieren
durch die Ansprache möglichst breiter Bevölkerungskreise. Hier greift
auch der Kapitalisierungsgedanke: Die Ansprache breiter Bevölkerungs-
kreise verspricht eine Steigerung der Besucherzahlen, die (so wird impli-
zit mitgedacht) den Selbstfinanzierungsgrad der Museen und damit (so
wird vorausgesetzt) ihre Legitimität erhöhen. Dass damit die Förderung
von Bildung einhergeht, ist ein willkommenes argumentatives Acces-
soire. Denn die Rede von der Krise zielt auf die Museen in öffentlicher
Trägerschaft. Geht es dagegen um Museen in privater Trägerschaft, fal-
len Begriffe wie Dienst an der Gesellschaft, Philanthropie und Mäzena-
tentum. Unerwähnt bleibt dabei, dass es bei diesen Museen auch um pri-
vate Selbstdarstellung geht, um Repräsentation, um «Glanz und Gloria»,
wenn etwa Eli Broad, Präsident des Board of Trustees des Museum of
Contemporary Art in Los Angeles, unweit dieses Museums sein eigenes
Museum baut. Ähnlich verhält es sich mit einigen Museen in den Verei-
nigten Arabischen Emiraten, besonders in Dubai und Katar, wo sich die
Herrscherfamilien der Museen als Teil einer neuen Wirtschaftspolitik
bzw. einer neuen Selbstdarstellung bedienen.
Es muss also differenziert werden, wenn man von Krise oder
Chance öffentlicher Museen spricht. Zu den hierfür entscheidenden
Parametern gehört die Sinnfälligkeit, mit der ein Museum in einen Kon-
text hinein entsteht. Es erfordert eine genaue Betrachtung der gesell-
schaftlichen Kräfteverhältnisse sowie der gesamtkulturellen Entwick-
lung dieses Kontextes. In dieser Hinsicht ist die Geschichte der Entste-
hung eines vom Staat getragenen Kunstmuseums in Liechtenstein
aufschlussreich, da sie wie in einem Brennglas das Verhältnis zwischen
der Institution und ihren ideellen und materiellen Trägerschaften
erkennbar werden lässt.
42
Das Werden eines Museums
IL.
Georg Malin leitet die Entstehungsgeschichte der Liechtensteinischen
Staatlichen Kunstsammlung aus der Geschichte der Sammlungen des
europäischen Hochadels ab. Damit stellt er sich in eine breite Tendenz
der Historiografie von Museen, die üblicherweise auf die Natur- und
Wunderkammern einiger Adelshäuser zurückgreift, die insbesondere in
der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts ihre Blüte erlebten. Diese Methode
bezieht sich allerdings auf die Geschichte des Sammelns. Die Geschichte
der Museen ist jedoch davon zu unterscheiden, denn Museen als organıi-
satorische Einheiten entstehen erst im Zeitalter der Aufklärung. Auch
wenn einige Königshäuser ihre Sammlungen bereits im Laufe des 18.
Jahrhunderts für die Öffentlichkeit zugänglich machten, so ist die Ent-
stehung des öffentlichen Museums eng mit der Französischen Revolu-
tion verknüpft. Die Revolutionäre öffneten die Galerien des Louvre für
die Bevölkerung und erklärten deren Sammlungsbestände zum Eigen-
tum der «Grande Nation».* So blickt die Geschichte der Museen im
engeren Sinne auf eine deutlich kürzere Tradition zurück, die ihrerseits
jedoch bereits auf über 200 Jahre zurückblicken kann.
Die Entstehungsgeschichte eines öffentlichen Kunstmuseums in
Liechtenstein umfasst einen noch einmal kürzeren Zeitraum, doch spie-
geln sich die Mechanismen der allgemeinen Museumsgeschichte (wie
auch vieles andere) in dieser kurzen Zeitspanne im Fürstentum wie in
einem Brennglas, gefärbt von einigen für dieses Land nicht untypischen
Besonderheiten. Als Schloss Vaduz zwischen 1903 und 1914 von Grund
auf renoviert wurde, war dies auch mit der Einplanung eines Museums-
betriebes verbunden. Wenige Jahre später wurde im Fürstentum sogar
laut über die Verlegung der Fürstlichen Sammlungen in ein Museums-
gebäude nach Vaduz nachgedacht. Die Weltwirtschaftskrise um 1930
machte solchen Überlegungen jedoch den Garaus. Stattdessen wurde auf
Schloss Vaduz ein «Burgmuseum» eingerichtet, das auch nach der
Wohnsitznahme des Fürsten in Vaduz 1938 bis in die 1950er-Jahre
1 Vgl. hierzu u.a. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln,
Berlin, Wagenbach, 1988.
2 Vgl. hierzu u.a. Gottfried Fliedl (Hrsg.), Die Erfindung des Museums. Anfänge der
bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien, Turia & Kant, 1996.
43
Friedemann Malsch
hinein betrieben wurde. Als es um 1945 tatsächlich zur Verlegung der
Sammlungen kam, hatte dies andere Gründe: Es ging darum, die Samm-
lungen vor dem Zugriff anderer Mächte zu sichern, sowohl der Natio-
nalsozialisten wie auch der Alliierten.
Angesichts dieser neuen Situation, und nach dem grossen Erfolg
einer Ausstellung mit Objekten und Kunstwerken aus den Fürstlichen
Sammlungen 1948 im Kunstmuseum Luzern, gründeten 1952 «Prinz
Constantin von Liechtenstein, Kabinettsdirektor Gustav Wilhelm und
Kommerzienrat Guido Feger ein Initiativkomitee <«Kunstausstellungen
in Liechtensteim. Sie erkannten das Missverhältnis zwischen vorhande-
nen kulturellen Gütern in Liechtenstein und deren timider Nutzung im
Interesse der Öffentlichkeit und des Geisteslebens.»* Am 30. August
1952 wurde eine erste Ausstellung im Erdgeschoss des Engländerbaus
im Zentrum von Vaduz eröffnet. Dieser wurde nun zum eigentlichen
Kunstausstellungsgebäude Liechtensteins, in dem dank der Energie des
Initiativkomitees bis 1973 weitere Ausstellungen aus dem Fundus der
Fürstlichen Sammlungen gezeigt wurden.*
Diese Ausstellungen, die zum Teil grosse Besuchererfolge waren,
etablierten im Fürstentum Liechtenstein erstmals eine kontinuierliche
Praxis von Kunstausstellungen. Da sie ausschliesslich mit Objekten aus
den Fürstlichen Sammlungen bestückt waren, etablierten sie in diesem
Land, das in der Vergangenheit aufgrund seiner extremen Armut und
ländlichen Struktur kaum Kontakt mit der bildenden Kunst hatte, die
tradierte Vorstellung, dass Kunst und ihr Sammeln eng mit dem Hoch-
adel verbunden sei. Hier wurde also, mit einiger zeitlicher Verzögerung,
ein Bewusstsein geschaffen, das in den meisten europäischen Ländern
bereits seit mehr als einem Jahrhundert von einem bürgerlichen Ver-
ständnis der Gesellschaft abgelöst worden war. Dieses Verständnis geht
davon aus, dass Kunst allgemein eine Angelegenheit der Gemeinschaft
ist und somit auch von ihr getragen wird, ideell wie auch materiell.
In diesem Zusammenhang ist die Schenkung von Maurice Graf von
Bendern an den Staat Liechtenstein von besonderer Signifikanz. Maurice
3 Georg Malin (Hrsg.), Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung. Bestandeskata-
log, Bern, Benteli, 1995, 5. 9 f.
4 Ibid., S. 10 f.
5 Siehe die Ausstellungschronologie in: ibid., S. 408.
44
Das Werden eines Museums
Arnold de Forest (Paris 1879-1968 Biarritz) wurde als Maurice Arnold
Bischoffsheim geboren und später von dem österreichischen Unterneh-
mer Moritz Hirsch und seiner Frau adoptiert. Kaiser Franz Josef
ernannte ihn 1899 zum Freiherrn von Forest-Bischoffsheim. In dieser
Zeit fuhr er auch Autorennen. In England engagierte er sich später als
liberaler Politiker im Unterhaus (1911-1918). Früh kam er in Kontakt
mit dem Fürsten von Liechtenstein und avancierte 1935 zum diplomati-
schen Berater Fürst Franz I., der ihn ein Jahr später in den Grafenstand
erhob (Graf von Bendern). Seit 1932 Bürger von Gamprin, lebte er die
letzten Jahre in den französischen Pyrenäen. 1967 entschloss er sich, dem
Staat Liechtenstein zehn Gemälde aus seiner persönlichen Sammlung zu
schenken.® Anlass hierfür war die Heirat des Erbprinzen Hans-Adam
mit Marie Aglae Gräfin Kinsky am 30. Juli 1967 in Vaduz.
Hier stellen sich einige Fragen: Wieso erfolgte die Schenkung an
den Staat und nicht an das Fürstenhaus Liechtenstein? Der Anlass war
jedenfalls ein familiärer und nicht direkt mit den staatlichen Interessen
verbunden. Der Schenker war mit den politischen Strukturen des Fürs-
tentums vertraut, weshalb ein Irrtum ausgeschlossen werden kann.
Wenn es, wie Georg Malin schreibt, «eine Geste an das Staatsvolk» war,
wie war diese motiviert? Sollte mit diesem Akt über die Würdigung der
fürstlichen Hochzeit hinaus die Ausstellungspraxis des Initiativkomitees
gewürdigt und/oder bestärkt werden? Sollte der Staat ermuntert wer-
den, selbst verstärkt auf diesem Gebiet tätig zu werden? Eine Geste des
Dankes an das Fürstenhaus lag nahe, doch die ausdrückliche Schenkung
an den Staat gibt Rätsel auf. Welche tieferen Gründe es auch gegeben
haben mag, die kultursoziologischen Merkmale dieser Schenkung liegen
deutlich zutage, denn in ihr fallen die Sammlungstradition des Hoch-
6 Dabei handelt es sich um folgende Gemälde: Gerard ter Borch, Der Bote, o.J. (Ko-
pie des 18. Jh.), LSK 1968.01; Antonis van Dyck, Bildnis eines Knaben aus vorneh-
mer Familie, um 1623-25 (Fragment), LSK 1968.02; ders., Bildnis der Königin Hen-
riette Maria von England, o.J. (Kopie des 17. Jh.), LSK 1968.03; Govaert Flinck,
Bildnis eines Herrn, um 1645-55, LSK 1968.04; ders., Bildnis einer Dame, um 1645—
55, LSK 1968.05; Frans Hals (Werkstatt), Flötespielender Jüngling, um 1645-50,
LSK 1968.06; Meindert Hobbema, Landschaft mit Wassermühle und Staffage, nach
1663, LSK 1968.07; ders., Landschaft mit Gehöften und Staffage, um 166568, LSK
1968.08; Jan Stehen, Die Maikönigin, 0.J., LSK 1968.09; James Baker Pyne, See mit
Bergen, 0. J., LSK 1968.10.
45
Friedemann Malsch
adels mit dem Beginn eines staatlichen, d.h. von der Gemeinschaft getra-
genen Sammelns und Ausstellens zusammen.
«Der damals für Kultur zuständige Regierungschef Gerard Batli-
ner nahm die Schenkung zum Anlass, einen weiteren Schwerpunkt in
seinem umfassenden Kulturprogramm zu setzen. Die Liechtensteini-
sche Staatliche Kunstsammlung wurde durch das Gesetz vom 23. Juli
1968 geschaffen.»” Mehr noch: Man erkennt die Chance und Verpflich-
tung, die sich aus der Schenkung des Grafen von Bendern ergibt und
beschliesst zusätzlich den Bau eines Kunstmuseums in Vaduz «in ab-
sehbarer Zeit».® Die neue Einrichtung hat die Rechtsform einer öffent-
lich-rechtlichen Stiftung, deren Statuten bereits die grundlegenden Auf-
gaben eines Museums formulieren: «(...) alte und neue Werke der bil-
denden Kunst zu sammeln und zu pflegen, die wissenschaftliche
Bearbeitung der Kunstwerke zu ermöglichen und ein breites Kunstver-
ständnis zu fördern. Schliesslich sollen auch Leihgaben entgegenge-
nommen werden.»
Die Schenkung des Grafen von Bendern löste auf staatlicher Seite
eine Dynamik aus, als hätte man nur auf diesen Moment gewartet. In
wenigen Jahren wurden die Dinge mit beeindruckender Konsequenz,
Energie und Zielstrebigkeit vorangetrieben, sowohl hinsichtlich der
Profilierung der neu geschaffenen Institution wie auch für den Bau eines
Kunstmuseums.
HILL.
Zum Konservator der Staatlichen Kunstsammlung wurde der Bildhauer
und promovierte Historiker Georg Malin ernannt. Er war 1966 als Ab-
geordneter in den Liechtensteinischen Landtag eingezogen und nutzte in
den folgenden Jahren diese Konstellation, um die Entwicklung der
neuen Institution, die er leitete, voranzutreiben. Lange Jahre jedoch
7 Siehe Anm. 3, S. 12.
8 Georg Malin, Die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, in: Tiroler Lan-
desmuseum Ferdinandeum (Hrsg.), Von Pablo Picasso bis Henry Moore. Meister-
werke aus der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung, Innsbruck, Eigen-
verlag, 1993, S. 11.
9 Wie Anm. 7.
46
Das Werden eines Museums
musste sie mit sehr bescheidenen finanziellen Mitteln auskommen. Ihren
Wirkungsort erhielt sie in den Räumen des Engländerbaus im Zentrum
von Vaduz.
Die gesetzlichen Grundlagen formulierten kaum Vorgaben für die
inhaltliche Ausrichtung der Sammlung. Einzig der wolkige Auftrag, «alte
und neue Werke der bildenden Kunst» zu erwerben, findet sich in den
Statuten. So konnte Georg Malin das inhaltliche Profil definieren. 1969
eröffnete er die erste Ausstellung der Liechtensteinischen Staatlichen
Kunstsammlung, in der sowohl die Schenkung des Grafen von Bendern
(ergänzt durch Leihgaben alter Meister aus weiteren Privatsammlungen
in Liechtenstein) als auch die ersten Erwerbungen ausgestellt wurden.!°
Malin nutzte diese Gelegenheit, um erste programmatische Pflöcke ein-
zuschlagen und sie mit den ersten Ankäufen zu belegen. In seiner Einfüh-
rung zur begleitenden Publikation definierte er für die Sammlung zwei
Abteilungen: eine «historische» und eine «moderne». Erstere sollte aus
der Schenkung des Grafen von Bendern sowie künftigen einzelnen Zu-
käufen im Bereich des 16. bis 18. Jahrhunderts bestehen. Für letztere
führte er aus:
«Die moderne Abteilung mit Graphiken und Zeichnungen aus dem
20. Jahrhundert ist noch kein Jahr alt. (...) Dabei bemühte sich die
Kommission, in kurzer Frist einen Bestand von Blättern zu kaufen,
welche zusammen einen gerafften (naturgemäss vorderhand noch
lückenhaften) Überblick zur Kunst des 20. Jahrhunderts geben. Es
wurde auch bedacht, dass der Standort der Sammlung zwischen
Österreich und der Schweiz in der Wahl der Käufe ebenfalls zum
Ausdruck kommen sollte. (...) Vor allem kaufte die Staatliche
Sammlung Blätter von allgemein bekannten Künstlern (...). Auch
die neuesten Strömungen der amerikanischen und englischen Rich-
tungen wurden in einigen Ankäufen berücksichtigt. (...) Das älteste
Blatt stammt von Francisco Goya <Le Garott&. Die Radierung
steht für den Anfang der modernen Graphik schlechthin.»""
10 «Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung. Malerei des 16. und 17. Jahrhun-
derts. Graphik des 20. Jahrhunderts»; sie war vom 10. Juli 1969, mit einer Unter-
brechung, bis 24. Mai 1971 zu sehen.
11 Georg Malin, Die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, in: Liechtensteini-
sche Staatliche Kunstsammlung (Hrsg.), Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, Gra-
phik des 20. Jahrhunderts, Vaduz, Eigenverlag, 1969, S. 11.
47
Friedemann Malsch
Malin deklariert mit diesen Worten en passant nicht nur die moderne
Abteilung als Grafik-Sammlung, sondern definiert zugleich ihren
Moderne-Begriff, der den Zeitraum vom späten 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart umfasst, also das Zeitalter der Aufklärung. Die im Katalog
zur Ausstellung gelisteten ersten 67 Erwerbungen lassen das Bemühen
erkennen, die Sammlung breit aufzustellen und ihr zugleich einige
Schwerpunkte zu verleihen. Es handelt sich mit einer Ausnahme (Alber-
to Giacometti) um Werke von Malern und Zeichnern, deren künstleri-
sche Verortung das westeuropäische und US-amerikanische Kunstge-
schehen seit 1900 exemplarisch abbildet.
Über die inhaltliche Ausrichtung der Sammlung hinaus definiert
Malin auch die weiteren künftigen Tätigkeitsfelder der Staatlichen
Kunstsammlung, indem er zwischen Ausstellungen und Ankaufspraxis
unterscheidet. Die Ausstellungstätigkeit begründet er mit den Worten:
«Um der Institution eine Berechtigung zu geben, ist ein reger Ausstel-
lungsbetrieb notwendig. Das Wagnis und die Freude am Experiment
dürfen nicht missgedeutet werden; manchmal genügt es zu zeigen, dass
Wege ins Dickicht führen oder zu Sackgassen werden. Erfreulicher aber
werden Ausstellungen sein, die etwas an den Besucher weitergeben, das
mehr als blosse Information zum Kunstgeschehen darstellt. Aus den
Ausstellungen wird sich die Vorstellung formen, die man von der Staat-
lichen Kunstsammlung haben wird.»!? Die Ankaufspraxis wird ebenfalls
grundsätzlich begründet: «Wenn die Staatliche Sammlung ein Beginn ist,
so muss im Wesen auch ihr Bestand neu sein und darf nicht in aus-
schliesslicher Anlehnung an die Vergangenheit die Zukunft verpassen.
Aus diesen Gründen erscheint der Ankauf moderner Kunst, sowohl von
der Sammlungstätigkeit her wie im Blick auf die wirtschaftlichen Mög-
lichkeiten der Sammlung, das Nächstliegende zu sein. Die Sammlung
wächst so mit der Zeit und wird echt, weil sie je Ausdruck jeder Epoche
ist.»!* Ausserdem mahnt er den Aufbau einer Bibliothek zur Kunstge-
schichte an.
Georg Malin nutzt diesen ersten programmatischen Text auch
dazu, die Rolle der Staatlichen Kunstsammlung gesellschaftspolitisch zu
12 Ibid, 5.7.
13 Ibid,, S. 8.
48
Das Werden eines Museums
verorten. Aus seinen Worten spricht eine fruchtbare Mischung von Idea-
lismus und Pragmatismus:
«Bei der Gründung der Staatlichen Kunstsammlung hat ein vorbe-
reitendes Gremium die mögliche Entwicklung und Zukunft der Samm-
lung geprüft und überdacht. Dabei wies man auf die beinahe totale Um-
strukturierung der ehedem bäuerlichen Gesellschaft zum sehr dicht
industrialisierten Kleinstaat Liechtenstein hin, ein Vorgang, der zweifel-
los auch Veränderungen im geistig-kulturellen Bereich zur Folge hat.
Neben dem materiellen Zuwachs soll auch die Verfeinerung des Lebens-
stils mit der Schaffung eines geistigen Überbaues abgerundet werden.
Liechtenstein kann durch seine vorzügliche Lage an einer immer mehr an
Bedeutung gewinnenden Nord-Süd-Route zumindest regional im kultu-
rellen Sektor Einfluss gewinnen und ausstrahlen. Neben dem Politischen
und Wirtschaftlichen gewänne der Kleinstaat im Kulturellen an Bedeu-
tung, zumal die Leistung in der Kultur nicht unbedingt von der Grösse
des Staatsgebietes abhängt.»!* Diese kultursoziologischen und -psycho-
logischen Bemerkungen kulminieren am Ende des Textes in den Ausruf:
«Für Liechtenstein wäre keine Legitimation seiner Eigenständigkeit
überzeugender als diese: ein Ort schöpferischer Freiheit zu sein.»"
Wurden mit der ersten Ausstellung der Staatlichen Kunstsamm-
lung die programmatischen Grundlagen ihrer inhaltlichen Ausrichtung
geschaffen, so entwickelte Malin in den folgenden Jahren das Konzept
konsequent mit programmatischen Ausstellungen weiter, um das Profil
erkennbar und künstlerisch greifbar zu machen. Über die Sommermo-
nate widmete er 1970 eine Ausstellung der Grafik Goyas und im Jahr
darauf den Zeichnungen eines Exponenten der deutschen Moderne,
Franz Marc.'° Ziel war es, mit jährlich einer selbst erarbeiteten Ausstel-
lung an die Öffentlichkeit zu treten.!
14 Ibid., 5. 8.
15 Ibid., S. 11.
16 «Goya. Aus dem graphischen Werk», 31.5.-19.7.1970; «Franz Marc. Zum zeichne-
rischen Werk», 5.6.-1.8.1971. Dazu erschienen jeweils Publikationen, herausgege-
ben von der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung.
17 «Die Staatliche Sammlung möchte mit dieser Ausstellung eine Tradition aufbauen,
die mindestens jährlich eine Wechselausstellung in den Räumen der Kunstsammlung
vorsieht.», in: Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung (Hrsg.), Goya. Aus
dem Graphischen Werk, Vaduz, Eigenverlag, 1970, S. 5.
49
Friedemann Malsch
IV.
Nachdem die Staatliche Kunstsammlung begonnen hatte, eigene Ausstel-
lungen zu erarbeiten und zu präsentieren, bedurfte es einer Neuregelung
für Ausstellungen aus den Beständen der Sammlungen des Fürsten von
Liechtenstein. Das «Initiativkomitee Kunstausstellungen» stellte, nach-
dem es noch die Ausstellung «Holländische Maler des 17. Jahrhunderts»
erarbeitet hatte, seine Tätigkeit im Jahre 1970 ein.'®* Die Gespräche des
Landes Liechtenstein mit der Hofkanzlei von Fürst Franz Josef II. führ-
ten bald zu einer vertraglichen Vereinbarung, die am 15. Januar 1971 un-
terschrieben wurde. Dabei handelte es sich um eine Rahmenvereinba-
rung, in der das Fürstenhaus die Bereitstellung von Kunstwerken aus sei-
nen Sammlungen für Wechselausstellungen im Engländerbau zusagte.
Auf dieser Basis konnte eine Reihe von Ausstellungen bis zum Beginn
der 1990er-Jahre gezeigt werden.'® Für diese Ausstellungen stand stets
das zweite Obergeschoss des Engländerbaus zur Verfügung, bisweilen
zusätzlich das erste Obergeschoss, wenn es nicht durch Sonderausstel-
lungen der Staatlichen Kunstsammlung besetzt war. Dies war jedoch nur
noch selten der Fall, denn die Vorbereitungen für den Bau eines Kunst-
museums, ein «Kunsthaus Vaduz», nahmen Fahrt auf, und Georg Malin
als Konservator der Staatlichen Kunstsammlung und von 1974 bis 1978
als Regierungsrat für Kultur war hierbei eine treibende Kraft.
Malin konnte sich gestärkt sehen durch die Tätigkeit von Robert
Altmann, Sammler und Kunstverleger aus Vaduz. Altmann hatte 1947
die Edition Brunidor gegründet, in der er regelmässig hochwertige
Künstlergrafik publizierte, in der Regel in Form von Portfolios.” 1968
hatte Altmann zudem die Ausstellung «Das Buch als Kunst» erarbeitet,
die in Vaduz und anschliessend im Mus&ge d’Art Moderne de la Ville de
Paris zu sehen war.” Diese Ausstellung war ein Meilenstein für das Kul-
turleben Liechtensteins, nicht zuletzt wegen der Präsenz des Dichters
18 Die Ausstellung wurde von Sommer 1970 bis 1.12.1973 gezeigt.
19 Siehe Anm. 5.
20 Evi Kliemand (Hrsg.), Gesamtverzeichnis der Brunidor Editionen, kommentiert
von Robert Altmann, Vaduz, Eigenverlag, 2000.
21 Siehe hierzu und zum Folgenden: Ineke Phaf-Rheinberger, Ricardo Porros Archi-
tektur in Vaduz und Havanna, Triesen, Coleba, 2004.
50
Das Werden eines Museums
Paul Celan, der offenbar den Anstoss zu einer spezifisch liechtensteini-
schen Lyrik gegeben hat.” Zudem entstand seit August 1971 im Zen-
trum von Vaduz das von Robert Altmann in Auftrag gegebene «Centre
d’art et de communication», entworfen von dem kubanischen Architek-
ten Ricardo Porro, das am 10.8.1974 eröffnet wurde. Ebenfalls 1971 star-
tete das Theater am Kirchplatz in Schaan mit seinem ersten Jahrespro-
gramm, nach kurzem Umbau ab 1972 in von Ernst Gisel gestalteten
Räumlichkeiten.
Diese aus privaten Initiativen entstandenen Kultureinrichtungen
verstärkten die kulturelle Aufbruchsstimmung im Fürstentum Liechten-
stein und beflügelten auch die Bemühungen der Staatlichen Kunst-
sammlung, den Bau eines Kunstmuseums voranzutreiben.” Besonders
für die bildende Kunst war die Lage günstig: Mit dem auf zeitgenössi-
sche Kunst ausgerichteten Centre d’art et de communication, der staat-
lichen Sammlung moderner Kunst und den umfangreichen Sammlungen
alter Meister der fürstlichen Familie bildete sich ein veritables Muse-
umsspektrum für bildende Kunst ab, das eine hohe Wirkung weit über
die Grenzen Liechtensteins hinaus zu erzielen versprach.
Bereits Ende 1969 hatte sich Fürst Franz Josef II. bereit erklärt,
dem Land Liechtenstein neben der gesamten Waffensammlung etwa 200
Gemälde als Leihgaben zu gewähren, «wenn der Staat geeignete Muse-
umsräume in Vaduz zur Verfügung stellen würde.»?** Erste Planungen
für einen Standort zwischen Engländerbau und Landesmuseum in
Vaduz erwiesen sich als unrealistisch. Dann bot die Gemeinde Vaduz im
März 1975 an, im Bereich des Rathausplatzes in Vaduz gemeinsam mit
der Regierung ein Museum zu planen und zu bauen. Auf Initiative der
Staatlichen Kunstsammlung und Georg Malins wurde noch im Jahre
1975 die Liechtensteinische Kunstgesellschaft gegründet, deren Haupt-
22 Nach einem Gespräch mit Hans-Jörg Rheinberger und Evi Kliemand im Frühsom-
mer 2000.
23 Diese Aufbruchsstimmung dauerte über die gesamten 1970er-Jahre an, wofür die
Gründung des Jazzclubs und Ausstellungsraumes Tangente in Eschen ein weiterer
Beleg ist. Zudem präsentierte das Theater am Kirchplatz regelmässig Kunstausstel-
lungen.
24 Siehe Anm. 3, S. 23; für das Folgende siehe insbesondere: Georg Malin, Liechtenstei-
nisches Kunsthaus, Vaduz. Wettbewerb und Ergebnis, in: Jahrbuch der Liechtenstei-
nischen Kunstgesellschaft, 4. Band, 1980/1981/1982/1983, Vaduz 1988, S. 9-44.
51
Friedemann Malsch
zweck die Förderung des Baus eines Kunstmuseums in Vaduz war. Prä-
sident der Gesellschaft wurde Dr. Heinz Meier, der das Amt bis 1992
bekleidete. Die Kunstgesellschaft zählte sehr bald über 460 Mitglieder
und wurde zu einer echten gesellschaftlichen Kraft, die auch die ver-
schiedenen Akteure der Kulturlandschaft Liechtensteins miteinzubezie-
hen verstand. Gemeinsam mit dem Staat und der Gemeinde Vaduz grün-
dete sie im Sommer 1976 die «Kunsthaus-Stiftung», die für den Bau und
den Betrieb des Kunsthauses Vaduz verantwortlich sein sollte. In diese
Stiftung wurden auch über 5 Millionen Franken von privater Seite ein-
gebracht, die für den Museumsbau zur Verfügung standen. Ende 1976
wurde der Architekturwettbewerb ausgeschrieben, der im Juli 1977
juriert wurde. Drei Projekte wurden zur Weiterbearbeitung ausgelobt,
und daraus ging das Projekt von Freiherr von Branca, München, Anfang
1980 als Sieger hervor. Auch eine Volksabstimmung im September 1980
befürwortete das Projekt. 1986, zum 80. Geburtstag von Fürst Franz
Josef IT., sollte der Bau eröffnet werden. Dieser hatte 1979 seinerseits
sein Angebot noch einmal erneuert.
Das Projekt sah einen für das Vaduzer Weichbild massiven Eingriff
vor, der allerdings neben dem eigentlichen Kunsthaus private Wohn-
und Büroräume sowie den Hauptsitz der Verwaltungs- und Privatbank
AG einschloss. Diese Mischnutzung des Gebäudekomplexes sollte auch
den Eigenfinanzierungsgrad des Kunsthauses erhöhen. Der überwie-
gende Teil der Ausstellungsflächen war der Dauerausstellung mit der
Waffensammlung sowie den Gemälden aus den Fürstlichen Sammlungen
gewidmet. Die Staatliche Kunstsammlung konnte mit einer erheblichen
Vergrösserung ihrer Ausstellungsfläche gegenüber dem Engländerbau
rechnen. Zudem waren alle museumstypischen Sekundäreinrichtungen
geplant, bis hin zu Kulturgüterschutzräumen.
Das bis zur Baureife vorangetriebene Kunsthaus-Projekt stand
jedoch unter keinem guten Stern. Es regte sich zunehmend Widerstand,
der sich in wiederholten Referenden gegen Beschlüsse des Vaduzer Ge-
meinderats organisierte. Die involvierten Parteien verstrickten sich im-
mer mehr in rechtliche Auseinandersetzungen, die sich bis zu einem
Eklat am Staatsgerichtshof 1984 steigerten. Ab diesem Zeitpunkt war
unübersehbar, dass das Projekt auf absehbare Zeit nicht würde realisiert
werden können. Aus dem Aufschwung der 1970er-Jahre war ein un-
schöner Abschwung in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre geworden.
52
Das Werden eines Museums
V.
Für die Staatliche Kunstsammlung war diese Entwicklung ein herber
Schlag. Georg Malin musste neu disponieren. Die Rückschau aber offen-
bart, mit wie viel Geschick und zugleich Hartnäckigkeit er daran arbei-
tete, den Boden für die Zukunft eines Museums zu bereiten. Dabei
kamen ihm auch andere Entwicklungen zu Hilfe. Der Engländerbau
wurde 1986/87 unter der Leitung des Architekten Florin Frick, Schaan,
so umgebaut und saniert, dass erstmals ein geregelter Museumsbetrieb
auf der notwendigen technischen Basis möglich war. Neben professio-
neller Beleuchtung und Klimaregelung wurde auch ein kleines Depot für
die Sammlungsbestände eingerichtet. Dauerhafte eigene Ausstellungsflä-
chen entstanden jedoch nicht, die vorhandenen Räume dienten weiterhin
den Ausstellungen aus den Fürstlichen Sammlungen.
Weitere Hilfe kam von privater Seite: Die Lampadia-Stiftung,
Vaduz, entschloss sich, die Staatliche Kunstsammlung langfristig beim
Ausbau ihrer Sammlung zu unterstützen. Sie widmete ab 1985 der
Sammlung jährlich eine bedeutende finanzielle Zuwendung, was auch
den Staat motivierte, seinerseits das Ankaufsbudget deutlich zu erhöhen.
Von nun an erweiterte die Staatliche Sammlung ihre Ankäufe auf den
Aufbau einer Skulpturen-Sammlung, schwerpunkthaft ergänzt durch
Bildhauerzeichnungen.? Auf diese Weise fanden bedeutende Skulpturen
führender europäischer Bildhauer Eingang in die Sammlung: Fritz
Wotruba (1986), Eduardo Chillida (1987), Jean Tinguely (1990), Henry
Moore (1990), Joannis Avramidis (1990), Karl Prantl (1991), Jannis Kou-
nellis (1992), Max Bill (1991, 1994), Kurt Sigrist (1993) und Hans Arp
(1995). Für einige dieser Ankäufe konnten darüber hinaus weitere pri-
vate Geldgeber gefunden werden.
Angesichts fehlender eigener Ausstellungsräume entwickelte Malin
die Strategie, grosse Skulpturen an signifikanten Stellen im Aussenraum
dauerhaft zu platzieren. So fand die Skulptur von Henry Moore Auf-
stellung gegenüber dem Regierungsgebäude in Vaduz, eine Skulptur von
Karl Prantl wurde auf dem Kirchhügel in Bendern aufgestellt, und 1993
25 Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung Vaduz (Hrsg.), Sommer 1990. exde-
pot - Graphik und Skulpturen, Vaduz, Eigenverlag, 1990, S. 4.
53
Friedemann Malsch
kam es zu einer Vereinbarung mit der Gemeinde Schaan und der Er-
wachsenenbildung Stein Egerta, die es der Staatlichen Kunstsammlung
ermöglichte, im unteren Teil des Parks der Ruscheweyh-Villa einen
Skulpturenpark einzurichten. Für diese Situation entstanden die ortsbe-
zogenen Skulpturen von Kurt Sigrist und Claus Bury.”® 1995 wurde der
Park eingeweiht.
Um auch die grafischen Bestände der Sammlung der Öffentlichkeit
wenigstens ın Auszügen bekannt zu machen, vereinbarte Malin mit dem
Benteli-Verlag in Bern die Herausgabe einer jährlichen Agenda, in der
mit ganzseitigen Abbildungen sowie kurzen Begleittexten eine Auswahl
von jeweils über 50 Werken vorgestellt wurde. Die erste Ausgabe
erschien 1988 und die Reihe wurde, auch vom Kunstmuseum Liechten-
stein, viele Jahre lang fortgeführt.” Dieses Instrument erwies sich als
sehr wirkungsvoll, nicht zuletzt deshalb, weil es den Mitgliedern der
Liechtensteinischen Kunstgesellschaft als Jahresgabe übersandt wurde,
sondern auch, weil es für die Angestellten der Landesverwaltung gratis
abgegeben wurde. Auf diese Weise konnte sich die Staatliche Kunst-
sammlung über die Jahre in der Wahrnehmung der Menschen in Liech-
tenstein verankern.
Nach dem Tod von Fürst Franz Josef II. 1989 zogen die Fürstli-
chen Sammlungen in der ersten Januarwoche 1990 alle Leihgaben aus
den Ausstellungen im Engländerbau ab. So wurde es notwendig, für die
künftige Zusammenarbeit ein neues Konzept zu erarbeiten, was sehr
schnell gelang: «Diesem Konzept zufolge wird nun der frühere Rubens-
Saal vorwiegend für Ausstellungen von Kunstgut aus den Fürstlichen
Sammlungen bereit gehalten (...). Die Staatliche Kunstsammlung ande-
rerseits bekommt vermehrt Gelegenheit, vor allem im 1. Obergeschoss
26 Auch nach dem Ausscheiden Malins Anfang 1996 führte die Staatliche Kunstsamm-
lung und später das Kunstmuseum Liechtenstein diese Praxis fort mit der Aufstel-
lung der Skulptur von Mimmo Paladino im Vorhof der Burg Gutenberg in Balzers,
dem «Z-Würfel» Georg Malins vor der Post in Vaduz, der «Beerenfrucht» dessel-
ben Künstlers am Gymnasium Vaduz, den Skulpturen von Fernando Botero und
Eduardo Chillida am Kunstmuseum selbst sowie der durch Skulpturen von Gott-
fried Honegger, Hanna Roeckle und Leiko Ikemura erweiterten Neuordnung des
Parks in der Stein Egerta 2016.
27 Erst 2015 stellte das Kunstmuseum die Herausgabe der Kunstagenda aus wirt-
schaftlichen Gründen ein.
54
Das Werden eines Museums
Wechselausstellungen in kürzeren Intervallen als bisher zu veranstal-
ten.»? Diese neue Situation nutzte Malin für eine rege Ausstellungstä-
tigkeit, die sich nicht nur auf die eigenen Sammlungsbestände konzen-
trierte, sondern auch externe Kuratoren und Leihgaben aus anderen
Sammlungen mit einbezog. Die deutlich wachsenden Bestände der
Sammlung führten zudem zur Einladung des Tiroler Landesmuseums in
Innsbruck für eine Ausstellung, die 1993 erfolgte. So wuchs langsam
auch ausserhalb Liechtensteins der Bekanntheitsgrad der Staatlichen
Kunstsammlung.
Ende der 1980er-Jahre richtete der Staat zudem in Triesen ein
Gebäude ein, das er allen Kultursammlungen des Landes widmete. Auch
die Staatliche Kunstsammlung erhielt hier erstmals Depoträume, die so
ausgelegt waren, dass die Sammlung weiterhin wachsen konnte, ohne in
akute Raumnot zu geraten. Das eröffnete auch die Möglichkeit der
Annahme grösserer Leihgaben-Konvolute. So kam es 1992 zur Über-
nahme der Sammlung Per und Parvati Sandven, Oslo, aus der sofort eine
Auswahl in einer Ausstellung gezeigt wurde. Mit dem Bestandskatalog
der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung legte Georg Malin
pünktlich zu seinem Ausscheiden als deren Konservator im Frühjahr
1996 eine abschliessende Dokumentation seines 27-jährigen Wirkens für
die Staatliche Kunstsammlung vor.
VI.
Malin war es gelungen, nach dem Scheitern des Kunsthaus-Projektes
eine neue Dynamik für die Staatliche Kunstsammlung zu entwickeln
und in kleinen Schritten die Erweiterung der museumstypischen
Aspekte umzusetzen. 1996 verfügte die Einrichtung im Prinzip über die
wichtigen Merkmale eines Museums: Sichtbarkeit der Sammlung und
deren kontinuierliche Erweiterung, regelmässiger Ausstellungsbetrieb
mit Publikationen, ordentliche Depotflächen und ein Unterstützer-
umfeld, das sich im Wesentlichen um die Liechtensteinische Kunstge-
28 Georg Malin, Sommer 1990, in: Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung Va-
duz (Hrsg.), Sommer 1990. exdepot — Graphik und Skulpturen, Vaduz, Eigenverlag,
1990, 5. 4.
55
Friedemann Malsch
sellschaft gruppierte. Es fehlte nur ein eigenes Gebäude. Das Entstehen
des Kunstmuseums Liechtenstein konnte Malin dann kurz nach Ende
seiner aktiven Zeit als interessierter Beobachter verfolgen und begleiten.
1996 entstand eine neue Initiative für den Bau eines Kunstmuse-
ums. Zunächst war geplant, mit den noch immer vorhandenen Geldern
der Kunsthaus-Stiftung ein (bescheidenes) Gebäude zu errichten. Die
Besichtigung des Erweiterungsbaus des Kunstmuseums Winterthur im
Frühjahr 1996 durch eine Gruppe an diesem Projekt interessierter Per-
sonen ergab nicht nur, dass dies ohne Abstriche an Museumstauglichkeit
möglich gewesen wäre. Die Exkursion entfachte vielmehr die Begeiste-
rung für ein anspruchsvolleres Projekt. Eine Machbarkeitsstudie bestä-
tigte die Möglichkeit, im Zentrum von Vaduz auf einer relativ kleinen
Parzelle ein mittelgrosses Kunstmuseum zu errichten, vergleichbar mit
jenen in St. Gallen, Chur, Solothurn oder Luzern. Nachdem auch der
Landtag im Dezember 1996 ein Rahmenkonzept für den Bau und
Betrieb eines Kunstmuseums beschlossen hatte, bildete sich eine private
Bauherrenstiftung unter Beteiligung der Regierung und der Gemeinde
Vaduz, die das Gebäude mit weitgehend privaten Mitteln in kürzester
Zeit realisierte und im August 2000 dem Land Liechtenstein feierlich
übergab. Das Kunstmuseum Liechtenstein eröffnete noch im November
des gleichen Jahres.”
Die Gründe für diese rasante Entwicklung sind sicher vielschichtig
und eng mit den Akteuren verbunden. Von Bedeutung war einerseits
sicher der Leidensdruck, der sich aus dem Scheitern des Bauprojekts der
1980er-Jahre ergeben hatte. Andererseits war mit der stetigen Erweite-
rung und der gewachsenen Sichtbarkeit der Staatlichen Sammlung auch
die Überzeugung gewachsen, einen neuen Vorstoss zu wagen. Schliess-
lich erlaubte die seit 1990 neu definierte, flexiblere Zusammenarbeit zwi-
schen den Fürstlichen Sammlungen und der Staatlichen Kunstsammlung
eine Redimensionierung des Bauprojektes.
So verschob sich auch der Schwerpunkt der Aufgaben für das neue
Kunstmuseum. Die Präsentation von Ausstellungen aus den Fürstlichen
Sammlungen ging zwar weiter, die Haupttätigkeit des Museums galt
29 Vel. hierzu ausführlich: Friedemann Malsch, 10 Jahre Kunstmuseum Liechtenstein.
Seine Entwicklung und seine Besonderheiten, in: ders. (Hrsg.), Der offene Blick. 10
Jahre Kunstmuseum Liechtenstein, Bern, Benteli, 2010, S. 15—41.
56
Das Werden eines Museums
aber nun der modernen und zeitgenössischen Kunst. Nachdem das Fürs-
tenhaus 2004 in Wien das Liechtenstein Museum eröffnet hatte und die
Ausstellungstätigkeit der Fürstlichen Sammlungen sich zunehmend auf
Auftritte in aller Welt konzentrierte, verringerten sich noch einmal die
Möglichkeiten zu ihrer Präsentation in Vaduz. Das Kunstmuseum
erhielt dadurch einen wachsenden Spielraum, um sein eigenes Samm-
lungs- und Ausstellungsprofil zu schärfen und im In- und Ausland
bekannt zu machen. Dies gelang innerhalb weniger Jahre. Spätestens seit
der Kooperation mit dem Kunstmuseum St. Gallen und dem MMK
Museum Moderner Kunst in Frankfurt am Main zum Erwerb der
Sammlung Rolf Ricke 2006 ist das Kunstmuseum Liechtenstein in
Europa und auch darüber hinaus als ernst zu nehmendes Museum
moderner und zeitgenössischer Kunst bekannt und akzeptiert. Damit
leistet es auch einen wichtigen Beitrag zur Darstellung des Landes
Liechtenstein nach aussen wie auch zur Stärkung einer liechtensteini-
schen Identität insgesamt. Auch diese politische Funktion hatte Georg
Malin bereits erkannt und angemahnt: «Den Kleinstaaten bleibt, um ihre
Existenz rechtfertigen zu können, vor allem das Vertrauen auf das Recht;
zur Profilierung ihrer staatlichen Identität und deren Glaubwürdigkeit
nach innen und aussen müssen vorwegs ideelle Güter, humanistische
Errungenschaften, Kunst und Kultur herangezogen werden.»
Ebenfalls 2006 wurde die Stiftung «Freunde des Kunstmuseum
Liechtenstein» ins Leben gerufen, die seither das Museum ideell und
materiell unterstützt, insbesondere durch die Finanzierung von Ankäu-
fen für die Sammlung. Die Stiftung übernahm mehr und mehr die Funk-
tion eines Unterstützerkreises. Die Liechtensteinische Kunstgesellschaft
orientierte sich ihrerseits nach dem Jahr 2000 neu und erweiterte ihre
Aktivitäten über die Unterstützung des Kunstmuseums hinaus auf die
Zusammenarbeit mit anderen Kunstinstitutionen in Liechtenstein, der
Kunstschule Liechtenstein, dem Kunstraum Engländerbau und dem
Liechtensteinischen Landesmuseum.
Wie stark das Interesse an moderner Kunst in Liechtenstein —
durch die Aktivitäten der Staatlichen Kunstsammlung und des ihr nach-
folgenden Kunstmuseums Liechtenstein befördert — im Laufe der Jahre
30 Siehe Anm. 8, S. 10.
57
Friedemann Malsch
gewachsen und das Land Liechtenstein zu einem Kunststandort gewor-
den ist, zeigt auch die Tatsache, dass sich die Hilti Art Foundation,
Schaan, entschloss, ein Ausstellungsgebäude direkt neben dem Kunst-
museum zu errichten und es als Erweiterung an das Kunstmuseum
anzuschliessen. In diese Räume, die im Mai 2015 eröffnet wurden, zog
zudem die Sammlung der Hilti Art Foundation ein und erweitert seit-
dem mit ihren herausragenden Beständen an Kunst der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts wie auch mit Kunst nach 1945 das Angebot des Kunst-
museums. Diese enge Zusammenarbeit einer liechtensteinischen Privat-
sammlung mit der staatlichen Institution ist vielleicht der deutlichste
Ausdruck der grundlegenden Veränderung im Bewusstsein der liechten-
steinischen Bevölkerung von der Rolle und Funktion der Kunst: Hier
manifestiert sich in greifbarer Weise die Überzeugung, dass Kunst eine
Angelegenheit der Gemeinschaft ist, und dass diese sich mit und durch
die Kunst ihrer Identität versichern kann.
VIL
Das Land Liechtenstein hat sich mit dem Kunstmuseum Liechtenstein
stark für die Kunst als Bestandteil des Landes engagiert und positioniert.
Damit hat es sich — ganz im Sinne Georg Malins — als modernes und
weltoffenes Land gezeigt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass
derartiges Engagement auch Verpflichtungen mit sich bringt. Ein Kunst-
museum allein macht einen Staat noch nicht zu einem ausgewiesenen
Kunststandort. Dazu bedarf es flankierender Massnahmen. So ist es zu
begrüssen, dass der Landtag 2016 ein Kulturgütergesetz verabschiedet
hat, das erstmals auch für private Sammlungen Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit schafft. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Auch die Entstehung eines offenen Zolllagers in Mauren, das Anfang
2017 eröffnet werden soll, ist ein weiterer Baustein in einem noch offe-
nen Puzzle eines künftig überzeugenden Kunststandortes. Doch bedarf
es noch weiterer Anstrengungen, etwa bei der Förderung des Kunsthan-
dels, der in Liechtenstein bislang wirtschaftspolitisch vernachlässigt
worden ist. Liechtenstein hat auf diesem Feld ein Handlungspotenzial,
das noch längst nicht ausgeschöpft ist.
Neben diesen praktischen und detailreichen Aspekten sollte der
Staat jedoch nicht seine Vorbildfunktion für die Gemeinschaft vernach-
58
Das Werden eines Museums
lässigen. Dazu gehört auch die Tatsache, die eigenen Institutionen so
auszustatten, dass sie ihrer gesetzlichen Aufgabe und ihrer gesellschaft-
lichen Verantwortung im vollen Umfang nachkommen können. So ist es
sehr zu bedauern, dass der Landtag 2014 das Budget des Kunstmuseums
Liechtenstein für Kunstankäufe um 60 Prozent gekürzt und dies bislang
auch nicht revidiert hat. Die Botschaft einer solchen Entscheidung ist
fatal, suggeriert sie doch, dass das Engagement des Staates für seine
eigene Kunstsammlung schwindet. Dies destabilisiert die Stellung des
Museums und gefährdet — sollte es bei diesen Kürzungen bleiben — lang-
fristig die Qualität der Sammlung und den Bildungsauftrag des Muse-
ums. Zudem verringert eine solche Geste die Bereitschaft von privater
Seite, das Kunstmuseum für die Erweiterung der Sammlung finanziell zu
unterstützen. Es könnte eine Abwärtsspirale entstehen, die im Resultat
die Sammlung veralten lassen, das Profil des Museums verwässern und
damit seine Bedeutung schmälern würde. In diesem Sinne ist der Staat in
der Verantwortung für die Gemeinschaft, und wer könnte diese Verant-
wortung besser benennen als Georg Malin: «Für Liechtenstein wäre
keine Legitimation seiner Eigenständigkeit überzeugender als diese: ein
Ort schöpferischer Freiheit zu sein.»*
31 Wie Anm. 15.
59
Zum Werdegang des Kunstmuseums
und von weiteren bedeutenden Bausteinen
der Zentrumsplanung Vaduz
Hubert Ospelt
Im folgenden Beitrag soll der langwierige Weg zum Kunstmuseum
Liechtenstein im Kontext der Zentrumsplanung von Vaduz aus raum-
planerischer, städtebaulicher, architektonischer wie auch politischer
Sicht skizziert werden. Inhaltlich geht es um Bau-, Raum- und Er-
schliessungsstrukturen von Planungen sowie um städtebauliche und
architektonische Aspekte von prägenden Einzelprojekten. Angespro-
chen werden auch politische Gegebenheiten, sofern sie bei der Umset-
zung von Planungen und Projekten von Bedeutung waren. In einem
Exkurs wird die Thematik des öffentlichen Raums allgemein und dessen
Ausgestaltung, oftmals mit Kunstwerken, besprochen. In einem Aus-
blick sollen ein Fazit gezogen und Perspektiven erörtert werden.
In den Anfängen: Prägende Einzelbauten im Zentrum
Während langer Zeit waren Einzelbauten prägend für die Zentrumsent-
wicklung von Vaduz: beispielsweise das Verweserhaus, das 1896 sein
heutiges Erscheinungsbild erhielt; die von 1869 bis 1873 nach Plänen von
Dombaumeister Friedrich von Schmidt, Wien, erbaute neugotische
Pfarrkirche; das von 1903 bis 1905 nach Plänen von Gustav Ritter von
Neumann, Wien, errichtete Regierungsgebäude; oder der 1933 bis 1934
als Sitz eines englischen Lotterieunternehmens nach Plänen von Archi-
tekt Erwin Hinderer, Stuttgart/Schaan, in Stahlskelettbauweise errich-
tete Engländerbau, ein erstes Beispiel für «Neues Bauen», einer damali-
gen Bewegung für Architektur in Deutschland.
61
Hubert Ospelt
Abb. 1: Alte Landstrasse, Engländerbau, Landesmuseum,
ca. 1960.
Abb. 2: Vaduz Zentrum, Rathausplatz, ca. 1936.
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Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
Mit dem Rathausprojekt zur Schaffung eines Ortszentrums
1933 wurde mit der Planung und Realisierung des Rathauses durch Ar-
chitekt Franz Roeckle, Frankfurt a. M./Vaduz, «der Auftakt zur Neu-
gestaltung eines eigentlichen Vaduzer Dorfzentrums initiiert» (aus:
JBL 114, 2015, S. 228). Erstmals kann von einem Planungskonzept ge-
sprochen werden, das über das Bauprojekt hinaus neben der Ausbildung
der Aussenräume auch bereits Erweiterungsoptionen aufzeigte, die län-
gerfristig zur gewünschten Raumbildung führen sollten. Die Erweite-
rung sollte den oberen Rathausplatz räumlich begrenzen, eine heute noch
bestehende Baumreihe wurde zur Begrenzung des unteren Rathausplat-
zes gepflanzt. Das Konzept hat bis heute grundsätzlich seine Gültigkeit
bewahrt und wurde bei den nachfolgenden Planungen und Projekten auf
diesem Areal weitgehend respektiert, wobei sämtliche späteren Projekte,
wie das Kongresshaus, das Kunsthaus sowie zwei weitere Gemeindepro-
jekte, im Bereich des Rathausplatzes scheiterten. Bekanntlich wurde das
letzte Projekt zur «Zentrumsentwicklung Rathausumgebung» mit dem
Titel «Gnuag Platz för alli» am 15. März 2015 zur Abstimmung gebracht.
Das Projekt, das in vorbildlicher Weise die bereits mit dem seinerzeitigen
Rathausbau angedachte Begrenzung zur Bildung eines oberen und eines
unteren Platzes umgesetzt hätte, wurde im Vorfeld der Abstimmung in
bekannter Vaduzer Manier verpolitisiert und in der Folge abgelehnt.
Erste Zentrumsplanung in den 1960er-Jahren
1960 wurde erstmals eine Zentrumsplanung für den Bereich Städtle ini-
tiiert, die an das Planungsbüro Marti und Kast, Zürich, vergeben wurde.
Gemäss einem 1962 vorgestellten Bericht sah die Planung eine komplett
neuartige Bebauungsstruktur, ein neues Verkehrsregime (Äulestrasse mit
Gegenverkehr, Städtle als Fussgängerzone) und eine Fussgängerüberfüh-
rung vom Städtle ins Äule im Bereich des ehemaligen Marktplatzes vor.
Die Städtleebene wurde als Fussgängerbereich bis zur Äulestrasse aus-
gedehnt, was zum heute noch gültigen Konzept der Platz- und Wegbil-
dungen führte. Realisiert im Geiste dieser Planung sind zwischenzeitlich
das Verkehrsregime (Äulestrasse im Jahr 1998, Fussgängerzone Städtle
2004, diverse Plätze im Zwischenbereich) und einzelne Bauten, wie das
Postgebäude und die über eine Brücke verbundene, ursprünglich nicht
63
Hubert Ospelt
vorgesehene Marktplatzgarage in den 1970er-Jahren. Der Platz wurde
abweichend vom seinerzeitigen Konzept nicht auf Niveau Äulestrasse,
sondern ein Geschoss höher auf dem Deck der Marktplatzgarage vorge-
sehen. Die später auf das Gebiet Äule und die Schlosshalde ausgedehnte
Zentrumsplanung blieb, abgesehen von gestalterischen Inhalten, auch
nach mehreren Revisionen in den Grundzügen erhalten.
Öffentliche und private Ausstellungsbauten am Hangfuss
Bevor die Idee für ein Kunsthaus und später für ein Kunstmuseum auf-
kam, entstanden öffentliche und private Ausstellungsbauten, die das Zen-
trum am Hangfuss prägten. Der Ursprung des Landesmuseums geht auf
die Ausstellung von Kulturgütern in Räumlichkeiten auf Schloss Vaduz
Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Nach vorübergehender Unterbrin-
gung in verschiedenen Gebäuden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
fand das Museum im 1954 neu errichteten Gebäude der Landesbank im
Städtle für zwölf Jahre Unterkunft. Anfang der 1970er-Jahre bezog das
Landesmuseum ein renoviertes historisches Gebäude im Amtsviertel, die
ehemalige herrschaftliche Taverne zum Adler, am heutigen Standort, wo
es nach Um- und Erweiterungsbauten 2003 neu eröffnet wurde.
Im 1934 errichteten Engländerbau wurden ab den 1950er-Jahren
Ausstellungen aus den Fürstlichen Sammlungen, ab den 1970er-Jahren
zudem Ausstellungen der Staatlichen Kunstsammlung gezeigt. 2002 wur-
Abb. 3: Broschüre «Ein Zentrum für Vaduz», Modell und Perspektivskizze
Zentrumsplanung 1962.
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
de der Kunstraum Engländerbau eröffnet, der zeitgenössisches Kunst-
schaffen aus Liechtenstein und der Region im zweiten Obergeschoss
zeigt. Im selben Jahr konnte das 1930 gegründete und 2006 dem Landes-
museum zugeteilte Postmuseum, das die Geschichte der liechtensteini-
schen Philatelie und Post sowie Sonderausstellungen zeigt, im ersten Ge-
schoss des Engländerbaus einziehen.
1971 liess der Kunstsammler und Mäzen Robert Altmann von
Architekt Ricardo Porro, Kuba, dem Schöpfer der berühmten Kunst-
schulen in Havanna, das «Centrum für Kunst und Kommunikation» im
Beckagässle in Vaduz errichten, wo von 1974 bis 1979 Ausstellungen
stattfanden, die schliesslich aus finanziellen Gründen eingestellt wurden.
Heute wird das Centrum für Kunst zweckentfremdet als Bürogebäude
genutzt. Es bleibt zu hoffen, dass das expressive, symbolbefrachtete und
bedeutende Gebäude dereinst wieder seiner angestammten Nutzung
zugeführt werden kann.
Im «Liechtensteiner Almanach 1989» bezeichnete Robert Altmann
den Bau als ein lesbares Objekt. Er schreibt: «Die Entzifferung einer
Anzahl von Zeichen und Formeln könnte schliesslich den tieferen Sinn
dieser Architektur liefern, welche einen Ort innerhalb einer Stadt mit
Resten spätbarocker Stilrichtungen und Neuentwicklungen hochmoder-
ner Technik in greifbarer Nähe von Wäldern, Flüssen und Gebirgen
bestimmend auslegt (...). Das, was zu lesen ist, findet sich in einer Form-
zusammenstellung von grossem Reichtum an Symbolen und Anspielun-
gen auf Mythen der Vergangenheit (...).» Gemäss Altmann erdachte sich
Ricardo Porro die Figur des Berg-Riesen, der in den frühesten Vorstel-
lungen ein sagenhaftes Dasein im Inneren der Gebirge führte. Das Cen-
trum für Kunst stellt eine Skulptur dar, eine aus dem Boden ragende
Giganten-Hand. «Das Gebäude als Riesen-Hand beschreibt in einem
dynamischen Duktus ein Geschehen: das Heraufholen aus dem Urgrund
von Erzen, die im Licht sich verwandeln in edles Metall. Feine Goldfä-
den umspannen einen gläsernen Kern. Eine Verwandlung hat stattgefun-
den (...). Die Nachbildung eines alchemistischen Prozesses führt uns in
die Geschichte und Legende von Goldsuchern und Magiern, von Philo-
sophen, die wie Paracelsus in diesem Land herumfuhren».! Der Berg-
1 Robert Altmann sen., Die Landschaft in Ricardo Porros Bauweise, in: Liechtenstei-
ner Almanach 1989, «Landschaft», S. 221.
65
Hubert Ospelt
Riese wird von Robert Altmann als landschaftsbindendes Element des
Kunstwerkes bezeichnet. Das Ausstellungsgebäude kann somit als
Gesamtkunstwerk betrachtet werden.
Das Kunsthausprojekt am Rathausplatz
In den 1970er-Jahren wurde das Umfeld des Rathausplatzes erneut zum
Ort des Geschehens, nachdem das Kongresshausprojekt an diesem Ort
in den 1960er-Jahren aufgegeben worden war. Es entstand der Plan für
den Bau eines Kunsthauses, nachdem 1969 Fürst Franz-Josef II. das An-
gebot unterbreitet und 1979 nochmals erneuert hatte, etwa 200 Kunst-
werke aus seinen Sammlungen für ein Kunsthaus zur Verfügung zu stel-
len. Auf der Grundlage eines raumplanerischen Gutachtens im März
1975 stellte die Gemeinde Vaduz ein Grundstück am Rathausplatz zur
Verfügung, um dort ein Kunsthaus errichten zu können. Im Dezember
1975 errichteten Gemeinde, Land und die gleichzeitig gegründete Liech-
tensteinische Kunstgesellschaft eine Stiftung mit dem Zweck, ein Kunst-
haus zu bauen. Die Staatliche Kunstsammlung sollte darin ebenfalls ihre
Sammlungsbestände sowie Wechselausstellungen zeigen können. Seit
Abb. 4: Centrum für Kunst, Ansicht vom Beckagässle, 1970er-Jahre. | Abb. 5: Informations-
broschüre zum Kunsthaus, 1980, Modellaufsicht, Projekt Architekt von Branca.
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
1952 waren im Engländerbau, der 1944 vom Land Liechtenstein gekauft
worden war, bereits Ausstellungen aus den Kunstsammlungen des Fürs-
ten von Liechtenstein gezeigt worden. Anlass zur Gründung der Staatli-
chen Kunstsammlung 1968 war die Schenkung eines Konvoluts von zehn
Gemälden aus dem 17. bis 19. Jahrhundert durch den Grafen Maurice
Arnold von Bendern im Jahr 1967. Ab 1969 wurden die Ausstellungen
durch den ersten Konservator Dr. Georg Malin organisiert. Die Fürstli-
chen Sammlungen wurden im zweiten Obergeschoss und Werke aus den
eigenen Sammlungen resp. Wechselausstellungen, vorzugsweise aus dem
20. Jahrhundert, im ersten Obergeschoss ausgestellt.
1977 wurde ein Projektwettbewerb zur Erlangung von Entwürfen
für den Neubau des Kunsthauses Vaduz ausgeschrieben. Den Wettbe-
werb gewann der Münchner Architekt Alexander Freiherr von Branca,
der zu jener Zeit mit dem Bau der Neuen Pinakothek in München
befasst war und somit eine gute Referenz vorweisen konnte. Den zwei-
ten Preis erzielte der Zürcher Architekt Ernst Gisel, der sich mit dem
Bau des Liechtensteinischen Gymnasiums bereits einen Namen im Land
gemacht hatte. Von Brancas Museumsprojekt entsprach in seiner räum-
lichen Disposition sowie der Gestaltung der Ausstellungsräume in
besonderer Weise den Erfordernissen der auszustellenden Sammlungen,
was wohl entscheidend war bei der Vergabe des ersten Preises. Der
Bezug seiner Architektursprache auf die «alpenländische Landschaft»
warf allerdings eher Fragen auf. Gisels Projekt hingegen wurde charak-
tervolle architektonische Gestaltung attestiert, konnte aber den musea-
len Anforderungen nicht ganz entsprechen. Generell konstatierte die
Jury eine Überladung des Programms und in keinem Projekt eine voll-
ständig befriedigend gelöste städtebauliche und museumstechnische
Aufgabe, weshalb eine Weiterbearbeitung der drei erstprämierten Pro-
jekte empfohlen wurde. Zudem wurde von der Jury angeregt, dass die
Bauvorschriften der Zentrumsplanung aufgrund der damals vorliegen-
den städtebaulichen Erkenntnisse überprüft und die Überarbeitung
unter Berücksichtigung der praktischen Realisierbarkeit und auch der
politischen Gegebenheiten erfolgen sowie die Programmanforderungen
gegebenenfalls reduziert werden sollten.
Bemerkenswert sind die Hinweise auf baurechtliche und politische
Problemstellen, die bei diesem Projekt, aber auch bei darauf folgenden
Projekten, zum Scheitern resp. ungewollt zu neuen Projekten führten.
Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass der Zielkonflikt zwischen dem
67
Hubert Ospelt
überladenen Programm und der zu geringen Grundstücksfläche kaum
lösbar war. Von Brancas Projekt konnte den ursprünglich vorgegebenen
oberen Rathausplatz zwar erhalten, hatte den unteren Rathausplatz aber
auf eine Gasse reduziert. Gisels Projekt hatte den oberen Rathausplatz
ganz aufgegeben, hatte aber mit der Integration eines Fusswegs vom
Städtle durchs Museum hindurch, über eine Brücke ins Äule, zumindest
eine geniale Idee eingebracht. Die Standortfrage, d. h. die Frage, ob das
Umfeld vom Rathausplatz ein geeigneter Platz für das Kunsthaus war
oder ob beispielsweise die Baulücke zwischen Engländerbau und Lan-
desmuseum — aus topografischer Sicht ideal für Nutzungen mit wenig
Taglichtbedarf, aber auch zur Schaffung eines Museumquartiers im
Sinne einer Aneinanderreihung musealer Bauten — nicht prädestinierter
gewesen wäre, war damals und ist heute noch aktuell. Die Baulücke war
übrigens 1971 durch den voreiligen Abbruch eines geschichtlich bedeu-
tenden, repräsentativen Gebäudes entstanden. Das 1866 bis 1867 als ers-
tes Parlamentsgebäude errichtete sogenannte Ständehaus beherbergte
später die Realschule und zuletzt die Landesbibliothek. Der Abriss des
Gebäudes war in der Absicht erfolgt, ein Kunsthaus an diesem Ort zu
erstellen. Beim Kunsthausprojekt am Rathausplatz stellte sich zudem die
Frage, ob ein Museum die adäquate Nutzung für eine Rathauserweite-
rung darstellt.
Das Projekt von Branca wurde nach dem Wettbewerbsverfahren
jedenfalls weiterentwickelt. Die Finanzierung war durch 1980 geneh-
migte Mittel von Land Liechtenstein und Gemeinde Vaduz wie auch
durch private Mittel gesichert. Im Laufe der frühen 1980er-Jahre geriet
das Projekt in politische Schwierigkeiten. Der sogenannte «Kunsthaus-
fall» weitete sich zur Staatsgerichtshof-Affäre aus. Das Projekt wurde
1987 aufgegeben, nachdem etwa vier Millionen Franken an Planungs-
kosten angefallen waren. Das fürstliche Angebot, die Sammlungen zur
Verfügung zu stellen, wurde seither nicht mehr erneuert. 1988 stellte
Georg Malin resigniert fest: «Das Kunsthaus Vaduz ist in politischer,
kultureller und architektonischer Hinsicht wohl eines der bedeutendsten
und grössten Vorhaben in der Geschichte des Fürstentums Liechten-
stein. Kurz vor der Realisierungsphase kam das Projekt in die Mühle der
Vaduzer Kommunalpolitik, wo es in unerklärbarer Weise in dörflichen
Zänkereien demontiert wurde. Grössere Kontraste kann man sich kaum
denken: Ein bedeutungsarmer und kulturell beinahe bracher Kleinstaat
vertut die Chance, dank der Grosszügigkeit seines Staatsoberhauptes
68
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
Franz Josef II. von und zu Liechtenstein Standort einer der wichtigsten
privaten Kunstsammlungen zu werden» (zitiert nach Arno Waschkuhn,
Politisches System Liechtensteins, LPS 18, Vaduz 1994, S. 218).
Wie einem Interview zum 90. Geburtstag von Georg Malin im
Liechtensteiner Vaterland vom 6. Februar 2016 zu entnehmen war,
erfreut ihn zwar das realisierte Kunstmuseum, das er als einen klassi-
schen, guten Bau bezeichnet. Die verpasste Chance mit der Fürstlichen
Sammlung, die im nicht realisierten Kunsthaus mit den weltberühmten
Rubensbildern eine zentrale Rolle gespielt hätte, schmerzt ihn aber heute
noch. Die Fürstliche Sammlung ist seit 2004 im Liechtenstein-Museum
im Gartenpalais Liechtenstein in Wien beheimatet. 2012 wurde der
Museumsbetrieb mit fixen Öffnungszeiten eingestellt. Ein Teil der
Sammlung ist seit 2013 im neu renovierten Stadtpalais Liechtenstein in
Wien zu sehen. Es verbleibt somit die Hoffnung, dass eines Tages
zumindest ein substanzieller Teil der Sammlung an geeigneter Stelle,
idealerweise in der bereits angesprochenen Baulücke zwischen Englän-
derbau und Landesmuseum, die nach einem Bodentausch mit dem Land
nun dem Fürstenhaus gehört, eine Heimat finden könnte. Dies entsprä-
che wohl Georg Malins Intention, wenn auch auf zwei Museen verteilt.
Projekt- und Ideenwettbewerbe in den 1980er-Jahren
In den 1980er-Jahren entstanden die aus Projektwettbewerben hervor-
gegangenen Bauten der Landesbank im Äule (Arge Architekten
Boss/Ospelt, Vaduz) und anschliessend im Städtle (Architekten Bar-
getze & Partner, Vaduz). Beide Bauten können insofern als Bausteine der
Zentrumsplanung betrachtet werden, als sie mittels Schaffung von
öffentlichen Plätzen zu den Platzfolgen im Zentrum beitrugen.
1986 gewann der Tessiner Architekt Luigi Snozzi, Locarno, mit
dem Projekt «Polis» den städtebaulichen Ideenwettbewerb zur Neuge-
staltung des Regierungsviertels und 1987 den anschliessenden Projekt-
wettbewerb für das Landtagsgebäude. «Baust du einen Weg, ein Haus,
ein Quartier, dann denke an die Stadt», war dabei Snozzis Leitgedanke.
Prägendes städtebauliches Element war eine Hangfussbebauung, die
bestehende historische und neu geplante Einzelbauten wie das Land-
tagsgebäude klammerartig einrahmte. Eine offene Galerie im Hochpar-
terre der Hangbebauung sollte als Durchgangsloggia der repräsentativen
69
Hubert Ospelt
öffentlichen Erschliessung dienen. Dieses städtebauliche Konzept, das in
einem auf das Projekt abgestimmten Überbauungsplan verankert wurde,
ist bis heute wegweisend. Das unmittelbar neben dem Regierungsge-
bäude angeordnete Landtagsgebäude konnte nach Ablehnung des
Finanzbeschlusses an einer Volksabstimmung im März 1993 so nicht
realisiert werden.
Bauten im Regierungsviertel
Das 1998 aus einem Wettbewerb hervorgegangene und 2003 fertigge-
stellte Landesmuseum (Architekten Brunhart Brunner Kranz, Balzers)
war das erste Bauvorhaben, das im neu konzipierten Regierungsviertel
realisiert wurde. Die historischen Bauten, nämlich das Landesmuseum
und das Verweserhaus, wurden umgebaut und nehmen heute kulturge-
schichtliche Ausstellungen auf. Hangseitig wurden sie mit einem neuen
Erweiterungsbau für die naturkundlichen Sammlungen verbunden. Die-
ser wurde abweichend vom Konzept der vorgesehenen Hangfussbebau-
Abb. 6: Wettbewerb Regierungsviertel, 1987, Projekt Polis,
Architekt Snozzi.
70
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
ung in den Schlosshang hineingebaut, wobei lediglich Stützmauern in
Erscheinung treten, wie sie auch in der Nachbarschaft vorhanden sind.
2008 konnte das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Landtagsge-
bäude (Architekt Göritz, Hannover) als weiterer Baustein des Regie-
rungsviertels eröffnet werden. Mit dem hangseitigen Verwaltungstrakt
wurde eine erste Etappe der Hangfussbebauung gemäss ursprünglichem
Konzept realisiert. Der Anschluss an die kaschierte Hangbebauung des
Landesmuseums tritt nun als Bruchstelle in Erscheinung.
Das 2005 aus einem Wettbewerb hervorgegangene und 2009 fertig-
gestellte Archivgebäude (Kaundbe Architekten, Vaduz) war das dritte
Bauvorhaben im neu gestalteten Regierungsviertel. Es besteht aus einer
Hangbebauung, die nahtlos an den Verwaltungstrakt des Landtagsge-
bäudes anschliesst und so dem ursprünglichen Konzept entspricht.
Eine letzte Erweiterung dieser Bebauung kann in Zukunft das
städtebauliche Konzept zum Abschluss bringen. Wenn es im Vergleich
mit dem ursprünglichen Projekt «Polis» von Architekt Snozzi auch
nicht aus einem Guss ist und wesentliche Elemente wie die offene Gale-
rie fehlen, so muss die Zusammenführung von drei Projekten in ein
Ganzes doch positiv gewürdigt werden. Der Vorschlag des Verfassers
dieses Beitrags in den 1990er-Jahren, die Hangfussbebauung anschlies-
send an das Landesmuseum nach Norden in der Schlosshalde bis zum
Beckagässle auszudehnen, fand zwar im Richtplan der Zentrumsplanung
ansatzweise Aufnahme, wurde aber nicht weiterverfolgt. Aus raumpla-
nerischer Sicht wurde zudem eine Chance vertan, auf der Krone der
Hangfussbebauung zentrumsnah wertvollen Wohnraum zu schaffen.
Ideenwettbewerbe Äule und Städtle
1991 gingen aus den Ideenwettbewerben Areal Äule und Areal Städtle
neue städtebauliche Konzepte (Architekt Hubert Ospelt, Vaduz) hervor,
die anschliessend Niederschlag in der Zentrumsplanung fanden. Im Äule
ging es um eine städtebauliche Gesamtkonzeption im Bereich Markt-
platzgarage und Schulareal, wobei Vorschläge für Bauten der Landesver-
waltung, der Landesbibliothek und des Landgerichtes sowie für eine Pri-
marschule und den Saalbau zu entwickeln waren. Im Städtle ging es um
eine städtebauliche Gesamtkonzeption im Bereich zwischen Rathaus-
gasse und Postgasse, wobei Vorschläge für die Rathauserweiterung mit
71
Hubert Ospelt
der Option Saalneubau, für ein Hotel und weitere Bauten sowie für
Platz- und Freiraumgestaltungen zu entwickeln waren. Realisiert sind
zwischenzeitlich im Äule die Primarschule mit der Saalerweiterung und
ein Bankgebäude an der Marktplatzgarage, im Städtle das Kunstmuseum
und diverse Bauten in dessen Nachbarschaft sowie einzelne Ersatzbau-
ten an der Schlosshalde. Das Rathausareal harrt als wesentliches Element
der Zentrumsplanung nach wie vor seiner Vollendung.
Das Kunstmuseum und die Hilti Art Foundation
1996 gab es eine neue Initiative zum Bau eines Kunstmuseums. Der
Standort war auf dem ehemaligen BVD-Areal vorgesehen, zentral zwi-
schen Städtle und Äulestrasse gelegen. Das Bauwerk sollte grösstenteils
durch Private finanziert werden. Für die Durchführung der Baumass-
nahmen wurde vom Staat, von der Gemeinde Vaduz und von privaten
Geldgebern eine Stiftung «zum Bau eines Kunstmuseums in Liechten-
stein» gegründet, die dem Land das Gebäude nach seiner Fertigstellung
übergeben sollte. Die Staatliche Kunstsammlung sollte das Kunstmu-
seum nach seiner Fertigstellung mit staatlichen Mitteln betreiben. Das
Abb. 7: Richtplan Städtle, Axonometrie Gebäude, 1997,
Arge Ospelt/Bargetze.
72
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
Konzept wurde noch 1996 vom Landtag genehmigt. Im ersten Halbjahr
1997 wurde mit der Überarbeitung der Zentrumsplanung Städtle, also
des Bereichs zwischen Post- und Rathausgasse, die planungsrechtliche
Grundlage für das beabsichtigte Projekt erarbeitet (Arge Architekten
Hubert Ospelt/Bargetze & Partner, Vaduz). Die Überarbeitung wurde
aus dem städtebaulichen Konzept abgeleitet, das aus dem vorangegange-
nen Ideenwettbewerb «Städtle» hervorgegangen war. Neue Elemente
der Überarbeitung waren streng orthogonal ausgerichtete Bauten sowie
die entsprechende Gliederung mit gestaffelter Gebäudeabwicklung an
der Äulestrasse. Das geplante Museum war in seinem groben Umriss
bereits festgelegt und auf das Programm abgestimmt.
1998 wurde ein Projektwettbewerb für den Neubau des Kunstmu-
seums Liechtenstein ausgeschrieben. «(...) als gutes Museum mit liech-
tensteinischem und internationalem Ausstellungsbezug zu einer ver-
stärkten Identität des Landes in kulturellen Fragen beitragen», lautete die
Aufgabe der Stiftung zur Errichtung eines Kunstmuseums in Liechten-
stein. Ein Kunstmuseum in eine Sonderbauordnung einzupassen und da-
bei keine Einsprachen zu provozieren, hiess es auch noch etwas pragma-
tischer formuliert. Für die Architekturschaffenden war es in erster Linie
eine Auseinandersetzung mit dem Licht, wie es der Schweizer Zeitschrift
Hochparterre, Band 11, 1998, Heft 3, zu entnehmen ist. Gemäss Pro-
gramm sollte das Museum drei Abteilungen aufnehmen, nämlich die
Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung mit moderner Kunst und
den Schwerpunkten Grafik und Skulptur, Teile der Sammlung des Fürs-
ten von Liechtenstein als langfristige Wechselausstellung sowie Wechsel-
ausstellungen aller Gattungen von Malerei bis Multimedia.
Die projektbestimmenden Ausstellungsräume waren drei Tages-
lichtsäle mit 400 Quadratmeter Grundfläche und 5 Meter Höhe. Bauge-
setzlich war die maximale Gebäudehöhe von 15 Meter, gemäss Spezial-
bauordnung der Gebäudeperimeter und somit die Lage festgelegt.
Zudem war quer durch das Museum eine Fussgängerverbindung vorge-
schrieben. Das Preisgericht erkannte die starken Einschränkungen, war
unsicher mit der Interpretation der Bauhöhen und regte an, eine Anpas-
sung zu prüfen. Um es vorwegzunehmen: Nachdem bereits beim ehe-
maligen Kunsthausprojekt die Jury auf baurechtliche und politische
Probleme hingewiesen hatte, woran das Projekt dann in der Folge schei-
terte, war es doch erstaunlich, dass sich die Jury trotz der expliziten, pro-
blemvermeidenden Vorgaben beim neuen Kunstmuseumsprojekt wie-
73
Hubert Ospelt
derum auf ähnlich gelagerte Diskussionen einliess. Die baugesetzliche
Höhenmessung und die maximale Gebäudehöhe waren indiskutabel
klar. Der einzig mögliche Weg, einen grösseren baurechtlichen und
somit gestalterischen Spielraum zu erlangen, wäre eine Umzonierung in
eine öffentliche Zone oder eine Änderung des entsprechenden Artikels
im Baugesetz — eine längst überfällige Aufhebung der Höhenlimite bei
Überbauungsplänen — gewesen, was die Architekten bei der Überarbei-
tung der Planungsgrundlagen bereits vorgeschlagen hatten. Davon
wurde aus zeitlichen Gründen abgesehen. Die planerisch erwünschte
Querverbindung durch das Museum, um die Platzfolgen im Innern des
Areals zu verbinden, wurde als nachteilig für das Projekt gewertet. Ein
Verzicht auf die Verbindung hätte mit einer Richtplan- und Überbau-
ungsplanänderung bewerkstelligt werden können, was mit Blick auf
Zeitverlust ebenfalls nicht infrage kam.
Nach der Jurierung der Projekte erging der erste Preis an das
Architekturbüro Stürm und Wolf, Zürich. Das Projekt erhielt ausge-
zeichnete Kritiken. Es wurde charakterisiert als ein Projekt, das vom
Schnitt lebt, von der Poesie des Schattenraums als dem Rückgrat des
Entwurfs, einem «magischen Schacht» über drei Geschosse und span-
nenden Raumfolgen im Erdgeschoss. Der zweite Preis ging an die Ar-
beitsgemeinschaft Morger & Degelo/Kerez, Basel. Das Projekt wurde
beschrieben als ein stiller Behälter, der durch Prägnanz Präsenz gewinnt.
«Ein bestechend lapidares Projekt», gemäss Jury, ein Projekt mit durch-
dachter Ordnung. Bekanntlich scheiterte im Zuge der Weiterentwick-
lung das erstrangierte Projekt an der Vorschrift zur maximalen Gebäu-
dehöhe, worauf das zweitrangierte Projekt weiterverfolgt wurde, um
den Schaden zu begrenzen. Ein exzellentes Projekt wurde also durch ein
gutes ersetzt, ein poetisches durch ein prosaisches, wenn man sich auf
den Jurybericht beruft. Das Projekt von Morger & Degelo/Kerez wur-
de anschliessend realisiert und im November 2000 eröffnet.
Dem neuen Kunstmuseum Liechtenstein wird eine Architektur
hoher Komplexität und diskreter Einfachheit zugeschrieben. Der ge-
schlossene Baukörper aus schwarz eingefärbtem Zement und schwar-
zem Basaltstein wird als Black Box bezeichnet. Die Umgebung reflek-
tiert sich in der handgeschliffenen und dadurch haptisch reizvollen
Oberfläche der Fassade, was die Geschlossenheit des Baukörpers etwas
mildert. Im Innern ist die Black Box ein perfekter White Cube, eine in
den 1920er-Jahren entstandene Art der Repräsentation in farbneutralem
74
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
Weiss, um nicht in Konkurrenz zur ausgestellten Kunst zu treten. Sechs
Ausstellungssäle sind um zwei gegenläufige Treppen herum angeordnet,
sie bieten der Kunst die grösstmögliche Freiheit durch Klarheit und Prä-
zision. Der auch kontrovers diskutierte Museumsbau verschaffte den
Architekten jedenfalls internationales Ansehen.
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Kunstmuseum wurde 2008
das Architekturbüro Morger & Dettli, Basel, mit der Planung eines Aus-
stellungsgebäudes der Hilti Art Foundation im Verbund mit dem Juwe-
liergeschäft Huber beauftragt, nachdem Architekt Morger bereits mit
dem Kunstmuseum befasst gewesen war. Vor der Projektierung musste
die Zentrumsplanung Städtle aktualisiert und angepasst werden, nach-
dem das geplante Bauwerk eine beträchtliche Mehrhöhe gegenüber dem
Museum aufwies, was im Richt- und Überbauungsplan nicht vorgesehen
war. Museum und neues Ausstellungsgebäude sollten räumlich, funktio-
Abb. 8: Kunstmuseum / Hiltı Art Founda-
tion, Städtle, 2016.
75
Hubert Ospelt
nal und betrieblich miteinander verbunden werden. «Seit Mai 2015 ist
das Kunstmuseum Liechtenstein um das neue Ausstellungsgebäude der
Hilti Art Foundation erweitert und damit um eine hochrangige und
international bekannte private Kunstsammlung bereichert», so die offi-
zielle Mitteilung auf der Website des Kunstmuseums. Der «Weisse Wür-
fel» des Neubaus kontrastiert in Farbe, Form und Höhe mit dem
Museum. Der Beton des 20 Meter hohen Würfels ist ein Gemisch aus
Laaser Marmor, dunklem Rheinkies und Weisszement. Die beiden mini-
malistischen Baukörper bilden einerseits ein Ensemble von einem lie-
genden, länglichen mit einem stehenden, punktförmigen Baukörper,
einem klassischen Motiv, wie es beispielsweise bei Kirchen mit Längs-
schiff und seitlich angeordnetem Turm vorkommt. Andererseits sind
diese Bauten auch Teil des städtebaulichen Gesamtgefüges in diesem
Bereich. So entstand zwar der beabsichtigte, südlich des Museums gele-
gene Innenhof, allerdings ohne die direkte Verbindung zum nördlich des
Museums gelegenen Hof, wie es in der Zentrumsplanung ursprünglich
vorgesehen war. Der Neubau schafft mit seiner Höhe einen guten Über-
gang zu den südlich folgenden Bauten aus den 1970er-Jahren, dem Cura-
und dem Postgebäude, die bisher als einzige Bauten beträchtliche Höhen
aufwiesen. Städtebaulich und im Ausdruck können das Museum und der
neue Ausstellungsbau überzeugen. Die Innenräume sind gut proportio-
Abb. 9: Aufsicht Postplatz mit dem Schweizer-Brunnen von Signer
und dem Z-Würfel von Malin, 2016.
76
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
niert und vielseitig nutzbar, einzig die Treppenanlagen können den ho-
hen Ansprüchen nicht genügen. Mit dem Ensemble sind zwei wichtige
Bausteine in der Museumslandschaft von Vaduz realisiert worden ge-
mäss dem Motto: Was lange währt, wird doch noch gut.
Exkurs zum öffentlichen Raum
und dessen künstlerischer Ausgestaltung
Der allen zugängliche öffentliche Raum ist eine Errungenschaft, zu der
wir Sorge tragen sollten. Der vermehrte Rückzug in die Privatheit, die
Entstehung von eingeschränkt zugänglichen öffentlichen Räumen wie
Gated Cities usw. sind Anzeichen für einen Rückgang von Öffentlich-
keit. Das Vaduzer Zentrum bietet ideale Voraussetzungen für öffentliche
Räume, nachdem auch der gesamte linsenförmige Aussenbereich zwi-
schen Städtle und Äulestrasse frei zugänglich ist. Dieser Raum zeichnet
sich durch eine Abfolge von miteinander verbundenen, im Format
unterschiedlichen Plätzen aus. Unverständlicherweise wurden die Ver-
bindungen beim Durchgang des Postgebäudes durch den Wegfall der
Fussgängerbrücke aufgehoben oder beim Kunstmuseum nicht realisiert,
was rein baulich noch korrigierbar wäre.
Wesentlich für die Akzeptanz der Aussenräume ist neben einem
vielfältigen Nutzungsangebot deren Gestaltung. Eine besondere Auf-
wertung erfahren diese Räume auch durch die stimmige Anordnung von
Kunstwerken. Attraktivitätsmindernd sind hingegen «Übermöblierun-
gen», wie es vielerorts zu beobachten ist.
Im Vaduzer Zentrum gibt es schon eine lange Tradition, Kunst-
werke im öffentlichen Raum wie auch an und in öffentlichen Gebäuden
anzubringen. In den Anfängen handelte es sich dabei vorwiegend um
Büsten oder Statuen für bedeutende Persönlichkeiten, wie z.B. das 1940
erstellte Denkmal von Franz Marcel Fischer anlässlich des 100. Geburts-
tages des Komponisten Josef Gabriel Rheinberger im Umfeld seines
Geburtshauses. Das 1957 an der Südfassade der Landesbank im Städtle
angebrachte Marmorrelief von Georg Malin dürfte den Einzug der
Moderne markieren. In den 1960er-Jahren gab es offenbar auch Bestre-
bungen, «Die Bürger von Calais», eine Plastik in Bronze von Auguste
Rodin, im Umfeld des Regierungsgebäudes aufzustellen. In den 1970er-
Jahren begann Georg Malin mit Ankäufen von Kunstwerken für die
77
Hubert Ospelt
Staatliche Kunstsammlung. Ein Schwerpunkt waren dabei Skulpturen
des 20. Jahrhunderts, die sich teilweise auch zum Aufstellen in der
Öffentlichkeit eigneten. So wurde 1987 «La puerta de la libertad» ange-
kauft, eine Skulptur in Corten-Stahl von Eduardo Chillida, ein Werk mit
architektonischen, raumbildenden Merkmalen, für ein urbanes Umfeld
wie geschaffen. Im neuen Innenhof südlich vom Kunstmuseum hat es
einen idealen Standort gefunden, wenn auch die Ausrichtung leicht
abweichend zu den Platzbegrenzungen und die Platzierung selbst etwas
zufällig wirkt, was einfach zu ändern wäre. Erwähnenswert ist auch die
bekannte Bronzeskulptur «Figure in a Shelter» von Henry Moore, die
1990 angekauft und gegenüber dem Regierungsgebäude aufgestellt wur-
de und heute einen etwas weniger prominenten Standort in der Nähe
gefunden hat.
Ein Beispiel für die künstlerische Ausgestaltung eines Platzes fin-
det sich bei der Landesbank im Äule. Martin Frommelt gestaltete das
Platzrelief mit ruhenden und richtungsorientierten Elementen, die
bewusst räumliche Bezüge zu benachbarten Bauten schufen und somit
auch einen städtebaulichen Beitrag leisten (s. auch Liechtensteiner Alma-
nach 1989, Der Landesbankplatz, S. 227).
Neuere Beispiele finden sich im Städtle, wie der bemerkenswerte
«Schweizer-Brunnen» von Roman Signer, zwischen Landesmuseum,
Landesbank und Post situiert, eigentlich eine skulpturale Installation,
die sich erst beim Durchschreiten als Brunnen zu erkennen gibt. In
unmittelbarer Nähe steht der «Z-Würfel» von Georg Malin, womit eine
interessante Konstellation entsteht. Der «Hochsitz» von Robert Inder-
maur, Standort vis-ä-vis vom Rathausplatz, wird als Metapher für Situa-
tionen, die den Überblick erfordern, als eine philosophische Grundein-
stellung, beschrieben: Die Figur im Hochsitz schaut über den Platz, der
immer noch keiner ist, aber ein Platz werden sollte.
Fazit und Perspektiven
Lange Zeit war die Zentrumsentwicklung beschränkt auf die Realisie-
rung bedeutsamer Bauten. Mit dem Rathausbau samt Umgebungs- und
Erweiterungskonzept von Architekt Roeckle wurde 1933 weitergehend
der Grundstein für ein Dorfzentrum gelegt. In den 1960er-Jahren wur-
den vom Planungsbüro Marti, Zürich, die Grundzüge der Zentrumspla-
78
Kunstmuseum und Zentrumsplanung Vaduz
nung geschaffen, die abgesehen von den vorgeschlagenen Gebäudetypo-
logien heute noch weitgehend Gültigkeit haben. Die städtebaulichen
Ideenwettbewerbe Regierungsviertel 1986 sowie Städtle und Äule 1991
gaben neue Impulse, die mittels Überbauungs- und Richtplänen in der
Zentrumsplanung ihren Niederschlag fanden. So wurden beispielsweise
im Regierungsviertel Grundlagen für öffentliche Bauten und Plätze, im
Städtle für das Kunstmuseum und sein Umfeld geschaffen. Während im
Regierungsviertel das städtebauliche Konzept mit der Hangfussbebau-
ung, dem Landtagsgebäude und dem Peter-Kaiser-Platz schon weitge-
hend umgesetzt ist, harren der Rathausplatz und die dazu erforderlichen
umgebenden Bauten immer noch der Realisierung. Der dritte wichtige
Ort befindet sich bei der Marktplatzgarage, wo der erwünschte Markt-
platz wohl eher mit dem Abbruch der oberen Ebene funktional und
räumlich zu bewerkstelligen wäre. Auch an diesem Ort fehlen noch
erforderliche Randbebauungen. Kulturelle Bauten waren bereits in der
Vergangenheit wichtige Bausteine der Zentrumsentwicklung am Hang-
fuss. Mit der Realisierung des Kunstmuseums Liechtenstein und des
White Cube der Hilti Art Foundation konnte auch im Städtle ein be-
deutsames Ensemble verwirklicht werden. Was verbleibt, wäre — wie
bereits erwähnt — die Rückführung des Centrums für Kunst am Becka-
gässle in seine angestammte Nutzung und die Schliessung der Baulücke
zwischen Engländerbau und Landesmuseum mit einem Ausstellungsge-
bäude, vorzugsweise für die Fürstlichen Sammlungen.
ABBILDUNGSNACHWEISE
Amt für Kultur, Abteilung Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz:
Autor unbekannt: S. 62, 64
Atelier Walter Wachter: 5. 66, 70
Hubert Ospelt: S. 72, 75, 76
79
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst —
Erfahrungen in Liechtenstein
Janine Köpfli
Als vor sieben Jahren die von Georg Malin gestaltete Kapelle im Alters-
heim in Vaduz ohne die Erlaubnis des Künstlers umgestaltet wurde, ging
eine Welle der Empörung durch Liechtenstein. Es ging um die persönli-
chen Rechte eines Künstlers, um Respekt, aber auch um die Frage, was
Kunst und Kultur im öffentlichen Raum darf und soll. Was, wenn sie
aneckt? In Liechtenstein gibt es zahlreiche Beispiele, die nicht so gut
ausgingen wie die Geschichte der umgestalteten Kapelle. Wie weit darf
kritische Kunst gehen? Auf der anderen Seite hat gerade Kunstkritik in
Liechtenstein einen schweren Stand. Inwieweit vertragen die Kunst-
schaffenden selbst Kritik? Was ist in den liechtensteinischen Medien
möglich, was nicht? Ein Erfahrungsbericht.
Warmes, gelbes Licht fällt durch die Fenster der Hauskapelle im Sozial-
zentrum Haus St. Florin in Vaduz. Das in dezenten Farben gehaltene
Glas lässt die Sonne zwar durch, nimmt ihr aber das Grelle und Blen-
dende. Es ist ruhig. Die Tür zur Kapelle steht offen. Jeder ist eingeladen,
hier einen Moment der Stille und Besinnung zu geniessen. Von Weitem
hört man Geschirrgeklapper. Was ist aus der von Georg Malin gestalte-
ten Kapelle sechs Jahre nach dem Kompromiss geblieben? Ein Augen-
schein vor Ort zeigt, dass die Einrichtung mehr oder weniger jenem
Gesamtkunstwerk entspricht, das der Maurer Künstler für die Kapelle
vorgesehen hat.
An der Wand hängt der Sieges- bzw. Osterkranz aus Bronze mit
einem zarten Kreuz. Davor steht der schlichte Altar, der zum Ambo, zur
Sedia, den Fenstern und der Andachtsecke mit dem ewigen Licht, das
in einem Glasgefäss an fast unsichtbaren Stahlfäden hängt, passt. Auf
dem Altar liegt eine weisse Tischdecke und links und rechts steht je ein
Blumengesteck mit weissen Orchideen, ausserdem die Osterkerze auf
einem Ständer aus Eisen. Dieser Kerzenständer mit seinen Schnecken-
81
Janine Köpfli
schnörkeln ist das Einzige, das wohl so vom Künstler nicht vorgesehen
war (Abb.1).
Rückblick: An Ostern 2009 fiel Georg Malin aus allen Wolken. Der
damalige Geschäftsführer der Stiftung Liechtensteinische Alters- und
Krankenhilfe, kurz LAK, teilte ihm mit, dass die Kapelle im neuen Sozi-
alzentrum Haus St. Florin in Vaduz, die Malin kurz zuvor als Auftragsar-
beit fertig eingerichtet hatte, umgestaltet werde. Kurz vor der offiziellen
Eröffnung am 24. April wurden Teile der Konzeption entfernt oder ver-
ändert. Das Gesamtkunstwerk, das Georg Malin bis ins kleinste Detail
durchdacht und aufeinander abgestimmt hatte, war damit zerstört.
Georg Malin ist vom Raum ausgegangen. Er wollte eine ange-
nehme, fröhliche Stimmung erzeugen, wie er im Mai 2009 in einem Zei-
tungsartikel sagte: «Ich wollte keine traurige Kapelle gestalten.» Ihm sei
von Anfang an klar gewesen, dass er nicht den leidenden Christus, son-
dern die Auferstehung und die Hoffnung ins Zentrum seiner Arbeit
rücken wollte. Er orientierte sich an der frühchristlichen Symbolik.
Auch die Fenster sollten mit Farben, die man in Ikonen findet, dieser
Idee entsprechen. «Der Verlauf von eher dunklen Erdtönen, die immer
heller werden und am Schluss in ein jubelndes Zitronengelb übergehen,
sollten eine Atmosphäre der Fröhlichkeit und Ruhe vermitteln», sagte
der Künstler.!
Die Idee und das Grundkonzept wurden von den Verantwortli-
chen der LAK ursprünglich gutgeheissen und auch das vereinbarte Ho-
norar wurde dem Künstler bezahlt. Umso verwunderlicher war die Tat-
sache, dass die Kapelle kurze Zeit später komplett umgestaltet wurde.
Wo der Siegeskranz hing, wurde ein Kruzifix mit dem Corpus Christi
angebracht, daneben hingen Skulpturen, auch Kreuzwegtafeln gehörten
zur neuen Einrichtung. Bis heute ist nicht klar, wer die Umgestaltung im
Endeffekt veranlasst hatte. Der Stiftungsrat der LAK sei nicht informiert
worden, hiess es damals.
In der Öffentlichkeit entbrannte eine heftige Diskussion um Urhe-
berrechte und geistiges Eigentum sowie um Respekt, der Künstlern und
ihrem Werk entgegengebracht werden sollte. Auch die liechtensteinische
Künstlervereinigung «Berufsverband Bildender Künstler» (BBKL) —-
1 Köpfli, Leiden statt Hoffnung, Liechtensteiner Vaterland, 28. Mai 2009.
82
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
heute nennt sich der Verband «visarte.liechtenstein» und ist eine selbst-
ständige regionale Gruppe von visarte.schweiz — meldete sich zu Wort
und machte klar, dass es hier nicht um Geschmacksache, sondern um
persönliche Rechte eines Künstlers gehe. Georg Malin nahm sich einen
Anwalt und kämpfte um sein geistiges Eigentum und sein Recht. Er liess
Gutachten erstellen und wollte vor Gericht ziehen. Offenbar war der
Druck gross genug, denn die Geschäftsleitung der LAK meldete sich
beim Künstler und es kam zu einer aussergerichtlichen Einigung.
Die LAK erklärte sich bereit, den ursprünglichen Zustand der
Kapelle wieder herzustellen. Sogar mehr als das: Sie sicherte dem Künst-
ler zu, dass er auch antike Bilder in Form von Ikonen anbringen dürfe.
Georg Malin hatte dies geplant, das Vorhaben wurde zunächst jedoch
abgelehnt. «Nun habe ich eine wunderschöne Ikone aus dem 17. Jahr-
hundert gefunden», wurde Malin in einem Zeitungsartikel im April 2010
zitiert. Die Ikone ist auf Holz gemalt und mit Blattgold verziert und passt
«perfekt» in die Konzeption der Kapelle. Die Ikone hängt heute noch an
der Wand und ist mit einem Glas geschützt. Malin liess sich nach dem
Streit auf einen Kompromiss ein. So hat er beispielsweise den Osterkranz
Abb. 1: Die Hauskapelle im Sozialzentrum Haus St. Florin in Vaduz,
wie sie sich sechs Jahre nach dem Kompromiss präsentiert.
83
Janine Köpfli
an der Wand mit einem zarten Kreuz ergänzt. Auch ein von einer Künst-
lerin gestaltetes Altartuch ist heute Teil von Malins Kunstwerk.?
Diese Geschichte zeigt, dass mit genügend Druck auch eine ver-
hältnismässig kleine Lobby — in diesem Fall Georg Malin und die Künst-
lerschaft Liechtensteins — gute Chancen hat, ihre Werke gegen uner-
wünschte Eingriffe zu verteidigen. Ausserdem hat der Künstler das
Recht auf seiner Seite. Im Urheberrechtsgesetz hält der Gesetzgeber klar
fest, wie und wann ein Werk verändert werden darf: «Die Urheberin hat
das ausschliessliche Recht zu bestimmen, ob, wann und wie das Werk
geändert werden darf», heisst es dort in Art. 12 zur Werkintegrität.
Mangelnder Respekt oder «die Busen müssen weg»
Zwar steht das Recht auf der Seite der Künstlerinnen und Künstler, den-
noch gibt es in Liechtenstein zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass dem
Gesetz offenbar zu wenig Gewicht zukommt und dass den Künstlerin-
nen und Künstlern kaum bis gar kein Respekt entgegengebracht wird.
Wie ist es sonst zu erklären, dass Kunst — ohne Rücksprache mit dem
Künstler — entfernt oder verändert wird?
Kunst soll etwas auslösen. Das ist das hochgehaltene Ziel von
Kunstschaffenden. Ungern lassen sie sich einschränken und zensieren.
Wenn ein Werk kritisiert und provoziert, ist die Diskussion eröffnet und
mitunter kann in der Gesellschaft etwas angestossen werden — so der
künstlerische Auftrag. Die Liechtensteiner Künstlerin Lilian Hasler
weiss, was es bedeutet, zu kritisieren, zu provozieren und zu intervenie-
ren, und dabei immer wieder anzuecken. Als sie im August 2005 im Rah-
men eines Kunstprojekts nahe der alten Holzbrücke in Baden in der
Limmat «Wasserbrüste» schwimmen liess, hatte sie nicht zuletzt Dis-
kussionen mit dem örtlichen Fischereiverband. Die kugelrunden
Schwimmkörper aus Kunststoff mit aufgesetzten Nippeln waren ein
Skandal, und obwohl die Objekte mit Stahlseilen am Flussgrund veran-
kert waren, mussten sie immer wieder flussabwärts eingesammelt wer-
den, weil Saboteure die Seile kappten.
2 Köpfli, Wieder zurück zum Original, Liechtensteiner Vaterland, 7. April 2010.
84
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
«Aber das ist genau das, was mich interessiert», sagte Lilian Hasler in
einem Interview in der Kulturzeitung «KuL» 2007.* «Mein künstleri-
scher Auftrag ist es, etwas auszulösen.» Sie möchte nicht provozieren
nur um der Provokation willen. Sie legt vielmehr Wert auf die Interven-
tion, auf das Verrücken von scheinbar festgesetzten Normen, um darü-
ber hinaus einen neuen Fokus zu erlangen. «Es geht um die Verände-
rung, darum, dass Debatten ausgelöst werden.»
Anfang der 1990er-Jahre wurde am Platzspitz in Zürich die Skulp-
tur «Fixer» platziert. Eine weisse Figur aus Stein, die sich eine Spritze an
den Arm setzt. Lilian Hasler hätte nie gedacht, dass der «Fixer» sogar die
Bevölkerung in Zürich in dem Masse schockieren würde, wie er es getan
hat. Als die Figur zwei Jahre später nach Vaduz kam, war der Aufschrei
noch lauter. «Die Leute konnten die Skulptur und damit das Thema
nicht akzeptieren», erinnert sich Lilian Hasler. Sie sieht es nicht als Schi-
kane, dass ihr Kunstwerk sogar auf einer Mülldeponie abgestellt wurde:
«Ich habe etwas ausgelöst, und das ist es, was ich will.»*
Ausgelöst hat Lilian Hasler 2014 auch eine Grundsatzdiskussion in
Liechtenstein, was Kunst in der Öffentlichkeit überhaupt darf und was
nicht. Sie überliess die Werke Sphinx I. (2006) und Sphinx V. (2008) der
Gemeinde Eschen als Leihgabe für deren neu geschaffenen Kulturgarten
vor der Post. Die zwei zueinander gewandten Figuren sind über zwei
Meter gross, haben grosse Ohren, eine spitze Schnauze, einen gewölbten
Bauch und Brüste (Abb. 2). Ein Anblick, der nicht alle Einwohner der
Gemeinde erfreute. Ganz im Gegenteil, die Kritik liess nicht lange auf
sich warten. Sexistisch seien sie, frauenfeindlich. Billige «Playboyhäs-
chen»! «Ausgerechnet von dieser Seite werde ich angegriffen», sagte die
Künstlerin. Sie, die Frauen und ihre Anliegen immer wieder ins Zentrum
ihrer Kunst stellt, sie, die Genderfragen aufwirft und auf diese Probleme
hinweist.
Mit der Leihgabe für Eschen wollte sie nun wirklich nicht provo-
zieren. Die zwei Sphingen sollten harmlos wirken, als Metaphern für das
«Rätsel Mensch» stehen und Fragen der Menschwerdung aufwerfen.
Der Ansatz der Skulpturen sei nicht provokant, sondern vielmehr philo-
sophisch. Davon liessen sich die Kritiker in Eschen jedoch nicht besänf-
3 Köpfli, Von Wasserbrüsten und Brustbomben, KuL, 25. März 2007.
4 Köpfli, Von Wasserbrüsten und Brustbomben, KuL, 25. März 2007.
85
Janine Köpfli
tigen, sie setzten alles daran, dass die Sphingen entfernt wurden. Offen-
bar hatten sich Personen dermassen an den Busen gestört, dass sie nicht
mehr in die Post gingen und gar psychische Probleme bekamen.
Dass die Sphingen nach ihrer Entfernung «politisches Asyl» vor
der Kunstschule in Nendeln und später in einem privaten Garten in
Eschen erhielten, wird die Kritikerinnen und Kritiker nicht gefreut
haben, zeigt aber, dass Kunst sich nicht einfach nach dem Motto «Aus
den Augen, aus dem Sinn» entfernen lässt. Es sei denn, die Kunst gehört
als Kunst am Bau zu einem Gebäude, welches abgerissen oder saniert
wird. Das Werk «47°Nord 9°Ost — Bilder, Worte und Erde» (1999/2000)
5 Köpfli, Kunst löst etwas aus, KuL, 28. September 2014.
Abb. 2: Die Sphinx V. (2008) der Künstlerin
Lilian Hasler leuchtet in der Nacht. Dass
die Busen auch noch in der Nacht zu sehen
sind, schockierte Eschner Bürgerinnen und
Bürger zusätzlich.
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
des Ruggeller Künstlers Arno Oehri befand sich unter anderem an der
Aussenwand des ehemaligen Postgebäudes im Zentrum von Eschen. Auf
dem Gebäude waren dessen genaue geografische Koordinaten ange-
bracht. Dazu gab es fünf Fotoschienen, die sich an der Seitenwand des
Buswartehäuschens gleich beim Gebäude befanden und eine Lichtinstal-
lation am Boden. Die Arbeit basierte auf der Kommunikation mit Liech-
tensteinerinnen und Liechtensteinern auf den fünf Kontinenten. Auf der
Internetseite www.artnet.li heisst es zum Projekt: «So entstanden 5 Bild-
reportagen, welche zusammen mit dem Positionskreuz und der Positi-
onsbezeichnung als permanente Installation dieses Projektes erhalten
bleiben.» Die als «permanente Installation» vorgesehene Kunst am Bau
verschwand etappenweise. Offenbar wurden zunächst defekte Foto-
schienen und Bodenleuchten vom damaligen Stockwerkseinheiteneigen-
Abb. 3: Das Werk «47°Nord 9°Ost — Bilder, Worte und Erde»
(1999/2000) des Ruggeller Künstlers Arno Ochri befand sich unter
anderem an der Aussenwand des ehemaligen Postgebäudes im
Zentrum von Eschen. Es verschwand etappenweise.
87
Janine Köpfli
tümer, dem Land Liechtenstein, nur teilweise ersetzt. Später wollte auch
die Gemeinde als neue Eigentümerin der Stockwerkseinheiten nichts
von Reparaturen wissen. Die letzten Teile des Kunstprojekts, die Metall-
zeichen an der Nordfassade des Gebäudes, verschwanden, als das
Gebäude saniert und zum heutigen Haus der Gesundheit umgebaut
wurde. Die Verantwortlichen der Gemeinde Eschen informierten den
Künstler nicht, lagerten die Zeichen aber bei der Gemeindeverwaltung
ein. Arno Oehri hatte zuvor Kontakt mit der Gemeinde aufgenommen,
da die Arbeit nach einigen Jahren hätte restauriert werden müssen. Der
Vorsteher wollte davon aber nichts wissen, da es offenbar Probleme mit
dem Gebäude gab. Als feststand, dass das Gebäude umgebaut werden
sollte, rechnete Arno Oehri damit, dass die Gemeinde ihn benachrichti-
gen und das weitere Vorgehen besprechen würde. Aber nichts passierte.
Heute erinnern nur noch Fotos an jene Kunst am Bau (Abb. 3).
Was nicht gefällt oder sonst irgendwie stört, verschwindet oft in
einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Die Öffentlichkeit wird selten bis gar
nie informiert, wenn in Liechtenstein Kunst entfernt, versteckt, verän-
dert oder ausser Landes geschafft wird. So passiert beispielsweise mit
dem Max-Frisch-Haus in Schaan, das im Jahr 2005 abgebrochen wurde,
obwohl es eigentlich hätte unter Denkmalschutz gestellt werden sollen.
Auch der «Demokratieverstärker» der Künstler Stefan Sprenger und
Werner Marxer musste aus dem Regierungsviertel weichen und fristet
jetzt ein mehr oder weniger unbeachtetes Dasein vor dem Gymnasium
in Vaduz. Die Kunst am Bau beim Landtagsgebäude ist in Form der mit
Rot und Weiss bemalten Steine zwischen den gelben Klinkersteinen
ohnehin schon sehr schlicht und zurückhaltend. Daher staunte die
Künstlerschaft des Landes nicht schlecht, als eines Morgens plötzlich ein
Bild des Fürsten an der Wand hing und wesentliche Teile der Kunst am
Bau verdeckte und keineswegs ins Kunstkonzept passte.
Oder aber Kunstwerke verschwinden für einige Jahre in der Ver-
senkung, wie beispielsweise die Brunnenanlage «Wasserspiel» von
Georg Malin. Die Anlage mit den tellerförmigen Schalen aus emaillier-
tem Stahl stand ab dem Jahr 1974 auf dem Pausenhof der Primarschule
Resch in Schaan. Offenbar wurde der Brunnen von den Schaanerinnen
und Schaanern nie richtig geliebt, denn nachdem er über Jahre nicht
funktionierte und nicht gepflegt wurde, schenkte die Gemeinde den
Brunnen im Zuge der Sanierung der Primarschule dem Künstler zurück.
Erst 2013 holte Olaf Gassner, Inhaber eines Gartenbaubetriebs, den ver-
88
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
waisten Brunnen aus der Versenkung und integrierte ihn eingangs Mau-
ren in einem Schaugarten.®
Und noch einmal sorgten Busen für Aufregung. Auf den 21. April
2016 plante die Künstlerin Larissa Kaufmann die Vernissage ihrer Aus-
stellung im Haus Gutenberg. Die in der Schweiz wohnhafte Künstlerin
mit Liechtensteiner Wurzeln wollte ihre fröhlich-bunten Acrylbilder
mit Frauen und Männern in Trachten zeigen. Sie nennt die Serie «Tanten
und Onkel». Auffallend sind die üppigen Brüste und breiten Hüften der
Damen, auch die Männer sind rund und dick dargestellt, in einer Art
Comic. Die Ausstellung war vorbereitet, die Einladungen verschickt, die
Bilder aufgehängt. Vonseiten des Hauses Gutenberg regte sich plötzlich
Widerstand. Die Bilder seien nicht mit der katholischen Tradition des
Hauses vereinbar, hiess es. Allerdings nicht von offizieller Seite. Die
Ausstellung wurde kurzerhand abgesagt und auf die Vernissage redu-
ziert. Als einzige halboffizielle Meldung war auf Larissa Kaufmanns
Homepage zu lesen: «Die Ausstellung musste wegen Unpässlichkeit
vonseiten des Hauses nur auf die Vernissage beschränkt werden.»
«Es ist so schön und alle freuen sich darüber»
Kunst soll nicht langweilig und unscheinbar sein. Jede Künstlerin, jeder
Künstler will mit Kunst etwas bewegen. Kunst soll selten einfach
«schön» sein. Gerade im öffentlichen Raum eckt Kunst immer dann an,
wenn sie zu freizügig und offenherzig, zu gross, zu bunt, zu nackt, zu
schwarz, zu klobig, zu laut, zu auffällig ist. Bis heute stösst beispiels-
weise der «Eintracht»-Kreisel in Eschen nicht nur auf Bewunderung.
Die bunten Objekte im hellblauen Wasserbecken (2007) von Ursula
Wolf sorgten für viel Kritik. Für die Künstlerin allerdings kein Problem:
«Wenn man sich in oder für die Öffentlichkeit engagiert, muss man
immer mit Kritik rechnen.»”
Wo eckt Kunst an? Umgekehrt könnte man fragen: Wie muss
Kunst und Kultur in Liechtenstein sein, damit sie alle glücklich und
zufrieden macht und nicht aufregt? Unscheinbar, distanziert, eher kon-
6 Liechtensteiner Vaterland, Symbolträchtiger Brunnen, 24. August 2013.
7 Hüppi, Verkehrsinsel und Kunstobjekt, Liechtensteiner Vaterland, 1. August 2014.
89
Janine Köpfli
servativ, traditionell, fröhlich, dezent, leise. Alles, was zeitgenössische
Kunst nur selten ist. BBKL-Präsident Johann Feichter sagte in einem
Interview 2014 auf die Frage «Wie schätzen Sie die Situation in Liech-
tenstein generell ein — haben unkonventionelle Kunstwerke es schwer, an
öffentlichen Orten akzeptiert zu werden?»: «Ich glaube schon, aber
nicht nur in Liechtenstein. Zeitgenössische Kunst ist immer unkonven-
tionell oder sie imitiert nur. Kunst im öffentlichen Raum gibt oft Anlass
für Debatten, man denke an den Hafenkran in Zürich oder an den <Fixer
von Lilian Hasler, der nach wie vor Anlass zu Diskussionen gibt. Man
wünscht sich hier etwas mehr Mut vonseiten der Politik, Diskussionen
auszuhalten und Druck nicht sofort nachzugeben.»*
Im ländlich-konservativen Liechtenstein gilt meist das als gute und
schöne Kunst, was die Betrachter freudestrahlend sagen lässt: «Es ist so
schön und alle freuen sich darüber.» In dieses Rezept der Freude und zu-
rückhaltender Schönheit passen keine schwarzen Jahreseier, die aussehen
wie Granaten (Werner Marzxer, 2007), schwarze Quader mitten in Vaduz
(Morger & Degelo / Kerez, 2000) oder eben zu grosse Busen — ganz egal
ob hellblau oder rosa.
Auch kritische Texte und kritische Theaterstücke haben einen
schweren Stand. Bis heute ist beispielsweise nicht klar, warum beim
Theaterstück «Rubel, Riet und Rock’n’ Roll» (2015) an der Premiere
Gäste mitten im Stück ihre Plätze verliessen. Das Stück beleuchtet den
Aufstieg des Landes vom Agrarstaat zum Finanzplatz. War es zu kri-
tisch? Autor Stefan Sprenger hielt sich in Sachen Kritik mehr als zurück,
was einige Zuschauer fast schon enttäuschte. Tatsächlich gab es kaum
Kritik, nicht einmal zwischen den Zeilen. Und dennoch passte offenbar
etwas den kritikscheuen Liechtensteinerinnen und Liechtensteinern
ganz und gar nicht.
«Don’t mess with the prince»
Ganz generell hat es Kunst- und Kulturkritik in Liechtenstein schwer.
Im Ausland wird man als Journalistin oft gefragt, ob man denn den Fürst
kritisieren dürfe. Tatsächlich gibt es einige Bereiche, wo Kritik, wenn
8 Hüppi, «Wenig respektvolles Vorgehen», Liechtensteiner Vaterland, 4. November 2014.
90
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
überhaupt, wohlüberlegt sein muss. Wer sich mit dem Fürstenhaus
anlegt, offene Kritik gegenüber dem Fürsten äussert oder religiöse Kri-
tik ausspricht, sich gar mit dem Erzbistum oder dem Bischof kritisch
befasst, muss mit Folgen rechnen. Oft melden sich nicht einmal die kri-
tisierten Personen zu Wort, sondern besorgte Bürger, denen das Wohl
von Fürstenfamilie und Erzbistum am Herzen liegen, ganz so, wie es
sich für ein katholisch geprägtes Land gehört.
Wer trotzdem Kritik äussert, hat mitunter plötzlich weniger
Freunde, als Unternehmer weniger Aufträge, böse Telefonanrufe oder
eine Klage am Hals. Dies passierte beispielsweise den jungen Männern,
die hinter «KeeTV» stehen. Ihr Kurzfilm «Unholy Tomato» entrüstete
und erfreute Ende 2015 die Facebook-Community in Liechtenstein.
Die Macher nennen ihren Kurzfilm, den sie Anfang Dezember auf
der Internet-Videoplattform «Youtube» veröffentlichten, eine Satire. Im
Film geht es um den Kampf zwischen einem Priester und dessen Angrei-
fer. Gekämpft wird in der Pfarrkirche Triesenberg. «Mein Ziel war es,
das Thema Trennung von Kirche und Staat anzusprechen, weil das viele
junge Menschen bewegt», sagte der Filmemacher in einem Zeitungsarti-
kel. Der Inhalt des Films sei keineswegs böse gemeint, betonte der
Regisseur von «KeeTV», als die erste Kritik am Film laut wurde. Inspi-
riert habe ihn der Filmklassiker «Krieg der Sterne». «Ich wollte diese
Effekte einmal ausprobieren und in einem meiner Filme verwenden»,
erklärte der Filmemacher. Dass mit den Lichtschwertern in einer Kirche
gekämpft wird, dass der Erzbischof gar seinen Kopf verliert, fanden
nicht nur Gläubige aus Triesenberg bedenklich. Es seien die Gefühle von
Kirchgängern verletzt worden, hiess es beispielsweise vonseiten der
Gemeinde Triesenberg. Im Internet, in verschiedenen Diskussionen
standen viele auf der Seite von «KeeTV» und waren der Meinung, dass
Liechtenstein mutiger sein und dass im Rahmen einer Satire viel mehr
möglich sein müsste.?
Dass eben doch nicht alles möglich ist, zeigte das juristische Nach-
spiel, das der Kurzfilm «Unholy Tomato» nach sich zog. Das Erzbistum
reichte Klage ein und die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen die drei Fil-
memacher. Das Verfahren wurde allerdings Ende Februar 2016 einge-
stellt. Die Beschuldigten zahlten die Geldbeträge für eine Diversion.
9 Grandchamp, Youtube-Film, Liechtensteiner Vaterland, 9. Dezember 2015.
91
Janine Köpfli
Einschüchtern lassen sich die jungen Filmemacher allerdings nicht. Auf
ihrer Facebook-Seite haben sie bereits einen zweiten Teil von «Unholy
Tomato» angekündigt.
Was es bedeutet, den Fürsten und alles, was man in Liechtenstein
eigentlich nicht kritisiert oder hochnimmt, doch zu kritisieren, wissen
die Ospelt-Brüder Mathias und Ingo und der «Bäärger» Marco Schädler.
Seit über 20 Jahren tun sie mit ihrem politischen Kabarett genau das. Sie
schütteln ihre Heimat ordentlich durch und nehmen sie aufs Korn. Mit
dem «Liechtensteiner Gabarett», kurz «LiGa», hielten sie Land und
Leuten einen Spiegel vor, lachten über sich selbst, brachen Tabus, san-
gen, waren Liechtenstein-typisch und vor allem Liechtenstein-kritisch.
Das Publikum liebte die LiGa-Herren und schrie nach mehr. «Die
Leute kamen und dankten uns», erinnerte sich Mathias Ospelt anlässlich
des 20-Jahre-Jubiläums im Jahr 2014. Aus geplanten drei Abenden wur-
den 20 Jahre, 15 Programme und rund 250 Aufführungen und es sollen
noch mehr werden. Im Vorwort zum Buch über das LiGa schreibt
Mathias Ospelt: «Wir hatten mit unserem Liechtensteiner Gabarett eine
verhärtete Stelle im weichen Gewebe unserer Heimat gefunden. Und wir
merkten, dass das genüssliche Darauf-Herumdrücken durchaus thera-
peutische Wirkung hat.» Das LiGa und später die Produktionen von
Ospelt-Ospelt-Schädler taten gut, auch wenn nicht immer alle Zuschauer
hell begeistert waren.
Viele missverstanden wohl die Grundidee des politischen Kaba-
retts, fanden es nur so lange witzig, bis ihre eigene Partei oder womöglich
sogar sie selbst durch den Kakao gezogen wurden. Ja, das habe es schon
gegeben, dass einzelne Politiker beleidigt waren und keine Vorstellung
des LiGa mehr besuchten, sagt Mathias Ospelt. Besonders in den frühen
Jahren seien die Promis aus Politik und Wirtschaft gekommen. War die
Regierung rot, lachten sich die Schwarzen fast tot, war die Regierung
schwarz, war es umgekehrt. Nur der Fürst sei nie gekommen, obwohl er
immer zur Premiere eingeladen war. «Wir haben nicht erwartet, dass der
Fürst tatsächlich kommt. Später waren wir dann froh, dass er nie gekom-
men ist.» Mathias Ospelt schneidet ein schwieriges Thema an. Nicht
schwierig für Ospelt-Ospelt-Schädler, versteht sich, denn eine Verfas-
sungsdiskussion ist aus Sicht eines Kabarettisten wohl etwas vom Besten,
das passieren kann. Schwierig aber für viele Politiker und auch Nicht-Po-
litiker. «Als wir in den 90er-Jahren den Fürsten parodierten, fanden es
alle lustig. Mit der Verfassungsdiskussion änderte sich alles. Das Thema
92
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
war derart emotionalisiert, dass alles zu viel war», sagt Mathias Ospelt,
der findet, dass die Verfassungsdiskussion viel zerstört hat. Nicht nur,
weil sich das LiGa anhören musste, dass es zu weit gegangen war, son-
dern weil Freundschaften beendet wurden und eine kaum heilen wol-
lende Wunde in Liechtensteins Staatsgeflecht gerissen wurde.!°
Geradezu revolutionär in Sachen Kritik war das «Kabarett Kak-
tus», das erste politische Kabarett Liechtensteins. Endlich sagte jemand
die Wahrheit — keine Selbstverständlichkeit Mitte der 1960er-Jahre.
«Befreiend» sei es gewesen, erinnert sich Hansrudi Sele an die ersten
Auftritte. Endlich habe jemand gesagt, wie es wirklich war. Endlich habe
sich jemand getraut zu kritisieren, was sonst nur hinter vorgehaltener
Hand passierte. «Wir haben nicht lange über die Konsequenzen nachge-
dacht», gesteht Sele. «Wir haben drauflos gespielt. Wir machten, was wir
machen wollten.»
Angeeckt? Keine Frage. Bereits das erste Programm, das am
18. April 1964 Premiere feierte, sorgte für Aufregung. Der harmlos
scheinende Satz «In Vaduz herrschen strube Zeiten» hätte das Projekt
Kabarett fast beendet, zu sehr war der Vaduzer Bürgermeister Strub
erbost. «Es gab Versuche, uns einzuschüchtern. Einmal wurde uns sogar
mit rechtlichen Schritten gedroht, weil wir über einen <Nazi-, Nazi-,
Nationalheldem> gesungen haben. Aber nichts ist passiert», sagte Hans-
rudi Sele anlässlich des 50-Jahr-Bühnenjubiläums.!!
Der Fürst selbst gab in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag
2015 zu, dass er offen sei für Kritik. Ja, er schätze kritische Auseinan-
dersetzungen. Ob man denn wagt, Kritik gegen das Staatsoberhaupt zu
äussern, steht auf einem anderen Blatt. Der Kritiker muss sich wohl ein-
fach der möglichen Konsequenzen bewusst sein.
Ein Tierli im Kulturgehölz redet Tacheles
Als das Vaduzer Medienhaus im Oktober 2005 die Kulturzeitung «KuL>»
auf den Markt brachte, war eine kritische Berichterstattung Teil des
Konzepts. Es sollte nicht nur Schönwetter-Kultur betrieben, nicht nur
10 Köpfli, «Es macht Spass ...», KuL, 30. März 2014.
11 Köpfli, Kaktus, KuL, 30. März 2014.
93
Janine Köpfli
gelobt und geliebt werden. Vielmehr sollte das KuL einen kritischen
Blick hinter die Kulissen der regionalen Kulturlandschaft werfen und
den Finger draufhalten, wenn es denn etwas zu kritisieren gibt. Schnell
kam die Idee auf, dass in einer Kolumne jemand oder etwas ohne Namen
Kritik üben sollte. In einem kleinen Land wie Liechtenstein kritisiert es
sich anonym am ehrlichsten und am einfachsten. Es war die Geburts-
stunde des «Schwinta-Aale» — ein kritisches Tier im Kulturgehölz, das so
manches in der Kulturszene sieht und hört.
Fast zehn Jahre lang verteilte das Kulturnagetier jeden Monat im
KuL ein lobendes «Aale» und eine kritisierende «Schwinta». Die Kritik
des Tierchens sorgte immer wieder für erhitzte Gemüter, war aber defi-
nitiv nötig und tat auch gut. Das «Schwinta-Aale» führte zu bösen Tele-
fonaten und wütenden Bemerkungen. Nach zehn Jahren kann die KuL-
Redaktion heute sagen, dass sich die Begeisterung für eine wirklich kri-
tische Berichterstattung generell in Grenzen hält, für eine anonyme
Kritik sowieso. Erstaunlich ist, dass sich immer all jene am lautesten auf-
regen, die eigentlich mehr Kritik fordern.
Viele Kritisierte schoben den Frust darüber vor, dass die Kritik von
einer anonymen Seite kam. Das war umso überraschender, da das KulL
als Medienprodukt im Endeffekt verantwortlich für jede Kritik war,
ganz egal, ob anonym oder nicht. Es wurden Argumente vorgebracht,
dass man sich nicht verteidigen, nicht auf Augenhöhe diskutieren könne.
Den Grund für die Anonymität nennt das «Schwinta-Aale» in seinem
Abschiedsinterview im März 2016 im KuL: «In unserer Kleinheit, wo
jeder jeden kennt und man keine nennenswerte Streitkultur entwickelt
hat, ist es einfach nötig, anonym zu bleiben.»
Fazit: Bitte Kritik — alles, bloss keine Kritik!
Ein Journalistenkollege sagte kürzlich, dass es wohl kein anderes Land
gibt, in dem rund um die kulturelle Berichterstattung so viele Superlative
verwendet werden wie in Liechtenstein. Am schönsten, am besten, am
tollsten! Natürlich handelt es sich meist um positive Superlative. Was an
Kritik verträgt es wirklich? Tatsächlich geben gerade Kunstschaffende
gerne an, dass sie eine redliche Kritik in Liechtensteins Medienlandschaft
vermissen. Alles werde schöngeschrieben, das nütze am Ende nieman-
dem, so eine weitverbreitete Meinung. Offenbar ist Kritik gewünscht.
94
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
Aber nur, solange sie andere betrifft, dies zeigt die langjährige Erfah-
rung. Kritik am eigenen Leib zu erfahren, ganz egal, ob sie gerechtfertigt
ist oder nicht, ist dann doch fast allen zuviel. Die Aufregung ist gross.
Frustration kann einhergehen mit Wut. Die Strafe: Ablehnung —- mitun-
ter ein Leben lang.
Ein Kulturschaffender aus Liechtenstein erklärte stundenlang am
Telefon, wie wichtig es für Liechtenstein wäre, wenn die Medien ihre
Lobhudelei endlich aufgeben und richtig kritisch hinsehen würden. Das
würde die Konkurrenz stärken, das würde die Qualität verbessern ...
Der gleiche Kunstschaffende verkündete einige Jahre später, dass er das
KuL nicht mehr lesen würde, da es nicht angehe, dass «s’Schwinta-Aale»
unreflektierte Kritik übe und das auch noch anonym. Offenbar ist er ins
kritische Schussfeuer des Kulturnagetiers gekommen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass gerade jene am dünn-
häutigsten sind, die eigentlich am lautesten nach Kritik verlangen. Kul-
turinstitutionen haben zwar grundsätzlich eine professionellere Grund-
haltung, stören sich aber meist trotzdem an kritischen Untertönen eines
Artikels. Mehr ist es in der Regel ohnehin nicht. Wenn kritisiert wird,
dann meist in Nebensätzen, ganz am Schluss oder mit dem Hinweis, dass
es dem nichtgeschulten Auge wohl kaum aufgefallen wäre.
Hin und wieder überkommt es Liechtensteins Journalisten aber
trotzdem. Vor allem dann, wenn die Qualität von Kunst und Kultur
wirklich zu wünschen übrig lässt. Dann können es sich die wenigsten
verkneifen und sie schreiben, wie es denn wirklich war. Wenn nicht im
eigentlichen Artikel, dann vielleicht in einem Kommentar. Irgendwann
hört die Lobhudelei und Schönschreiberei ganz einfach auf. Genauso,
wie es kaum die richtigen Worte für etwas wirklich Gutes gibt, finden
sich manchmal kaum Worte, um zu beschreiben, wie schlecht etwas war.
Mut, das Kind beim Namen zu nennen, braucht es so oder so. Die Fol-
gen bleiben selten aus. In der hiesigen Medienbranche könnte man von
Wiedergutmachungsaktionen sprechen. Je nachdem, wer von der Kritik
betroffen ist, ob guter Werbekunde, politische Prominenz oder drohen-
der Telefonbrüller, können diese Aktionen ganz unterschiedlich ausse-
hen. Im besten Fall passiert gar nichts. Der Kritisierte soll toben und
damit hat es sich. Oder aber es gibt zahlreiche Telefonate, Gespräche,
vielleicht sogar einen Artikel als Wiedergutmachungszückerchen. Im
schlimmsten Fall hat die Geschichte ein juristisches Nachspiel.
95
Janine Köpfli
Das KuL war noch kein halbes Jahr alt, als es das erste und bis heute ein-
zige Mal verklagt wurde. Stein des Anstosses war ein Hintergrundartikel
über das am 7. Dezember 2005 abgebrochene «Max-Frisch-Haus» in
Schaan. Eine KuL-Redaktorin beschrieb, wie das Haus als Landhaus
von einer wohlhabenden Schweizer Familie in den 1940er-Jahren in Auf-
trag gegeben wurde und wie Max Frisch es darauf als Architekt entwor-
fen hatte. Das Landhaus galt als Musterbeispiel für zurückhaltende
Architektur mit klarer Formensprache. Der Familie gefiel das Haus aber
von Anfang an nicht. Bereits 1992 sollte es abgebrochen werden. Ein
langwieriges Hin und Her begann, denn erhaltenswert war die Rarität
des architektonischen Schaffens von Max Frisch allemal. Die Hausbesit-
zer fühlten sich vom Artikel im KuL persönlich angegriffen. In einem
gerichtlichen Vergleich musste sich das Vaduzer Medienhaus bei der
Familie entschuldigen.!?
Auch das «Schwinta-Aale» befasste sich immer wieder mit der Fra-
ge, wie weit Kunst- und Kulturkritik in Liechtenstein gehen darf: «Ei-
gentlich geht sie zu wenig weit, weil es zu selten eine echte Kritik gibt,
sondern nur Berichte. Das Problem in unserem Kleinstaat ist Folgendes:
Kritisierst du jemanden, wird das sofort persönlich genommen. Und zu-
dem sitzt dieselbe Person dann nachher auch noch in der Programmge-
staltung eines Veranstalters oder in der Stiftung X oder Y oder im Schul-
rat oder in einem Verein, in welchem dein Kind Mitglied ist oder was
weiss ich. Alles ist mit allem verbandelt. Da sind die Leute lieber vorsich-
tig. Die Liechtensteiner sind sehr harmoniebedürftig. Auch im Kulturbe-
trieb. Kritisiert wird trotzdem viel und heftig, aber nur hintenrum. Wenn
es von mir eine Schwinta gegeben hat, war es immer aus gutem Grund he-
raus, genauso wie bei einem Aale. Kritik wünschen sich alle, aber sie darf
meistens eben nicht wirklich ehrlich sein, ausser wenn es darum geht,
Lob zu verteilen. Sobald man unangenehme Tatsachen anspricht oder gar
darüber berichtet, ist es aus mit der gewünschten Kritik.»!*
Liechtenstein ist ein Land der Vereine. Von allen, die Kritik am
wenigsten vertragen, sind die Vereine ganz vorne dabei. Vereine vertra-
gen nicht einmal den Hauch von Kritik. Jahreskonzerte von Harmonie-
musiken, Turnerunterhaltungen, Feuerwehrtheater etc. — in diesen Fäl-
12 Köpfli/Hüppi, Auf Kulturreise, KuL, 27. September 2015.
13 Köpfli, Zum Abschied, KuL, 24. März 2016.
96
Zwischen Kunstkritik und kritischer Kunst
len geht es nicht darum, ob etwas gut oder schlecht war, sondern allein
um die Tatsache, dass sich die Vereinsmitglieder viel Mühe gegeben
haben. Kritik ist nicht erwünscht und lohnt sich auch nicht. Rutscht
doch ein kritischer Satz in die Berichterstattung, drohen gleich sämtliche
Vereinsmitglieder mit der Kündigung des Zeitungsabonnements.
Das Beispiel der Feuerwehrunterhaltung in Ruggell im Januar 2016
zeigt, dass es keinen Spielraum gibt und dass Vereine auch keinen Spass
verstehen. Ein Korrespondent schrieb über die Feuerwehrunterhaltung
und zog mit folgendem Satz den Frust eines ganzen Vereins, schlimmer,
der ganzen Gemeinde auf sich: «Wie der Leser unschwer erkennen mag,
wird christliche Nächstenliebe in Ruggell grossgeschrieben, und auch
die Liebe und Verliebtheit blühen in diesem grauen Dorf, das schon
mehr Vorarlberg ist als Liechtenstein, zuweilen in überraschend bunten
Farben.»'* Dem Artikel folgten zahlreiche Telefonate und Leserbriefe.
Der Präsident der Feuerwehr Ruggell beschrieb in seinem Leserbrief,
um was es dem Verein geht — Kritik hat ganz offensichtlich keinen
Platz: «An dieser Stelle möchten wir uns noch bei den wichtigsten Bot-
schaftern und Berichterstattern unseres Theaters, nämlich den knapp
800 Besuchern des Theaters, bedanken. Die durchwegs positiven Rück-
meldungen und Besucherzahlen der letzten Jahre geben uns recht und
wir freuen uns schon jetzt auf einen tollen Unterhaltungsabend im
Januar 2017.»">
Als Journalistin oder als Journalist hat man zwei Möglichkeiten:
Entweder man kritisiert offen und ehrlich und ist bereit, die mitunter
unangenehmen Folgen mit Gelassenheit zu tragen, oder aber man erlernt
die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens. Wer diese Kunst be-
herrscht, kann sich alles erlauben. Die Kritik ist so verpackt, dass sie nur
all jene verstehen, die sie auch verstehen wollen.
14 Näscher, Feuerwehrunterhaltung, Liechtensteiner Vaterland, 11. Januar 2016.
15 Büchel, Leserbrief, Liechtensteiner Vaterland, 14. Januar 2016.
97
Janine Köpfli
QUELLEN
Büchel, A. (2016). Leserbrief: «Humor» auf Kosten anderer. Liechtensteiner Vaterland
vom 14. Januar 2016, S. 10.
Grandchamp, J. (2015). Youtube-Film sorgt für Aufregung. Liechtensteiner Vaterland vom
9. Dezember 2015, 5. 7.
Hüppi, A. (2014). Zwischen Verkehrsinsel und Kunstobjekt. Liechtensteiner Vaterland
vom 1. August 2014, 5. 9.
Hüppi, A. (2014). «Wenig respektvolles Vorgehen». Liechtensteiner Vaterland vom
4. November 2014, S. 15.
Köpfli, J. (2007). Von Wasserbrüsten und Brustbomben oder der künstlerische Auftrag,
etwas auszulösen. KuL vom 25. März 2007, S. 17-19.
Köpfli, J. (2009). Leiden statt Hoffnung. Liechtensteiner Vaterland vom 28. Mai 2009, S. 9.
Köpfli, J. (2010). Wieder zurück zum Original. Liechtensteiner Vaterland vom 7. April
2010, 5. 1.
Köpfli, J. (2014). Als der Kaktus seine Stacheln ausfuhr. KuL vom 30. März 2014, $. 25.
Köpfli, J. (2014). «Es macht Spass, Politik wegzulassen, und es macht Spass, wieder drauf-
zuhauen». KuL vom 30. März 2014, S. 23-24.
Köpfli, J. (2014). Kunst löst etwas aus — Ziel erreicht. KuL vom 28. September 2014, S. 25.
Köpfli, J. (2016). Interview zum Abschied, Auf den Punkt gebracht. KuL vom 24. März
2016, 8. 13.
Köpfli, J., Hüppi, A. (2015). Auf Kulturreise mit dem KuL-Zug. KuL vom 27. September
2015, S. 21-23.
Liechtensteiner Vaterland (2013). Symbolträchtiger Brunnen. Liechtensteiner Vaterland
vom 24. August 2013, 5. 8.
Näscher, H. (2016). Feuerwehrunterhaltung Ruggell: «Zünd dia z Gampri a». Liechten-
steiner Vaterland vom 11. Januar 2016, 5. 7.
ABBILDUNGSNACHWEISE
Janine Köpfli: S. 83
Elma Korac: 5. 86
Heinz Preute: S. 87
98
Kann man Kunst lernen?
Zur kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung
der Kunstschule Liechtenstein
Martin Walch
Kunstschule Liechtenstein — eine Schule für alle?
Wie wird die Kunstschule Liechtenstein von aussen wahrgenommen?
Wie nehmen Gesellschaft und Politik die Kunstschule wahr? Welches
sind die Leistungen, Programme, Angebote, Ziele und Strategien der
Kunstschule? Wird sie den gesetzten Zielen und Erwartungen gerecht?
Welches ist die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der Kunst-
schule? Kann man Kunst denn lernen? Ist die Kunstschule Liechtenstein
tatsächlich eine Bildungsinstitution für alle oder doch vielmehr eine Ein-
richtung für eine sogenannte kunstinteressierte, kreative Elite? Zumeist
antworten Befragte, dass ihnen neben Zeit und anderen Voraussetzun-
gen, um sich an der Kunstschule einschreiben zu können, vor allem das
notwendige Talent fehle - und sie doch keine Künstler seien ... Muss
man also, um an der Kunstschule aktiv zu werden, Künstler sein?
Leider kann über die meisten dieser Fragen aufgrund mangelnder
repräsentativer Umfragen bislang nur spekuliert werden. In diesem Bei-
trag sollen unter anderem das Leitbild, die Zielsetzungen und Visionen
der Kunstschule erläutert werden, doch bleibt fraglich, inwieweit sich
diese Vorstellungen mit den Meinungen der Gesellschaft decken. Mit
Bestimmtheit jedoch darf gesagt werden, dass man keine Künstlerin oder
kein Künstler sein muss, um an der Kunstschule zu reüssieren. Häufig
scheint das aktuelle Angebot der Schule und insbesondere das damit ver-
bundene inhaltliche Unterrichtskonzept zu wenig bekannt oder nach-
vollziehbar. Absicht ist, dem bildnerischen Gestalten in Form von auf-
bauendem, regelmässigem Unterricht ein hohes Ansehen in der Gesell-
schaft zu geben und die Kunstschule als Promotor dieses Anliegens zu
positionieren. Wir alle wissen, dass beispielsweise das Erlernen eines
Musikinstruments eine grundlegende, aufbauende und kontinuierliche
Auseinandersetzung erfordert, um es schliesslich mit Freude und Ge-
99
Martin Walch
nuss spielen zu können. Dasselbe gilt für die Ausübung einer gestalteri-
schen Technik, wie zum Beispiel Malen, Zeichnen, Fotografieren oder
plastisches Gestalten. Um sich in einer Technik kompetent und zufrie-
denstellend ausdrücken zu können, sind aufbauende, regelmässige
Übungen für den Laien wie für den Profi unerlässlich. Angesprochen
wird daher eine sehr breite Bevölkerungsschicht.
Aus meiner Sicht als Kunstschaffender und Kunstvermittler und seit
gut einem Jahr als operativer Leiter der Kunstschule Liechtenstein setze
ich mich insbesondere für ein offenes, pulsierendes Haus ein. Nur ge-
meinsam kann es uns gelingen, dieser wertvollen Institution in unserem
Lande zu ihrer verdienten Anerkennung und Bedeutung zu verhelfen.
Ein Leben mit Kunst
Insbesondere Kunstschaffende, die sich ebenso mit Lehre und Vermitt-
lung beschäftigten, bezogen zur Frage «Kann man Kunst lernen?» Stel-
lung. Bereits Konrad Fiedler, einer der bedeutendsten deutschen Kunst-
theoretiker des 19. Jahrhunderts, bemerkte, dass die Kunst auf keinem
anderen Wege zu finden ist als auf ihrem eigenen. «Und das ist der des
Sehens und Gestaltens» (Gerhard Gollwitzer), also ausgehend von einer
primär praktischen Tätigkeit, die schliesslich nicht nur zu einer Vermeh-
rung des Wissens über Kunst, sondern zu einem Leben mit der Kunst
führt. Ein Leben mit Kunst bedeutet, sich auf einen fortwährenden Pro-
zess einzulassen. «Deswegen ist, was ich plastisch gestalte, nicht festge-
legt und vollendet. Die Prozesse setzen sich fort: chemische Reaktionen,
Gärungsprozesse, Farbverwandlungen, Fäulnis, Austrocknung. Alles
wandelt sich» (Joseph Beuys).
Das Erlernen von Kunst sowie deren Produktion ist mit einer
lebenslangen und prozesshaften, körperlichen und geistigen Tätigkeit
verbunden, die im Alltag verankert und kontinuierlich erprobt, geübt
und ausgelotet werden muss. Doch welcher Stellenwert ist dem Talent
beizumessen? Der bekannte Schriftsteller (und Läufer) Haruki Muraka-
mi betont, dass Talent zweifellos die wichtigste Eigenschaft eines
Romanschriftstellers darstelle, und weist zugleich darauf hin, dass des-
sen Ausmasse und Qualität jedoch nicht bestimmt werden können.
Daher sei die zweitwichtigste Eigenschaft, die gesamte Begabung auf das
im Augenblick Wichtige zu konzentrieren, was wiederum verlange, sich
100
Kann man Kunst lernen? Zur Kunstschule Liechtenstein
täglich regelmässig in Ausdauer zu üben, um — bis zu einem gewissen
Grad — ein mangelndes Talent auszugleichen.! Lust, Neugier, Offenheit
und Experimentierfreude, aber ebenso Durchhaltewillen und Standhaf-
tigkeit sind in diesem Kontext förderliche Eigenschaften. Naheliegend,
dass sich bei der Erörterung obiger Fragestellung auch die Frage, was
Kunst ist und wie sie definiert werden kann, aufdrängt ... Nun, diese
Fragen können und wollen im vorliegenden Beitrag nicht eingehend
besprochen werden. An dieser Stelle soll mit obigen losen Gedanken-
gängen und Zitaten nur angedeutet werden, wie der Kunstbegriff mit
einer Kunstschule in Verbindung gebracht werden kann.
Leitbild und strategische Handlungsfelder
Betrachten wir das in Gesetz, Statuten, Unternehmens- und Eignerstra-
tegie gleich mehrfach verankerte Leitbild der Kunstschule Liechtenstein,
so lassen sich deren spezifische Aufgaben, Ziele und Möglichkeiten bes-
ser nachvollziehen. Die Kunstschule, als eine selbstständige Stiftung des
öffentlichen Rechts, versteht sich als ein Ort der Aus- und Weiterbil-
dung für die Entwicklung der schöpferischen Wahrnehmung, Gestal-
tung und Ausdrucksfähigkeit aller Interessierten, ungeachtet des Alters
und Könnens. Sie leistet einen Beitrag zur ästhetischen Erziehung und
kulturellen Bildung der breiten Gesellschaft. Die Kunstschule sieht sich
als ein offenes Haus für alle Kunstinteressierten in Liechtenstein und der
Region. Zudem verfolgt sie das Ziel, den gestalterischen Ausdrucksmit-
teln und dem künstlerischen Schaffen den gebührenden Stellenwert in
der Gesellschaft einzuräumen. Die Kunstschule versteht sich als Kom-
petenzzentrum für Gestaltung, Design und Innovation sowie für die
Vernetzung dieser Handlungsfelder. Als Drehscheibe des Kunstschaf-
fens und der verschiedenen kulturellen Institutionen und Akteure in
Liechtenstein und der Region will die Kunstschule wahrgenommen wer-
den und Ort der Begegnung für Künstlerinnen und Künstler sowie
Kunstinteressierte sein.
1 Vgl. Murakami, Haruki: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. btb-Verlag,
München, 2010, 5. 71 f.
101
Martin Walch
Seit Bestehen der Schule wird diesem Leitbild Rechnung getragen, Un-
terrichtsprogramm und Angebot richten sich danach und werden regel-
mässig überprüft und optimiert. Der Unterricht an der Kunstschule
wird von qualifizierten und erfahrenen Lehrpersonen erteilt. Alljährlich
werden Experten eingeladen, die den Unterricht gemeinsam mit den
Lehrpersonen evaluieren, um ihn weiter zu verbessern. Motivierende
Gruppenateliers, Unterrichtsräume und Werkstätten mit geeigneter
Infrastruktur erfüllen eine für den ergiebigen Lernprozess bedeutende
Voraussetzung: Personen mit sehr unterschiedlichen individuellen Bega-
bungen und persönlichen Neigungen kommen hier zusammen, die alle,
ob Lehrender oder Lernender, in «geschütztem» Umfeld voneinander
profitieren. Alle lernen gegenseitig von den (Lebens-)Erfahrungen,
Herangehensweisen und den vielgestaltigen Kompetenzen ihrer Kolle-
ginnen und Kollegen. Wir lernen von- und miteinander, ein Aspekt, der
oftmals viel zu wenig bedacht wird und insbesondere Bildungsinstitu-
tionen eigen ist. Ein ganzheitliches und nachhaltiges Lernen setzt jedoch
neben Repetition und fortwährender Übung stets auch gegenseitige
Wertschätzung, Achtsamkeit, Offenheit sowie eine entsprechende Ver-
ständigungsbasis voraus. Diese Eigenschaften wecken Vertrauen und
bauen schliesslich Selbstvertrauen auf, welches für eine Festigung von
Fertigkeiten und Kompetenzen essenziell ist. Nachvollziehbar ist, dass
sich diese notwendige Vertrauensgrundlage innerhalb eines gemeinsa-
men Arbeitsprozesses effektiver entwickeln kann.
Von innen nach aussen: Jede Bewegung in der äusseren Welt
beginnt mit einer Bewegung in uns
Die Kunstschule strebt in den kommenden Jahren eine regional bessere
Verankerung und Positionierung an, verbunden mit einer verstärkten
Internationalisierung. Mit aktuellen und spartenübergreifenden Inhal-
ten, nachhaltigen Unterrichts- und Schulungsangeboten sollen künstle-
rische Ansätze thematisiert und entwickelt werden, die relevante zeitge-
nössische kultur-, sozial- und gesellschaftspolitische Fragestellungen
aufgreifen und visualisieren. Angestrebt wird also eine ästhetische Bil-
dung und Forschung, die aufbauend auf vermittelten handwerklichen
Grundlagen sich den Themen unserer Zeit stellen. Insbesondere in der
heutigen schnelllebigen Zeit, in der eine hohe Kompetenz im Lesen von
102
Kann man Kunst lernen? Zur Kunstschule Liechtenstein
komplexen, vielfach manipulierten Bildern immer ausschlaggebender
wird, sind solche Bildungsstätten notwendig und permanent gefordert:
«In dieser Zeit extremer Krisen wird zunehmend klar, dass trans-
formative Arbeit auf vielen wechselseitig verbundenen Ebenen
stattfinden muss. Für den Wandel von fossilen zu erneuerbaren
Energien, von einer ausbeuterischen Kultur zu einer Kultur des
Respekts werden technische Lösungen allein nicht genügen. Es
braucht bekannte Formen des Aktivismus, die den Widerstand
gegen Zerstörerisches erhöhen, und zugleich eine Stärkung unserer
Fähigkeiten verbindenden Denkens, der Selbstorganisation und
Resilienz. Politische Veränderungen, herbeigeführt durch die
Mobilisierung von Massen, bleiben unverzichtbar, doch hängen
diese wiederum von einem Wandel im Herzen ab: von inneren Ver-
änderungen, die im Wesentlichen kumulativ sind.»?
Unter dem Motto «von innen nach aussen» will sich die Kunstschule
Liechtenstein, wie erwähnt, zu einer regional anerkannten Drehscheibe
und Plattform für aktuelles Denken und Handeln und zeitgenössisches
Kunstschaffen etablieren. Von innen nach aussen meint aber auch, dass
die Schule aufbauend auf ihren bewährten Lehrkräften und ihrem vor-
handenen, spezifischen Potenzial (Ortsanbindung, räumliche Vorausset-
zungen etc.) die zukunftsorientierte Ausrichtung ihres Leitbilds umzu-
setzen beabsichtigt. Visionen und Innovationen gelingen vor allem in
einem (selbst-)bewussten, verantwortungsvollen und gemeinschaftli-
chen Arbeitsklima. Daher setzen wir auf ein produktives, konstruktiv-
kritisches Miteinander.
Kunstförderung in Liechtenstein am Beispiel der Kunstschule
Wie bereits erwähnt, ist die Kunstschule eine selbstständige Stiftung des
öffentlichen Rechts und wird daher auch massgeblich vom Land geför-
dert: einerseits mit einem Staatsbeitrag, der maximal drei Viertel der
finanziellen Aufwendungen der Schule deckt, und andererseits mit un-
2 Sacks, Shelley/Kurt, Hildegard (2013): Die rote Blume. Ästhetische Praxis in Zeiten
des Wandels. thinkOya, Klein Jasedow, S. 20 f.
103
Martin Walch
entgeltlich zur Verfügung gestellten, geeigneten Unterrichtsräumlichkei-
ten, die im Keramikunternehmen Schaedler in Nendeln gefunden wur-
den. Die Einkünfte der Kunstschule setzen sich aus dem genannten
Staatsbeitrag, aus Schulgeldern, die mindestens 25 Prozent abdecken
müssen, sowie sonstigen Einkünften wie Stiftungsgeldern oder Schen-
kungen zusammen. Dies belegt die Art und Absicht der staatlichen
Kunstförderung Liechtensteins. Das Land Liechtenstein betreibt, am
Beispiel der Kunstschule dargelegt, im Bereich Gestaltung und Kunst
vorwiegend Breitenförderung. Diese soll allen interessierten Personen
zugutekommen. Spitzenförderung bleibt in dem Segment ein Stiefkind,
das vielmehr von privaten Stiftungen und der Wirtschaft gefördert wird.
Angebote und deren Positionierung
Aufgrund der beschriebenen Ausgangslage konzentriert sich das Ange-
bot der Kunstschule auf folgende Produkte:
1. Ein Vorkurs als berufsorientierende Ausbildung in der derzeit
bestehenden einjährigen Vollzeitversion sowie neuerdings in einer zwei-
jährigen Teilzeitvariante: Der Vorkurs ist ein Findungs- und Orientie-
rungsjahr für junge Menschen im beruflichen Entscheidungsprozess.
Teilnahmevoraussetzung ist die abgeschlossene Sekundarstufe oder die
Maturität sowie das Bestehen des Aufnahmeverfahrens. Der Vorkurs ist
eine optimale Vorbereitung auf eine gestalterische Berufslehre oder auf
ein Studium auf Hochschulniveau.
2. Weiterbildungen für Jugendliche und Erwachsene in aufbauen-
den Unterrichtssegmenten: Die Tagesklasse ist der gestalterischen Ver-
tiefung mit einem Tag pro Woche gewidmet und speziell für Erwachsene
und Senioren konzipiert. Atelierklassen mit regelmässigem, aufbauen-
dem Unterricht sowie während den Schulferien angebotene Kunstcamps
für Jugendliche von 12 bis 18 Jahren dienen zur Orientierung und Ver-
tiefung in bildnerischer Gestaltung. Fachunterricht in verschiedenen
gestalterischen Techniken für alle Altersgruppen rundet das Angebot ab.
3. Die Kinderateliers, die der frühen Förderung der gestalterischen
Fähigkeiten von Kindern im Alter von zwei bis zwölf Jahren dienen.
Der Unterricht findet zum Teil direkt in den Gemeinden statt.
4. Gestaltungsunterricht für Schulklassen und andere Gruppen als
Breitenförderung sowie Begabungs- und Begabtenförderung.
104
Kann man Kunst lernen? Zur Kunstschule Liechtenstein
5. Bildungsmodule für verschiedene Berufsgruppen, wie beispiels-
weise in der Lehrerweiterbildung, oder im Sinne von Gestaltungs- und
Kreativitätstrainings für Unternehmen: Die breit gefächerten Unter-
richtsangebote in kunsthandwerklichen Fächern und Gestaltungstechni-
ken sind für alle Interessierten offen und haben den Anspruch, die
Fähigkeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nachhaltig aufzu-
bauen.
6. Die Drehscheibe für Kunst, Design und Kultur, die sich mit fol-
genden Angeboten an die Gesellschaft richtet: Labor als Dienstleistung
für Kunstschaffende; Plattform für den Austausch von Theorie und Pra-
xis; Begegnungsort für den Austausch von gesellschaftlichen Themen
und für den Kunstdialog; Vortragsreihen; Workshops zu Kunst und Ge-
sellschaft.
Wertehaltung und Vernetzung
Die Kunstschule ist geprägt von Engagement, Begeisterung, Gemein-
samkeit und Mut zu Neuem. Die Schule pflegt eine Kultur des Vertrau-
ens, der Transparenz und der Zusammenarbeit zwischen Führung, Leh-
rerteam und Kundschaft. Ein breit verzweigtes Netzwerk zu Schulen,
Ämtern und Eltern- und Künstlervereinigungen sowie die Zusammen-
arbeit mit Jugend- und Seniorenorganisationen und mit Bildungsinstitu-
tionen der Region gewährleisten den wertvollen kommunikativen Aus-
tausch untereinander und verankern die Schule im gesellschaftlichen
Umfeld. Als Plattform und Drehscheibe bietet sie sich allen Interessier-
ten als Netzwerkraum an. Aber auch die Vernetzung mit Kunst- und
Kunsthochschulen auf europäischer Ebene wird fortgesetzt, um die
interkulturelle Kompetenz der Lehrer- und Schülerschaft auszubauen.
Was kann man von der Kunst und der Beschäftigung
mit Kunst lernen?
Zurück zur eingangs gestellten Frage: Kann man Kunst lernen? Zweifel-
los baut die aktive Auseinandersetzung mit Kunst über kurz oder lang
einen Zugang und ein Verständnis dafür auf. Wir lernen, Bilder, Plasti-
ken, Performances oder Installationen etc. zu lesen, ikonografische Be-
105
Martin Walch
züge herzustellen und zu verstehen. Die praktische und theoretische
kontinuierliche Beschäftigung mit Kunst und Gestaltung fördert und
entwickelt neben dem «angeborenen» Talent vor allem motorische Fer-
tigkeiten, Flexibilität und kreatives Denken, lehrt uns aber auch, gross-
zügig zu sein, ein mögliches Scheitern zu akzeptieren, aus Versuch und
Irrtum zu lernen, konsequent, situativ sowie prozess- und zielorientiert
zu handeln. Die Vertiefung in Kunst und in die gestalterische Praxis
bringt sinnliche Erfahrung, weckt Emotionen und Wahrnehmung mit all
unseren Sinnen. Ein Leben mit Kunst gebiert Wertschätzung und Res-
pekt im Umgang mit den Ressourcen unserer Erde, erzeugt Verantwor-
tungs- und Selbstbewusstsein. Kunst macht Sinn - für alle!
Tabula rasa, 2007
106
Kann man Kunst lernen? Zur Kunstschule Liechtenstein
KUNST Schule Liechtenstein
Ist visionär — kompromisslos sensibel, provoziert Fragen, lotet Grenzen
der Kommunikation im weitesten Sinne aus, reagiert auf gesellschaftli-
che Gegebenheiten, ist ein Spiegelbild unserer Zeit, erforscht Neues
tabulos, schonungslos, absichtslos, polarisiert, ist unmittelbar und bean-
sprucht, ist schön und reich, ist arm und krank, weckt alle Sinne, bleibt
visionär.
107
Martin Walch
Kunst SCHULE Liechtenstein
Ist Programm, ist Lehrplan — benennt 363 Kompetenzen, die erlernt,
durch Übung gefestigt und entwickelt werden sollen, ist Vermittlung
von Wissen und Werten, von Bekanntem, Bewährtem, Erwiesenem, ver-
mittelt Grundlagen und Techniken, ist eine Bildungs- oder Ausbil-
dungsstätte, die Erlerntes prüft und qualifiziert, ist ein Ort, den alle
während eines wichtigen Lebensabschnitts durchlaufen.
108
Kann man Kunst lernen? Zur Kunstschule Liechtenstein
Kunst Schule LIECHTENSTEIN
Ist Heimat im Herzen Europas, geprägt vom Rhein, von Berg und Tal,
vom Föhn —- ein Durchzugsland seit Urzeiten, ist ein aufstrebendes Tal,
wo Land und Stadt ineinandergreifen und sich zu vorstädtischer Agglo-
meration entfalten, ein Schmelztiegel für Innovation, für Neues, ein klei-
nes Land, wo jeder Blick auch das Ausland streift, ist ein Zwerg unter
Riesen, der alles auch hat, und ein Volk beheimatet, das (Hoch-)Kultur
vor allem importiert und schluckt, dessen eigenes Kunst- und Kultur-
schaffen von kleinem Selbstwert gekennzeichnet ist.
109
Martin Walch
KUNSTSCHULE LIECHTENSTEIN
Ist Lehr- und Lernfabrik für Gestaltung, Design und Kunst, ist Talent-
schmiede und Denkraum, ein Ort des Austauschs, des Dialogs, der
Kommunikation, die Zugang zu Kunst schafft, eine Plattform, ein Ver-
suchslabor in motivierendem Umfeld, ein Experimentier- und For-
schungsterrain, das aus Versuch und Irrtum schöpft, ist Nährboden und
Tankstelle für Innovation und neue Energie, um sich dem schnelllebigen
Alltag, den Krisen und Fragen der heutigen Zeit kompetent stellen zu
können und nicht zuletzt auch ein Ort der Erholung, der Freude und
Überraschungen bringt — wo Freundschaften wachsen können.
ABBILDUNGSNACHWEIS
Martin Walch
110
IL.
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert:
Forschungsstand und Forschungslücken
Rupert Quaderer
Georg Malin und die Historiografie Liechtensteins
Georg Malin leitete 1953 mit seiner Dissertation «Die politische Ge-
schichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren 1800 bis 1815»
eine neue Ära in der liechtensteinischen Geschichtsschreibung ein. Mit
Malins Untersuchung fasste die wissenschaftliche Historiografie Fuss.
Das heisst, die Erkenntnisse basieren auf einem kritischen Studium der
Quellen. Zudem wird die Transparenz dieser Quellen offengelegt. Der
Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein publizierte diese an
der Universität Freiburg i.Ue. bei Prof. Dr. Oskar Vasella eingereichte
Arbeit im Band 53 seines Jahrbuches (Jahrbuch des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein, Band 53, 1953; im Weiteren angeführt
unter JBL). Die bis dahin veröffentlichten Arbeiten zur liechtensteini-
schen Geschichte hatten Laien — in verdienstvollen Publikationen — ver-
fasst. Es seien erwähnt der Theologe Johann Baptist Büchel, der Arzt
Albert Schädler, der Lehrer David Beck, der Verwaltungsbeamte Joseph
Ospelt, der Landesverweser Karl von In der Maur. Diese Autoren be-
fassten sich mit verschiedenen Bereichen und Zeitabschnitten der liech-
tensteinischen Geschichte. So etwa mit Kirchengeschichte, mit der
Tätigkeit des Landtags oder mit der Publikation von Urkunden. Mit
David Beck begannen ab 1942 die Berichte über archäologische Gra-
bungen und bestimmten über Jahre den Inhalt der Jahrbücher des His-
torischen Vereins.
All diese Untersuchungen zur liechtensteinischen Geschichte hatte
der 1901 gegründete Historische Verein für das Fürstentum Liechten-
stein mit der Herausgabe seines Jahrbuches initiiert.
Die vom Vater der liechtensteinischen Geschichtsschreibung, Peter
Kaiser, 1847 veröffentlichte «Geschichte des Fürstentums Liechtenstein.
Nebst Schilderungen aus Chur-Rätien’s Vorzeit» blieb bis heute die ein-
113
Rupert Quaderer
zige Gesamtdarstellung der Geschichte unseres Staatsgebietes.! In sei-
nem Werk fehlen allerdings sowohl Literatur- und Quellenhinweise als
auch Fussnoten mit kritischem Apparat. Seine Darstellung endet mit der
landständischen Verfassung von 1818. Diese unterzieht er einer kriti-
schen Gesamtbeurteilung mit dem Hinweis, dass sie «jedoch den
Bedürfnissen und Gewohnheiten des Landes weniger entsprach, als die
früher bestandene» (Peter Kaiser, S. 510).
Joseph Ospelt beurteilte in seiner Arbeit «Zur liechtensteinischen
Verfassungsgeschichte» (JBL 37/1937) sowohl die Neuordnung von
1808 als auch die landständische Verfassung von 1818 aus einem positi-
veren Blickwinkel. Die Dienstinstruktionen 1808 machten nach seiner
Auffassung «unhaltbaren Zuständen ein Ende» und für «die Gemeinden
konnte diese Neuordnung der Dinge entschieden segensreich werden».
Zur landständischen Verfassung hält Ospelt fest: «[...] die durch die
landständische Verfassung von 1818 geschaffene Ordnung scheint dann
durch 20 Jahre mehr oder weniger befriedigt zu haben».
Johann Baptist Büchel publizierte 1923 eine Neuauflage der
Geschichte Peter Kaisers unter dem Titel «Kaisers Chronik von Liech-
tenstein». Büchel vermerkt im Vorwort zu seiner Arbeit, dass Kaiser
«manche Worte, die seine Geschichte enthält, nach dieser Zeit nicht
mehr geschrieben hätte [...]». Büchel meinte damit wohl die von der
liberalen Haltung Kaisers beeinflussten Aussagen über das Verhältnis
der Bevölkerung zur Obrigkeit. Kaisers Chronik hatte ja auch bereits bei
ihrer Publikation das Missfallen der Obrigkeit erregt. So meinte die
fürstlich-liechtensteinische Hofkanzlei in Wien im Januar 1848: «Zum
öffentlichen Debit oder zum Gebrauch der Schulen kann aber dieses
seichte Produkt nicht gestattet werden.»?
Die von Georg Malin begonnene Untersuchung über die ersten
Jahre des 19. Jahrhunderts der liechtensteinischen Geschichte fand —
nach einer Pause von ca. 15 Jahren — ihre Fortsetzung in den Disserta-
tionen von Rupert Quaderer («Politische Geschichte des Fürstentums
1 Als aktuellere Darstellungen eines längeren Zeitabschnittes der liechtensteinischen
Geschichte sind zwei Publikationen anzuführen: Pierre Raton, Le Liechtenstein.
Histoire et institutions, Paris 1949; David Beattie, Liechtenstein. A Modern His-
tory, Triesen 2004.
2 Schreiben vom 18. Jänner 1848 der Hofkanzlei in Wien an das Oberamt; LI LA RC
97/46; zitiert nach: www.e-archiv.1i/D44496; aufgerufen am 12.04.2016.
114
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Liechtenstein von 1815 bis 1848») und Peter Geiger («Geschichte des
Fürstentums Liechtenstein 1848 bis 1866»). Sie setzten thematisch und
zeitlich nahtlos mit ihren ebenfalls im Jahrbuch des Historischen Vereins
(JBL 69/1969 und JBL 70/1970) veröffentlichten Arbeiten diejenige
Malins fort. Quaderer hatte noch denselben «Doktorvater» wie Georg
Malin; Peter Geiger promovierte bei Prof. Dr. Leonhard von Muralt an
der Universität Zürich. Alois Ospelt ergänzte diese vorwiegend auf die
politische Entwicklung ausgerichteten Dissertationen mit seiner 1972 im
Jahrbuch des Historischen Vereins veröffentlichten Arbeit zur Wirt-
schaftsgeschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert («Wirtschaftsge-
schichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert: von den
napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges»).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Georg Malin mit sei-
ner Dissertation die Aufarbeitung der liechtensteinischen Geschichte des
19. Jahrhunderts initiierte. Das letzte Drittel dieses Jahrhunderts wartet
noch auf seine weiterführende Bearbeitung.
Die erwähnten Dissertationen hatten sich vorwiegend der politi-
schen Geschichte Liechtensteins gewidmet. Es ging um entscheidende
Fragen der innen- und aussenpolitischen Entwicklung Liechtensteins.
Stichworte wie Souveränität, Neutralitätsfrage, Verfassungsentwicklung,
aussenpolitische Anbindung, Bündnispolitik, militärische Einsätze seien
als Beispiele genannt.
Eine Ergänzung und Weiterführung der Erforschung des 19. Jahr-
hunderts brachten die Beiträge von Paul Vogt im Jahrbuch des Histori-
schen Vereins (in JBL 92/1994 «Verwaltungsstruktur und Verwaltungsre-
formen im Fürstentum Liechtenstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts» und in JBL 111/2012 «Das Schwierigste, der Anfang, ist geschafft.
Zur Entstehung und Tätigkeit des Landtags im 19. Jahrhundert»).
Das Jahrbuch des Historischen Vereins war und ist wohl immer
noch das wichtigste Publikationsgefäss für historische Themen. Es gab
jedoch schon vor 1901 Publikationen zur Geschichte Liechtensteins. So
etwa die vom fürstlich-liechtensteinischen Bibliothekar Jacob von Falke
verfasste «Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein» (drei Bände,
1868 bis 1882). Diese Darstellung konzentriert sich auf die Familienge-
schichte des Hauses Liechtenstein. Die Geschichte des Landes Liechten-
stein spielt dabei nur eine Nebenrolle.
In der Publikation von Franz Kraetzl, «Das Fürstentum Liechten-
stein und der gesamte Fürst Johann von und zu Liechtensteinsche Gü-
115
Rupert Quaderer
terbesitz /statistisch-geschichtlich dargest.», 1914 in der achten Auflage
erschienen, nehmen die Ausführungen über Liechtenstein immerhin
rund 100 Seiten ein.
Eine stärker auf Liechtenstein bezogene Untersuchung stellt die
von Hippolyt Ludwig von Klenze 1879 erstellte Publikation «Die Alp-
wirthschaft im Fürstenthume Liechtenstein: ihre Anfänge, Entwicklung
und gegenwärtiger Zustand: eine Skizze landwirthschaftlichen Muster-
betriebes» dar.
Weitere Publikationen kamen im 19. Jahrhundert aus dem Bereich
der Lehrmittel.® Dies waren Lehrbücher zur Geschichte und Staatskunde
und Lesebücher mit Beiträgen zur liechtensteinischen Geschichte.
In neuerer Zeit erschienen als Ergebnisse von Kontakten mit Uni-
versitäten einige Publikationen zu verschiedenen Bereichen der liechten-
steinischen Geschichte. Es seien erwähnt Wolfgang Müller (Hrsg.), «Das
Fürstentum Liechtenstein. Ein landeskundliches Portrait» (1981), eine
Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i.Br. Der Band
enthält inhaltlich breit gestreute Beiträge von der Ur- und Frühge-
schichte, verfasst von Georg Malin, über die Verfassung von 1921 bis zur
Mundart von Liechtenstein.
Der von Volker Press und Dietmar Willoweit 1988 herausgegebene
Sammelband «Liechtenstein — Fürstliches Haus und staatliche Ordnung.
Geschichtliche Grundlagen und moderne Perspektiven» war das Ergebnis
eines ın Vaduz durchgeführten Oberseminars der Universität Tübingen.
Die Beiträge überspannen die Zeit vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert.
Diese Publikation erschien im Verlag der Liechtensteinischen Akademi-
schen Gesellschaft, Vaduz, und im R. Oldenbourg Verlag, München.
Der Redaktor des Historischen Lexikons des Fürstentums Liech-
tenstein (HLFL) organisierte in Zusammenarbeit mit den Obersemina-
rien der historischen Institute der Universitäten Zürich, Salzburg, Inns-
bruck und Freiburg i. Üe. Seminare. Die Ergebnisse dieser Seminare wur-
den 1999 in drei Bänden (Mittelalter, Neuzeit, 19. Jahrhundert) publiziert.
Das HLFL veranstaltete im ähnlichen Rahmen eine Tagung zum
Thema <«Historiographie im Fürstentum Liechtenstein» und zur Revo-
lution von 1848. 1995 erschienen die an dieser Tagung gehaltenen Refe-
3 Siehe dazu Graham Martin, Liechtensteinische Lehrmittel 1835-1965; JBL 65/1965.
116
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
rate im Band «Historiographie im Fürstentum Liechtenstein: Grundla-
gen und Stand der Forschung im Überblick. Referate». Im Jahr 2000
folgte die Publikation «Liechtenstein und die Revolution 1848: Umfeld
— Ursachen — Ereignisse - Folgen». Als Herausgeber der beiden Sam-
melbände fungierte Arthur Brunhart.
Die Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (LAG) schuf
1972 ein weiteres Gefäss für Publikationen zu Liechtenstein mit der
Reihe «Liechtenstein —- Politische Schriften» (LPS). Der Titel des Heftes 1
— «Fragen an Liechtenstein» — gibt die Grundausrichtung der Reihe an,
nämlich «etwas [...] zur Diskussion um unseren Staat beizutragen»
(LPS 1, S. 7). Diesem Anspruch konnten meines Erachtens die 57 bisher
publizierten Bände entsprechen.
Georg Malin als Historiker
Georg Malin befasste sich nach Abschluss seiner Dissertation weiterhin
mit der Erforschung der liechtensteinischen Geschichte. Dies tat er in
einem sehr breiten thematischen Feld. Die von ihm bearbeiteten Stoffe
erstreckten sich vom Thema «Die Souveränität Liechtensteins» (JBL
55/1955) über «Der Übergang der Landschaften an die Fürsten von
Liechtenstein» (1956) bis zum Aufsatz «Das Gebiet Liechtensteins unter
römischer Herrschaft» (JBL 58/1958). Die Souveränitätsthematik wie-
derholte sich später nochmals in seinem Beitrag «200 Jahre souveränes
Fürstentum Liechtenstein» (LPS 42/2007).
Neben weiteren Aufsätzen zur Römerzeit und zu mittelalterlichen
Themen publizierte Malin auch zur Archäologie, wie etwa zum Kastell
in Schaan (JBL 60/1960), zum Gutshof in Nendeln (JBL 75/1975), zum
Kirchhügel in Bendern (helvetia archaeologica 1978), und verfasste
Berichte zu verschiedenen Notgrabungen bis zu «Mittelalterliche Bau-
reste in Salums» (JBL 72/1972).
Malin war auch Illustrator einer Reihe von Arbeitsblättern für die
liechtensteinischen Schulen. So etwa zu Themen wie «Politische Rechte
und soziale Verhältnisse» (1972), «Das Gebiet Liechtensteins unter römi-
scher Herrschaft» (1973) oder «Zur Urgeschichte Liechtensteins» (1973).
Malin verfasste ebenso Beiträge staatspolitischer Ausrichtung wie «Die
Beziehungen Schweiz-Liechtenstein. Eine historische Skizze» (Gesell-
schaft Schweiz-Liechtenstein, 1966) oder «Bemerkungen zu 150 Jahren
117
Rupert Quaderer
liechtensteinische Aussenpolitik» (LPS 2/1973) wie auch baugeschicht-
liche Untersuchungen wie «Zur Baugeschichte der Musikschule in Va-
duz» (JBL 68/1968).
Ein wichtiges Gebiet seiner Publikationstätigkeit war für Georg Ma-
lin die Kulturpolitik in Liechtenstein. Dies belegen seine zahlreichen Ab-
handlungen zu Themen wie «Zur Kunstgeschichte» (Liechtensteinisches
Landesmuseum, 1960), «Zur liechtensteinischen Kulturpolitik» (LPS
1/1972 sowie Liechtensteinische Kunstgesellschaft Heft 1/1976), «Kul-
tur: auf offene Grenzen angewiesen» (EFTA-Bulletin 4/90, Genf), «Kul-
turpolitik als Verpflichtung europäischer Kleinstaaten» (LPS 10/1984).
Eine gewichtige Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem
1968 veröffentlichten «Kunstführer Fürstentum Liechtenstein» zu. Er
erschien 1977 in zweiter Auflage.
Die breitbandige Forschungstätigkeit Malins zeigt sich auch in sei-
ner Mitarbeit am liechtensteinischen Urkundenbuch. Er bearbeitete in
Teil I den Band 4 «Aus den Archiven des Fürstentums Liechtenstein».
Diese Arbeit publizierte der Historische Verein 1963 bis 1965 in seinen
Jahrbüchern und auch als separaten Band. Unter anderem beinhaltet der
Band mit dem Brandisischen Urbar (ca. 1507), dem Sulzisch-Hohenem-
sischen Urbar (1613) und dem Urbar der Herrschaft Schellenberg (1698)
drei wichtige Quellen der Geschichte Liechtensteins. Malin vermerkt im
Vorwort die Grundsätze seiner Beschäftigung mit den Quellen: «Der
Gedanke an Selbständigkeit, Autonomie und Souveränität bestimmt das
Vorgehen» (Urkundenbuch, S. 5). In solcher Denkweise kommt der An-
spruch auf Unabhängigkeit zum Ausdruck, der jeder wissenschaftlichen
Tätigkeit zugrunde liegen sollte.
Die angeführten Publikationen stellen lediglich eine Auswahl der
Gesamtpublikationen Malins dar. Sie zeigen als wesentliches Merkmal
die breit gefächerte Ausrichtung des Historikers Malin. Das gilt sowohl
für die Tätigkeit als Historiker als auch für das breite kulturelle, philo-
sophische und staatspolitische Interesse insgesamt. Georg Malin hat sich
mit seiner Publikationstätigkeit um die liechtensteinische Geschichtsfor-
schung und um die Kulturpolitik seines Heimatlandes grosse Verdienste
erworben.
118
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Gedankensammlung zu Desiderata der liechtensteinischen
Historiografie der Neuzeit (19./20. Jahrhundert)
Als Einstieg sei ein von Georg Malin selbst geäussertes Desideratum
erwähnt, welches er 1967 folgendermassen formulierte:
«Heute aber genügen politische und kirchengeschichtliche Frage-
stellungen zur Deutung der Vergangenheit nicht mehr; sie kann
ohne Darstellung der sozialen und ökonomischen Gegebenheiten
nicht eingefangen werden. Tatsächlich hatten auch im Mittelalter
wirtschaftliche und soziale Probleme die alles durchdringende
Eigenschaft von heute. Die liechtensteinische Geschichtsschrei-
bung wird in diesen Belangen einiges nachzuholen haben» (Urkun-
denbuch, Teil I, 4. Band, 4. Lieferung, S. 249).
Auf dieser Prämisse Malins aufbauend, seien im Folgenden einige Ge-
danken dazu geäussert, in welchen Bereichen der Historiografie Liech-
tensteins noch Desiderata angeführt werden können. Der Begriff Desi-
derata wird dabei als etwas «Erwünschtes», das «von den Gestirnen,
sidera, herabgefleht» wird, verstanden (nach einer in Wikipedia gegebe-
nen Definition). Es sind also Wunschobjekte, welche in der liechtenstei-
nischen Geschichtsforschung einer Realisierung harren. Die angeführten
Themen sind aus verschiedenen Bereichen zusammengesetzt. Dabei ist
die Situation der Quellenlage, die sich zu den einzelnen Themen bietet,
nicht berücksichtigt. So können also durchaus einige der geäusserten
«Wunschobjekte» — zurzeit mindestens — infolge mangelnder Quellen-
grundlage nicht oder nur teilweise Realität werden.
Für die Zusammenstellung der hier angeführten Desiderata konnte
ich mich auf Historikerinnen und Historiker in Liechtenstein stützen,
die meinem Ansuchen auf Unterstützung bei der Gedankensammlung
bereitwillig entsprochen haben. Ihnen sei herzlich gedankt.“
Für die Auswahl der Themen galt der Grundsatz: «Die Gedanken
sind frei!» Das bedeutet, dass die vorgelegten Themenbereiche nicht de-
tailliert vorgestellt werden. Es sind Gedankenanstösse in rudimentärer
4 Ich bedanke mich für Stellungnahmen bei Klaus Biedermann, Markus Burgmeier,
Fabian Frommelt, Peter Geiger, Veronika Marxer, Christoph M. Merki, Alois Os-
pelt, Martina Sochin D’Elia, Paul Vogt.
119
Rupert Quaderer
Form, die im Einzelfall noch einer weiteren Ausarbeitung bedürften. Der
zeitliche Schwerpunkt der Auswahl liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert.
Zur besseren Übersicht werden die Einzelthemen übergeordneten
Fachbereichen zugeteilt:
A) Soziale Fragen
Die Arbeiter- und Arbeiterinnenfrage
— Was für Leute arbeiteten in den Textilfabriken? Welches war ihre na-
tionale, geschlechtsspezifische und soziologische Zusammensetzung?
Die Kinderarbeit in den Textilfabriken wäre hier mit einzubeziehen.
— Gab es eine saisonale Arbeitsemigration von Erwachsenen, etwa
nach Süddeutschland?
Die Armut und der Umgang mit ihr
— Hier wäre das sogenannte «einfache Leben» zu berücksichtigen mit
Bereichen wie Wohnen, Heizen, Kleidung, Kochen, Essen, Not-
durft verrichten, Waschen, Putzen, Sparen, Spielen, Streiten, La-
chen, Lesen, Gebären, Sterben ...
Randgruppen wie Bettler, Vaganten, fahrende Händler
— Hier müsste wohl grenzüberschreitend gearbeitet werden, da diese
Gruppen die Grenzen oft gezwungenermassen überschritten.
Mägde und Knechte in fremden Diensten im Ausland
— Welches waren Zielorte für ihre Tätigkeit? Welche sozialen Grup-
pen waren besonders betroffen?
Soldatenschicksale
— Was hatten Söldnerdienste für Folgen in materieller und psychi-
scher Hinsicht? Wo waren die Söldner im Einsatz? Wie konnten sie
sich wieder eingliedern nach der Rückkehr?
Auswanderung
— Welche Auswanderungsziele ausser Nord- und Südamerika gab es
für die liechtensteinische Bevölkerung? Zu berücksichtigen wären
etwa Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland.
120
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Gesundheitsversorgung
Wo und wie konnten sich Kranke und Verletzte medizinisch ver-
sorgen lassen?
Was für eine Rolle spielten die Hebammen in der medizinischen
Betreuung allgemein?
Familienforschung
Auswertung der Pfarreibücher als sozialgeschichtliche Quelle
Wie gelangten manche Familien zu ihrem Reichtum (Bodenbesitz)?
Einflussreiche Familien und ihre politische Bedeutung in den Ge-
meinden (z.B. Gastgewerbe)
Einbürgerungen und ihre Folgen: reiche Familien als erwünschte
Bürger, arme als unerwünschte
Besitzverhältnisse
B)
Wie entwickelte sich der Grundbesitz vom herrschaftlichen Besitz
zum Privatbesitz?
Wie veränderten sich die Besitzverhältnisse in den Gemeinden?
Politische Fragen
Haus Liechtenstein; Land und Fürstenhaus
Dieser Bereich würde Studien von der frühen Neuzeit bis in die
Gegenwart zulassen. Er würde die Geschichte Liechtensteins ın
ihren europäischen Bezügen untersuchen und die Sonderposition,
in die Liechtenstein spätestens seit dem Ende der Habsburgermo-
narchie hineingewachsen ist, mit den Entwicklungen in Europa
verbinden. Die Besonderheiten Liechtensteins stünden im Mittel-
punkt, aber in ihren europäischen Kontexten (Vorschlag Prof. Die-
ter Langewiesche). Dieser Themenschwerpunkt würde vielfältige
Kontakte zu den Forschungen an Universitäten in Europa erlau-
ben, z.B. mit der Adelsforschung u.a. in Wien und in Prag.
Kleine Staaten in der europäischen Geschichte zur Zeit des Alten Reichs
und seit dem frühen 19. Jahrhundert
Dieser Themenbereich würde ebenfalls die gesamte historische Zeit
Liechtensteins bzw. der Region bis in die Gegenwart umfassen. Er
121
Rupert Quaderer
wäre mit dem Themenbereich Land und Fürstenhaus/Dynastie
verbunden, würde aber die Schwerpunkte anders setzen. Koope-
rationen mit anderen Fachbereichen (Politikwissenschaft) sind
ebenso möglich wie auch mit Universitäten in den Nachbarländern
(Vorschlag Prof. Dieter Langewiesche).
Liechtenstein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
— Entwicklung des Staatswesens, Funktionen der Ämter, des Klerus
etc.
— Spannungsfeld zwischen Staat und Gemeinden: Zusammenarbeit —
Konkurrenz — Konflikte
Geschichte der Aussenpolitik
— Entwicklung von einer isolationistischen Haltung und einer Situa-
tion der Vertretung nach aussen durch einen Nachbarstaat (Öster-
reich-Ungarn/Schweiz) zur eigenständigen Aussenpolitik
Beziehungen zu Deutschland nach 1866
— Gab es weiterhin Beziehungen zu Deutschland nach der Auflösung
des Deutschen Bundes? Welcher Art waren und sind diese (wirt-
schaftlich, politisch, mental)?
Wie entwickelte sich das Verhältnis — vor allem des Unterlandes — zu
Feldkirch nach 1919?
Souveränitätsfrage
— Offene Fragen im Zusammenhang mit dem Rheinbund (französi-
sche und englische Archive)
Siedlungsgeschichte
Entwicklung der Dörfer von den Nachbarschaften zu den politi-
schen Gemeinden. Dabei wären spezielle Ortsteile in einzelnen
Gemeinden zu beachten (z.B. Schaanwald, Nendeln, Möliholz,
Ebaholz, Säga, Rofaberg).
— Gab es soziale Auswirkungen des Hausbauverbots im frühen
19. Jahrhundert und in diesem Zusammenhang Konflikte in den
Gemeinden und in einzelnen Familien?
122
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Frauenforschung
— Wie war die Situation zugeheirateter Frauen? Wie brachten sie sich
auf dem Arbeitsmarkt, in Kultur und Politik ein? Was gab es für
Widerstände gegen diese fremden Frauen?
— Die Bedeutung der Zamser Schwestern in verschiedenen Bereichen
(Schulwesen, Bürgerheime mit Alten, Behinderten, Verstossenen,
im Spital)
— Frauenbiografien (von Fürstinnen bis Arbeiterinnen)
— Die Errichtung eines Frauenarchivs zur Förderung der Frauenfor-
schung
C) Wirtschaftliche Fragen
Gewerbe- und Industriegeschichte
— Geschichte einzelner Gewerbe- und Industriebetriebe oder ganzer
Gewerbe- und Industriezweige von ihren Anfängen bis in die Ge-
genwart unter Berücksichtigung liechtensteinischer Besonderheiten
— Errichtung eines Wirtschaftsarchivs
Verkehrspolitik / Tourismus
— Entwicklung und Ausbau des Strassennetzes; besteht damit even-
tuell ein Zusammenhang mit der Tourismusentwicklung? Ist damit
ein Zusammenhang mit dem Ende des Rodfuhrwesens gegeben?
— Eisenbahnbau: Visionen und Realität
—- Umweltgeschichte unter Einbezug der Entwicklung der Landschaft
D) Rechtsgeschichtliche Fragen
Untertanen — Obrigkeit
— Wie stellt sich das Verhältnis Untertanen — Obrigkeit dar? Gab es
Widerstände gegen die Obrigkeit oder waren die Liechtensteiner
grundsätzlich «brave» Untertanen? Wie behandelte die Geschichts-
schreibung Liechtensteins eventuell gegebene Widerstände und
Auseinandersetzungen?
— Auswertung von Gerichtsakten
123
E)
Rupert Quaderer
Einblick in soziale Verhältnisse und in die Alltagsgeschichte. Wel-
ches waren häufige Gesetzesverstösse?
Asyl- und Flüchtlingspolitik
Wie ging Liechtenstein im 19. Jahrhundert mit Migranten um?
Welche Rolle spielte dabei die Einbürgerungspraxis? Gab es eine
Flüchtlingspolitik im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg?
Allgemeine Geschichte
Kirchengeschichte, Religionsgeschichte
Geschichte verschiedener Religionsgemeinschaften
Einfluss der Frauen- und Männerorden in der liechtensteinischen
Gesellschaft (Gesundheitswesen, Bildungswesen, Entwicklungshilfe)
Mentalitätsgeschichte
Nation Building und Identität im Kleinstaat vom Untertanen zum
Bürger (1806-2016)
Umgang mit Nicht-Katholiken in Liechtenstein
Eheschliessung mit Andersgläubigen
Latenter und offener Antisemitismus (vom 19. Jahrhundert bis
heute)
Volksfrömmigkeit in Liechtenstein; religiöse Praxis; Verhältnis des
Klerus zum Volk
Biografien
124
Aufarbeitung von Fürstenbiografien, losgelöst von tendenziell
hagiografischer Haltung
Biografien von Fürstinnen unter Berücksichtigung ihres Einflusses
auf die Fürsten
Biografien bedeutender Männer und Frauen, auch zugeheirateter
Frauen; ebenso von Personen aus der Unterschicht (gestützt auf
Gerichtsakten)
Ausländische Intellektuelle. Welches waren ihre Leistungen; wie
ging die liechtensteinische Gesellschaft mit ihnen um?
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Geschichtsmythen
— Welche Mythen hat die liechtensteinische Historiografie gepflegt
(Fürstenbild; schlechte Hohenemserzeit — gute Liechtensteiner-
zeit)? Fehlende Mythen (Beitrag der Bevölkerung zur liechtenstei-
nischen Geschichte)
Oral History
— Systematische Befragung von Zeitzeugen, von Vertretern einzelner
Gruppen (Migranten, Flüchtlinge, Politiker)
Regionale Zusammenarbeit
— Zusammenarbeit verschiedener Institutionen (historische Vereine)
der Region Alpenrheintal vertiefen: Tagungen, Lehrveranstaltun-
gen, Publikationen
Geschichte der liechtensteinischen Entwicklungszusammenarbeit
Abschliessend sollen als besondere Anliegen zwei Desiderata angeführt
werden:
— Eine Gesamtdarstellung der Geschichte Liechtensteins, ein «Hand-
buch zur liechtensteinischen Geschichte»: Es könnte etwa in einer
Fortsetzung und Ausweitung der für den Unterricht erstellten
Schulbücher «Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeits-
buch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert»
(Paul Vogt, 1990) und «Wege in die Gegenwart. Ein Arbeits- und
Lesebuch zur liechtensteinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts»
(Klaus Biedermann/Donat Büchel /Markus Burgmeier, 2012) be-
stehen. Ein solches Unternehmen wäre sicherlich bei einem aus
Fachleuten für verschiedene Epochen zusammengesetzten Team
gut aufgehoben.
— Eine Online-Version des Historischen Lexikons des Fürstentums
Liechtenstein mit einer Teilzeitstelle zur permanenten Betreuung:
Damit könnte das Lexikon inhaltlich a jour gehalten und könnten
notwendige Korrekturen laufend durchgeführt werden.
125
Rupert Quaderer
Zusammenfassende Bemerkungen
Die oben angeführten Desiderata umfassen eine breite thematische
Palette. Waren die Schwerpunkte der Dissertationen zum 19. Jahrhun-
dert noch vorwiegend auf die politische Geschichte und die Wirtschafts-
geschichte ausgerichtet, so eröffnen sich in der angeführten Zusammen-
stellung neue Blickwinkel und Forschungsgebiete. Dazu gehört etwa die
Sozialgeschichte mit dem Einbezug von Menschen aus sogenannten
Randgruppen und aus sozialen Unterschichten. Der Blick ist dabei
sowohl auf das Alltagsleben gerichtet als auch auf die Bedeutung der
Familiengeschichte im Hinblick auf den politischen Einfluss bestimmter
Familien oder Sippen. Damit steht der Blick auf die Besitzverhältnisse —
vorwiegend geht es um Bodenbesitz — auch im Fokus der Familienge-
schichte.
Bei den politischen Fragen geht es unter anderem um zentrale
staatspolitische Themen wie Souveränität und Neutralität. Diese Be-
reiche könnten in einigen Punkten noch vertieft untersucht werden,
vor allem auch unter Einbezug ausländischer Archive. Die Geschichte
des Kleinstaates könnte auch als Sonderfall innerhalb der Entwicklung
der europäischen Staaten erforscht werden. Welche Besonderheiten
weist Liechtensteins Geschichte auf, wie hat Liechtenstein als Kleinstaat
überlebt?
Die Frauenforschung reicht in alle Bereiche der Geschichtsfor-
schung hinein. Für Liechtenstein stellt dieses Thema insofern einen Son-
derfall dar, als das Frauenstimm- und -wahlrecht im europäischen Kon-
text sehr spät eingeführt wurde. Dies mag auch mit bedingt haben, dass
die Frauenforschung erst mit Verspätung in Liechtenstein Fuss fasste.
Im Bereich der Wirtschaftsgeschichte wäre vor allem eine intensi-
vere Untersuchung der Gewerbe- und Industriegeschichte erforderlich.
Dazu würde auch die Einrichtung von Wirtschaftsarchiven gehören. Es
ist zu begrüssen, dass der Historische Verein für das Fürstentum Liech-
tenstein ın dieser Hinsicht anregend tätig geworden ist.
Bei den rechtsgeschichtlichen Fragen wäre die Auswertung von
Gerichtsquellen eine reichlich fliessende Quelle für die Alltagsgeschich-
te. Das Leben einfacher Menschen, ihre Probleme und ihre soziale Situa-
tion, ihre Nöte und ihre Denkweise, ihre Mentalität und ihr Alltagsleben
treten in den Untersuchungsakten viel stärker an die Oberfläche als in
den amtlichen Verwaltungsakten.
126
Geschichte Liechtensteins im 19. Jahrhundert
Das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik findet seine Berechtigung ange-
sichts seiner Aktualität. Ein Blick in vergangene Zeiten mit vergleichba-
ren Problemen könnte heute hilfreich sein.
Zu den Themen zur allgemeinen Geschichte ist anzumerken, dass
etwa der Bereich Biografien neue Aspekte aufgreifen kann. Dies ist bei-
spielsweise ein neuer Zugang zu Fürstenbiografien, welche in vergange-
nen Jahren doch aus sehr verehrungsträchtigen Haltungen heraus ver-
fasst wurden. Neben wichtigen Personen der Öffentlichkeit kann,
soweit quellenmässig möglich, eine Ausweitung auf Personen vorge-
nommen werden, welche im Verborgenen wirkten. Das können Mütter
und Ehefrauen, aber auch einfache Leute aus dem Alltag sein. Hier kann
auch der Bereich «liechtensteinische Geschichtsmythen» aufgegriffen
werden. Inwiefern hat die Historiografie selbst solche Mythen geschaf-
fen und gepflegt? Ebenso ist etwa das Thema «Emanzipation des Volkes
gegenüber der Landesherrschaft» einer Untersuchung wert. Entwickelte
das liechtensteinische Volk so etwas wie einen Bürgerstolz? Wenn ja, was
für Leute wirkten anspornend? In welchen Formen und Umständen
zeigte sich diese Entwicklung? Was spielte der Klerus dabei für eine
Rolle? Inwieweit leistete dies einen Beitrag zur Entstehung einer Identi-
tät des liechtensteinischen Volkes? Oder fehlt uns eine auf diese Ent-
wicklung abgestützte Identität? Hier kann auch Oral History mit einbe-
zogen werden.
Als drei letzte Desiderata seien die regionale Zusammenarbeit über
die Grenzen hinaus, eine Gesamtdarstellung der liechtensteinischen Ge-
schichte und eine Online-Version des HLFL genannt. Damit verbunden
wäre ein Zusammenwirken verschiedener wissenschaftlicher Diszipli-
nen. Die Interdisziplinarität könnte gegenseitig fruchtbar wirken und
wiederum zu neuen Fragestellungen führen. Stand bei den weiter oben
angeführten Ideen die Frage der Realisierung nicht an vorderster Stelle,
so könnte zumindest bei den drei letztgenannten nach der heutigen
Sachlage gleich mit ihrer Umsetzung begonnen oder, wie bei der regio-
nalen Zusammenarbeit, mit derselben einfach in verstärktem Masse wei-
tergemacht werden. Damit könnte dem von Georg Malin geäusserten
Denkanstoss, dass die «liechtensteinische Geschichtsschreibung [...] in
diesen Belangen einiges nachzuholen» habe, vorläufig wenigstens teil-
weise nachgekommen werden.
127
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit
in Liechtenstein
Claudius Gurt
Definiert man «Geschichte» als «die Gesamtheit menschlicher Lebens-
äusserungen der Vergangenheit, soweit sie Aussagewert für einen kultu-
rellen Zusammenhang besitzen», kann man der daraus gezogenen Folge-
rung: «Ihre Kenntnis verleiht unserem Weltbild eine zeitliche Tiefen-
struktur und damit eine Dimension, die ein Verständnis der Gegenwart
allererst ermöglicht»! voll und ganz und guten Gewissens zustimmen.
Wenn es also gilt, unsere Gegenwart aus der Vergangenheit zu begreifen,
ist historisches Wissen gefragt, das sich in Sachquellen und Dokumenten
finden lässt, in Gegenständen und Schriftzeugnissen also, die uns Aus-
kunft über Begebenheiten und Handlungen geben können. Während sich
der Archäologe mit wissenschaftlicher Akribie bemüht, die mitunter erst
mühsam ans Tageslicht geförderten Sachobjekte zum Reden zu bringen,
kann sich der Historiker in seiner Deutungsarbeit einer möglichen Ver-
gangenheit vielfach und weitaus bequemer auf Schriftquellen stützen. Be-
quemer? Wer schon einmal etwa eine mittelalterliche Urkunde, ein früh-
neuzeitliches Tauf- oder Sterberegister oder auch einen zeitgenössischen
Privatbrief in Händen hielt, wird eingedenk seiner Entzifferungsbemü-
hungen unter Umständen mit einem leicht gequälten Lächeln bemerken:
«Von wegen bequemer!», und sich darüber hinaus fragen: «Wo in aller
Welt finde ich die für mich interessanten Texte?» Dieser Geschichtsinte-
ressierte wird sich also auf die Suche machen und wenn er Glück hat,
wird ihn die Muse Klio zu Texteditionen führen, die ihn hörbar aufatmen
und befriedigend feststellen lassen, dass der ihm zur Verfügung gestellte,
nach wissenschaftlichen Kriterien edierte Text es ihm erlaubt, ohne die
nicht selten schwierige und zeitraubende Entzifferungsarbeit sich voll
und ganz der Interpretation seiner Quelle widmen zu können.
1 Demandt, Alexander. Philosophie der Geschichte. Köln / Weimar / Wien 2011, 5. 28.
129
Claudius Gurt
Editionen: Ein bequemer Zugang
zu historischen Informationen
Editionen sind also zweifellos gefragt, denn sie entheben den an der Ver-
gangenheit interessierten Forscher von zeitaufwendiger Suche nach
wichtigen und aussagekräftigen Schriftzeugnissen und deren mitunter
mühsamer Transkription. Und die Behauptung ist keineswegs übertrie-
ben, dass Editionen vielfach überhaupt erst den Zugang zu historischen
Begebenheiten ermöglichen und deren wissenschaftliche Erforschung
gewährleisten. In letzter Konsequenz bedeutet dies nichts weniger, als
dass zur Verfügung stehende Editionen auch darüber entscheiden kön-
nen, zu welchen an die Vergangenheit gestellten Fragen Forschung
betrieben und Antworten gesucht werden.
Die Editionstätigkeit in Liechtenstein hat eine lange Tradition.
Wenn an dieser Stelle auch nicht auf eine nur annähernd angemessene
Würdigung der vielfältigen Editionen liechtensteinischer Schriftzeug-
nisse eingegangen werden kann, so soll zumindest auf einige wenige,
die liechtensteinische Geschichtsforschung beeinflussende Editionen
hingewiesen werden. An erster Stelle muss zweifellos Peter Kaiser und
seine «Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schilderun-
gen aus Chur-Rätien’s Vorzeit, Chur 1847» genannt werden. Wenn die-
ses Hauptwerk des liechtensteinischen Historiografen auch kein Editi-
onswerk im eigentlichen Sinne ist, stützt sich Peter Kaiser doch auf eine
Fülle erstmals von ihm zitierter Schriftzeugnisse, die ihn als Kenner der
mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zur liechtensteinischen
Geschichte ausweisen. Und Arthur Brunharts Neuedition* mit seinem
akribischen Nachweis der von Kaiser benützten Quellen zeigt ein-
drücklich, dass dieser «Altvater der liechtensteinischen Geschichtsfor-
schung»? zweifelsohne die Anerkennung als Editor historischer Quel-
len verdient.
2 Kaiser, Peter. Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schilderungen aus
Chur-Rätien’s Vorzeit. Chur 1847. Neu herausgegeben von Arthur Brunhart, 2 Bde.,
Vaduz 1989.
3 Brunhart, Arthur. Peter Kaiser 1793-1864. Erzieher, Staatsbürger, Geschichtsschrei-
ber. Facetten einer Persönlichkeit. Zweite, durchgesehene Aufl., Vaduz/Zürich
1999, S. 176.
130
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
Nicht nur die Geschichtsforschung, sondern auch die Editionstätigkeit
in Liechtenstein ist eng mit dem seit 1901 erscheinenden Jahrbuch des
Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (J]BL) verbunden.
Bereits im ersten Jahrbuch edierte Landesverweser Karl von In der Maur
in seinem Beitrag «Die Gründung des Fürstenthums Liechtenstein» die
liechtensteinischen Kaufurkunden für die Herrschaft Schellenberg
(1699) und für die Grafschaft Vaduz (1712). Beide sind mittlerweile voll-
ständig mit sämtlichen Anhängen aus Anlass der jeweiligen 300-Jahr-Ge-
denkfeiern neu ediert worden.“ Die Ermöglichung, «den Sittenzustand
und die Rechtsgewohnheiten unserer Vorfahren aus alter Zeit in mehr als
einer Beziehung näher kennen zu lernen», bezweckte Albert Schädler mit
seiner im JBL 5 (1905) publizierten Arbeit «Die alten Rechtsgewohnhei-
ten und Landesordnungen der Grafschaft Vaduz und der Herrschaft
Schellenberg, sowie des nachherigen Fürstentums Liechtenstein». Eine
nicht nur in rechtlicher, sondern auch in ökonomischer und administrati-
ver Hinsicht äusserst bedeutsame Quelle, nämlich «Zwei Urbarien in der
Alten Grafschaft Vaduz», stellte Johann Baptist Büchel im JBL 6 (1906)
dem Geschichtsforscher erstmals zur Verfügung. Diese beiden Urbare,
das Brandisische Urbar und das Sulzisch-Hohenemsische Urbar, wurden
mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat verse-
hen von Georg Malin im LUB 1/4 vollständig ediert.
Stellvertretend für die in mehreren Jahrbüchern publizierten
Regestensammlungen zu liechtensteinischen Urkunden seien an dieser
Stelle «Die Urkunden des Pfarrarchivs zu Bendern» im JBL 12 (1912)
von Johann Baptist Büchel genannt, der diese wichtigen Schriftzeugnisse
teils vollständig, teils auszugsweise oder aber in ausführlichen Inhaltsan-
gaben für die Forschung bereitstellte. Ebenfalls von Büchel stammt der
ım JBL 29 (1929) erschienene «Auszug aus der Chronik des Jakob Hel-
bert».* Eine vollständige Edition mit Faksimile dieser umfangreichsten
ın Liechtenstein entstandenen Chronik und für die Lokalgeschichte äus-
4 Kaufvertrag der Herrschaft Schellenberg 1699. Bearbeitet von Claudius Gurt, he-
rausgegeben vom Liechtenstein-Institut, Vaduz 1999. Kaufvertrag der Grafschaft
Vaduz 1712. Bearbeitet von Katharina Arnegger, herausgegeben vom Liechtensteini-
schen Landesarchiv, Vaduz 2012.
5 Zum eigentlichen Verfasser Johann Georg Helbert vgl. Geiger, Peter. Verfasser der
Helbert-Chronik aufgespürt. In JBL 90 (1991), S. 317-327.
131
Claudius Gurt
serst ergiebigen Quelle liegt seit 2006 vor.° Unter anderem «dem Freun-
de der Familienforschung Stoff und Anregung» bieten, sollte «Das Le-
gerbuch oder Steuerbuch vom Jahre 1584», das Joseph Ospelt im JBL 30
(1930) veröffentlichte, das «einen Vergleich der sozialen Verhältnisse der
Zeit vor rund 350 Jahren mit jener unserer Tage» ermöglichen sollte, so
der Zweck seiner Arbeit.
Einem zentralen Thema der spätmittelalterlichen liechtensteini-
schen Geschichte widmete sich Rupert Ritter in seinem im JBL 43 (1943)
publizierten Beitrag «Die Brandisischen Freiheiten», in welchem er die
vorhandenen, für die Landesherrschaft der Freiherren von Brandis und
ihrer Nachfolger zentralen Urkunden edierte. Einen Einblick in die öko-
nomischen Verhältnisse, das Rechnungswesen und in die Tätigkeit der
Landammänner des liechtensteinischen Staates im 18. Jahrhundert
gewährt uns Joseph Ospelt mit seinen beiden in den Jahrbüchern 45
(1945) und 48 (1948) veröffentlichten Arbeiten «Zwei Landschaftsrech-
nungen aus dem 18. Jahrhundert» und «Aus der Rentamtsrechnung für
1786»; in ihnen dürfte «der Volkswirtschaftler und der Volkskundler [...]
manche willkommene Nachricht finden», so Ospelts Überzeugung.
«Ein lebendiges und anschauliches Bild vom Werden eines Künstlers»
können uns «Josef Rheinbergers Briefe an seine Eltern (1851-1872)» ver-
mitteln, ist Harald Wanger zu deren im JBL 61 (1961) erfolgten Veröf-
fentlichung überzeugt.
«Die Landesbeschreibung des Landvogts Josef Schuppler aus dem
Jahre 1815», von Alois Ospelt im JBL 75 (1975) ediert, ist nicht nur «in
erster Linie eine Landeskunde, eine Momentaufnahme der wirtschaftli-
chen, politischen und sozialen Verhältnisse Liechtensteins, [...] aber auch
ein frühes Stück liechtensteinischer Geschichtsschreibung», so der He-
rausgeber. «Der Lokalisierungs-Bericht von Hofrat Georg Hauer aus dem
Jahre 1808», von Paul Vogt im JBL 83 (1983) herausgegeben, war zwar le-
diglich «gedacht als Entscheidungsgrundlage für die Reorganisation des
Landes»; er stellt demzufolge «keine abgerundete Beschreibung des Fürs-
tentums Liechtenstein» dar, vielmehr sollten «durch eine Reihe von Ver-
waltungsreformen [...] die wichtigsten Grundsätze des Absolutismus in
Liechtenstein durchgesetzt werden», so die Einschätzung von Vogt. Vom
6 Johann Georg Helbert aus Eschen. Faksimile, Edition und Transkription, 2 Bde.,
bearbeitet von Arthur Brunhart, Rainer Wilflinger, Jürgen Schindler, 2006.
132
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
gleichen Herausgeber stammt auch «Der Rechenschaftsbericht des Lan-
desverwesers Carl von In der Maur über die Verwaltungsperiode 1884 bis
1890» im JBL 88 (1990), dessen Bedeutung Paul Vogt folgendermassen
umreisst: «Vor allem für die Verwaltungsgeschichte des ausgehenden
19. Jahrhunderts ist der Text ein erstrangiges Dokument, aber auch für die
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gibt er interessante Aufschlüsse.»
Einen Einblick in die frühneuzeitlich geltenden Rechtsnormen in
der Grafschaft Vaduz ermöglicht der von Karin Schamberger-Rogl im
JBL 101 (2002) umsichtig edierte und kommentierte «<«Landts Brauch,
oder Erbrecht in der «Vaduzischen Grafschaft üblichem». Schliesslich
sei noch die 2006 erschienene, von Olga Anrig und Paul Vogt bearbeitete
«Chronik des Josef Seli» erwähnt, die interessante Informationen über
«Geschichtliche Ereignisse und Begebenheiten der Gemeinde Triesen
von 1800 bis 1912» bietet. Mit diesen Hinweisen müssen wir es zwar
bewenden lassen, sie mögen jedoch trotzdem einen Einblick vermitteln
über die Bandbreite liechtensteinischer Editionstätigkeit und über ihren
zweifellos nicht hoch genug zu veranschlagenden Stellenwert für die
Geschichtsforschung.
Das Liechtensteinische Urkundenbuch:
Ein Grundlagenwerk für die Geschichtsforschung
Sozusagen als Flaggschiff liechtensteinischer Editionstätigkeit darf man
das Liechtensteinische Urkundenbuch (LUB) bezeichnen. Ihm kommt
zweifellos eine herausragende Bedeutung als wissenschaftliches Grund-
lagenwerk für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Liech-
tensteins zu. Im Verbund mit den anderen regionalen Urkundenbü-
chern, dem Chartularium Sangallense (CS), dem Urkundenbuch der
südlichen Teile des Kantons St. Gallen (UB südl. St. Gallen) und dem
Bündner Urkundenbuch (BUBY bildet es gleichsam den vierten Eck-
7 Chartularium Sangallense. Herausgeber- und Verlagsgemeinschaft Chartularium
Sangallense (Historischer Verein des Kantons St. Gallen, Staatsarchiv, Stadtarchiv,
Stiftsarchiv St. Gallen), Bd. I bearbeitet von Peter Erhart unter Mitarbeit von Karl-
Heidecker und Bernhard Zeller, Bde. ITI-VII bearbeitet von Otto P. Clavadetscher,
Bde. VITI-XII bearbeitet von Otto P. Clavadetscher und Stefan Sonderegger, St. Gal-
len 1983 ff. Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St. Gallen (Gaster, Sar-
133
Claudius Gurt
pfeiler für die Geschichtsforschung von überregionaler Bedeutung. Das
LUB ermöglicht damit zugleich den nicht nur für die mittelalterliche
Geschichte unabdingbaren, über die jeweils geltenden Grenzen reichen-
den offenen Blickwinkel, der überhaupt erst eine angemessene, umfas-
sende und kritische Geschichtsdeutung ermöglicht (Abb. 1).
In seinen Ursprüngen bis 1848 und somit am weitesten zurück
reicht das BUB. Damals begann Theodor von Mohr seinen «Codex di-
plomaticus», eine «Sammlung der Urkunden zur Geschichte Cur-Rätiens
und der Republik Graubünden», zu publizieren. Allerdings sollte es fast
gans, Werdenberg), herausgegeben vom Staats- und Stiftsarchiv St. Gallen, 2 Bde.
bearbeitet von Franz Perret, Rorschach 1961-1982. Bündner Urkundenbuch, he-
rausgegeben vom Staatsarchiv Graubünden, Bd. I bearbeitet von Elisabeth Meyer-
Marthaler und Franz Perret, Chur 1955, Bd. II (neu), bearbeitet von Otto P. Clava-
detscher, Chur 2004, Bd. III (neu) bearbeitet von Otto P. Clavadetscher und Lothar
Deplazes, Chur 1997, Bd. IV bearbeitet von Otto P. Clavadetscher und Lothar De-
plazes, Chur 2001, Bd. V bearbeitet von Otto P. Clavadetscher und Lothar Depla-
zes unter Mitarbeit von Immacolata Saulle Hippenmeyer, Chur 2005, Bd. VI bear-
beitet von Lothar Deplazes und Immacolata Saulle Hippenmeyer, Chur 2010, Bd.
VII bearbeitet von Lothar Deplazes und Immacolata Saulle Hippenmeyer unter
Mitarbeit von Josef Ackermann, Chur 2014.
Abb. 1: Die vier regionalen Urkunden-Editionswerke: Das Chartula-
rum Sangallense, das Bündner Urkundenbuch, das Urkundenbuch
der südlichen Teile des Kantons St. Gallen und das Liechtensteinische
Urkundenbuch Teil I.
134
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
noch ein Jahrhundert dauern, bis 1937 der Vorstand der Historisch-anti-
quarischen Gesellschaft von Graubünden den Beschluss fasste, die wich-
tigsten Quellen in einem Urkundenbuch herauszugeben. 1947 konnte die
erste Lieferung bereitgestellt werden und der erste Band des BUB, bear-
beitet von Elisabeth Meyer-Marthaler und Franz Perret, erschien
schliesslich 1955.° Das unter Hermann Wartmann begonnene «Urkun-
denbuch der Abtei Sanct Gallen», neu bearbeitet von Peter Erhart (Bd. I),
Otto P. Clavadetscher (Bde. III-VII) und Stefan Sonderegger (Bde.
VII-XII) unter dem Namen «Chartularium Sangallense», geht auf das
Jahr 1862 zurück und ist somit nur unwesentlich jünger als das BUB.?
Das jüngste Kind dieser «Urkundenbuch-Familie» ist das von Franz Per-
ret von 1961 bis 1982 bearbeitete «Urkundenbuch der südlichen Teile des
Kantons St. Gallen (Gaster, Sargans, Werdenberg)».
Das Liechtensteinische Urkundenbuch als ältestes Projekt des His-
torischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, an dem mit Unter-
brüchen seit 1934 gearbeitet wird, reiht sich somit achtbar in die Tradi-
tion dieser regionalen Urkundeneditions-Unternehmungen ein. Bestre-
bungen zur Edition wichtiger landesgeschichtlicher Quellen gehen zwar
noch weiter zurück. Bereits Kabinettsrat Karl von In der Maur schlug in
der Jahresversammlung des Historischen Vereins 1903 die Publikation
der interessantesten Gemeindeurkunden im Jahrbuch vor. Und die auf
Initiative des Vorarlberger Historikers Adolf Helbok (1883-1968) 1915
gegründete «Historische Kommission für Vorarlberg und Liechten-
stein» sollte die Herausgabe eines gemeinsamen vorarlbergisch-liechten-
steinischen Urkundenbuchs prüfen.'° Allerdings blieb es bei dieser lo-
benswerten Absicht, doch konnte immerhin ein von Helbok zwischen
8 Vgl. BUB LS. V ff.
9 Zur Entstehungsgeschichte des CS vgl. Sonderegger, Stefan. Chartularium Sangallense
(Bde. III-XIIT) und Überlegungen zur künftigen Edition von Quellen aus dem Stadt-
archiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. In: Die Rechtsquellen des Kantons St. Gal-
len. Editorische Tradition, neue Projekte, praktische Anwendungen. 153. Neujahrs-
blatt (2013), herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, S. 18-23.
10 Ausführlich zu den frühesten Bestrebungen zur Edition landesgeschichtlicher
Quellen und der diesbezüglichen Zusammenarbeit zwischen Vorarlberg und Liech-
tenstein die beiden im JBL 100 (2001) erschienenen Arbeiten: Biedermann, Klaus.
1901-2001: Die ersten 100 Jahre des Historischen Vereins für das Fürstentum Liech-
tenstein, S. 27-158, hier S. 123 ff. und Burmeister, Karl Heinz. Der Historische Ver-
ein und das Vorarlberger Landesarchiv, S. 221-237.
135
Claudius Gurt
1920 und 1925 bearbeiteter erster Band mit «Regesten von Vorarlberg
und Liechtenstein bis zum Jahre 1260» herausgegeben werden. Als
eigenständiges Editionswerk geht das LUB wie erwähnt auf das Jahr
1934 zurück. Damals beschloss der Landtag auf Anregung des Land-
tagsabgeordneten Wilhelm Beck einen jährlichen Beitrag von 750 Fran-
ken für die Veröffentlichung der für die Geschichte Liechtensteins wich-
tigen Dokumente im Jahrbuch. Acht Jahre später schlug dann endlich
die Geburtsstunde des LUB, das mit seiner im Anhang des JBL 42 (1942)
publizierten ersten Lieferung gleichsam das Licht der interessierten Welt
erblickte. Bis zum Jahr 1953 edierte Franz Perret, der bereits am BUB
mitarbeitete und noch die beiden Bände des UB südl. St. Gallen heraus-
geben sollte, in je sechs Lieferungen die ersten beiden Bände des «LUB
I. Teil: Von den Anfängen bis zum Tod Bischof Hartmanns von Wer-
denberg-Sargans 1416». Dabei legte der erste Band die liechtensteinrele-
vanten Schriftzeugnisse aus dem bischöflichen Archiv in Chur und aus
dem Archiv Pfäfers in St. Gallen und der zweite Band diejenigen aus den
Archiven in St. Gallen vor. Für zwei weitere Bände des LUB, nämlich
für den dritten und den fünften (in zwei Halbbände aufgeteilten) Band,
zeichnete Benedikt Bilgeri verantwortlich. In sieben in den Jahrbüchern
59 bis 63 (1959-1963) und 73 bis 75 (1973-1975) publizierten Lieferun-
gen veröffentlichte er die Urkunden aus den Vorarlberger Archiven
und in weiteren zwölf von 1976 bis 1987 herausgebrachten Lieferungen
(JBL 76-87) diejenigen aus deutschen Archiven.
Nachdem «die ersten drei Bände des Liechtensteinischen Urkun-
denbuches [...] in der urkundlichen Bestandesaufnahme das liechtenstei-
nische Staatsgebiet ein[kreisten]», so Georg Malin in der Einleitung zu
dem von ihm bearbeiteten vierten Band des LUB I, «kann die Bearbei-
tung des Kerngebietes, dem die umfangreiche Urkundenedition gilt,
nicht mehr weiter hinausgeschoben werden. Die Anwartschaft auf Publi-
kation der in Liechtenstein liegenden Urkunden ist legitim.» In acht im
JBL 63 bis 68 (1964-1968) und 70 bis 71 (1970-1971) vorgelegten Liefe-
rungen erfüllte Georg Malin denn auch die von ihm übernommene Auf-
gabe mit Bravour. Zusätzlich zu den in den liechtensteinischen Archiven
liegenden Urkunden enthält dieser vierte Band auch noch das «Brandi-
sische Urbar» (entstanden zwischen 1509 und 1517), das «Sulzisch-Ho-
henemsische Urbar» (entstanden zwischen 1617 und 1619) und das «Ur-
bar der Herrschaft Schellenberg» (entstanden vermutlich zwischen 1614
und 1619). Sie sind als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte von eminenter
136
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
Bedeutung und reichen in ihren Voraussetzungen teilweise bis ins
14. Jahrhundert zurück, was eine Aufnahme in diesen Urkundenband
zweifellos rechtfertigte. Die von Georg Malin vorgelegte Arbeit zeugt
nicht nur im Hinblick auf eine äusserst sorgfältige und genaue Edition
der Schriftzeugnisse von einer bewundernswerten Meisterschaft, son-
dern belegt auch in den Anmerkungen und Hinweisen, die Malin den
edierten Dokumenten in der Absicht beigibt, «dem Laien und Ge-
schichtsfreund von der hiesigen Quellenlage aus den Einstieg in die Ge-
schichte leicht zu ermöglichen», seine profunde Kenntnis liechtensteini-
scher Quellen und Literatur. In weiser Voraussicht auf eine zukünftige
Edition Liechtenstein betreffender Schriftquellen mahnt Malin aber auch
zu Recht «eine Straffung und Vereinfachung des Herausgabeplanes für
den zweiten Teil des Urkundenbuchs (Urkunden nach 1416)» an.
Nach dem Tod von Benedikt Bilgeri (1906-1993) konnte — ein
Glücksfall für das LUB — Otto P. Clavadetscher (1919-2015) gewonnen
werden, die noch von Bilgeri begonnene Quellensammlung aus schwei-
zerischen Archiven weiter zu bearbeiten. Bereits 1996 konnte Clavadet-
scher den sechsten und letzten Band des ersten Teils des LUB mit den
Urkunden aus den nicht in den ersten beiden Bänden veröffentlichten
Schriftzeugnissen aus den übrigen Archiven der Schweiz sowie mit
Nachträgen zu den ersten fünf Bänden im Druck vorlegen.
«Das Liechtensteinische Urkundenbuch digital
Teil IT (1417-1510) — Gut aufbereiteter «Rohstoff>
für die Geschichtsforschung»!!
Mit den sechs Bänden des ersten Werkteils des LUB konnten dem
Geschichtsinteressierten die überlieferten Schriftdokumente bis zum
Herrschaftsantritt der Freiherren von Brandis in gedruckter Form zur
11 Soder Titel des im JBL 113 (2014), S. 31-50, publizierten Aufsatzes von Prof. Dr. Ste-
fan Sonderegger, nebst seiner Lehrtätigkeit an der Universität Zürich Stadtarchivar
der Ortsbürgergemeinde St. Gallen und langjähriger Bearbeiter des Chartulariums
Sangallense sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für das LUB, dem als wei-
tere Mitglieder Rupert Tiefenthaler vonseiten des Liechtensteinischen Landesarchivs,
Jürgen Schindler als Vertreter des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechten-
stein und Prof. Dr. Manfred Tschaikner vom Vorarlberger Landesarchiv angehören.
137
Claudius Gurt
Verfügung gestellt werden. Mit dem LUB Werkteil II, der die Edition
der auf uns gekommenen schriftlichen Quellen über die von 1417 bis
1510 dauernde brandisische Herrschaftszeit in der Grafschaft Vaduz und
der Herrschaft Schellenberg (dem heutigen Fürstentum Liechtenstein)
sowie in den zeitweise in ihrem Besitz stehenden Herrschaften Blumen-
egg (Vorarlberg, A) und Maienfeld (Graubünden, CH) zum Ziel hat,
konnte der Verfasser dieser Zeilen im Jahr 1998 mit einer 50 Prozent
betragenden Arbeitsverpflichtung beginnen. Dabei galt es, nicht nur
die erwähnte, von Georg Malin angemahnte «Straffung und Vereinfa-
chung» des Editionsplans zu beherzigen, sondern auch die inzwischen
durch die digitale Technik gegebenen Möglichkeiten zu nutzen. Musste
bei der Edition der Schriftquellen im LUB I1/1-6 nach dem Provenienz-
Prinzip, also nach der Herkunft der Dokumente aus bestimmten Archi-
ven bzw. Archivgruppen vorgegangen werden, was zwar von den betref-
fenden Bearbeitern bedauert, aber aufgrund der damaligen Umstände
nicht vermieden werden konnte, galt es im LUB II das bei Urkunden-
büchern in der Regel verfolgte chronologische Prinzip zu berücksichti-
gen, also die zu edierenden Dokumente nach ihrem Entstehungsdatum
anzuordnen.
Nun ist die Drucklegung eines Urkundenbuchs zwar für den je-
weiligen Bearbeiter ein freudiges und von der Forschung mit Interesse
erwartetes, leider aber jedoch selten genug zu feierndes Ereignis. Gründe
dafür sind nebst der für ein solches Werk zur Verfügung stehenden
Arbeitszeit hauptsächlich zwei Umstände, die solch «ungebührlich»
lange Vorlaufzeiten bedingen. Zum einen ist es die weit zerstreute Quel-
lenüberlieferung und zum andern der Anspruch auf die beabsichtigte
und möglichste Vollständigkeit der Edition der für die Forschung zur
Verfügung zu stellenden Schriftzeugnisse. Beides trifft für das Liechten-
steinische Urkundenbuch in besonderem Masse zu. So wird es gerade
für das Spätmittelalter immer schwieriger und zeitraubender, die für das
zu berücksichtigende Staatsgebiet des heutigen Fürstentums Liechten-
stein relevanten Quellen zu ermitteln und den unabdingbaren Anspruch
auf möglichste Vollständigkeit einzulösen. Der Geschichtsforscher dage-
gen ist für seine Arbeit auf eine möglichst rasche Publikation dieser
Quellen angewiesen, denn für ihn kann jedes zur Verfügung gestellte
Dokument entscheidenden Erkenntnisgewinn bedeuten. Eine innerhalb
eines vertretbaren Zeitrahmens mögliche Drucklegung eines LUB-II/1-
Bandes mit lediglich den Urkunden aus den liechtensteinischen Archi-
138
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
ven hätte jedoch wenig Sinn gemacht. Die heutigen Grenzen des liech-
tensteinischen Staates sind ein Ergebnis der wechselvollen Geschichte
eines Gebietes, in dem seit dem 14. Jahrhundert die Herrschaftsorgani-
sationen verschiedener Adelsgeschlechter wichtige Bausteine zu einer
späteren Staatlichkeit beitrugen. Im 15. Jahrhundert ist zudem grund-
sätzlich von mehreren Optionen auszugehen, die einen geeigneten allge-
meinen Rahmen für die staatliche Verfestigung hätten bilden können.
Ein Liechtensteinisches Urkundenbuch, das diesem Umstand Rechnung
trägt und tragen muss, kann und darf sich nicht auf die Publikation des
innerhalb der engen Landesgrenzen überlieferten Quellenbestandes
beschränken. Allein der nachweisbare grosse eigene Quellenverlust
zwingt zur Überwindung einer auf das heutige Staatsgebiet einge-
schränkten Quellenoptik und rechtfertigt den Einbezug des in ausländi-
schen Archiven liegenden, liechtensteinrelevanten Quellenmaterials in
das LUB.
Zudem galt es im Falle des zweiten Teils des LUB, der die von 1417
bis 1510 dauernde Herrschaftszeit der Freiherren von Brandis umfasst,
zwei spezifische Umstände zu beachten. Mit diesen aus Lützelflüh im
Kanton Bern stammenden Freiherren kam gegen Ende des 14. Jahrhun-
derts ein Adelsgeschlecht an den Alpenrhein, dem es im Verlauf des
15. Jahrhunderts gelang, einen bedeutenden rechtsrheinischen Herr-
schaftskomplex aufzubauen. Durch die Ausnützung ihrer Verwandt-
schaftsbeziehungen zu den Grafen von Werdenberg-Sargans-Vaduz, die
zielstrebige Durchsetzung ihrer Erbansprüche sowie erfolgreich unter-
nommene Pfandgeschäfte gelangten die Brandiser bis zum Tod des Chu-
rer Bischofs Hartmann IV. von Werdenberg-Sargans-Vaduz 1416 in den
Besitz der Herrschaft Blumenegg, der Grafschaft Vaduz und von Gütern
und Rechten am Eschnerberg, der späteren Herrschaft Schellenberg.
Wolfhart V. von Brandis erwarb spätestens 1428 die noch nicht in seinem
Besitz stehenden Herrschaftsrechte am Eschnerberg und vereinigte so
das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein unter seiner Herr-
schaft. Mit dem schliesslich 1455 erfolgten endgültigen Verkauf der
Stammherrschaft Brandis im oberen und mittleren Emmental im Kanton
Bern wurde der brandisische Besitz im Rheintal zum neuen Herr-
schaftszentrum. Mit der bereits 1391 erworbenen vorarlbergischen
Herrschaft Blumenegg und der ihnen 1437 aus der Erbmasse des letzten
Toggenburger Grafen zugefallenen Herrschaft Maienfeld gelang ihnen
noch eine bedeutende Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs nach Nor-
139
Claudius Gurt
den und nach Süden. Über ihren rechtsrheinisch gelegenen Herrschafts-
komplex errichteten sie aber eine eng verflochtene Familienherrschaft,
für deren Verständnis die überlieferten Schriftzeugnisse aus den heute
bündnerischen und vorarlbergischen Archiven unbedingt zu berück-
sichtigen sind.
Für die Einlösung der beiden zentralen Forderungen, die damit an
den zweiten Werkteil des LUB gestellt wurden, nämlich die möglichst
umfassende Aufnahme der in Frage kommenden Dokumente und deren
möglichst schnelle Bereitstellung für die Forschung, bot sich eine inzwi-
schen durch die moderne Technik ermöglichte schriftliche Kommunika-
tionsform an. Und zwar eine über das Internet zugängliche elektroni-
sche Publikation der jeweils auf Editionsstufe fertig bearbeiteten Schrift-
zeugnisse, in Form einer sogenannten «rollenden Edition».
Abb. 2: Die Online-Version des Liechtensteinischen Urkundenbuchs Teil II (LUB II digital)
mit der aufgerufenen Urkunde vom 4. März 1466 (LLA Vaduz U15).
LIECHTENSTEINISCHES
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Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
LUB II digital: Bequeme Quellensuche am Computer
Ziel des LUB-II-digital-Projektes war es, dem LUB-II-Benutzer eine
Online-Version des Urkundenbuchs anbieten zu können, die möglichst
alle Informationen eines gedruckten Urkundenbuchs umfasst, die
sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügt wie auch Rücksicht auf
die Interessen einer breiten geschichtsinteressierten Öffentlichkeit
nimmt. Dabei war von einem nicht nur für den Bearbeiter zweckmässi-
gen, sondern auch für den Benutzer möglichst einfach zu handhabenden
Internet-Publikationsmodell auszugehen, das die beiderseitigen Bedürf-
nisse so gut wie irgend möglich befriedigen konnte und auch im Rahmen
der zur Verfügung stehenden Geldmittel zu finanzieren war.
Mit der seit 2006 im Internet zur Verfügung gestellten digitalen
Version des LUB II (www.lub.li) darf diese ehrgeizige Zielvorgabe als
vollumfänglich erreicht betrachtet werden. Eine klare Struktur verbun-
den mit einem benutzerfreundlichen Erscheinungsbild erlaubt dem Be-
sucher eine rasche Orientierung über die angebotenen Informations-
möglichkeiten und das problemlose Abrufen der zur Verfügung gestell-
ten Fülle von Informationen (Abb. 2). Informationsmenüs orientieren
Abb. 3: Ausschnitt aus der in Abb. 2 ausgewählten Urkunde mit
Transkription und zugehöriger Urkunden-Abbildung.
O4 März 1458 - Or. Lechbensteinbschen Lardenä Wach U15
Wir" gt Ihr von Werdenberg Sanagans' vergechen olfealich vnd nd kund
allarmengklichem mit disem brieffe. Als dann von we- | * gem der bemschafft vod
arifschafft Vadatz”, so der hochwirdig fürst voser lieber beme bischoff Oriklieb zl
Chor! vad die andem sine
frybemenn bishär imo gehept vod noch inne hand, dam wir von losung wnd rechtz
wegenn vermeinten, das &y wos | f derselben losung vond“ gesaen pflichtig vod
schnklig werint vad sim sAlient eic., des halben? wir samand este komenm warent
va aber ma am ke | derumb durch der fürsichügenn vod wisem wnser lieben vd
gütten Fründen gemeiner odpnossen Tätzbottem gentzlich gericht worden sint nach hutt
gepehdene die henren | * von Brandess* vnser lich hcheinen
Claudius Gurt
über das LUB-II-digital-Projekt, über die bereits bearbeiteten Archive
und Archivalien und über die benutzten Literatur- und Quellenpublika-
tionen. Beim Besuch der Homepage erhält der Besucher zudem eine
kurze Benutzungsanleitung und wird über die Editionsgrundsätze infor-
miert. Mithilfe der Suchmenüs werden dem Benutzer sämtliche Infor-
mationen eines im Druck vorliegenden Urkundenbuchs zur Verfügung
gestellt. Über eine Zeitleiste gelangt man zur Textedition der ausgewähl-
ten Urkunde, von der auch — wenn bereits vorhanden — eine Abbildung
angezeigt werden kann. Zusätzlich sind Edition und Abbildung zusam-
men abrufbar, was eine genaue Überprüfung der Textedition am origina-
len Urkundentext ermöglicht (Abb. 3). Orts-, Personen- und Sachwort-
register erschliessen das Korpus der edierten Urkunden. Schliesslich
kann sich der LUB-II-digital-Benutzer anhand einer ä jour gehaltenen
Regestensammlung jederzeit über den aktuellen Stand der für die Auf-
nahme in das LUB I1/1 vorgesehenen Schriftzeugnisse orientieren.
Der Arbeitsaufwand für die Schaffung und Aktualisierung der
Online-Version des LUB II digital war und ist zweifellos erheblich und
lässt sich nur dadurch rechtfertigen, dass damit die Möglichkeit geschaf-
fen wird, die Ergebnisse der langjährigen, aufwendigen Arbeiten am
LUB der wissenschaftlichen Forschung und einer interessierten Öffent-
lichkeit so schnell als möglich zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig
kann damit aber auch die an sich berechtigte Forderung nach einer mög-
lichst schnellen Drucklegung des LUB 11/1 insofern erfüllt werden, als
mit dem LUB II digital eine gleichsam digitale Version eines gedruckten
LUB 11/1 zur allgemeinen Benutzung vorgelegt werden kann.
Ein kurzer Blick in die Zukunft
des Liechtensteinischen Urkundenbuchs
Ein wissenschaftliches Grundlagenwerk wie das Liechtensteinische
Urkundenbuch ist eine generationenübergreifende Aufgabe. Umso
wichtiger ist daher eine verlässliche und langfristig gesicherte Finanzie-
rung. Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein, der sich
bereits in den verabschiedeten Statuten anlässlich seiner konstituieren-
den Sitzung am 10. Februar 1901 zur Verfolgung des Vereinszwecks
«eine tunlichst vollständige Sammlung aller noch vorhandenen, unser
Land und unsere Gemeinden betreffenden wichtigeren Urkunden von
142
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
den ältesten Zeiten an» zur Pflicht machte, durfte dabei stets auf die
wohlwollende Unterstützung des Landtags und der fürstlichen Regie-
rung zählen. In jüngster Zeit ist an die 1997, 2003, 2009 und 2015 jeweils
für eine sechsjährige Bearbeitungszeit des LUB II vom Landtag gespro-
chenen Verpflichtungskredite für das LUB zu erinnern, die eine konti-
nuierliche Weiterarbeit mit Einbezug der für die Geschichte Liechten-
steins relevanten Quellen in ausländischen Archiven ermöglichten. Und
mit der ins Internet gestellten digitalen Version des LUB II lässt sich der
für jede mittelalterliche Geschichtsforschung zentralen Aufforderung
«ad fontes» ohne grossen Aufwand nachkommen, wird dem Benutzer
doch der Weg «zu den Quellen» längst vergangener Zeiten bequem per
Mausklick ermöglicht.
Nebst der Verortung des Liechtensteinischen Urkundenbuchs in
räumlicher Hinsicht gilt es auch dessen zeitliche Dimension zu berück-
sichtigen. Mit der Edition der Schriftdokumente für die bis 1510 dau-
ernde Herrschaftszeit der Freiherren von Brandis wird das Liechtenstei-
nische Urkundenbuch zwar ein weiteres wichtiges Etappenziel errei-
chen, aber noch längst nicht am Endziel angelangt sein. So harren die
umfangreichen Quellenbestände über die Herrschaftszeit der Grafen
von Sulz (1510-1613) und der Grafen von Hohenems (1613-1699/1712)
ihrer Veröffentlichung. Erst auf der Grundlage dieses Quellenmaterials
wird eine angemessene Darstellung der Geschichte des sogenannten
glücklichen sulzischen beziehungsweise unglücklichen hohenemsischen
Jahrhunderts geleistet werden können. Schliesslich — dies allerdings wohl
als Ausblick in die fernere Zukunft des Liechtensteinischen Urkunden-
buchs - werden dereinst die wichtigen Schriftzeugnisse zur Landesge-
schichte unter dem liechtensteinischen Fürstenhaus in angemessenem
Rahmen im LUB zu berücksichtigen sein.
Fazit
Mit der Edition historischer Quellen wird der Geschichtsforschung der
Zugang zu ihrem hauptsächlichen Informationsmedium, zu den schrift-
lichen Zeugnissen der Vergangenheit, erheblich erleichtert, oft sogar
überhaupt erst ermöglicht. Fehlende Editionen spätmittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Schriftquellen schränken daher die landesgeschichtli-
che Forschung in unzulässigem Masse ein oder verunmöglichen sie
143
Claudius Gurt
sogar. Erst die Herausgabe eines möglichst vollständigen Quellenkorpus
kann zum fruchtbaren Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung
und schliesslich zum tragfähigen Erkenntnisfundament historischer
Gegebenheiten werden. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist unbe-
strittenermassen von gesellschaftspolitischer Relevanz. Das Wissen um
die Herkunft und die historisch bedingte und geprägte Entwicklung
unserer Gesellschaft kann zweifellos zur Förderung identitätsstiftender
Elemente nach innen wie nach aussen beitragen, sei es auf lokaler, regio-
naler oder staatlicher Ebene. Nur eine auf möglichst umfassender Quel-
lengrundlage beruhende Geschichtsforschung bietet indessen Gewähr,
dass keine schiefen, nur auf Behauptungen und Mutmassungen fussen-
den Geschichtsbilder vermittelt werden können. Das Liechtensteinische
Urkundenbuch stellt mit seiner Quellenpublikation den jederzeit über-
prüfbaren Erkenntnis-Rohstoff der Geschichtsforschung zur Verfügung
und ermöglicht damit die notwendige Auseinandersetzung auch mit der
ferneren Vergangenheit dieses Landes und seiner Bewohner. In diesem
Sinne darf dem LUB durchaus staatspolitische Bedeutung zugemessen
werden. Gerade dem Liechtensteinischen Urkundenbuch kommt im
Verbund mit den erwähnten übrigen grossen, benachbarten regionalen
Editionsunternehmen — dem Bündner Urkundenbuch, dem Chartula-
rium Sangallense und dem Urkundenbuch der südlichen Teile des Kan-
tons St. Gallen — eine grenzübergreifende Bedeutung für die Regionalge-
schichte zu, Ja es nimmt mit seiner Quellenpublikation für das 15. Jahr-
hundert sogar eine nachahmenswerte Vorreiterrolle ein.
Ob der Geschichte die Funktion einer Lehrmeisterin des Lebens
(historia magistra vitae) zugemessen werden soll und darf, wie es Cicero
(de oratore, 11,36) so vehement vertrat, also dass aus der Geschichte Leh-
ren zu ziehen sind, um Fehler zu vermeiden, diese Auffassung mag vor-
sichtshalber dahingestellt bleiben. Aber dass zur Bewältigung von Pro-
blemen heute und auch in der Zukunft das Wissen um deren historische
Bedingtheit von Nutzen sein kann, davon bin ich ebenso überzeugt wie
davon, dass die Geschichte uns viel zum Verständnis und damit zu einer
hoffentlich vernünftigen Entwicklung unserer Welt lehren kann.
Zum Schluss sei der damalige Vorsitzende des Historischen Vereins,
Felix Marxer, im Jahresbericht des JBL 1970 zitiert - obwohl vor beinahe
einem halben Jahrhundert, so doch von zeitloser Aktualität: «Wir kön-
nen den souveränen Staat Liechtenstein weder mit der geographischen
Lage noch mit seinem Gebiet von 160 km? und seinen 22000 [inzwi-
144
Ad fontes: Quellen-Editionstätigkeit in Liechtenstein
schen 37000, Anm. des Autors] Einwohnern noch mit seiner ethnischen
Eigenart, noch mit wirtschaftlicher oder militärischer Potenz, noch mit
der Sprache rechtfertigen. Nur das geschichtliche Werden unseres Klein-
staates begründet hinreichend unsere staatliche Existenz in der Gegen-
wart und in der Zukunft. Die Pflege des Geschichts- und damit des
Staatsbewusstseins ist daher gerade für den Liechtensteiner [und selbst-
verständlich auch für die Liechtensteinerin, Anm. des Autors] ein drin-
gendes Anliegen, dem in der Erziehung der Jugend vermehrtes Gewicht
beigelegt werden muss. Abgesehen von diesen sehr zeitgemässen Überle-
gungen ist die Beschäftigung mit geistigen Dingen, die unser Land betref-
fen, eine kulturelle Aufgabe, die uns niemand abnimmt, und der wir uns
nicht entziehen können, ohne uns selbst aufzugeben.» Fürwahr eine Er-
kenntnis, die für alle Beteiligten — Bearbeiter, Benutzer und Geldgeber
des Liechtensteinischen Urkundenbuchs — für die Zukunft eine Ver-
pflichtung bedeutet.
ABBILDUNGSNACHWEIS
Claudius Gurt
145
Die liechtensteinische Souveränität
zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
im Spiegel der Geschichtsschreibung
Fabian Frommelt
«Was bleibt dem Schwachen anderes übrig, als die Vorteile und
Gewinne, die wie Späne vom politischen Arbeitstisch der Grossen
fallen, zu verlesen und zu sammeln ?»!
Die liechtensteinische Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts, Rhein-
bund und Wiener Kongress, Napoleon und Fürst Johann I., Souveräni-
tät und innere Reform sind zentrale Themen im historischen Schaffen
Georg Malins. Ihnen widmete er mit der 1953 erschienenen Dissertation
und den Aufsätzen zur liechtensteinischen Souveränität (1955, 2007) und
zur Aussenpolitik (1973) seine gewichtigsten Arbeiten zur neueren
Geschichte? — welche allerdings in seinem weit vielfältigeren, auch Früh-
geschichte und Archäologie, Kunst und Politik umfassenden Lebens-
werk vielleicht nicht den ersten Platz einnehmen.
Mit der Souveränität griff Georg Malin ein - wenn nicht das — Kar-
dinalproblem der politischen Geschichte Liechtensteins auf, das bis
heute in wesentlichen Punkten ungelöst ist. Obwohl das Thema seit dem
frühen 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit einer ganzen Reihe an
Geschichtsschreibern und Historikerinnen aus dem In- wie aus dem
Ausland auf sich zog, konnte die zentrale Frage bislang nicht überzeu-
1 Georg Malin, Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jah-
ren 1800-1815, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechten-
stein (im Folgenden JBL), Bd. 53, Vaduz 1953, S. 5-178, hier S. 146.
2 Malin (Anm. 1); Ders., Die Souveränität Liechtensteins, in: JBL 55, Vaduz 1955,
S. 5-22; Ders., Bemerkungen zu 150 Jahre Liechtensteinische Aussenpolitik, in: Bei-
träge zur liechtensteinischen Staatspolitik, Liechtenstein Politische Schriften (im
Folgenden LPS), Bd. 2, Vaduz 1973, S. 49-55; Ders., 200 Jahre souveränes Fürsten-
tum Liechtenstein, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Kleinstaaten in Europa, LPS
42, Schaan 2007, S. 225-250.
147
Fabian Frommelt
gend beantwortet werden, wie insbesondere der Beginn, aber auch der
Fortbestand der Souveränität ausgerechnet eines der kleinsten Territo-
rien des vormaligen Römisch-deutschen Reichs eigentlich zu erklären
sind. Dies macht das anhaltende Interesse an dieser Thematik verständ-
lich: Nicht nur die liechtensteinische Geschichte im engeren Sinn ist
berührt, sondern auch die Entwicklung der staatlichen Struktur
Deutschlands und die Frage der Kleinstaatlichkeit.
Wenn im Folgenden die historische Beschäftigung mit dem
Ursprung der liechtensteinischen Souveränität zwischen Rheinbund und
Wiener Kongress nachgezeichnet wird,* lassen sich — wie bei anderen
Themen der politischen Landesgeschichte — zwei im 19. Jahrhundert
wurzelnde historiografische Hauptstränge unterscheiden: Einer bürger-
lich-emanzipatorischen Erzähltradition (I) steht ein stärker obrigkeit-
lich-monarchisch geprägtes Geschichtsbild (II) gegenüber.‘ Mit Georg
Malins Dissertation (1953) fasste eine auf erhöhten wissenschaftlichen
Ansprüchen beruhende, neutralere Haltung Fuss (III). Nun erlangte das
Beispiel Liechtenstein auch das Interesse ausländischer Historiker,
womit das als «Sonderfall» (Brigitte Mazohl-Wallnig) verstandene Spe-
zifische der liechtensteinischen Entwicklung in den Blick geriet (IV).
Auffällig ist, dass der Wiener Kongress, der im Geschichtsbild des Fürs-
tenhauses eine zentrale Stellung einnimmt (V), in der liechtensteinischen
Historiografie unterbelichtet blieb (VI).
I. Frühe bürgerlich-emanzipatorische Erzähltradition
In Liechtenstein liegen nur von wenigen Zeitgenossen der Rheinbund-
zeit schriftliche Berichte über ihre Wahrnehmungen vor. Der Eschner
Bauer und Chronist Johann Georg Helbert (1759-1813) konstatierte
1806, Kaiser Napoleon habe «seinen Reinischen Bund oder Kreiß»
geschaffen, in welchen «sich der fürst von Liechtenstein freywillig Bege-
3 Dieser Beitrag berücksichtigt nur eine Auswahl einschlägiger Arbeiten.
4 Diese Analysekategorien wurden erstmals auf die Erzählung des Verkaufs der Graf-
schaft Vaduz an die Fürsten von Liechtenstein 1712 angewendet in Fabian From-
melt, Der Kauf der Grafschaft Vaduz am 22. Februar 1712. Ein Kleinterritorium
zwischen gräflichem Ruin und fürstlichem Prestigestreben — ein Jubiläum zwischen
Geschichte und Mythos?, in: JBL 111, Vaduz 2012, S. 15—42, hier S. 30-39.
148
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
ben» habe. Die damit verbundene Erlangung der Souveränität vermerkte
Helbert vorerst nicht — wichtig waren für ihn der erneute Ausbruch des
Krieges und die mit der Rheinbundmitgliedschaft verknüpfte Pflicht zur
Truppenstellung und Kontributionszahlung.‘
Erst nach den spätabsolutistischen Reformen Fürst Johanns I.
(1760—1836)° stellte Helbert 1809 fest: «Durch die Sufrainedet [Souverä-
nität] des Landfürsten sollen iezt alle alte Verträge, Lands Breüch und
Rechte auf gehoben sein». Die Souveränität galt ihm als rein landes-
herrliche Qualität, die dem Fürsten Hand bot, die während des Alten
Reichs bestandenen ständisch-landschaftlichen und kommunalen Rechte
aufzuheben.* Dass die Souveränität in weiten Kreisen der Bevölkerung
nicht als etwas mit dem Land verbundenes Eigenes, Schützenswertes
wahrgenommen wurde, zeigt auch die Bereitschaft, sie schon 1809 durch
den erwogenen Anschluss an die Vorarlberger Aufständischen aufs Spiel
zu setzen.?
Ist die kritische Haltung gegenüber den innen- und aussenpoliti-
schen Neuerungen der Jahre nach 1806 bei Helbert mehr zwischen den
Zeilen herauszulesen, äusserte sich der Amtsbote und Oberamtsschrei-
ber Johann Rheinberger (1764-1828) aus Vaduz in seinem um 1815
abgefassten «Politischen Tagebuch» expliziter: Die Erhebung des Fürs-
tentums «zum souverainen Staate» durch Napoleon 1806 ebnete in sei-
ner Sicht den Weg zum «lezten Schlag für [die] noch gebliebenen Frei-
5 Chronik des Johann Georg Helbert aus Eschen, Transkription, Hrsg.: Gemeinde
Eschen, Liechtensteinisches Landesmuseum, Redaktion: Arthur Brunhart, Vaduz
2006, S. 269 f., 279. Vgl. Arthur Brunhart, Johann Georg Helbert und seine Chro-
nik, in: ebd., S. 297-310.
6 Vgl. zu ihm Herbert Haupt, «Liechtenstein, Johann I. von», in: Historisches Lexi-
kon des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz, Zürich 2013 (im Folgenden HLFL),
Bd. 1, 5. 540 f. (mit weiterer Literatur).
7 Chronik (Anm. 5), S. 279.
8 Durch die Dienstinstruktion für Landvogt Josef Schuppler vom 7. Oktober 1808
wurden die Landschaften Vaduz und Schellenberg mit ihren ständischen Einrich-
tungen wie Landammann und Gericht und ihren kommunalen Selbstverwaltungs-
rechten aufgehoben. Vgl. Malin (Anm. 1), S. 31-50; Herbert Wille, Die liechtenstei-
nische Staatsordnung. Verfassungsgeschichtliche Grundlagen und oberste Organe,
LPS 57, Schaan 2015, S. 45-51.
9 Vgl. Malin (Anm. 1), S. 129-145; Fabian Frommelt, 1809 — Aufstand in Liechten-
stein?, in: Hannes Liener, Andreas Rudigier, Christof Thöny (Hrsg.), Zeit des Um-
bruchs. Westösterreich, Liechtenstein und die Ostschweiz im Jahr 1809, Götzis
2010, S. 65-82.
149
Fabian Frommelt
heitsreste» des Volkes. Von den vormaligen Bindungen und Beschrän-
kungen der Reichsverfassung befreit, nutze Fürst Johann I. seine neue
Stellung als «unumschränkter Gesetzgeber» und «niemandem verant-
wortlich[er]» «Souverain» zur Beseitigung der bestehenden Repräsenta-
tions- und Partizipationsrechte der Untertanen, worin Rheinberger eine
«Verletzung des Völkerrechts»" erblickte.'! Dass der Amtsbote die Ver-
antwortung für die scharf kritisierten Zustände in Verwaltung und
Staatsfinanzierung nicht dem «edelsten und hochherzigsten Fürsten»
anlastete, sondern dessen Kommissar Georg Hauer und Landvogt Josef
Schuppler, entsprach dem Usus unter den gegebenen absolutistischen
Verhältnissen.
Rheinberger sprach die Souveränität nicht nur dem Fürsten zu,
sondern auch dem Staat. Ob er darauf abstellte, der Fürst sei nur inso-
fern Träger der Souveränität, als er den Staat verkörpere, wird nicht
deutlich. Unbesehen des im Begriff der «Staatssouveränität» steckenden
Potenzials, den Gegensatz zwischen Volks- und Fürstensouveränität zu
überwinden,!? stand bei Rheinberger die Ablehnung des mit der Souve-
ränität eingezogenen Reformabsolutismus im Vordergrund.
Die erste Darstellung der Weiterentwicklung bis zum Wiener Kon-
gress 1814/15 findet sich in Peter Kaisers (1793-1864) umfangreicher
«Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein» (1847).!® Dieses Werk des
Liberalen Kaiser — des «Historiker[s] der Volksgeschichte als Alternative
10 Hier noch im Sinne des zus gentium zu verstehen, des «alle Menschen und Herr-
schaftsverbände gleichermaßen umfassende[n] Recht[s]», im Gegensatz zum im
18. Jahrhundert entwickelten Völkerrechtsverständnis als ins inter gentes, welches
nur die Beziehungen zwischen den Staaten regelte (vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht.
Ein Studienbuch, München *1999, S. 2-7).
11 Zitiert nach Rudolf Rheinberger, Das «Politische Tagebuch» des Amtsboten Johann
Rheinberger von Vaduz. Eine Quelle zur Geschichte Liechtensteins zur Zeit des
Absolutismus, in: JBL 58, Vaduz 1958, S. 227-238, hier S. 233 f. Vgl. Rudolf Rhein-
berger, «Rheinberger, Johann», in: HLFL 2 (Anm. 6), S. 760.
12 Vgl. Hans Boldt, Staat und Souveränität: IX. «Souveränitäp: 19. und 20. Jahrhundert,
in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche
Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutsch-
land, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 129-152, hier S. 143.
13 Peter Kaiser, Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schilderungen aus
Chur-Rätien’s Vorzeit, Chur 1847, neu herausgegeben von Arthur Brunhart, Bd. 1:
Text, Bd. 2: Apparat, Vaduz 1989. Vgl. Peter Geiger (Hrsg.), Peter Kaiser als Politi-
ker, Historiker und Erzieher (1793-1864). Im Gedenken an seinen 200. Geburtstag,
150
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
zur dynastischen Geschichte»'* — markiert den eigentlichen Beginn der
liechtensteinischen Historiografie.
Wie Rheinberger, und diesen teils wörtlich zitierend, kritisierte
Kaiser die innenpolitischen Folgen der Rheinbundmitgliedschaft: Die
zur Souveränität gelangten Rheinbundfürsten errichteten ein «System
der Volksbevormundung», welches «alle Selbständigkeit und Würde der
Regierten» beendete. Auch Liechtenstein, so Kaiser, blieb von diesem
«neuen Regierungs- und Verwaltungssystem [...] nicht verschont.»'” Da
die Reformen die althergebrachten Rechte des Volkes beseitigten und
zugleich neue finanzielle Belastungen einführten, resümierte Kaiser:
«Die Souveränität brachte dem Volke sonach nur größere Lasten, ohne
daß sie ihm durch etwas versüßt worden wären.»'° Immerhin anerkannte
Kaiser, dass manche Reformen «wohlthätig und gut gemeint» waren, so
die Einführung des Grundbuchs und einzelne Massnahmen der Boden-
und der Schulreform.!
Kaiser wandte sich auch den aussenpolitischen Aspekten zu, wobei
er zunächst unzutreffend festhielt, Johann I. habe zu den deutschen Fürs-
ten gehört, die am 12. Juli 1806 die Rheinbundakte unterzeichneten, Na-
poleon als Protektor annahmen und den Austritt aus dem Römisch-deut-
schen Reich erklärten. Er stellte den Sachverhalt dann zwar richtig, blieb
aber vage: In der Rheinbundakte und der Austrittserklärung aus dem
Reich «ist zwar der Fürst von Liechtenstein aufgeführt, er war aber durch
keinen Gesandten vertreten und der Anschluß geschah, ohne daß er ir-
gend welche Schritte that» - gemeint war, dass er den Beitritt nicht ange-
strebt habe und weder die Rheinbundakte noch die Erklärung der Rhein-
bundfürsten über den Austritt aus dem Römisch-deutschen Reich vom
1. August 1806 unterzeichnete. Jedoch machte schon Kaiser deutlich,
dass sich Johann I. keineswegs nur passiv verhielt, sondern - Artikel 7 der
LPS 17, Vaduz 1993; Arthur Brunhart, Peter Kaiser 1793-1864. Erzieher, Staatsbür-
ger, Geschichtsschreiber. Facetten einer Persönlichkeit, Vaduz 21999.
14 Dieter Langewiesche, Peter Kaiser als Politiker, in: Geiger (Anm. 13), S. 43-52, hier
S. 50. Vgl. Volker Press, Peter Kaiser und die Entdeckung des liechtensteinischen
Volkes, in: ebd., S. 53-73.
15 Kaiser (Anm. 13), S. 546-550, Zitat S. 546.
16 Ebd., S. 549.
17 Ebd., S. 553.
151
Fabian Frommelt
Rheinbundakte nutzend —- das Fürstentum Liechtenstein seinem minder-
jährigen Sohn Karl (1803-1871) übertrug, um die Rheinbundmitglied-
schaft trotz seiner österreichischen Dienste zu ermöglichen.'?
Der von seiner Zeit als Burschenschafter in Freiburg 1. Br. geprägte,
liberal denkende, einem «Reichsnationalismus» respektive einem deut-
schen Gesamtstaat unter österreichischer Führung verpflichtete Kaiser,'?
der Liechtenstein 1848 in der deutschen Nationalversammlung in Frank-
furt vertrat, äusserte sich über die erlangte Souveränität zurückhaltend:
Wehmütig konstatierte er «den Fall des heiligen römischen Reichs deut-
scher Nation [...] und das verführerische Geschenk der Souveränität, wel-
ches die Rheinbundfürsten von einem auswärtigen Emporkömmling an-
nahmen, dessen Recht im Schwerte war», und hoffte, dass «die zerstreu-
ten Glieder gesammelt [würden] [...] und daß sie als ein Volk sich fühlten,
dächten und handelten und ein neues Reich gründeten!»” Er ging jedoch
nicht so weit wie verschiedene zeitgenössische Autoren, den Rheinbund-
fürsten Hochverrat am römisch-deutschen Kaiser vorzuwerfen.?!
Mit Befriedigung stellte Kaiser fest, dass Liechtenstein, dem Bei-
spiel Bayerns und anderer deutscher Staaten folgend, nach der Völker-
schlacht bei Leipzig (Oktober 1813) aus dem Rheinbund, einer «Schöp-
fung der Schwäche und Gewalt», austrat und an der «Befreiung des
18 Ebd., S. 540-542.
19 Langewiesche (Anm. 14), S. 51.
20 Kaiser (Anm. 13), S. 543.
21 Vgl. Burghard Dedner, Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im Hessischen
Landboten, in: Burghard Dedner, Matthias Gröbel, Eva-Maria Vering (Hrsg.), Georg
Büchner Jahrbuch, Bd. 12, 2009-2012, Berlin, Boston 2012, S. 77-141, hier S. 104:
«Die Erzählung vom Hochverrat [der deutschen Fürsten] durch den Beitritt zum
Rheinbund gehörte zu den wiederkehrenden Elementen in den oppositionellen
Schriften um und nach dem Wiener Kongreß.» — Brigitte Mazohl-Wallnig spricht
vom «Verfassungsbruch des Rheinbundes» (Brigitte Mazohl-Wallnig, Sonderfall
Liechtenstein — Die Souveränität des Fürstentums zwischen Heiligem Römischen
Reich und Deutschem Bund, in: Arthur Brunhart [Hrsg.], Bausteine zur liechtenstei-
nischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, Bd. 3: 19. Jahr-
hundert: Modellfall Liechtenstein, Zürich 1999, 5. 742, hier S. 9 f.). Bernd Marquardt
sieht den Rheinbund als «Föderation der 16 Putschmächte» (Bernd Marquardt,
Liechtenstein im Verbande des Heiligen Römischen Reiches und die Frage der Sou-
veränität, in: JBL 105, Vaduz 2006, S. 530, hier S. 28). Zu den Skrupeln, die manche
Rheinbundfürsten bei ihrem Beitritt zu überwinden hatten, vgl. Reinhard Mußgnug,
Der Rheinbund, in: Der Staat, Bd. 46, Berlin 2007, S. 249-267, hier 5. 251 f.
152
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
deutschen Vaterlandes» durch die antinapoleonischen Kriege der Jahre
1814/15 teilnahm.”
Kaiser war durchaus liechtensteinischer Patriot und lehnte die
unfreiwillige Mediatisierung als «widerrechtlich und ein Akt der
Gewalt» ab. Vom historischen Denken geprägt und die machtpolitische
Situation nach dem Zusammenbruch des Rheinbunds und der napoleo-
nischen Hegemonie 1813 realistisch einschätzend, erachtete er indes die
liechtensteinische Existenz ausserhalb eines deutschen Gesamtstaats als
prekär: «Was sollten die kleineren Staaten beginnen und wie konnten sie
als europäische Mächte sich hinstellen, ohne sich lächerlich zu machen?»
Im auf dem Wiener Kongress mit der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni
1815 geschaffenen «Bund der souveränen Fürsten und freien Städte» sah
er die ideale Lösung: Sie sicherte einerseits die liechtensteinische Souve-
ränität, band das kleine Land aber in den grösseren Zusammenhang des
«deutschen Vaterlandes» ein.”
Kaisers Buch schliesst mit einer zurückhaltend-kritischen Wertung
der zu seiner Zeit geltenden landständischen Verfassung, welche Fürst
Johann I. 1818 in Erfüllung von Artikel 13 der Deutschen Bundesakte
oktroyiert hatte: Sie entspreche «den Bedürfnissen und Gewohnheiten
des Landes weniger [...] als die früher bestandene», womit er die land-
schaftliche Verfassung während des Alten Reiches meinte. Explizitere
Kritik war unter den politischen Verhältnissen des Vormärz kaum mög-
lich. Die trockene Aufzählung der Zusammensetzung des Landtags und
dessen fehlender Kompetenzen sprach indes ebenso für sich wie Kaisers
abschliessendes Resümee über sein gesamtes, von den «Rätiern» und Rö-
mern bis an seine Gegenwart heranreichendes Geschichtsbuch, wonach
die «Bevormundung» der Bevölkerung stets grösser geworden war.”*
Am Beginn der liechtensteinischen Auseinandersetzung mit dem
Thema stand bei Helbert, Rheinberger und Kaiser ein herrschaftskriti-
scher Ansatzpunkt, der die äussere Souveränität wenig gewichtete und
vor allem den Verlust der inneren politisch-administrativen Partizipati-
22 Kaiser (Anm. 13), S. 555.
23 Fbd.,$. 555 f.
24 Ebd.,S. 557 f., 560. Zur landständischen Verfassung von 1818 vgl. Rupert Quaderer,
Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815 bis 1848, in: JBL 69,
Vaduz 1969, S. 5241, hier S. 16-30.
153
Fabian Frommelt
onsrechte der Untertanen beklagte und deren Wiederherstellung ver-
langte. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Lage und Tätigkeit
der Bevölkerung oder einzelner ihrer Exponenten nahmen darin breiten
Raum ein. Die Rolle des Fürsten wurde zurückhaltend, teils kritisch
gewertet. Darin, dass Kaiser die Geschichte Liechtensteins «in einer
Weise erzählt[e], dass aus ihr politische Mitwirkungsansprüche des Vol-
kes geschöpft werden konnten», liegt die emanzipatorische Qualität
dieser Erzähltradition. Sie büsste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts zugunsten einer stärker an einem idealisierenden Fürstenbild ori-
entierten Geschichtsauffassung an Attraktivität ein.
II. Obrigkeitlich-monarchisches Geschichtsbild
des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Die Kritik an den inneren Reformen der Rheinbundzeit verlor mit
zunehmender zeitlicher Distanz und mit der Wiederherstellung effekti-
ver Partizipationsrechte durch die Konstitutionelle Verfassung von 1862
an Relevanz. Nach dem Ausscheiden Liechtensteins aus Deutschland
durch das Ende des Deutschen Bundes 1866 gehörte das kleine Land
erstmals keinem grösseren Reich oder Staatenbund mehr an und war
(trotz der bilateralen Bindung an Österreich) auf seine Eigenstaatlichkeit
zurückgeworfen: Damit stiessen die äusseren Aspekte der Souveränität
auf verstärktes Interesse.
Bei der Suche nach einer Erklärung für das Faktum, dass von den
vormals rund 300, meist weitaus grösseren reichsunmittelbaren Territo-
rien des Alten Reichs gerade das kleine Liechtenstein die Mediatisie-
rungswellen des Reichsdeputationshauptschlusses (1803), des Rhein-
bunds und des Wiener Kongresses überstanden hatte, rückte die Person
Fürst Johanns I. ins Zentrum.
Schon 1815 hatte der von Johann Rheinberger so scharf kritisierte
Landvogt Josef Schuppler (1776-1833) süffisant auf den Umstand hin-
gewiesen, dass «dies an sich unbedeutende Ländchen» die «besondere
Auszeichnung» der Rheinbundmitgliedschaft und damit der Souveräni-
25 Langewiesche (Anm. 14), S. 51.
154
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
tät allein dem Fürsten zu verdanken habe. Jedoch nicht die mehrdeutige
Politik Johanns I. zwischen Österreich und Frankreich führte er als
Begründung an, sondern dessen «hochherzige[ ] Tugenden».
Daran knüpften spätere Autoren in übersteigerter Form und teils
ans Skurrile grenzender Idealisierung und Überhöhung des Fürsten an,
was umso leichter möglich war, als manche zentrale Vorgänge einer ein-
leuchtenden oder gar gesicherten Erklärung entbehrten. Als sich das
Land nach 1866 eine eigene, von Deutschland gelöste Identität erschaf-
fen musste, ein tauglicher liechtensteinischer Gründungs- oder Natio-
nalmythos aber mangelte, liess sich der als «Held» gezeichnete Fürst, der
sein Ländchen am Alpenrhein notabene kein einziges Mal gesehen oder
betreten hat, eigenartigerweise sowohl für die Konstruktion eines liech-
tensteinischen «National»-Gefühls und -Stolzes nutzen wie auch als
Mosaikstein eines monarchischen Geschichtsbildes, das bis heute einen
wesentlichen Teil der fürstlichen Herrschaftslegitimation ausmacht: des
wirkmächtigen Mythos der dem Fürstenhaus Liechtenstein entsprosse-
nen weisen, wenn nicht genialen Staatsmänner.
Vertreter dieser historiografischen Richtung, in deren Arbeiten die
Regierungsjahre der Fürsten als zentrales Gliederungs- und Periodisie-
rungsprinzip dienten, waren unter anderen der aus Graubünden stam-
mende Vaduzer Hofkaplan und Volksblatt-Gründer Johann Franz Fetz
(1809-1884), der 1882 das nach Kaiser zweite Buch zur liechtensteini-
schen Landesgeschichte publizierte,” der liechtensteinische Landesver-
weser Karl von In der Maur (1852-1913), der mit seinem Beitrag über
Fürst Johann I. (1905) explizit eine Richtigstellung der «höchst einsei-
tig[en] und ungenau[en]» Darstellung dieser Zeitperiode durch Peter
Kaiser bezweckte,?® sowie der konservative Geistliche Johann Baptist
Büchel aus Balzers (1853-1927), in dessen Büchlein «Geschichte des
26 Die Landesbeschreibung des Landvogts Josef Schuppler aus dem Jahre 1815, he-
rausgegeben von Alois Ospelt, in: JBL 75, Vaduz 1975, S. 189—461, hier S. 219.
27 Johann Franz Fetz, Leitfaden zur Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Ge-
schichte der alten St. Florins-Kapelle und der neuen Pfarrkirche zu Vaduz, Buchs
1882. Vgl. Franz Näscher, «Fetz, Johann Franz», in: HLFL 1 (Anm. 6), S. 223.
28 Karl von In der Maur, Feldmarschall Johann Fürst von Liechtenstein und seine Re-
gierungszeit im Fürstentum, in: JBL 5, Vaduz 1905, S. 149-216, hier S. 153 (Zitat),
175. Vgl. Karl Heinz Burmeister, «In der Maur auf Strelburg und zu Freifeld, Karl
von», in: HLFL 1 (Anm. 6), 5. 386 f.
155
Fabian Frommelt
Fürstentums Liechtenstein» (1912) die Glorifizierung Johanns I. viel-
leicht ihren Höhepunkt erreichte.” Büchel verfasste eine Vielzahl histo-
rischer Arbeiten und legte 1923 eine «verbesserte» Neuauflage von Kai-
sers Geschichtsbuch von 1847 vor.”
Diese Publikationen stützten sich wesentlich auf den (gleichwohl
scharf kritisierten) Kaiser sowie auf die vom fürstlich-liechtensteini-
schen Bibliothekar und Galeriedirektor Jacob von Falke (1825-1897)
verfasste dreibändige Geschichte des Fürstenhauses Liechtenstein.” In
der Maur benutzte für seinen Aufsatz vor allem die im gleichen Jahr
erschienene, vom Wiener Militärhistoriker Oskar Criste (1858-1938)
verfasste umfangreiche Biografie Johanns 1.”
Schwerer einzuordnen ist der Arzt und Landtagspräsident Albert
Schädler aus Vaduz (1848-1922), der sich 1919 die erste Überblicksdar-
stellung der liechtensteinischen Geschichte im 19. Jahrhundert zum Ziel
setzte. Als konservativ-klerikal charakterisiert, aber auch christlich-
soziales Gedankengut vertretend, sah er die «treue Anhänglichkeit an
den Fürsten» und die «tätige Anteilnahme des Fürstenhauses» als Basis
einer gedeihlichen Entwicklung des Landes. In seiner erwähnten Arbeit
enthielt sich der Sohn Karl Schädlers® jedoch des bei seinen Zeitgenos-
sen verbreiteten monarchischen Enthusiasmus und offenbarte insgesamt
29 Johann Baptist Büchel, Geschichte des Fürstentums Liechtenstein, 0.O. [Vaduz],
o.D. [1912]. Vgl. Alois Ospelt, Zum Gedenken an die verstorbenen Vorsitzenden
des Historischen Vereins. Fünf biographische Skizzen, in: JBL 100, Vaduz 2001,
S. 159-204, hier S. 171-176 (mit Werkverzeichnis Johann Baptist Büchels); [Karl
Heinz Burmeister], «Büchel, Johann Baptist», in: HLFL 1 (Anm. 6), S. 124 f.
30 Peter Kaisers Geschichte des Fürstentums Liechtenstein nebst Schilderungen aus
Churrätiens Vorzeit, zweite, verbesserte Auflage, besorgt von Johann Baptist Bü-
chel, Vaduz 1923.
31 Jacob von Falke, Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein, 3 Bde., Wien
1868-1882, Nachdruck Vaduz 1984. Vgl. Josef Folnesics, «Falke, Jakob von» in:
Allgemeine Deutsche Biographie 55, 1910, S. 753-756 (Onlinefassung: www.deut
sche-biographie.de/pnd101311974.html?anchor=adb, abgerufen am 30.5.2016);
Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 1, 1956, S. 284.
32 Oskar Criste, Feldmarschall Johannes Fürst von Liechtenstein. Eine Biographie, he-
rausgegeben von der Gesellschaft für neuere Geschichte Österreichs, Wien 1905.
33 Karl Schädler (1804-1872) war in der Revolution von 1848 neben Peter Kaiser und
später beim Ringen um eine konstitutionelle Verfassung (1862) als Kopf der fort-
schrittlich-liberalen, demokratischen Kräfte hervorgetreten (vgl. Rudolf Rheinber-
ger, «Schädler, Karl», in: HLFL 2 [Anm. 6], S. 829-831).
156
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
einen kritischeren, der bürgerlich-emanzipatorischen Denkweise nahe-
stehenden Blick auf die Entwicklung, etwa wenn er die «polizeistaatli-
che[ ] Bevormundung» rügte, welche 1808 «an Stelle der aufgehobenen
alten Verfassung» getreten sei und die Zeit der «ständischen Verfassung»
(1818-1862) geprägt habe.“
Im Zentrum dieser Arbeiten stand Fürst Johann I., den, so Falke,
die Zeitgenossen als «besten und edelsten Menschen» gekannt hatten,
der zugleich «verwegen» und «besonnen», «hochherzig», «gerecht und
grossdenkend», «liebenswürdig und wohlwollend» war. Besonders ver-
ehrt wurde er als Krieger und Kriegsheld, aber auch als «ausgezeichne-
ter Verwalter und Oekonom»: Falke widmete dem Kriegsverlauf und
der Rolle, die Johann I. als österreichischer General dabei spielte, 41 von
54 Seiten, Fetz acht von zehn Seiten, Büchel (1912) zweieinhalb von drei
Seiten, Criste 157 von 185 Seiten, In der Maur indes nur 14 von 49 Sei-
ten, Schädler gerade mal einen Satz.
Falkes und Cristes Darstellungen der zweifellos ausserordentlich
erfolgreichen, 1809 im Feldmarschallrang und im Oberbefehl über die
österreichische Armee gipfelnden Militärlaufbahn Johanns I. enthielten
inhaltlich und sprachlich alle Elemente der Heldengeschichte. Sie
berührten jedoch auch einzelne kritische Punkte, etwa den Unwillen
Kaiser Franz I. und Metternichs über den von Johann I. ausgehandelten
Frieden von Schönbrunn (1809). In der jeglichen Schatten ausblenden-
den Verkürzung und Verdichtung in Büchels «volkstümlich» gehalte-
nem, offensichtlich auf die verehrungsfördernde Wirkung in der liech-
tensteinischen Schülerschaft und Bevölkerung abzielenden Büchlein von
1912 erhielt die Erzählung der «Heldenlaufbahn»* einen noch pene-
tranteren Ton.
Einige Beispiele seien genannt: Die «kühnen» und «glorreichen
Waffentaten» des «tapferen Generals», der sich «mit Todesverachtung»
auf die Feinde stürzte, wurden «allgemein bewundert», zumal er etwa in
der Schlacht an der Trebbia (1799) «den grössten Anteil an dem grossen
34 Albert Schädler, Die geschichtliche Entwicklung Liechtensteins, mit besonderer Be-
rücksichtigung der neuen Zeit, in: JBL 19, Vaduz 1919, S. 5-72, hier S. 27 und 71.
Vgl. Rudolf Rheinberger, «Schädler, Albert», in: HLFL 2 (Anm. 6), 5. 826 f.
35 Falke (Anm. 31), Bd. 3, 5. 285.
36 Büchel (Anm. 29), S. 30.
157
Fabian Frommelt
Siege» hatte. Fürst Johann «übte [...] Wunder der Tapferkeit», verbrach-
te ununterbrochen viele Stunden auf dem Pferd und schlief tagelang
nicht. Feindliche Kugeln zerrissen sein Gewand, etliche Pferde wurden
unter seinem Leib erschossen, aber «wie durch ein Wunder» ging er
«immer unversehrt aus dem dichtesten Kampfgewühle» und «Kugelre-
gen» hervor. Er umsorgte seine Soldaten, von denen er geliebt wurde,
und war mild zu den Kriegsgefangenen. Der Glorifizierung als «Held»
bei erfochtenen Siegen entsprachen das Verschweigen des Schlachten-
ausgangs bei Niederlagen respektive die Würdigung als Friedensbringer
durch den Verzicht auf aussichtslose Kämpfe.” Ähnlich sind Darstellung
und Sprache in Falke, Fetz, Criste und In der Maur — aber auch bei Peter
Kaiser finden sich einzelne entsprechende Stellen.*®
Wesentlich knapper fiel die Behandlung der Themen Rheinbund
und innere Reform aus. Wichtig war den Autoren die Betonung, dass der
«Anschluss» an den Rheinbund ohne Mitwirkung Johanns I. erfolgt sei.
Die Darstellung des Vorgangs, über den beträchtliche Unklarheiten be-
standen, blieb jedoch widersprüchlich: Wie schon Peter Kaiser brachte
auch Falke zunächst die Fehlinformation, gleich anderen Rheinbundstaa-
ten habe Fürst Liechtenstein die Rheinbundakte unterzeichnet und sich
vom Römisch-deutschen Reich losgesagt. Dies, obwohl die Mitglied-
schaft des Fürstentums «nicht grade [...] dem Wunsche und Willen des
regierenden Fürsten Johann» entsprochen habe. Dieser sei bei den Ver-
handlungen nicht vertreten gewesen und «hatte auch nicht wohl um sei-
ner persönlichen Stellung [als österreichischer General] und seiner Fami-
lienbeziehungen zu Oesterreich willen daran theilnehmen können».
Die Aufnahme in den Rheinbund erklärte Falke mit der «lange[n]
Unterredung» Napoleons und Johanns I. anlässlich der Waffenstill-
stands- und Friedensverhandlungen nach der Schlacht bei Austerlitz im
Dezember 1805 in Brünn und Pressburg, in welcher der Fürst «die Ach-
tung und das Vertrauen des französischen Kaisers [...] gewann». Die sie-
ben Monate später erlangte Rheinbundmitgliedschaft sah er als «Aus-
zeichnung» des Fürsten durch Napoleon, welche ihm «vorzugsweise
wegen der persönlichen Achtung» gewährt wurde, welche er sich in den
37 Ebd.,S. 27-30.
38 Vgl. Kaiser (Anm. 13), S. 539, 552.
39 Falke (Anm. 31), Bd. 3, 5. 326 f.
158
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
erwähnten Verhandlungen erworben habe:* Dieser ganz auf die Person
des Fürsten konzentriere Erklärungsansatz wird bis heute breit rezipiert.
Zwar erkannte Falke den «Conflict in dieser Zwischenstellung» zwi-
schen Österreich und Frankreich, der für ihn jedoch allein darin lag, dass
das Fürstentum für den Rheinbund Zahlungen zu leisten und ein Kontin-
gent zu stellen hatte, welches dem Befehl Napoleons unterstand und gege-
benenfalls «mit ihm in den Krieg gegen Oesterreich» ziehen musste. Um
diesem «Zwiespalte zu entgehen», übergab Fürst Johann das Fürstentum
seinem Sohn Karl, behielt jedoch die Vormundschaftsregierung.“"
Mehr als eine formale Lösung der inneren Widersprüchlichkeit
zwischen der österreichischen Stellung und antinapoleonischen Haltung
Johanns I. einerseits und der Mitgliedschaft im Rheinbund als feindli-
chem Militärbündnis andererseits war dies jedoch nicht. Das ambiva-
lente, wenn auch mit der Mediatisierungsgefahr erklärbare Verhalten —
bei einer liechtensteinischen Ablehnung der Rheinbundmitgliedschaft
drohte die bayerische Annexion — und die darin zum Ausdruck kom-
mende Prioritätensetzung Johanns I., in welcher die Sicherung der Sou-
veränität letztlich vor der österreichischen Loyalität rangierte, wurden
nicht explizit thematisiert. Der Zwiespalt schimmerte aber immer wieder
durch: So lamentierte Johann Baptist Büchel, es sei «ein trauriges Zei-
chen der Schwäche und des Mangels an Vaterlandsliebe, dass ein Teil der
Fürsten den Feind des deutschen Vaterlands zum <Beschützer» nahm und
ihm Geld und Mannschaft zum Kriege gegen Deutsche lieferte»,* wäh-
rend der verehrte Fürst Johann genau dasselbe tat — dass die Aufnahme
in das Bündnis erfolgt sein mochte, «ohne daß die Zustimmung des
Fürsten eingeholt worden wäre», änderte daran nichts, da Johann die
Rheinbundmitgliedschaft akzeptiert und mit seinem Regierungsverzicht
aktiv ermöglicht hatte.
Die Rheinbundreformen waren für Falke kein Thema. Fetz äus-
serte sich knapp, aber erstaunlich kritisch zu Johanns «unerquicklichen
Verfassungsabänderungen» und zur auf «Gewaltmassregeln» gestützten
40 Ebd.,S. 311 f. und 327. Entsprechend Criste (Anm. 32), S. 92-100, 101-103 und In
der Maur (Anm. 28), S. 170.
41 Falke (Anm. 31), Bd. 3, S. 327; entsprechend In der Maur (Anm. 28), S. 171.
42 Büchel (Anm. 29), S. 30.
43 Ebd. S. 30.
159
Fabian Frommelt
Tätigkeit Schupplers.“ Büchel gelangte auch hier zu einer positiven Wer-
tung, indem «fast auf allen Gebieten wichtige Gesetze erlassen und Ein-
richtungen getroffen» wurden. In seiner 1923 veröffentlichten Überar-
beitung der Geschichte Kaisers strich er diverse kritische Anmerkungen
zu den Reformen und ersetzte sie durch den Hinweis, dass «diese neue
Ordnung [...] für die Entwicklung der Gemeinden von großem Vorteile
werden» musste.“ Landesverweser In der Maur — selbst einen autoritä-
ren Regierungsstil pflegend — stellte nicht nur die unbestritten sinnvol-
len Reformen wie die Einführung des Grundbuchs, die Bodenreform
usw. im besten Licht dar. In scharfer Abgrenzung vom «radikal» und
«demokratisch» gesinnten Peter Kaiser, der «von der verrotteten Land-
© rechtfertigte er
ammannsinstitution ganz hypnotisiert» gewesen sel,“
auch die Beseitigung der für die «anarchischen Zustände[ ]» im Land
verantwortlich gemachten Landschaftsverfassung und die absolutisti-
sche Durchführung der Reformen.”
%# am Wiener Kon-
Die Beteiligung an den «Befreiungskriegen»,
gress und am Deutschen Bund wurden durchwegs in wenigen Sätzen
abgehandelt. In der Maur erwähnte den wichtigen Akzessionsvertrag
mit Österreich vom 7. Dezember 1813, durch welchen Johann I. den
zusammenbrechenden Rheinbund verliess und an die Seite der Alliierten
wechselte, im Gegenzug aber die Souveränität und seine Besitzungen
garantiert erhielt.“
III. Einzug der Wissenschaft
Mit den Dissertationen Georg Malins (*1926) und Rupert Quaderers
(*1942) zur politischen Geschichte Liechtensteins von 1800 bis 1815 res-
44 Fetz (Anm. 27), S. 281, 288.
45 Büchel (Anm. 29), S. 30; Peter Kaisers Geschichte (Anm. 30), 5. 568.
46 In der Maur (Anm. 28), S. 174, 191.
47 Ebd. S. 172, 177.
48 Zur Kritik am Begriff vgl. Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frank-
reichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag — Wahrnehmung — Deutung 1792-
1841, Paderborn 2007.
49 In der Maur (Anm. 28), S. 190.
160
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
pektive von 1815 bis 1848°° fand die Thematik erstmals eine wissen-
schaftlichen Ansprüchen genügende Bearbeitung durch ausgebildete
Historiker. Diese zeichnete sich nicht allein durch eine Verbreiterung
der Quellen- und Literaturbasis aus, sondern auch durch das Bemühen
um eine neutrale, objektive Haltung.
Dabei knüpfte Malin, rund hundert Jahre nach Peter Kaiser, wieder
an die bürgerlich-emanzipatorische Erzähltradition an: «Allzudeutlich
stand dem Gewinn der Souveränität und der absoluten Regierungsge-
walt des Fürsten der Verlust der Volksrechte gegenüber». Jedoch beur-
teilte er die Person des Fürsten und die fürstliche Politik positiver und
mit mehr Verständnis. Johann I. und dessen Landvogt Josef Schuppler
würdigte er als die «Schöpfer des modernen Liechtenstein», und «den
Sturm der Mediatisierung» überdauerte das Land «allein [dank dem]
Ansehen des Fürsten Johann Liechtenstein».
Die Abschaffung des Landammannamts und der Gerichtsgemein-
den war für Malin «zum Teil» gerechtfertigt durch am Ende des 18. Jahr-
hunderts bestehende «Misstände» bei den «alten Gewohnheitsrechte[n]»,
als deren «tiefere[ ] Ursache» er aber die schon Jahrzehnte zuvor erfolgte
«Aushöhlung der alten Verfassung durch den Absolutismus» sah. Die
«fast totale Entrechtung des Volkes» durch die Neuordnung von 1808
empfand er als «gewaltigen Umsturz», ja als «Revolution von oben», wel-
che indes «Ansätze zum modernen Staat» erkennen liess.” So sorgten die
Reformgesetze der Rheinbundzeit nach Malin zwar für die «rücksichts-
lose Durchführung eines Nivellierungs- und Zentralisierungssystems»;
manches aber war doch von «segensreicher Wirkung», während anderes
gar vom «Weitblick der Obrigkeit» zeugte.” Ähnlich erkannte Paul Vogt
(*1952) in seiner eingehenden Analyse der Verwaltungsreformen eine
von «Modernisierungserscheinungen» geprägte «Neuverteilung der
50 Malin (Anm. 1); Quaderer (Anm. 24).
51 Malin (Anm. 1), S. 53, 170 f.
52 Ebd.,S.34, 38, 48, 57 f., 122. Vgl. auch Rupert Quaderer, Die Entwicklung der liech-
tensteinischen Volksrechte seit der vorabsolutistischen Zeit und der Landstände seit
1818 bis zum Revolutionsjahr 1848, in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung
der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechten-
stein, LPS 8, Vaduz 1981, S. 9-27, hier S. 17 f., sowie Malin, 200 Jahre (Anm. 2),
S. 232 f.: «Vor dem Fürsten lag eine flachgewalzte Untertanenschaft>.
53 Malin (Anm. 1), S. 94-125, Zitat S. 94.
161
Fabian Frommelt
Rechte und Pflichten zwischen Volk und Fürsten», wobei die fürstliche
Verwaltung «unübersehbar patrimoniale Züge» trug.“
Hinsichtlich der Rheinbundmitgliedschaft hielt Malin daran fest,
dass sich «Liechtenstein [...] ohne eigenes Zutun, zu seiner eigenen
Überraschung, unter den Rheinbundstaaten» wiederfand. Das als
«höchst sonderbar», ja als «surrealistisch»” bezeichnete «Verhältnis des
Fürsten zu allen Ereignissen in Deutschland und in Paris, die im Zusam-
menhang mit dem Rheinbund standen», erklärte sich auch er mit der
«besondere[n] Gunst des französischen Kaisers». Als zusätzliches Motiv
brachte er den Gedanken ein, Napoleon habe, indem er «auf diese Weise
den Fürsten für sich gewinnen» wollte, auch Eigeninteressen verfolgt —
etwa im Hinblick auf die Übernahme der österreichischen Gesandt-
schaft in Paris.”
Zu Recht betonte Malin, dass Johann I. (dem «die Erhaltung seines
neuen souveränen Status von Anfang an überaus wichtig» war”) die
Rheinbundakte zwar nicht unterzeichnete, aber auch nicht dagegen pro-
testierte und alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllte:
Regierungsverzicht, Gesandtschaft beim Bundestag in Frankfurt und
Truppenstellung, wozu Liechtenstein 1806 und 1809 eigens Militärver-
träge mit dem Herzogtum Nassau schloss.” Am 12. Dezember 1806
wurden die «glorreichen Siege der französischen Heere» in Vaduz sogar
mit einem Lobamt und Te Deum gefeiert.®
54 Paul Vogt, Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreformen im Fürstentum Liech-
tenstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JBL 92, Vaduz 1994, S. 37-148,
hier S. 124.
55 So Malin, 200 Jahre (Anm. 2), S. 233: Der «geradezu surrealistische[ ] Höhepunkt»
sei 1809 erreicht worden, als Johann I. als österreichischer Feldmarschall und zu-
gleich Rheinbundsouverän an der Spitze der österreichischen Armee stand und die
Friedensverhandlungen mit Napoleon führte.
56 Malin (Anm. 1), S. 43, 51.
57 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 15.
58 Malin, Souveränität (Anm. 2), 5. 14.
59 Das 40 Mann umfassende liechtensteinische Truppenkontingent wurde, zusammen
mit den Kontingenten anderer kleiner Rheinbund-Fürstentümer, vertraglich vom
Herzogtum Nassau gestellt; der Fürst schoss die Kontingentskosten vor (vgl. Malin
[Anm. 1], S. 149-155).
60 Ebd, S. 53.
162
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
Auch Georg Malin befasste sich nur kurz mit dem Wiener Kongress,“
auf welchem von September 1814 bis Juni 1815, nach dem Zusammen-
bruch der napoleonischen Hegemonie, eine politische Neuordnung
Europas und, für Liechtenstein besonders relevant, Deutschlands
erfolgte. Diese Lücke füllte 1969 die Dissertation von Rupert Quaderer.
Stärker noch als Malin in der bürgerlichen Erzähltradition stehend — er
wolle «aufzeigen, wie nach dem Einbruch des totalen Absolutismus
durch die Dienstinstruktion vom 7. Oktober 1808 das Volk zu einer
Gegenbewegung ausholte» und «der Volkswille auf die Dauer nicht nie-
dergehalten werden konnte»“ — behandelte Quaderer schwergewichtig
die Entwicklung von Verfassung und Gesetzgebung von 1815 bis 1848,
widmete aber auch der liechtensteinischen Politik auf dem Wiener Kon-
gress und dem Beitritt zum Deutschen Bund einen Abschnitt.
Deutlich wird darin das lange Zögern und Abseitsstehen
JohannsI., der zunächst keinen Gesandten beim Kongress akkreditierte
und sich im Herbst und Winter 1814/15 nicht an den letztlich erfolgrei-
chen Bemühungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten beteiligte,
gegenüber den «grossen Fünf» (Österreich, Preussen, Bayern, Württem-
berg, Hannover) ihren Anspruch auf die gleichberechtigte Zulassung zu
den Kongressverhandlungen und auf die «Gleichheit der Rechte aller
Gliedstaaten» des zu schaffenden Bundes durchzusetzen. Erst ab Ende
Februar 1815 liess er sich durch den reussischen Gesandten Georg Wal-
ter Vinzenz von Wiese am Kongress und in der seit Oktober 1814 beste-
henden Vereinigung der mindermächtigen deutschen Staaten vertreten.
Dies kam einer Anerkennung der Souveränität gleich. Die Akkreditie-
rung Wieses war gerade noch rechtzeitig erfolgt, um mit der Beteiligung
am gemeinsamen Akzessionsvertrag der mindermächtigen Staaten, mit
welchem sich diese der erneuerten Allianz gegen den aus Elba zurück-
gekehrten Napoleon anschlossen, die Voraussetzung für die abermalige
Bestätigung der Souveränität durch die Aufnahme in den Deutschen
Bund (8. Juni 1815) zu schaffen.®
61 Ebd.,S. 165, 169.
62 Quaderer (Anm. 24), Einleitung, S. 10.
63 Ebd.,S. 201-213. Liechtenstein hatte der Allianz ein Kontingent in doppelter Höhe
des Rheinbundkontingents zu stellen, also 80 Mann (vgl. Rupert Quaderer-Vogt, ...
wird das Contingent als das Unglück des Landes angesehen. Liechtensteinische Mi-
litärgeschichte von 1814 bis 1849, in: JBL 90, Vaduz 1991, S. 1-281, hier S. 747).
163
Fabian Frommelt
IV. Liechtenstein als Sonderfall: Der Blick von aussen
Die Aufmerksamkeit auswärtiger Autoren zog Liechtenstein insbeson-
dere auf sich, weil es als einziges ehemaliges Glied des Alten Reichs bis
heute als souveräner Kleinstaat fortbesteht, als «Relikt des Heiligen
Römischen Reiches» und als «Alternative zum «Normalfall» der Natio-
nalstaatsentwicklung».“
Zu den ersten Ausländern, die sich mit der liechtensteinischen Lan-
desgeschichte befassten, zählte der Franzose Pierre Raton (1921-2013).
Unter dem Titel «De la vassalit& ä l’independance» fasste er die Ent-
wicklung der Jahre um 1806 zusammen und warf die 1987 von Georg
Schmidt wieder aufgenommene Frage auf, ob Artikel 7 der Rheinbund-
akte, der mit der Möglichkeit des Regierungsverzichts zugunsten eines
Sohnes die liechtensteinische Rheinbundmitgliedschaft erst ermöglichte,
«mn’a pas €t€ redige a son [Johann I.] intention».®
Mehrfach beschäftigte sich der renommierte Tübinger Professor
Volker Press (1939-1993) mit Liechtenstein. Auch er zeigte sich
«erstaunt», dass Liechtenstein nicht wie die meisten anderen reichsun-
mittelbaren Kleinterritorien des deutschen Südwestens von Napoleon
mediatisiert wurde, sondern durch die Aufnahme in den Rheinbund eine
«Sonderstellung» erlangte. Wie Georg Malin vermutete Press dahinter
neben der Sympathie Napoleons für Johann I. auch französische Eigen-
interessen: Liechtenstein könne als «kleines Gegengewicht gegen Bay-
ern», als «Faustpfand für seine [Napoleons] Beziehungen zu Österreich»
oder als «ständiges Druckmittel» auf Johann I. als «einen der führenden
österreichischen Militärs und Politiker» erhalten worden sein. Bonapar-
te mochte den Fürsten als «Draht zum Wiener Hof» respektive als «Ver-
trauensperson in Wien» betrachtet haben, «mit dessen Hilfe er dauern-
den Einfluß zu gewinnen und zu behaupten gedachte» — klären lasse sich
der Vorgang ohne neue Quellenfunde jedoch nicht.“
64 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), 5. 7.
65 Pierre Raton, Les institutions de la Principaut€ de Liechtenstein, Paris 1949, S. 28
(deutsche Übersetzung unter dem Titel «Liechtenstein. Staat und Geschichte», Va-
duz 1969).
66 Volker Press, Das Fürstentum Liechtenstein im Rheinbund und im Deutschen Bund
(1806-1866), in: Liechtenstein in Europa, LPS 10, Vaduz 1984, S. 45-106, hier
S. 56 f.; Ders., Das Haus Liechtenstein in der europäischen Geschichte, in: Volker
164
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
Als weiteren Ansatz zum Verständnis der «alles andere als zweifelsfrei
geklärt[en]» Motivation Napoleons führte Bernd Marquardt «die reichs-
politische Stellung des Hauses Liechtenstein und die pure Grösse seiner
reichsmittelbaren Herrschaften um Feldsberg» an, welche eine «Unüber-
gehbarkeit» des Hauses Liechtenstein impliziert haben könnten.”
Jedenfalls sah Press die Souveränität «für ein Land mit nicht einmal
6000 Einwohnern und einem fernen Herrscher, ohne einheimische
Bürokratie oder Intelligenz» als «grosses Problem». Deshalb dürfe man
die seit Peter Kaiser kritisch gesehenen Reformen, die sich, wie Press
betonte, nicht am napoleonisch-rheinbündischen, sondern am österrei-
chisch-josephinischen Vorbild orientierten, nicht gering achten, habe der
«bürokratische Absolutismus liechtensteinischer Prägung» doch den
Übergang des Landes «in die rauhe Luft moderner Staatlichkeit» in
«relativ schonender Weise» eingeleitet. Das Ende der landschaftlichen
Verfassung und deren «Ersetzung durch das uneingeschränkte Regiment
des bürokratisch-autoritär wirkenden fürstlichen Oberamts» aber waren
nach Press der «Preis, den das Land, [...] parallel zu anderen Rhein-
bundstaaten, zu bezahlen hatte». Press erkannte allerdings auch die
«Janusköpfigkeit der liechtensteinischen Rheinbundzeit», indem die
Aufhebung der alten Partizipationsrechte der Bevölkerung nicht von der
Abschaffung der Feudallasten begleitet war.®
Weil «Ansätze, die in Deutschland einst vielfältig vorhanden gewe-
sen waren, in Liechtenstein zu einer besonderen Ausformung und Wei-
terentwicklung gebracht» wurden — weil also die potenziell in allen
reichsunmittelbaren Territorien angelegte Weiterentwicklung zur Souve-
ränität nur in Liechtenstein realisiert wurde —, gilt Press «die liechten-
steinische Geschichte [als] ein über die Landesgrenzen hinaus interes-
santer Modellfall».°
Bestritt Volker Press, dass Napoleons Sympathie zu Johann I. die
Hauptursache für dessen Aufnahme in den Rheinbund gewesen sei,
stellte sein Schüler Georg Schmidt (*1951) in einem erhellenden Aufsatz
Press, Dietmar Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein — Fürstliches Haus und staatliche
Ordnung, Vaduz, München, Wien 1987, S.15-85, hier S. 62.
67 Marquardt (Anm. 21), S. 28.
68 Press, Rheinbund (Anm. 66), S. 592.
69 FEbd.,S. 47, 106.
165
Fabian Frommelt
auch die Annahme infrage, dass die Aufnahme ohne Wissen, ja sogar
gegen den Willen des Fürsten erfolgt sei.”
Auf Grundlage der Korrespondenz des französischen Aussenmi-
nisters Talleyrand und des Botschafters in Wien La Rochefoucauld
sowie weiterer Indizien entwickelte Schmidt die «unmittelbar nicht zu
belegende These, daß Fürst Johann zumindest über die Umrisse des in
Paris verhandelten Projektes [Gründung des Rheinbunds] und über die
ihn betreffenden Probleme [Aufnahme in den Bund] hinlänglich unter-
richtet war»: Dafür spreche besonders der Umstand, dass «die letztlich
gefundene Konstruktion [...] einfach zu perfekt [erscheine], um zufällig
entstanden zu sein»: Wie erwähnt, hatten Fürsten, die wie Johann I.
bereits in Diensten anderer Mächte standen, gemäss Artikel 7 der Rhein-
bundakte ihre Fürstentümer einem ihrer Kinder zu überlassen. Von die-
ser wie für ıhn massgeschneiderten Lösung machte Johann I. denn auch
in seiner offiziellen Erklärung über seine Aufnahme in den Bund
Gebrauch.
Die von Schmidt genährten Zweifel an der Unwissenheit des Fürs-
ten fanden mittlerweile auch Eingang in die dynastiegeschichtliche Lite-
ratur”? und Georg Malin kommentierte: «Das Ganze wirkt wie eine
trickreiche Szene auf einer eingedunkelten politischen Bühne».”
Was bei Schmidt These war, erschien beim Heidelberger Verfas-
sungshistoriker Reinhard Mußgnug (*1935) indes als Gewissheit und als
Argument für weitergehende Schlüsse: Die Aufnahme Liechtensteins
und die gleichzeitige Mediatisierung anderer, grösserer Staaten gilt ihm
als Beleg, dass die Zusammensetzung des Rheinbunds «willkürlich»
erfolgte und «eine territoriale Neugliederung ohne vernünftiges Kon-
zept betrieben» wurde. «Wer rechtzeitig seine Bereitschaft zum Aus-
scheiden aus dem Reichsverband bekundet hatte, behielt seinen Thron,
mochte sein Land auch noch so klein sein. Wer zu Kaiser und Reich
gehalten hatte, sah sich seiner Herrschaftsrechte beraubt. [...] Das Über-
70 Georg Schmidt, Fürst Johann I. (1760-1836): «Souveränität und Modernisierung»
Liechtensteins, in: Press, Willoweit (Anm. 66), S. 383—418.
71 Ebd., 5. 393.
72 Vgl. Gerald Schöpfer, Klar und fest. Geschichte des Hauses Liechtenstein, Riegers-
burg *1996, S. 100.
73 Malin, 200 Jahre (Anm. 2), S. 232.
166
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
leben der Kleinstaaten hing nicht von sachlichen Kriterien ab. Es ent-
schieden die Beziehungen zu Frankreich».”*
Einen Beleg dafür, dass Johann I. die Bereitschaft zum Ausscheiden
aus dem Reichsverband bekundet habe, bleibt Mußgnug allerdings
schuldig. Johanns Stern am Wiener Hof war in den Jahren nach dem
Rheinbundbeitritt noch am Steigen, was kaum damit vereinbar ist, dass
er nicht «zu Kaiser und Reich gehalten» habe. Andererseits beobachtete
«Wien die Vorgänge um das Fürstentum Liechtenstein mit Sorge und
unverhohlener Kritik». So akzentuiert Mußgnugs These zumindest die
Frage nach den genauen Inhalten der Besprechungen Johanns I. mit
Napoleon im Dezember 1805 und mit dem französischen Botschafter La
Rochefoucauld im Vorfeld der Rheinbundgründung.”®
Georg Schmidt eröffnete auch mit Blick auf die in der Rheinbund-
zeit erfolgten Reformen Johanns I. eine neue Perspektive: Diese hätten
vor allem bezweckt, das «staatsrechtlich so herausgehobene [d.h. souve-
räne] Gebiet als Oberamt Vaduz der Wiener Regierung zu unterwerfen,
es gleichzuschalten, um denkbar erscheinende Sonderentwicklungen
von vornherein zu blockieren.» Möglichen Bestrebungen der lokalen
Bevölkerung und Eliten (Beamtenschaft, Grundherren, Kirche) zur Stär-
kung der Unabhängigkeit des zur Souveränität gelangten Landes Liech-
tenstein von der fürstlichen Regierung in Wien sollte also ein Riegel
geschoben werden. Deshalb «mußte jeder Hinweis auf den souveränen
und selbständigen Staat Liechtenstein unterbleiben», deshalb sollte die
Dienstinstruktion von 1808 «prinzipiell [...] alle Verselbständigungsten-
denzen des Fürstentums unterbinden». Da Johann I., Hauer und
Schuppler im Gegensatz zu anderen Rheinbundreformern gerade nicht
auf eine «Staatssouveränität» abzielten, «fehlte [den Veränderungen]
nicht nur jede Popularität, sie waren auch für die Untertanen schwer
nachvollziehbar».
74 Mußgnug (Anm. 21), hier S. 257.
75 Haupt (Anm. 6), 5. 541.
76 La Rochefoucauld pflegte zu dieser Zeit «auffällig häufige[ ] Kontakte» zu Johann1.:
«Dass während dieser Gespräche lediglich diplomatische Höflichkeiten ausgetauscht
wurden, erscheint unwahrscheinlich ...» (Schmidt [Anm. 70], S. 392; vgl. Criste
[Anm. 32], S. 101).
77 Schmidt (Anm. 70), S. 408, 412.
167
Fabian Frommelt
Die Innsbrucker Geschichtsprofessorin Brigitte Mazohl-Wallnig
(*1947) schliesslich beschäftigte sich anhand des Beispiels Liechtenstein
mit dem Verhältnis der «traditionalen Landeshoheit im Rahmen der
Reichsverfassung [des Alten Reiches] und der modernen Souveränität im
Rahmen des Rheinbundes».’® Der liechtensteinische «Sonderfall» manıi-
festierte sich für sie zum einen in der bis heute währenden «Koexistenz
moderner und traditionaler Rechtselemente», welche sie insbesondere
ım Nebeneinander von Verfassung und fürstlichem Hausrecht sowie in
der «theoretischen Scheidung der Souveränität von Staat und Fürst» aus-
machte. Zum anderen habe sich die liechtensteinische Staatsbildung
wegen der Kleinheit und aufgrund der «ausserhalb dieses Staates gelege-
nen ökonomischen und politischen Interessenschwerpunkte» des Fürs-
ten nicht in der «üblichen Form des geschlossenen Territorialstaats»
vollzogen. Da die fürstlichen Besitzungen in Niederösterreich, Mähren
und Böhmen «im Souveränitätsbereich des österreichischen Kaisers»
lagen, ergab sich, drittens, eine «im modernen Rechtsdenken schwer
kompatible Doppelfunktion des Fürsten» als «zugleich souveräner
Monarch und Untertan eines anderen Monarchen».”?
Im Verhältnis zu Österreich wurde dieses Problem 1851 durch den
dem regierenden Fürsten gewährten (exterritorialen) Status eines auslän-
dischen Regenten gelöst.” Der Tschechoslowakei jedoch bot es nach
dem Ersten Weltkrieg einen Ansatzpunkt für die Nichtanerkennung der
liechtensteinischen Souveränität und den Einbezug der fürstlichen Güter
in die Bodenreform.*! Diese rechtliche Dimension und nicht die militä-
78 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 13. Zur staatsrechtlichen Stellung Liechtensteins in-
nerhalb des Alten Reichs mit Blick auf die später erlangte Souveränität vgl. auch
Marquardt (Anm. 21). Allgemein zum Thema: Anton Schindling, Mindermächtige
Territorien und Reichsstädte im Heiligen Römischen Reich: Stände oder Kleinstaa-
ten?, in: Langewiesche (Anm. 2), S. 37-58.
79 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 20-22.
80 Ebd.,,S. 21. Zur Exterritorialität vgl. Jan Zupani& Das Haus Liechtenstein in Öster-
reich-Ungarn. Zur Frage der souveränen Stellung eines aristokratischen Geschlechts,
in: Liechtensteinische Erinnerungsorte in den böhmischen Ländern, herausgegeben
von der Liechtensteinisch- Tschechischen Historikerkommission, Vaduz 2012, Ver-
öffentlichungen der Liechtensteinisch- Tschechischen Historikerkommission, Bd. 1,
S. 73-82.
81 Vgl. dazu Peter Geiger et al., Liechtensteinisch-tschechische Beziehungen in Ge-
schichte und Gegenwart. Synthesebericht der Liechtensteinisch-Tschechischen His-
168
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
rische habe im Kern schon 1806 die Spannung zwischen der Rhein-
bundmitgliedschaft des Landes und dem österreichischen Militärdienst
des Fürsten ausgemacht: «ein moderner Souverän [konnte] nicht mehr
im Dienste eines anderen Souveräns stehen».
So zeige der Sonderfall Liechtenstein die Variabilität des Souverä-
nitätsbegriffs und dessen Abhängigkeit vom historischen Kontext,
womit Liechtenstein etwa in der Diskussion um die einzelstaatliche Sou-
veränität im Rahmen der europäischen Integration «Modellcharakter»
haben und «Denkanstoss» sein könne.®
V. Geschichtsbild des Fürstenhauses
Das Fürstenhaus Liechtenstein entwickelte eine eigene, von der einhelli-
gen Auffassung der Historiker abweichende Geschichtsinterpretation,
in welcher «der eigentliche Beginn der Souveränität nicht mit dem
Rheinbund, sondern mit dem Wiener Kongress und der von ihm verab-
schiedeten Bundesakte vom 8. Juni 1815 gleichgesetzt» wird.®* In der
Familientradition stehe man, so Fürst Hans-Adam II., Napoleon und
der Französischen Revolution ablehnend gegenüber. Der Rheinbund
habe für die Unabhängigkeit des Landes sogar einen «Rückschritt»
gegenüber dem Alten Reich dargestellt, sodass die «volle Souveränität
[...] [erst] beim Wiener Kongress erlangt wurde».
Dem mag man entgegenhalten, dass 1815 keine Souveränität hätte
erhalten oder gar erst erlangt werden können, wenn man nicht 1806
dank der napoleonischen Rheinbund-Souveränität der Mediatisierung
entgangen wäre. Interessanter ist hier aber der Umstand, dass der im
Fürstenhaus als zentral gewertete Wiener Kongress in allen Spielarten
torikerkommission, Vaduz 2014, Veröffentlichungen der Liechtensteinisch-Tsche-
chischen Historikerkommission, Bd. 8, besonders S. 133-173, sowie die weiteren
von der Historikerkommission herausgegebenen Bände.
82 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 15.
83 Ebd., 5. 23.
84 Ebd., 5. 16.
85 Interview mit Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein, geführt von Brigitte
Mazohl-Wallnig, abgedruckt in ebd., S. 33-39, hier S. 34 f.
169
Fabian Frommelt
der liechtensteinischen Geschichtsschreibung nur geringe Aufmerksam-
keit fand. Dies erstaunt angesichts der grossen Bedeutung des Kongres-
ses für den Erhalt der liechtensteinischen Eigenstaatlichkeit, und es dient
der Ehre der Wissenschaft, dass sich zumindest Rupert Quaderer 1969
ausführlicher mit dieser Frage beschäftigt hat.*
VI. Wiener Kongress — ein vernachlässigtes Zentralereignis
Der Mangel liechtensteinischer Forschungen zum Wiener Kongress ist
auch Brigitte Mazohl-Wallnig aufgefallen. Da das abermalige Ausbleiben
der Mediatisierung 1814/15 nicht mehr wie 1806 mit der napoleonischen
Protektion erklärt werden konnte, werde «übereinstimmend [...] wie-
derum die renommierte Person des Fürsten am österreichischen Hof ins
Treffen geführt und dessen prononcierter Austritt aus dem Rheinbund
im Dezember 1813, verbunden mit einer geschickten Bündnispolitik im
Zusammenhang mit den Verhandlungen beim Wiener Kongress, als
Hauptursache für die Erhaltung der Souveränität angesehen».” In ver-
kürzten Darstellungen mündete diese Sicht in ein Wiederaufleben des
obrigkeitlich-monarchischen Geschichtsbildes, wenn der für Liechten-
stein glückliche Ausgang des Kongresses einzig dem «geschickten Han-
deln[ ]» und «kluge[n] Taktieren» des Fürsten zugeschrieben wird.
Vergleicht man jedoch die Politik Johanns I. mit jener der übrigen
deutschen Klein- und Mittelstaaten, ergibt sich ein anderes Bild: Der
«prononcierte» Austritt aus dem Rheinbund war durch den Vertrag
von Teplitz (9. September 1813) vorgezeichnet, in welchem Österreich,
Preussen und Russland den Rheinbundstaaten für den Fall des Seiten-
wechsels eine Souveränitätsgarantie zugesichert hatten. Genau dies ge-
schah dann auch, wobei nicht nur Liechtenstein, sondern praktisch alle
Rheinbundstaaten inhaltlich gleichlautende Akzessionsverträge mit
86 Vsl. oben Abschnitt III.
87 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 20.
88 Rainer Vollkommer, Napoleon, Fürst Johann I. und Liechtenstein - Eine wechsel-
hafte Geschichte, in: Die Ära Napoleons im Spiegel seiner Medaillen, Ausstellungs-
katalog Liechtensteinisches Landesmuseum, Vaduz 2015, S. 6-15, sowie ebd., S. 4 f.
(Vorwort).
170
Souveränität zwischen Rheinbund und Wiener Kongress
Österreich, Preussen und Russland schlossen:? Die liechtensteinische
Bündnispolitik entsprach also exakt den Vorgaben der drei Mächte und
dem Verhalten der übrigen Rheinbundstaaten — eine dem Näheverhält-
nis zum österreichischen Kaiser zu verdankende österreichische «Son-
dergarantie» der liechtensteinischen Souveränität” lag mithin nicht vor.
Der aus Rupert Quaderers Dissertation gewonnene Eindruck eines
zögerlichen und passiven Verhaltens Johanns I. auf dem Wiener Kon-
gress bestätigt sich in der Untersuchung Michael Hundts (*1965) über
die Politik der mindermächtigen deutschen Staaten.” Liechtenstein pro-
fitierte auf dem Kongress stark von den übrigen Mittel- und Kleinstaa-
ten, die sich für die gleichberechtigte Teilnahme an den Kongressver-
handlungen und die Gleichheit der Glieder des Deutschen Bundes ein-
setzten, von Bayern, das auf der expliziten Festschreibung der
Souveränität der Bundesglieder in der Bundesakte beharrte, und von
Metternich, der sich vom ursprünglichen Plan einer österreichisch-
preussischen Hegemonie über Deutschland abwandte und auch Preus-
sen von einem Bund gleichberechtigter, souveräner Fürsten über-
zeugte:” Johann [., der sich lange abseits gehalten und selbst wenig bei-
getragen hatte, war Nutzniesser dieser Entwicklungen. So erscheint der
Erhalt der Souveränität mindestens ebenso sehr dem Einsatz anderer
Akteure geschuldet wie der fürstlichen Weitsicht.”
Johann I. zeichnete sich beim Eintritt in den Rheinbund 1806, beim
Wechsel vom Rheinbund ins alliierte Lager 1813 und auf dem Kongress
ın Wien 1814/15 vor allem durch die geschickte Nutzung der vorgefun-
denen Chancen aus. Eine Überhöhung des Fürsten scheint auf dem Feld
89 Vgl. Michael Hundt (Hrsg.), Quellen zur kleinstaatlichen Verfassungspolitik auf
dem Wiener Kongreß. Die mindermächtigen deutschen Staaten und die Entstehung
des Deutschen Bundes 1813-1815, Hamburg 1996, hier S. XXV sowie die Doku-
mente Nr. 7-9, S. 17-21.
90 Mazohl-Wallnig (Anm. 21), S. 18.
91 Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress,
Mainz 1996.
92 Vgl. ebd., besonders S. 268-334; Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien,
Köln, Weimar 2014, besonders S. 175-203.
93 Vgl. Fabian Frommelt, Der Wiener Kongress 1814/1815 als Angelpunkt der staatli-
chen Entwicklung Liechtensteins. Vortrag am Liechtensteinischen Landesmuseum
aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums (10.6.2015), Arbeitspapiere Liechtenstein-Insti-
tut, Bendern 2016.
171
der Diplomatie ebenso unnötig wie auf dem Feld des Krieges. Hingegen
wäre eine genauere Abklärung der Umstände des Rheinbundbeitritts
wie auch der liechtensteinischen Politik auf dem Wiener Kongress ein
lohnendes Unterfangen für weitere Archiv- und Quellenstudien.
172
Forschungsförderung in Liechtenstein
Wilfried Marxer
Einleitung
In diesem Beitrag wird eine Standortbestimmung zur Forschungsförde-
rung in Liechtenstein, insbesondere zur staatlich unterstützten For-
schungsförderung, vorgenommen. Dabei wird zunächst auf das Verhält-
nis zwischen privater und staatlicher Forschungsförderung eingegangen.
In weiteren Schritten wird der Sinn und Zweck staatlicher Forschungs-
förderung und der diesbezügliche Stand in Liechtenstein aufgezeigt.
Hierzu werden auch internationale Vergleichszahlen herangezogen.
Forschung in Liechtenstein
Wenn man einen Blick in die statistisch verfügbaren Zahlen zur For-
schung in Liechtenstein wirft, fällt schnell auf, dass eine enorme Diskre-
panz zwischen privater und öffentlicher Forschungsförderung besteht.
Liechtenstein hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich
enorm stark entwickelt. Die Zahl der Beschäftigten hat fast die Höhe der
gesamten Wohnbevölkerung erreicht: Ende 2015 waren 37623 Personen
in Liechtenstein wohnhaft, die Statistik weist für den gleichen Zeitpunkt
36870 Beschäftigte aus. Deutlich mehr als die Hälfte der Beschäftigten
wohnt als Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz oder in
Österreich, zu einem sehr geringen Anteil noch weiter weg.
Die liechtensteinische Wirtschaft ist weitgehend exportorientiert.
Viele Betriebe, namentlich die grossen Industriebetriebe, müssen auf
ihrem Gebiet innovativ sein, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können
— nicht zuletzt aufgrund des relativ hohen Lohnniveaus und des starken
Frankens. Es werden daher in den grossen Unternehmen Forschungsab-
teilungen mit entsprechend hohen Ausgaben für Forschung und Ent-
173
Wilfried Marxer
wicklung unterhalten. In einem Bericht und Antrag der Regierung zur
Postulatsbeantwortung betreffend ein Konzept zur Förderung der Wis-
senschaft und Forschung von 2010 gelangte die Regierung zum Schluss,
dass 98,5 Prozent! der Forschungsausgaben in Liechtenstein von Priva-
ten aufgebracht werden (Regierung 2010, S. 21). Dort heisst es weiter
(S. 22): «Die von der liechtensteinischen Wirtschaft aufgewendeten For-
schungs- und Entwicklungs-Beiträge werden von wenigen Industriebe-
trieben im Bereich der angewandten Forschung erbracht (...). Liechten-
stein als Staat trägt hingegen nur zu einem kleinen Teil zu den gesamten
Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen bei.»
Die privaten, unternehmerisch motivierten Forschungsaufwendun-
gen bescheren Liechtenstein in dieser Hinsicht einen internationalen
Spitzenplatz. Denn es heisst im Bericht der Regierung weiter, dass die
OECD ermittelt hat, dass in den Mitgliedsstaaten durchschnittlich
2,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für Forschung und Ent-
wicklung aufgewendet werden. Der EU-Zielwert wird mit 3 Prozent an-
gegeben. Während sich die Schweiz und Österreich ungefähr auf diesem
Niveau bewegten, lag Liechtenstein mit 6,8 Prozent deutlich darüber.?
Anders sieht es hingegen mit der staatlichen Forschungsförderung
aus. Die Zahlen im erwähnten Bericht und Antrag der Regierung (Regie-
rung 2010, S. 20-23) bezogen sich auf das Jahr 2009. Demgemäss wurde
in Liechtenstein ein Anteil von 0,123 Prozent des BIP für staatlich geför-
derte Forschung und Entwicklung ausgegeben. Im Vergleich dazu lag
der OECD-Durchschnitt bei 0,5 Prozent, der Durchschnitt der EU27-
Staaten bei 0,6 Prozent, in der Schweiz bei 0,7 Prozent. Das ist etwa vier
bis sechs Mal mehr als in Liechtenstein.
Diese Zahlen stammen allerdings aus der Zeit vor der Sparwelle, als
das Staatsbudget noch intakt war. Im Jahr 2009 endete die laufende
Rechnung noch mit einem Ertragsüberschuss von 59 Mio. Franken. Die
Postulatsbeantwortung schloss denn auch etwas euphorisch mit einer
Reihe von Handlungsempfehlungen, die im Rückblick wie Träumereien
1 Kellermann und Schlag (2006, S. 79-82) haben in ihrer Studie sogar einen Anteil von
99,3 Prozent durch private Unternehmen ermittelt.
2 Kellermann und Schlag (2006, S. 72; 2012, S. 26) weisen einen Anteil von 7,1 Pro-
zent am BIP für die privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung für das
Jahr 2003 aus.
174
Forschungsförderung in Liechtenstein
anmuten (S. 76-79). Hier ein paar Muster aus dem Empfehlungskatalog:
Entwicklung einer Wissenschafts- und Forschungsstrategie 2020; Rege-
lung von Forschung und Innovation in einem Gesetz; Einsetzung eines
unabhängigen Wissenschafts- und Forschungsbeirates; Mitgestaltung
des europäischen Forschungsraums und weiterhin Teilnahme an den
europäischen Forschungsprogrammen; Grundlagenstudie für einen
liechtensteinischen Forschungsfonds; Beteiligung am KTI-Programm*
der Schweiz; Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen für Nach-
wuchswissenschaftler und Spitzenforscher am Standort Liechtenstein;
öffentliche Diskussion über einen Zukunftsfonds zur Finanzierung eines
liechtensteinischen Forschungsfonds und anderer Forschungs- und Ent-
wicklungsaufwendungen des Staates. Das war 2010, also vor sechs Jah-
ren. Und was ist geschehen?
Zwischen Stagnation und Rückschritt
Im Rechenschaftsbericht der Regierung für das Jahr 2011 (Ressortinha-
ber: Regierungschef-Stellvertreter Dr. Martin Meyer) wurde darauf hin-
gewiesen, dass Anfang des Jahres die Entwicklung eines Gesetzes und
einer Verordnung zur Forschungsförderung in Angriff genommen
wurde (Regierung 2012, S. 289). Im Rechenschaftsbericht der Regierung
für das Jahr 2012 (Regierung 2013a, S. 296) wurde erwähnt, dass an der
Entwicklung eines Gesetzes zur Förderung von Forschung und Innova-
tion intensiv weitergearbeitet wurde. 2013 wurde Ähnliches berichtet.
Zum Berichtsjahr 2014 (neuer Ressortinhaber: Regierungschef-Stellver-
treter Dr. Thomas Zwiefelhofer) heisst es: «Um die Förderung von For-
schung und Innovation auf eine neue Grundlage zu setzen, wurde an der
Entwicklung eines Forschungsförderungsgesetzes (FIFG) gearbeitet
3 KTI: Kommission für Technologie und Innovation (www.kti.admin.ch). Förder-
agentur für Innovation des Bundes in der Schweiz, zuständig für die Förderung wis-
senschaftsbasierter Innovationen in der Schweiz durch finanzielle Mittel, professio-
nelle Beratung und Netzwerke. Liechtenstein beteiligte sich in der Vergangenheit am
KTI-Programm. Bei einem KTI-Projekt kann jedes KMU der Schweiz und Liech-
tensteins teilnehmen (www.llv.li/files/avw/pdf-Ilv-avw-forschungsfoerderung-kti.
pdf; abgerufen am 7. Juni 2016). In Liechtenstein wird das Programm von der Natio-
nalen Kontaktstelle Liechtenstein (NKS) beim Amt für Volkswirtschaft betreut.
175
Wilfried Marxer
und eine dazu gehörende Verordnung (FIFV) ausgearbeitet» (Regierung
2015, S. 278). Ähnlich ging es 2015 weiter (Regierung 2016, S. 272): «Der
Entwurf eines Forschungs- und Innovationsförderungsgesetzes (FIFG)
wurde weiter verfeinert und in das Konsultationsverfahren gegeben.» Im
Jahr 2016 muss ernüchtert festgestellt werden, dass dieses Vorhaben in
der laufenden Mandatsperiode mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht reali-
siert wird. Im Februar 2017 folgen die nächsten Landtagswahlen, vorher
wird wohl nichts mehr gehen.
Also kein Fortschritt in der Forschungsförderung. Im Gegenteil
wird ein Abbau an staatlicher Forschungsförderung betrieben. Sinnbild-
lich hierfür steht die Nicht-Teilnahme Liechtensteins am europäischen
Forschungsprogramm «Horizon 2020». Am 5. EU-Rahmenprogramm
war Liechtenstein noch beteiligt gewesen, ebenso am 6. und 7. Rahmen-
programm. Zum 6. Rahmenprogramm von 2003 bis 2006 wurden durch-
schnittlich 1,05 Mio. Franken pro Jahr beigesteuert, zum 7. Rahmenpro-
gramm von 2007 bis 2013 rund 2,5 Mio. Franken pro Jahr.* Für «Hori-
zon 2020» als Nachfolgeprogramm mit einer Laufzeit von 2014 bis 2020
wären gemäss Bericht und Antrag der Regierung (Regierung 2013b)
jährlich durchschnittlich mehr als 4 Mio. Franken vorgesehen gewesen.
Der Landtag stimmte in der Sitzung vom 5. Dezember 2013 mit knapper
Mehrheit gegen den Regierungsantrag und damit gegen eine Teilnahme
Liechtensteins am Forschungsprogramm «Horizon 2020». Die Abge-
ordneten monierten unter anderem, dass die nach Brüssel transferierten
Forschungsgelder vermutlich in zu geringem Masse nach Liechtenstein
zurückfliessen würden. Die Forschungsgelder sollten besser direkt in
Liechtenstein eingesetzt werden. Ein liechtensteinisches Forschungsför-
derungsgesetz oder ein Forschungsfonds als Alternative zum EU-For-
schungsprogramm ist allerdings nicht in Sicht.
4 Die Kosten stehen jeweils erst nach Beendigung des Programms fest, welches über
die definierte Laufzeit hinausreicht, da laufende Projekte noch abgeschlossen wer-
den und innerhalb der Programmlaufzeit somit noch nicht ganz abgerechnet wer-
den können. Aufgrund von Wechselkursschwankungen sind die im Vorfeld budge-
tierten und vom Landtag genehmigten Zahlen ausserdem gewissen Schwankungen
unterworfen. Die durchschnittlichen Aufwendungen sind im vorliegenden Beitrag
rechnerisch ermittelt: Die gemäss Rechenschaftsberichten der Regierung ausgewie-
senen, definitiven Ausgaben für die diversen Programme werden geteilt durch die
Anzahl der für das Programm vorgesehenen Jahre.
176
Forschungsförderung in Liechtenstein
Aufgaben staatlicher Forschungsförderung
Es kann darüber gestritten werden, ob, in welchen Bereichen und in wel-
cher Höhe sich die öffentliche Hand überhaupt für die Forschung enga-
gieren soll. Speziell was die kommerzielle, unternehmensorientierte
Forschung anbelangt, wurden in der Landtagsdebatte mehrheitlich
defensive Signale ausgesandt. Als Gegenprojekt zu einer staatlichen For-
schungsförderung wird gerade in Liechtenstein häufig betont, dass statt-
dessen günstige Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft geschaffen
werden oder erhalten bleiben sollten, etwa im Bereich der Unterneh-
menssteuern oder der Lohnnebenkosten, sodass genügend unterneh-
menseigene Mittel für Forschung zur Verfügung stehen. Eine solche
Einschätzung erfolgt insbesondere mit Blick auf die grossen Industrie-
betriebe, welche eigene Forschungsabteilungen unterhalten und aus
Gründen des Urheberrechts, Patentschutzes und Betriebsgeheimnisses
vermutlich ohnehin lieber eigenständig forschen, anstatt in Forschungs-
kooperationen oder in Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen
ihre Forschung voranzutreiben. Für KMU sieht die Lage vermutlich
etwas anders aus. Für sie bietet sich die Kooperation mit der Schweiz im
Rahmen des weiter oben erwähnten KTI-Programms an. Dieses Pro-
gramm ist speziell auf Innovationsförderung in kleineren Betrieben aus-
gerichtet, wobei die öffentlichen Forschungsgelder nicht an die Unter-
nehmen, sondern an die beteiligten Forschungseinrichtungen bezahlt
werden. Die anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung steht
ım Vordergrund. Ob es mit der Kooperation weitergeht, ist allerdings
noch nicht entschieden. Im Rechenschaftsbericht der Regierung (Regie-
rung 2016, S. 272) für das Jahr 2015 heisst es: «Ob die KTI-Projektför-
derung innerhalb des FIFG-Rahmengesetzes umgesetzt wird oder ob
der Landtag separat mit einem Staatsvertrag und Finanzbeschluss
begrüsst wird, wird sich 2016 weisen.»5
Wie auch immer man sich zur Frage des staatlichen Engagements
im Bereich der kommerziell motivierten Forschung stellt, bleibt jeden-
falls festzuhalten, dass es zahlreiche Forschungsbereiche gibt, die nicht
5 FIFG: Forschungs- und Innovationsförderungsgesetz. Zu diesem langjährigen und
noch immer nicht realisierten Gesetzesvorhaben siehe die Ausführungen weiter
oben im Beitrag.
177
Wilfried Marxer
oder nicht primär auf ein ökonomisches Interesse stossen oder die zu
aufwendig oder risikobehaftet für rein private Forschungseinrichtungen
oder Unternehmen sind. Hierzu zählen auch viele Forschungsbereiche
aus der Technik und den Naturwissenschaften. Ganz speziell gilt dies
aber auch für viele Zweige der Geistes- und Sozialwissenschaften, der
Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. In grösseren Staaten gibt es mit-
unter private Forschungseinrichtungen, auch Thinktanks, die über eine
ausreichende Grösse und Kapazität verfügen, um wenigstens sektoriell
entsprechende Forschung zu betreiben, und für welche mitunter auch
eine ökonomisch interessante Nachfrage besteht. Im Kleinstaat Liech-
tenstein lassen sich hingegen viele Studien und Projekte nicht gewinn-
orientiert oder kostendeckend durchführen. Dennoch können nicht ein-
fach Forschungsergebnisse aus dem Ausland auf Liechtenstein übertra-
gen werden. Liechtenstein ist ein eigenständiger Forschungsgegenstand,
bedingt durch die staatliche Souveränität, die eigene Geschichte, das spe-
zifische politische System, die einzigartige Verfassung und viel anderes.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Liechtenstein erfolgt an
auswärtigen Forschungsinstituten und Universitäten kaum, sie muss
mehrheitlich im eigenen Land geleistet werden. Eine kommerzielle Ver-
wertbarkeit dieser Forschung ist jedoch undenkbar und auch das private
Sponsoring solcher Forschung stösst an Grenzen. Eine finanzielle För-
derung durch die öffentliche Hand erscheint daher unabdingbar.
Forschung kann immer für Überraschungen gut sein. Vielleicht
endet sie ohne bahnbrechende neue Erkenntnisse, vielleicht kommt aber
etwas Unerwartetes heraus, das grossen Nutzen bringt. Forschung birgt
daher neben der Chance, dass etwas Neues entdeckt wird, immer ein
gewisses Risiko. Auch aus diesem Grund stösst die private Forschungs-
förderung an Grenzen, insbesondere im Bereich der Grundlagenfor-
schung, die somit wesentlich auf öffentliche Finanzierung angewiesen
ist. Dabei sollte Forschung möglichst frei von einengenden Vorgaben
sein und dem Prinzip der Forschungsfreiheit folgen können. Mitunter
ergibt sich erst in weiterer Folge oder indirekt ein ökonomisch verwert-
barer Nutzen, etwa in der technischen oder medizinischen Forschung.
Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften ist eine kommerzielle Ver-
wertbarkeit ohnehin meist von vornherein ausgeschlossen.
Nicht jede Forschung lässt sich an ihrer direkten wirtschaftlichen
Verwertbarkeit messen. Forschung in den Bereichen der Rechts-, Geis-
tes- oder Sozialwissenschaft und anderen Wissenschaftsbereichen leistet
178
Forschungsförderung in Liechtenstein
Beiträge in anderer Form zugunsten der Gemeinschaft: Sie erzeugt einen
rationalen Diskurs, unterstützt faktenbasierte politische Entscheidun-
gen, hilft bei der Identitätsbildung und der gesellschaftlichen Integra-
tion, verbessert die Grundlagen für rechtsstaatliches Handeln, kann als
Frühwarnsystem bei gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder internatio-
nalen Entwicklungen wirken, dient dem Image Liechtensteins als mo-
derner Wissensstandort. Die Liste liesse sich noch lange fortsetzen.
Forschung für die Allgemeinheit
Aus den Forschungsaktivitäten des Liechtenstein-Instituts, dem der Au-
tor gegenwärtig als Direktor vorsteht, können exemplarisch zwei aktu-
elle Projekte herausgehoben werden, die das Gesagte unterstreichen. Ei-
nerseits arbeitet das Liechtenstein-Institut an einer Kommentierung zur
liechtensteinischen Verfassung (www.verfassung.li). Der Verfassungs-
kommentar ist als Online-Ausgabe konzipiert und ist für alle frei — also
weltweit und unentgeltlich - zugänglich. Die Umsetzung steht somit im
Einklang mit einer zunehmend geforderten Open-Access-Strategie, wo-
nach mit öffentlichen Mitteln geförderte Forschungsergebnisse mög-
lichst zeitnah und kostenlos der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sol-
len.® Es ist von vornherein klar, dass sich die zu finanzierenden Forscher-
jahre in keiner Weise kommerziell verwerten lassen, speziell in einem
Kleinstaat wie Liechtenstein. Trotzdem ist es für Liechtenstein als souve-
ränen Staat wichtig, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit dem ei-
genen Grundgesetz erfolgt. Niemand ausserhalb Liechtensteins macht
das in der notwendigen Tiefe und mit einer langfristigen Orientierung.
Ein anderes Projekt ist eine Online-Version und Aktualisierung des
Historischen Lexikons des Fürstentums Liechtenstein. Dieses 2013 nach
25-jähriger Vorbereitung publizierte, doppelbändige Werk mit rund
6 Stellvertretend für die aktuelle Entwicklung betreffend Open Access sei hier auf die
Berliner Erklärung vom 22. Oktober 2003 verwiesen, in welcher ein wichtiger An-
stoss zur freien Verfügbarkeit von Wissen gegeben wurde (https://openaccess.mpg.
de/Berlin-Declaration). Auf diese Erklärung stützt sich auch «QA2020 — initiative
for the large scale transition to open access» (www.0a2020.0rg), welche am 23. März
2016 vom Schweizerischen Nationalfonds unterzeichnet wurde. Der OA2020 sind
weltweit 51 unterzeichnende Institutionen angeschlossen (Stand: 7. Juni 2016), wo-
bei diese Zahl in Zukunft wohl stark ansteigen wird.
179
Wilfried Marxer
2500 Lexikonartikeln zu Orten, Personen und geschichtlichen Begeben-
heiten hat in der Erarbeitung öffentliche Mittel in der Grössenordnung
von mehr als 5 Mio. Franken erfordert, die vom Landtag in mehreren
Tranchen genehmigt wurden.” Die Finanzierung einer Online-Ausgabe,
womit die qualitativ hochstehenden Artikeleinträge weltweit zugänglich
würden, erweist sich indes als enorm schwierig. Wir reden dabei von
einem Betrag in der Grössenordnung von weniger als 5 Prozent der
ursprünglichen Kosten. Ein Engagement des Staates, namentlich ein
finanzielles, ist in solchen Fragen unabdingbar und gesamtgesellschaft-
lich betrachtet sinnvoll und notwendig - aber inzwischen fast unmöglich
geworden. Wir schreiben das Jahr 2016.
Dabei ist die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer verstärkten
Forschungsförderung in Liechtenstein schon lange ein Thema. Über die
Schwierigkeiten einer zeitgemässen Forschungsförderung wurde weiter
oben im Zusammenhang mit einem Forschungs- und Innovationsförde-
rungsgesetz kurz berichtet. Einen klaren Impuls hatte bereits Hans-Jörg
Rheinberger (1998) mit seinen Gedanken zum Verhältnis von Staat und
Wissenschaft anlässlich der akademischen Feier vom 17. Mai 1998 zur Er-
öffnung des neuen Gebäudes des Liechtenstein-Instituts in Gamprin ge-
setzt. Sein Vorschlag zur Einrichtung eines liechtensteinischen For-
schungsfonds hat aber bis heute keinen Niederschlag gefunden. Auch
eine unveröffentlichte Studie zur Förderung von Forschung, Wissen und
Wohlstand in Liechtenstein (Güldenberg et al. 2010) ist fruchtlos verhallt.
Die Autoren griffen die Idee von Rheinberger auf und regten an, aus dem
7 Brunhart (2013) schildert den Werdegang des Historischen Lexikons: vom Be-
schluss des Vorstandes des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein
am 8. Juni 1988 bis zur Durchführung des Projektes. Der Redaktionsschluss erfolgte
am 31. Dezember 2011, die Publikation im Jahre 2013 — 25 Jahre nach Projektbe-
ginn. Am Projekt waren rund 190 Autorinnen und Autoren beteiligt. Der anfängli-
chen Kreditzusprache des Landtags in der Höhe von 2,3 Mio. Franken (November
1988) folgte aufgrund des Berichtes und Antrages der Regierung Nr. 93/2000 eine
weitere Kreditzusage von 1,979 Mio. Franken durch den Landtag im Oktober 2000
praktisch ohne Debatte. Im Oktober 2005 befasste sich der Landtag erneut mit dem
Projekt (Bericht und Antrag Nr. 60/2005). Es ging um die Verlängerung der Lauf-
zeit des Projektes bzw. der seinerzeitigen Kreditzusage um ein Jahr. Im September
2006 stand mit Bericht und Antrag der Regierung Nr. 73/2006 erneut ein Verpflich-
tungskredit auf der Agenda. Es ging um einen Betrag von 750 000 Franken für die
Drucklegung. Die Anträge der Regierung fanden jeweils einhellige Zustimmung.
Die drei Kreditzusagen summieren sich auf 5,029 Mio. Franken.
180
Forschungsförderung in Liechtenstein
Zukunftsfonds — also den Reserven des Landes von damals 965 Mio.
Franken — einen liechtensteinischen Forschungsfonds zu finanzieren.
Anstelle eines Forschungsfonds wird eher ein Forschungsförderungsge-
setz, ın welchem jährliche, flexible Forschungsbeiträge vorgesehen wä-
ren, verfolgt — bisher ebenfalls ohne Erfolg, wie weiter oben ausgeführt.
Nach knapp 20 Jahren Diskussion sind wir also keinen Schritt weiter.
Internationaler Vergleich
Die Regierung stellte in der Vergangenheit, aber mehr noch in der gegen-
wärtigen Phase des angespannten Staatshaushalts, im Landtag jeweils nur
sehr zögerlich Anträge zur stärkeren Förderung von tertiären Bildungs-
einrichtungen — sprich: der Universität Liechtenstein — und hochschul-
ähnlichen Einrichtungen in Liechtenstein — sprich: des Liechtenstein-In-
stituts. Die beiden weiteren Hochschuleinrichtungen gemäss Hoch-
schulgesetz, also die Private Universität im Fürstentum Liechtenstein
und die Internationale Akademie für Philosophie, gehen ohnehin fast
oder ganz leer aus. Wenn man den Aufwand für den Lehrbetrieb an der
Universität Liechtenstein wegrechnet, bleibt spezifisch für die freie For-
schung wenig übrig. Die folgenden Angaben sind dem Rechenschaftsbe-
richt 2014 der Regierung entnommen (Regierung 2015). Für Forschung
an der Universität Liechtenstein sind im Rahmen des Gesamtbudgets,
welches mehrheitlich für die Lehre vorgesehen ist, 3 Mio. Franken reser-
viert. Das Liechtenstein-Institut bekommt jährlich 1 Mio. Franken, wel-
che unmittelbar für die Forschung eingesetzt werden, da das Institut
auf die Forschung ausgerichtet ist.
Weitere Forschungsmittel gehen an den Schweizerischen National-
fonds und den Österreichischen Fonds für Wissenschaftliche Forschung
(je 250000 Franken). Das Forschungs- und Innovationszentrum Rhein-
tal «RhySearch» in Buchs wird mit 270000 Franken unterstützt. 85000
Franken werden als Projektbeiträge an Fachhochschulen ausgewiesen.
100000 Franken sind für die Bearbeitung des Urkundenbuches durch
den Historischen Verein ausgegeben worden, der zudem 161000 Fran-
ken Jahresbeitrag erhielt. Die staatlichen Beiträge für freie Forschung ad-
dieren sich also auf rund 5 Mio. Franken.
Für die tertiäre Lehre, für die Unterstützung entsprechender Bil-
dungseinrichtungen in Liechtenstein (Universität) und der Schweiz so-
181
Wilfried Marxer
wie für Beiträge im Rahmen von Konkordatsvereinbarungen für Studie-
rende aus Liechtenstein an Schweizer Hochschulen und Universitäten
fallen deutlich höhere Beiträge an: Die Universität Liechtenstein wurde
neben den erwähnten Forschungsmitteln mit 11,8 Mio. Franken finan-
ziert, aufgrund interkantonaler Vereinbarungen über Hochschulbeiträge
wurden knapp 4,2 Mio. Franken aufgewendet, für interkantonale Bei-
träge an Fachhochschulen zusätzlich knapp 4,7 Mio. Franken. Insgesamt
sind dies über 20 Mio. Franken.
Wir können die Forschungsaufwendungen Liechtensteins mit den-
jenigen anderer Staaten vergleichen. Bei internationalen Vergleichen
wird die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (F&E) in Pro-
zent des Bruttoinlandprodukts gemessen, um Kaufkraftdifferenzen aus-
zugleichen. In der von der OECD erarbeiteten Statistik über die staatli-
chen F&E-Mittelzuweisungen liegen die Schweiz, Österreich und
Deutschland bei rund 0,8 bis 0,9 Prozent des BIP. Südkorea weist einen
Spitzenwert von 1,2 Prozent auf, Italien und das Vereinigte Königreich
rangieren weiter unten bei rund 0,5 Prozent (Staatssekretariat für Bil-
dung 2016, S. 79-80)%. Diese Angaben beziehen sich auf unterschiedliche
Jahre, je nach Verfügbarkeit der Daten auf die Jahre 2012 bis 2014. Die
liechtensteinische Statistik weist für das Jahr 2014 ein BIP von 5258 Mio.
Franken aus. 0,5 bis 1,2 Prozent des BIP würden also einer staatlichen
Mittelzuweisung an die Forschung von rund 26 bis 63 Mio. Franken ent-
sprechen. Der Schweizer Wert von 0,9 Prozent für das Jahr 2014 würde
für Liechtenstein umgerechnet F&E-Mittelzuweisungen der öffentli-
chen Hand von 47 Mio. Franken bedeuten. Da wirken die rund 5 Mio.
Franken, die der Staat Liechtenstein für Forschung zur Verfügung stellt,
doch sehr bescheiden.
Im Bericht des Staatssekretariats für Bildung wird zudem hervor-
gehoben, dass im Zeitraum von 2000 bis 2014 die staatlichen Aufwen-
dungen für Forschung und Entwicklung durchschnittlich stärker gestie-
gen sind als das BIP. Zufrieden wird festgestellt: «Der Staat hat seine
Anstrengungen für die F&E unabhängig von der konjunkturellen Ent-
wicklung beibehalten und die Beiträge für die Forschung und Innova-
tion laufend erhöht» (S. 79). Allein der Schweizerische Nationalfonds
8 Siehe https://issuu.com/sbfi_sefri_seri/docs/f_i_bericht_2016_dt (abgerufen am
7. Juni 2016).
182
Forschungsförderung in Liechtenstein
(SNF) hat im Jahr 2014 insgesamt 3469 Gesuche von Forschenden mit
einem Gesamtbetrag von 849 Mio. Franken bewilligt.” Da das Schweizer
BIP rund 180 Mal grösser ist als das liechtensteinische, würde dies für
Liechtenstein umgerechnet einem Betrag von knapp 5 Mio. Franken ent-
sprechen. Nach Angaben des SNF entsprechen die SNF-Beiträge unge-
fähr 15 Prozent der gesamten Forschungsförderung an Schweizer Hoch-
schulen. Auf Liechtenstein umgerechnet müsste sich die gesamte For-
schungsförderung daher auf über 30 Mio. Franken belaufen. Egal ob
man nun die weiter oben berechneten 47 Mio. oder die 30 Mio. Franken
an jährlich verfügbaren öffentlichen Forschungsmitteln zum Vergleich
heranzieht: Es trennen uns in Liechtenstein Welten von diesem Niveau.
Freie Forschung stark unterfinanziert
Der Staat Liechtenstein engagierte und engagiert sich also kaum in der
Forschungsförderung — eine Situation, die durch die Defizite im staatli-
chen Budget und die damit einhergehenden Sparmassnahmen in den ver-
gangenen Jahren noch verschärft wurde. Daran ändert sich auch nichts,
wenn man die zwischenzeitliche Steigerung der staatlichen Ausgaben für
Forschung und für das tertiäre Bildungswesen in den letzten Jahrzehn-
ten betrachtet. Es fällt auf, dass ein markanter Anstieg finanzieller Auf-
wendungen weitgehend auf die Universität Liechtenstein entfällt. Von
rund 5 Mio. Franken im Jahr 2000 ist die staatliche Unterstützung für
Forschung und Lehre an der Universität auf rund 15 Mio. Franken im
Jahr 2014 angestiegen. Der Grossteil dieser Mittel ist allerdings für den
Lehrbetrieb vorgesehen, wie weiter oben aufgezeigt wurde. Die Steige-
rungsrate ist zwar markant, im internationalen Vergleich bewegen sich
diese Ausgaben allerdings immer noch auf tiefem Niveau, in Bezug auf
die Forschungsförderung ohnehin.
In der gleichen Periode, also vom Jahr 2000 bis in die Gegenwart,
ist die Unterstützung für das Liechtenstein-Institut von 700000 Franken
auf 1 Mio. Franken angehoben worden und wird gemäss Beschluss des
Landtags vom September 2015 bis ins Jahr 2019 auf diesem Niveau ver-
9 Siehe www.snf.ch/de/fokusForschung/newsroom/Seiten/news-150519-850-millio
nen-fuer-grundlagenforschung.aspx (abgerufen am 18. Mai 2016).
183
Wilfried Marxer
harren. Man muss dies mit den Mitteln vergleichen, die der Regierung
für Expertenarbeit, Gutachten und Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung
standen oder stehen: Im Jahr 2000 waren dies 7,5 Mio. Franken, infolge
Spardrucks sank der Betrag 2014 auf 2,1 Mio. Franken.
Neben diesen Ausgaben gemäss Konto-Position 012 in den Re-
chenschaftsberichten der Regierung (Experten, Gutachten, Öffentlich-
keitsarbeit) weisen die Rechenschaftsberichte zahlreiche weitere Positio-
nen auf, die Auftragsstudien einschliessen, also etwa Expertenberichte,
Projektförderungen, Unterstützung für Jubiläumsveranstaltungen,
Finanzmittel für Analysen, Untersuchungen, Kontrollen, Planungsleis-
tungen, Beratungen, Erhebungen u.a., die direkt oder indirekt wissen-
schaftlichen Input beinhalten. Einschliesslich der oben erwähnten
Expertenausgaben der Regierung beliefen sich die entsprechenden Aus-
gaben im Jahr 2000 auf insgesamt etwas mehr als 11 Mio. Franken, im
Jahr 2014 auf 6 Mio. Franken. Dies zeigt, dass für Auftragsstudien und
Ähnliches deutlich mehr Geld zur Verfügung steht als für die freie wis-
senschaftliche Forschung.
Der Rückgang der Finanzmittel für Gutachten und Untersuchun-
gen hat allerdings auch einen negativen Effekt für die Forschungsein-
richtungen, die sich teilweise mittels Auftragsstudien finanzieren. Denn
die Universität Liechtenstein wie auch das Liechtenstein-Institut werden
bei Finanzdebatten im Landtag regelmässig mit dem Vorwurf konfron-
tiert, dass der Anteil des Staatsbeitrages zu hoch sei und stattdessen stär-
ker Zweit- und Drittmittel eingeworben werden sollten.!* Dabei liegt
dieser Anteil in Liechtenstein ohnehin schon weit über dem, was bei-
spielsweise an schweizerischen Universitäten und Hochschulen üblich
ist. Wenn wir das Beispiel Liechtenstein-Institut heranziehen, macht der
Staatsbeitrag von 1 Mio. Franken im Rechnungsjahr 2015 gerade einmal
58 Prozent der Ausgaben des Instituts aus. 42 Prozent oder etwas mehr
als 700000 Franken mussten in Form von Zweit- oder Drittmitteln
generiert werden.
10 Als Erstmittel gelten in der Regel die Grundfinanzierungen, beispielsweise durch
staatliche Sockelbeiträge, für die Grundausstattung mit Personal, Infrastruktur etc.
Als Zweitmittel gelten Zuwendungen beispielsweise aus staatlichen Forschungs-
fonds. Als Drittmittel gelten Erträge aus Dienstleistungen, etwa Auftragsstudien,
oder auch Zuwendungen von Stiftungen, privaten Spendern u.a.
184
Forschungsförderung in Liechtenstein
Von der Regierung initiierte Forschung
Etwas lockerer sitzen die Geldmittel bei der Regierung, wenn sie selbst
ein Interesse an spezifischer Forschung hat. In den Jahren 2001 bis 2005
finanzierte die Regierung mit einem Betrag von rund 3,5 Mio. Franken
die Arbeiten der «Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein
Zweiter Weltkrieg». Zwischen 2011 und 2014 wurden rund 500000
Franken für die «Historikerkommission Liechtenstein-Tschechien» auf-
gewendet. Aus dem Blickwinkel der Forschung sind solche Aktionen
einerseits willkommen, da sie immerhin zur Finanzierung von For-
schung beitragen. Andererseits ist aber auch kritisch zu vermerken, dass
bei Forschung, die von der Regierung thematisch vorgegeben wird, poli-
tische anstelle von wissenschaftlichen Motiven im Vordergrund stehen.
Freie Forschung sieht eigentlich anders aus.
Wenn man die Zahlen aus den Jahresrechnungen der Regierung
analysiert, gelangt man zum Schluss, dass die regierungsinitiierte For-
schung einschliesslich Gutachten und Projekten in den letzten Jahren,
wie bereits erwähnt, stark rückläufig war. Der Höhepunkt in den letzten
15 Jahren wurde 2001 mit einem Gesamtbetrag von mehr als 17 Mio.
Franken erreicht, ein Grossteil davon für Gutachten. 2014, ein gutes
Jahrzehnt später, lag die Summe all dieser Ausgabepositionen noch bei
etwas mehr als 8 Mio. Franken. Es wäre natürlich sehr zu begrüssen,
wenn die Differenz von 9 Mio. Franken in die freie Forschung geflossen
wäre, was aber leider nicht der Fall ist. Ein Beispiel ist das weiter oben
erwähnte Historische Lexikon des Fürstentums Liechtenstein. Hierfür
wurden seinerzeit für die Bearbeitung mehr als 5 Mio. Franken aufge-
wendet. Von der staatlichen Finanzierung von Projekten in dieser Grös-
senordnung sind wir heute meilenweit entfernt.
Rückgang an staatlichen Forschungsmitteln
Wenn man alle Ausgaben für staatlich finanzierte Forschung und tertiäre
Bildung zusammenzählt, ergibt sich für das Rechnungsjahr 2014 ein
Betrag von rund 43 Mio. Franken. Es handelt sich dabei nicht nur um
Ausgaben, die in Liechtenstein anfallen, sondern auch um Beteiligungen
an schweizerischen Forschungsinstituten, um Zahlungen für von Studie-
renden aus Liechtenstein belegte Studienplätze an schweizerischen Uni-
185
Wilfried Marxer
versitäten und Hochschulen und anderes. Im Rechnungsjahr 2012, nach
einer Phase relativ kontinuierlicher Steigerung in den vorangegangenen
Jahren, war der historische Höchststand von rund 56 Mio. Franken
erreicht worden.
Zwischen 2012 und 2014 besteht somit ein grosser Unterschied:
13 Mio. Franken Rückgang. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aus-
gaben für die tertiäre Bildung mehr oder weniger konstant bei rund
30 Mio. Franken geblieben sind. Die Ausgaben für Forschung und Pro-
jekte sanken in diesen zwei Jahren dagegen von 26 Mio. auf 13 Mio.
Franken. Das ist ein Rückgang von 50 Prozent!
Fazit
Liechtenstein hat einen enormen Nachholbedarf in Bezug auf die staat-
liche Forschungsförderung. Die Beiträge sind im internationalen Ver-
gleich deutlich zu tief. Selbst in Zeiten grosser finanzieller Überschüsse
ist es nicht gelungen, die staatliche Forschungsförderung auf ein akzep-
tables Niveau zu hieven. Die budgetären Probleme im Staatshaushalt
haben in den letzten Jahren diesbezügliche Bemühungen zusätzlich
erschwert. Es muss leider ein Rückgang an direkter und indirekter staat-
licher Forschungsförderung konstatiert werden. Die Absage an das
europäische Forschungsprogramm «Horizon 2020» im Dezember 2013,
die Stagnation bei der Mittelgutsprache für Hochschuleinrichtungen,
aber auch das Ausbleiben von Folgefinanzierungen bei auslaufenden
Projekten hinterlässt Spuren. Forschung und Entwicklung wird weitge-
hend als private Angelegenheit betrachtet, namentlich die unternehme-
risch motivierte Forschung. Forschung im Bereich der Geistes-, Sozial-,
Rechts- und Wirtschaftswissenschaften kann jedoch nicht kommerziell
betrieben werden und ist auf eine massgebliche Unterstützung durch die
öffentliche Hand — Staat und Gemeinden — angewiesen. In dieser Hin-
sicht besteht Handlungsbedarf, der in den letzten Jahren nicht kleiner,
sondern sogar grösser geworden ist. Der Jubilar Georg Malin, dem der
vorliegende Sammelband gewidmet ist, hat einen grossen Teil seiner
Tätigkeit der Wissenschaft gewidmet und wird wie wir den Befund mit
Bedauern zur Kenntnis nehmen.
186
Forschungsförderung in Liechtenstein
QUELLEN
Brunhart, Arthur (2013): Werkgeschichte und Konzept. Einführung von Projektleiter
Arthur Brunhart. In: Arthur Brunhart (Projektleiter): Historisches Lexikon des Fürs-
tentums Liechtenstein. Vaduz/Zürich. Verlag des Historischen Vereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein/Chronos.
Güldenberg, Stefan; Gunz, Dieter; Marxt, Christian; Schlag, Carsten-Henning (2010):
Grundlagen und Leitgedanken zur Förderung von Forschung, Wissen und Wohlstand.
Unveröffentlichte Studie. Interner Bericht zuhanden von Schulamt und Amt für Volks-
wirtschaft. Hochschule Liechtenstein. Vaduz.
Kellermann, Kersten; Schlag, Carsten-Henning (2012): Hochschulen im Zentrum der
Wachstumspolitik. Von der europäischen zur liechtensteinischen Perspektive. Vaduz
(KOFL Studien, 8).
Kellermann, Kersten; Schlag, Carsten-Henning (2006): Bildung als öffentliche Aufgabe in
Liechtenstein. Eine ökonomische Analyse des Bildungswesens unter besonderer
Berücksichtigung der Hochschule. Studie im Auftrag der Regierung des Fürstentums
Liechtenstein und der Hochschule Liechtenstein. Vaduz (KOFL Studien, 3).
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2016): Landtag, Regierung und Gerichte 2015.
Bericht des Landtages. Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag.
Bericht der Gerichte. Landesrechnung. Vaduz.
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2015): Landtag, Regierung und Gerichte 2014.
Bericht des Landtages. Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag.
Bericht der Gerichte. Landesrechnung. Vaduz.
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2013a): Landtag, Regierung und Gerichte 2012.
Bericht des Landtages. Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag.
Bericht der Gerichte. Landesrechnung. Vaduz.
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2013b): Bericht und Antrag der Regierung an
den Landtag betreffend den Finanzbeschluss über die Teilnahme am achten Rahmen-
programm der Europäischen Union für Forschung, technologische Entwicklung und
Demonstration «Horizon 2020» (2014-2020). Vaduz (BuA, 101/2013).
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2012): Landtag, Regierung und Gerichte 2011.
Bericht des Landtages. Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag.
Bericht der Gerichte. Landesrechnung. Vaduz.
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2011): Landtag, Regierung und Gerichte 2010.
Bericht des Landtages. Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag.
Bericht der Gerichte. Landesrechnung. Vaduz.
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2010): Postulatsbeantwortung der Regierung an
den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend ein Konzept zur Förderung der
Wissenschaft und Forschung. Vaduz (BuA, 101/2010).
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2007): Bericht und Antrag der Regierung an den
Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Einrichtung eines Rahmenpro-
gramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Vaduz (BuA, 44/2007).
187
Wilfried Marxer
Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2002): Bericht und Antrag der Regierung an den
Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend das sechste Rahmenprogramm der
Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung
und Demonstration als Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Forschungsraums
und zur Innovation (2002-2006). Vaduz (BuA, 97/2002).
Rheinberger, Hans-Jörg (1998): Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsförderung.
Gedanken zum Verhältnis von Staat und Wissenschaft: Festvortrag anlässlich der Aka-
demischen Feier vom 17. Mai 1998 zur Eröffnung des neuen Gebäudes des Liechten-
stein-Instituts in Gamprin. Vaduz: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen
Gesellschaft (KS, 27).
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI (2016): Forschung und
Innovation in der Schweiz 2016. Bern.
188
Die Tätigkeit des Verlages der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft von 1972 bis 2015 —
Rückblick und Ausblick
Emannel Schädler
I. Hinführung
Georg Malin, dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist, zählt zum
Kreise jener engagierten Liechtensteiner, welche im Jahre 1951 die Liech-
tensteinische Akademische Gesellschaft (LAG) ins Leben gerufen haben.
Mit der LAG wollten ihre Gründer bewusst einen Kontrapunkt setzen
zu den damals herrschenden Zuständen, welche ihres Erachtens nament-
lich aufseiten der Akademikerschaft eine kritische und fortschrittliche
Auseinandersetzung mit liechtensteinischen Themen vermissen liessen.
Laut den Gründungsstatuten bezweckte die LAG dementsprechend um-
fassend «[d]Jas Studium kultureller, staatspolitischer, sozialer, philosophi-
scher und religiöser Fragen und dadurch Einflussnahme auf das kultu-
relle Leben Liechtensteins», wodurch sie ihre Mitglieder zu «verantwor-
tungsbewussten Staatsbürgern» heranzubilden beabsichtigte.!
Diesem visionären Programm war nicht nur der Erfolg beschieden,
bis zum heutigen Tag mit nur geringfügigen Änderungen bestehen zu
bleiben und aufs Neue immer wieder Befürworterinnen und Befürwor-
ter zu finden. Darüber hinaus erwies es sich als derart tragfähig, dass die
LAG im Laufe der Zeit sogar Ableger mit gleichartiger Gesinnung
erzeugte, die als komplementäre Organisationen durch ihre Tätigkeit
jeweils besondere Nischen besetzten. So entstand aus der LAG zunächst
ım Jahre 1972 der Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesell-
schaft (VLAG)? und aus ihnen beiden sodann, in Zusammenarbeit mit
1 Zum vorangehenden Absatz samt Zitaten Batliner, LAG, S. 9; Frick, S. 5 f.; vgl. Haas,
Land, S. 37 f.
2 Genaueres hierzu sogleich unten unter I1./1.
189
Emanuel Schädler
dem Historischen Verein für das Fürstentum Liechtenstein, im Jahre
1986 das Liechtenstein-Institut? in Bendern.
Zumal seit Aufnahme der Verlagstätigkeit des VLAG inzwischen
44 Jahre verstrichen und dem Verlag im Gegensatz zur LAG* oder zum
Liechtenstein-Institut” bislang noch keinerlei eigenständige Textbeiträge
zuteilgeworden sind, soll vorliegend zur Schliessung dieser Lücke ein-
mal der VLAG im Fokus stehen. Er wird im Rückblick anhand seiner
Veröffentlichungen sowie anderer Quellen einer Würdigung unterzogen
und es wird alsdann ein Ausblick auf seine Zukunft gewagt.
II. Rückblick
1. Geschichtliches
Der VLAG wurde im Jahr 1972 gegründet. Seine Gründung war
schlichtweg eine Notwendigkeit der Zeit. Damals bestand die Medien-
landschaft in Liechtenstein einzig aus der Presse mit den beiden (partei-
politisch geprägten) Landeszeitungen Liechtensteiner Volksblatt und
Liechtensteiner Vaterland; andere Massenmedien fehlten. Die Verlags-
landschaft präsentierte sich mit kaum einer Handvoll an Verlagen.® Für
die Veröffentlichungszwecke der LAG erwiesen sich die Landeszeitun-
gen als ungeeignet, weil das Programm der LAG als zu fortschrittlich
empfunden (oder missverstanden) wurde.” Gleichermassen verhielt es
sich mit den bestehenden hiesigen Verlagen und ebenso mit jenen im
angrenzenden Ausland.®
Wohlverstanden: Die Misere betraf nicht nur die progressive LAG,
sondern herrschte allgemein.? Ein verstärktes Aufkommen eines Schrift-
tums zu liechtensteinischen Themen war unter den gegebenen Umstän-
3 Batliner, Idee, S. 11 f.; Broggi/Gantner/Marxer / Wille, S. 26-29, besonders 5. 28 f.,
m.w.H. Siehe auch Büchel / Meier, Protokoll, passim.
Siehe die Beiträge von Frick; Batliner, LAG; Öhri.
Siehe vor allem Liechtenstein-Institut (Hrsg.), passim.
Vgl. Sele, S. 1007.
Batliner, LAG, S. 10.
Zum vorangehenden Absatz Broggi/ Gantner / Marxer / Wille, S. 25; vgl. Haas, Land,
S. 38.
9 Vgl. Broggi/Gantner / Marxer / Wille, S. 25.
NDR
190
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
den nicht zu erwarten. Selbst für wissenschaftliche Werke wie Disserta-
tionen fehlte hierzulande ein selbstständiger Verlag, welcher auf deren
Veröffentlichung spezialisiert gewesen wäre und diese dadurch erleich-
tert hätte. Glücklicherweise bestand zumindest eine Ausnahme für die
historische Forschung im jährlich erscheinenden Jahrbuch, das der His-
torische Verein für das Fürstentum Liechtenstein - genau genommen
also kein Verlag — seit 1901 herausgab. Auf dem Gebiet der Geschichte
ermöglichte, vereinfachte und förderte das Jahrbuch die Veröffentli-
chung von Dissertationen, die sich damals pionierhaft einer ersten Auf-
arbeitung grundlegender Fragen der liechtensteinischen Geschichte wid-
meten. So konnten dort die bedeutsamen Dissertationen zur liechten-
steinischen Geschichte im 19. Jahrhundert vom vorliegend geehrten
Jubilar Georg Malin 1953, von Rupert Quaderer 1969, von Peter Geiger
1970 und von Alois Ospelt 1972 erscheinen.!®* Umso schmerzlicher aber
wurde angesichts dessen bewusst, dass ein solch förderliches Gefäss zur
Veröffentlichung von Dissertationen aus dem thematischen Feld der
Politik im weitesten Sinne gänzlich fehlte. Das beeinträchtigte eine ver-
gleichbare erste Aufarbeitung grundlegender Fragen beispielsweise zum
liechtensteinischen Staatswesen, zur liechtensteinischen Aussenpolitik
oder zur liechtensteinischen Rechtsordnung. Die juristischen Disserta-
tionen von Gregor Steger 1950, von Gerard Batliner 1957 oder von Her-
bert Wille 1972 mussten demnach mangels Alternativen im Selbstverlag
erscheinen;'! diejenige von Ernst Pappermann 1967 erschien bei einem
deutschen Verlag.’?
Dieser prekären Lage des liechtensteinischen Verlagswesens ent-
sprang als Versuch einer Abhilfe der VLAG. Ursprünglich war er als
Selbstverlag für die Schriften der LAG konzipiert; die LAG figurierte
denn auch bei der Schriftenreihe «Liechtenstein — Politische Schriften»
(LPS) bis zur Nummer 13 im Jahr 1989 als deren Herausgeberin. Im
VLAG sollten die aus der LAG als einem «politischen Forum»'* her-
10 Übrigens waren sie alle bereits damals Mitglieder der LAG (Batliner, LAG, S. 10)
und sind es bis heute.
11 Gerard Batliner war Gründungsmitglied der LAG. Herbert Wille war und ist Mit-
glied der LAG.
12 Zum vorangehenden Absatz danke ich für hilfreiche Hinweise Herrn Rupert Qua-
derer.
13 Broggi/Gantner/Marxer / Wille, S. 24 m. N.
191
Emanuel Schädler
vorgehenden Vorträge, Diskussionen, Aufsätze sowie ganze Monogra-
fien zu liechtensteinischen Themen veröffentlicht werden, um die
Medienlandschaft zu bereichern, kritisch zur öffentlichen Meinungsbil-
dung beizutragen und dadurch nicht zuletzt identitätsstiftend für Liech-
tenstein zu wirken.!* Die Titel der frühen LPS widerspiegeln letzteres
Anliegen des VLAG: «Fragen an Liechtenstein» (LPS 1), «Beiträge zur
liechtensteinischen Staatspolitik» (LPS 2), «Beiträge zum liechtensteini-
schen Selbstverständnis» (LPS 3), «Das Fürstentum Liechtenstein und
die Europäische Gemeinschaft» (LPS 4), «Liechtenstein und die
Schweiz» (LPS 5), «Probleme des Kleinstaates gestern und heute» (LPS
6), «Das Bild Liechtensteins im Ausland» (LPS 7), «Liechtenstein in
Europa» (LPS 10) - in allen schwingt das Ringen um eine liechtensteini-
sche Identität mit. Interessanterweise zeigt sich häufig an den Titeln
sowie am Umstand, dass zunächst vor allem Sammelbände geschaffen
wurden, sozusagen eine Beitragsmanier: Einzelne, kleinere «Beiträge»
wurden zusammengestellt und dadurch vorerst noch punktuell in einem
Mosaik verschiedener Perspektiven die «kritische Auseinandersetzung
mit der Idee Liechtenstein»'> (Gerard Batliner) unternommen.!° Darauf
aufbauend sollte der VLAG erst später im Laufe der Zeit vermehrt auch
umfangreichere Texte wie Dissertationen veröffentlichen.
Bereits zu Beginn — und dies ist bis heute so geblieben — lag die
Führung des Verlages vorwiegend in den Händen des Verlagsleiters.!
Der erste Verlagsleiter, Gerard Batliner, besorgte die Schriftleitung sowie
die Administration noch nebenberuflich als «Freizeit-Hobby»!®, wie er
es formulierte. Doch dies war bald nicht mehr möglich. Denn im Laufe
der Zeit nahmen die zu bewältigenden Aufgaben inhaltlicher wie orga-
nisatorischer Natur stetig zu. So waren beispielsweise umfangreiche Dis-
sertationen bald nicht mehr nur zu verlegen, sondern teilweise auch zu
betreuen. Als Folge davon unterlagen die Publikationen des Verlages in
ihrer zeitlichen Regelmässigkeit erheblichen Schwankungen und blieben
insgesamt hinter der gewünschten Menge zurück, ganz zu schweigen
davon, dass die Behandlung virulenter Fragen so zeitnah wie gewünscht
14 Broggi/Gantner/Marxer / Wille, S. 24 f. m.w.N.
15 Batliner, LAG, S. 12, Hervorhebung des Autors.
16 Vösl. Batliner, Vorwort, S. 8; Wille, S. 9.
17 Büchel/ Meier, Protokoll, S. 3. Dazu auch unten unter I1./5.
18 Büchel / Meier, Protokoll, 5. 3.
192
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
nicht möglich war. All diese Erfahrungen mündeten später in die Grün-
dung des Liechtenstein-Instituts im Jahre 1986.'® Die Forschungstätig-
keit, die im VLAG aufgekeimt war, wurde ans Liechtenstein-Institut als
Forschungseinrichtung übertragen, sodass der Verlag sich künftig wie-
der ausschliesslich dem verlegerischen Geschäft widmen konnte.”
2. Grundlegendes
Wie aus der Entstehungsgeschichte des Verlages erhellt, besteht ein
besonderes Beziehungsgefüge zwischen der LAG, dem VLAG und dem
Liechtenstein-Institut. Sie alle sind nicht nur aus dem gleichen Impetus
heraus entstanden, nämlich dem Bedürfnis «einer sachgerechten Ausei-
1. sondern sind
nandersetzung mit unserem Kleinstaate Liechtenstein»?
auch funktionell, organisatorisch und reglementarisch miteinander ver-
flochten.
Funktionell ist der VLAG bzw. dessen Verlagstätigkeit in die
Zwecksetzung der LAG eingebunden. Die LAG als Verein hat gemäss
ihren Statuten eine doppelte Zwecksetzung: Zum einen verfolgt sie den
materialen Zweck, sich unter Förderung des persönlichen Kontakts und
der Freundschaft ihrer Mitglieder für liechtensteinische Belange einzu-
setzen und sich am Diskurs zu liechtensteinrelevanten Themen zu betei-
ligen. So sollen sich ihre Mitglieder zu verantwortungsbewussten Staats-
bürgern entwickeln. Zum anderen ist die LAG - und bemerkenswerter-
weise steht dies als bloss formaler Zweck gleichrangig daneben —
Trägerin des Verlages. Dadurch eröffnet sich für die LAG neben der
direkten Zweckverfolgung durch ein aktives Vereinsleben gegenüber der
begrenzten Zahl ihrer Mitglieder eine wesentliche Erweiterung ihres
Wirkungskreises.” Denn die Verlagstätigkeit, die auf indirektem Wege
letztlich ebenso den genannten Zielen des materialen Zwecks dient, rich-
tet sich an die gesamte Öffentlichkeit und erzielt mithin viel grössere
Breitenwirkung. Ein empirischer Vorteil einer derartig material-formel-
19 Batliner, Idee, S. 12; siehe Broggi/Gantner /Marxer / Wille, S. 26-29.
20 Zum vorangehenden Absatz Büchel/Meier, Protokoll, S. 2 f.; Broggi/Gantner/
Marxer / Wille, S. 25 f. m.w.H.
21 Wille, S. 9.
22 Vgl. Haas, Land, S. 38.
193
Emanuel Schädler
len Zwecksetzung kommt hinzu. Das Vereinsleben bei der LAG unter-
liegt wie in jedem Verein Schwankungen, sodass es zuzeiten intensiver,
zuzeiten weniger ergiebig ausfällt. Im Falle der LAG ging es so weit,
dass um 1970 — also zwei Jahre vor Gründung des VLAG — sogar ihre
Auflösung erwogen wurde.” Unter solchen Schwankungen leidet die
materiale Zweckerreichung; doch solchen Schwankungen entgeht ein
formaler Zweck, dessen Durchführung ausgelagert ist. Losgelöst vom
eigentlichen Vereinsleben und seinen Schwankungen konnte so die Ver-
lagstätigkeit des VLAG über die Zeit hinweg eine Konstante bilden, die
auf indirektem Weg stetig zu den Zielen der LAG beitrug. Die Verlags-
tätigkeit des VLAG wurde somit zu einem dauerhaft stabilen zweiten
Standbein der LAG neben dem Vereinsleben.
Organisatorisch bildet der VLAG eine Unterstruktur der LAG,
welche gemäss Statuten seine Trägerin ist. Die Ausübung der Verlagstä-
tigkeit ist der Verlagsleitung übertragen und diese darf weitgehend
selbstständig walten, unterliegt aber in mancherlei Hinsicht der Wei-
sung, Aufsicht und Kontrolle der LAG. So ist die Generalversammlung
der LAG den Statuten zufolge zugleich das oberste Organ des Verlages;
das äussert sich darin, dass sie zuständig ist für den Erlass und die Ände-
rung des Verlagsreglements, für die Wahl und Entlastung der Verlagslei-
tung sowie für die Genehmigung des Jahresberichtes und der Jahres-
rechnung des VLAG. Zudem ist der Präsident der LAG ex officio Mit-
glied der Verlagsleitung. Auf diese Weise ist der Verlag organisatorisch
abhängig von der LAG und deren Generalversammlung: Sie ernennt die
Mitglieder der Verlagsleitung; sie legt mit dem Verlagsreglement die
grundsätzliche Ausrichtung des Verlages fest; sie überwacht die laufende
Verlagstätigkeit qua Einsitznahme des Präsidenten in der Verlagsleitung
von Amtes wegen; sie muss Jährlich die detaillierte Berichterstattung zur
ausgeübten und anstehenden Verlagstätigkeit sowie zu den Finanzen des
Verlages genehmigen und die Verlagsleitung entlasten. Demgegenüber
sind die exekutiven Belange der Verlagstätigkeit an die Verlagsleitung
bzw. an den Verlagsleiter ausgelagert und deren Ermessen anheimge-
stellt. In diesem Sinne ist es dem Verlag im Verlagsreglement zum Bei-
spiel ausdrücklich überlassen, mit wissenschaftlichen Institutionen,
namentlich dem Liechtenstein-Institut, zusammenzuarbeiten, weshalb
23 Batliner, LAG, S. 11; vgl. Frick, S. 7.
194
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
denn auch manche Forschungen des Liechtenstein-Instituts naheliegen-
derweise wiederum beim VLAG veröffentlicht werden. Insgesamt
schliesst sich damit ein Kreis zwischen der LAG, dem VLAG und dem
Liechtenstein-Institut.
Reglementarisch fusst der Verlag auf dem Verlagsreglement. Es ent-
hält die Grundsatzentscheidungen und wegweisenden Vorgaben zur
Ausrichtung des VLAG und wird von der Generalversammlung der
LAG erlassen. Das Verlagsreglement besteht aus acht Artikeln und äus-
sert sich zu Zweck, Organisation, Aufgaben, Verlagsleitung/ Verlagslei-
ter, Beschlussfassung, Finanzen, Produktionsreihen und Zusammenar-
beit. Zu den Charakteristika des VLAG, wie sie das Verlagsreglement
festschreibt, zählen unter anderem die folgenden:
Die Verlagsleitung vertritt den VLAG nach aussen. Sie besteht aus
dem Verlagsleiter, dem Präsidenten der LAG ex officio sowie bis zu drei
weiteren Mitgliedern, wobei Verlagsleiter und Mitglieder für die Dauer
von jeweils vier Jahren von der Generalversammlung der LAG gewählt
werden. Zu den Aufgaben der Verlagsleitung zählt die Entscheidung
über die Publikationswürdigkeit eingereichter Texte und über die Zu-
sammenarbeit mit anderen Institutionen sowie die Erstellung des Jahres-
berichts und der Jahresrechnung zuhanden der Generalversammlung der
LAG. Dem Verlagsleiter obliegen vor allem die faktische Abwicklung
der Verlagsproduktionen sowie deren Vertrieb inklusive aller nebenher
erforderlichen Vorkehrungen wie Planung, Vorberatung, Korrespon-
denz und Werbung. Wie der Zweck der Verlagstätigkeit im Verlagsregle-
ment genauer umschrieben ist, sollen «geisteswissenschaftliche und kul-
turelle Beiträge auf hohem Niveau» veröffentlicht und «dadurch am Dis-
kurs über aktuelle, für Liechtenstein relevante Fragen» teilgenommen
werden. Der Verlag arbeitet finanziell nicht gewinnorientiert und führt
eine von der LAG getrennte, unabhängige Rechnung. Die Finanzierung
des Verlages speist sich aus Förderungsbeiträgen und den Verkaufserlö-
sen seiner Veröffentlichungen. Der Verlag führt zwei Schriftenreihen:
In den «Liechtenstein — Politische Schriften» (LPS) werden umfangrei-
chere Forschungen oder Sammelbände veröffentlicht; als «Kleine Schrif-
ten» (KS)* werden kürzere Beiträge oder Vorträge publiziert.
24 Von 1974 bis 1981 (KS 1 bis 6) wurden sie von der LAG selbst, ab 1983 (KS 7) vom
VLAG herausgegeben (Broggi/Gantner / Marxer / Wille, S. 25 Fn. 5).
195
Emanuel Schädler
3. Statistisches
Aus Anlass der nunmehr 44 Jahre dauernden Verlagstätigkeit darf wohl
— nach Augenmass und ohne Anspruch auf Exaktheit — ein kleines sta-
tistisches Resümee gezogen und quantitativ die Verlagstätigkeit an dem
abgelesen werden, was sie hervorgebracht hat.
Seit Aufnahme der Verlagstätigkeit im Jahre 1972 hat der VLAG
bis heute mit Stand LPS 57 und KS 55 insgesamt 20322 Druckseiten ver-
öffentlicht, wovon 18634 Seiten auf die LPS und 1688 Seiten auf die KS
entfallen. Besonders deutlich lässt sich an den LPS, gleichsam den Jah-
resringen des Verlages, seine Entwicklung nachvollziehen. Anfangs wur-
den die Ausgaben der LPS vorsichtig noch als «Hefte» tituliert (bis
LPS 9);® sodann erschienen sie als stattliche «Bände» (ab LPS 10), deren
Umfang in der Regel zwischen 200 und 500 Seiten beträgt. Rege Pro-
duktionsjahre waren 1994 (LPS 18-21), 1999 (LPS 25-28) und 2011
(LPS 48-51) mit jeweils vier veröffentlichten Bänden. Demgegenüber
gab es auch Phasen ruhender Tätigkeit bzw. keiner Publikationen.”
Durchschnittlich wurden seit Aufnahme der Verlagstätigkeit bis heute
somit jährlich gerundet 1,3 Bände veröffentlicht. Insgesamt hält sich die
Anzahl Monografien mit 28 zu jener der Sammelbände mit 29 die
Waage. Von den Monografien machen 11 Dissertationen und eine
Diplomarbeit einen beachtlichen Anteil aus; die übrigen Monografien
sind vielfach aus Forschungsaufträgen am Liechtenstein-Institut hervor-
gegangen. Und erst vor Kurzem hat sich der schöne Brauch zur Heraus-
gabe von Festgaben bzw. Festschriften — wie der gegenständlichen — ein-
gestellt (LPS 50, 54, 56).
Wie bei der Ankündigung der Schriftenreihe LPS von vornherein
klargestellt wurde,” sollte das Attribut «politisch» bei den LPS im wei-
testen Sinne verstanden werden: Nebst der Politik im engeren Sinne soll-
ten darunter ebenso gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und der-
gleichen Themen mehr fallen. Dennoch blieb die Ausrichtung vorerst
noch klassisch. In den ersten beiden Jahrzehnten der Verlagstätigkeit
dominierte thematisch die Trias Politik im engeren Sinne, Geschichte
25 Batliner, LAG, S. 11.
26 So in den Jahren 1974, 1978 bis 1980, 1982, 1983, 1986, 1988 und 1992.
27 Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.), LPS 1, 5. 7.
196
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
und Recht. Erst daraufhin lockerte sich das thematische Feld allmählich
und verlagerte sich vermehrt weg von diesen Gebieten, beispielsweise
mit gänzlich interdisziplinären Bänden (LPS 19). (Volks-) Wirtschaftliche
Aspekte haben erst verhältnismässig spät grösseren Raum unter den Ver-
öffentlichungen eingenommen (LPS 16, 22), seither aber machen sie
einen wesentlichen Anteil daran aus. Untervertreten, wenngleich eben-
falls vorhanden, ist die Ökologie, mit der sich vor allem zwei Bände
befassen (LPS 41, 45).
Als Exoten unter den Bänden der LPS ragen folgende hervor:
LPS 35 ist der einzige gänzlich auf Englisch verfasste Band; LPS 48 ist
bislang die einzige Diplomarbeit, die in die Reihe aufgenommen wurde,
und überdies — bis zur vorliegenden Festschrift — der einzige Band, der
farbige Abbildungen enthält; LPS 46 ist der einzige Band mit Texten aus
einem Nachlass, nämlich demjenigen Gerard Batliners. Hinsichtlich des
Umfangs der einzelnen Werke sticht als Monografie LPS 43 mit 905 Sei-
ten heraus, dicht gefolgt von LPS 52 als Sammelband mit 902 Seiten;
LPS 17 mit 92 Seiten und LPS 2 mit 93 Seiten stehen auf der entgegen-
gesetzten Seite des Spektrums.
4. Gelungenes
Doch erschöpft sich die Verlagstätigkeit in der blossen Quantität der
Veröffentlichungen? — Mitnichten. Daneben tritt das aus qualitativer
Sicht Gelungene.
Allem voran ist es dem Verlag gelungen, dass die LPS hierzulande
im wissenschaftlichen Bereich zu einer renommierten Schriftenreihe
wurden, welche auch im Ausland überaus geschätzt wird und Verbrei-
tung findet. Dieser Erfolg dürfte der strengen Qualitätssicherung zu ver-
danken sein, die sich der VLAG selbst auferlegt, indem das Verlagsre-
glement und die LAG-Statuten nur geisteswissenschaftlichen und kultu-
rellen Beiträgen auf hohem Niveau eine Aufnahme ins Verlagsprogramm
gestatten. Eine Sichtung des VLAG-Archivs zeigt, wie asymmetrisch
infolge einer so verstandenen Qualitätssicherung in der bisherigen Ver-
lagstätigkeit das Verhältnis einerseits zwischen angedachten und ange-
gangenen sowie andererseits alsdann tatsächlich als Publikationen reali-
sierten Projekten ausfällt. Dort lagern nämlich sorgfältig archiviert mit
der Aufschrift «Projekte» bündelweise Kopien, Notizen, Gliederungen,
197
Emanuel Schädler
Skizzen, Zeitungsartikel und Exzerpte zu Themen wie Sicherheitspoli-
tik, öffentlicher Verkehr, Wirtschaftsmodelle, Rechtssprache oder Sozi-
alstruktur in Liechtenstein; wie aus der beiliegenden Korrespondenz
hervorgeht, stand der VLAG mit potenziellen Autorinnen und Autoren
jeweils in regem Austausch. All diese Dokumente wurden im Hinblick
auf eine allfällige Verarbeitung zu einem Band der LPS gesammelt, als-
dann aber aus irgendwelchen Gründen ad acta gelegt. Ferner finden sich
ım Verlagsarchiv zahlreiche Faszikel von Projekten, die sogar bis zum
Manuskript gediehen scheinen, doch die man heute unter den LPS ver-
geblich sucht, weil es schliesslich nie zur Publikation kam. Es erweckt
den Anschein, dass bei den betreffenden Werken trotz aller Bemühun-
gen das erforderliche Niveau nicht erreicht werden konnte und daher
konsequent die Projekte selbst noch in fortgeschrittenem Stadium abge-
brochen wurden.?® Das Gelingen der Verlagstätigkeit gründet sich dem-
zufolge durchaus auf Umtriebigkeit, allerdings austariert durch das
Gegengewicht der strengen Qualitätssicherung.
Abgesehen vom Inhalt bestechen die Bände der LPS und die KS
ebenso gestalterisch wie typografisch? Vom ersten Heft an zeichnen sich
namentlich die LPS durch ein unverkennbares Design aus. Waren die
Hefte zu Anfang noch mit Grafiken auf der Frontseite gestaltet (wie die
Hefte der KS noch heute), wechselte man alsdann bei den späteren, grös-
seren Bänden zu schlichten blau-weissen Einbänden (ab LPS 11).
Gegenwärtig sind die Umschläge (ab LPS 41) wieder bunter. Sie folgen
in der Hauptfarbe jedes neuen Bandes dem Verlauf eines Farbkreises, der
sich bei jedem zehnten Band schliesst und von Neuem beginnt (LPS
41-50, LPS 51-60). Das versinnbildlicht die Vielfältigkeit der Inhalte
(Politik im weitesten Sinne”) und dient im Kontrast zugleich einer bes-
seren Orientierung im Bücherregal, wo meist alle Bände aufgereiht
nebeneinander stehen. Typografisch erscheinen die LPS und KS in der
klassischen Serifenschrift Garamond, wobei vom Titel über die Ord-
nungshierarchien bis hin zu den Fussnoten seit jeher auf jegliche Effekt-
hascherei verzichtet wird und stattdessen Ruhe, Klarheit, Kompaktheit
im Vordergrund stehen. Der Satzspiegel kommt wohlproportioniert mit
28 Vgl. Büchel /Meier, Protokoll, S. 3.
29 Für diesbezüglich aufschlussreiche Hinweise danke ich Frau Silvia Ruppen.
30 Siehe oben unter 11./3.
198
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
grosszügigen Stegen und reichlich Abständen im Textfluss daher. Das
Papier überzeugt in der Optik durch einen angenehm-ruhigen Eierscha-
len-Farbton sowie in der Haptik durch angemessene Dicke, die
recto/verso nichts durchscheinen lässt und sogar handschriftliche Bear-
beitung gestattet. Kurzum: Sowohl zur Lektüre als auch zum Arbeiten
eignet sich das Produkt LPS vorzüglich. Alles zeugt von sorgfältiger
Gestaltung mit einem Auge fürs Detail und widerspiegelt in der überaus
gelungenen äusseren Machart der Bücher die hohen Ansprüche, die an
dessen Inhalt gestellt werden.
Und wenn schon von Gelungenem die Rede ist: Wurde durch die
Verlagstätigkeit nebst all dem genannten Materiellen auch das ursprüng-
lich anvisierte ideelle Ziel einer Aktivierung des liechtensteinischen
Staatsbewusstseins” erreicht? - Die Beantwortung dieser Entschei-
dungsfrage mit einem generellen Ja oder Nein wäre gewagt. Vielleicht
sogar ist sie eine Fangfrage, weil die Aktivierung von Staatsbewusstsein
weniger einen erreichbaren Zustand als vielmehr einen ständig ablaufen-
den, naturgemäss nie ganz abgeschlossenen Prozess bezeichnet. Folgen-
des lässt sich der Frage daher entgegnen: Jedenfalls ist es dem VLAG
gelungen, durch seine Verlagstätigkeit in den verlegten Schriften die
Grundlage zur Aktivierung eines solchen liechtensteinischen Staatsbe-
wusstseins zu schaffen, welche für jeden, der sich ernsthaft damit befas-
sen will, zugänglich ist. Dieses wichtige Anliegen hat der Verlag unzwei-
felhaft erreicht, nicht zuletzt indem er in Zusammenarbeit mit der Liech-
tensteinischen Landesbibliothek dafür gesorgt hat, dass neuerdings nach
einer Sperrfrist von zwei Jahren nach Erscheinen die Bände der LPS
online unter den eLziechtensteinensia®? für jedermann komplett und kos-
tenfrei verfügbar werden. Damit wurde der alte Grundgedanke des
VLAG technisch ins Internetzeitalter überführt.
5. Bemerkenswertes
Die Erfolgsgeschichte des VLAG und seine Langlebigkeit sind keine
Selbstverständlichkeiten. Die Gründung eines Verlages im Jahre 1972
31 Wille, S. 9.
32 Siehe online unter www.eliechtensteinensia.li/LPS/.
199
Emanuel Schädler
war ein Wagnis ungewissen Ausgangs.” Der VLAG vermochte sich
zwar, ein wachsendes Bedürfnis vorausahnend, zur richtigen Zeit auf die
richtige Art und Weise aus der bescheidenen Verlagslandschaft Liech-
tensteins heraus zu etablieren. Unter den Beteiligten dürfte damals aber
auch einige Skepsis geherrscht haben. Rund zehn Jahre zuvor war näm-
lich - indessen ohne jeglichen Zusammenhang zur LAG — ein ähnliches
Projekt, das um eine publizistische Tätigkeit in Liechtenstein bemüht
gewesen war, nicht über die Planungsphase hinaus gelangt: die Zeitschrift
PUNKT
In den Jahren 1963/1964 konkretisierten sich auf Initiative Robert
Allgäuers hin die Vorarbeiten an einer Zeitschrift unter dem Namen
«PUNKT», die als «Liechtensteinische Zeitschrift für Diskussion und
freie Meinungsbildung» geplant war. Wie sich aus einigen heute noch
verfügbaren Dokumenten entnehmen lässt,” war eine Auflage von
300 Stück im Umfang von etwa 30 Seiten beabsichtigt, die in loser Folge
erscheinen sollten. Als ehrenamtliche Herausgeberschaft und Redaktion
figurierte das Dreier-Team Robert Allgäuer, Gabriel Beck (+) und Nor-
bert Haas. Im Entwurf der Titelseite setzte sich der Schriftzug PUNKT
aus einzelnen Buchstaben der Worte «überParteilich», «Unabhängig»,
JuNg» , «aKademisch» und chrisTlich» zusammen, woraus das Leitbild
der Zeitschrift hervorgeht. Das geplante Vorwort der ersten Ausgabe
betonte, dass im Gegensatz zu den Tageszeitungen das — wiederholt so
bezeichnete — «Experiment» einer völlig unabhängigen Zeitschrift
gewagt werde, um dadurch zumindest teilweise eine «Lücke im Presse-
wesen» zu schliessen. Alle Inhalte seien als Diskussionsbeitrag aufzufas-
sen, wobei Meinung und Gegenmeinung gleichermassen aufgenommen
würden, damit daraus ein Dialog erwachse. Man stehe nicht nur vor der
Herausforderung, so das Vorwort weiter, versierte Autoren für die Mit-
arbeit zu gewinnen und druckwürdige Texte zu verfassen, sondern
ebenso die Finanzierung der Zeitschrift sicherzustellen, die konzeptge-
mäss zwangsläufig auf nicht-zweckgebundene Zuwendungen angewie-
33 —Büchel/Meier, Protokoll, S. 2.
34 Vgl. Haas, Fluchtpunkt, S. 42. Für wertvolle Auskünfte zum PUNKT danke ich
Herrn Norbert Haas.
35 Haas, Fluchtpunkt, S. 42; Quaderer, S. 57.
36 Für die Übergabe eines Konvoluts an Schriftstücken zum PUNKT sowie hilfreiche
Hinweise danke ich Herrn Robert Allgäuer.
200
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
sen sei. Die Texte zum Konzept des PUNKT zeugen von scharfsinniger
und amüsanter Wortwahl, die zum Nachdenken anregt, da sich dahinter
meist ein Sinn verbirgt, der sich erst bei genauerer Betrachtung offen-
bart. So steht beispielsweise im «Punktprogramm in einzelnen Pro-
grammpunkten (Manifest eines <Pointilisterp)», wo das Wesen des
Punkts bzw. PUNKTS in Einzelpunkten ausgeleuchtet wird: «Der
Punkt ist notwendig für Liechtenstein, zweimal: Vorne, damit ein Licht
aufgeht[;] hinten, damit der Stein ins Rollen kommt.» Sogar einige zwei-
bis dreiseitige, maschinengeschriebene Entwürfe für Artikel wurden
verfasst, darunter die Titel: «Juden, Diskrimination und Liechtenstein»,
«Die staatliche Nachwuchsförderung vor neuen Aufgaben», «Patriotis-
mus —- frag-würdig». Die Manuskripte lassen erkennen, wie intensiv in
gegenseitigem Austausch am Wortlaut gearbeitet und wiederholt korri-
giert wurde.
Leider kam es schliesslich nicht zur Realisierung der Zeitschrift
PUNKT und die erste Ausgabe wurde nie gedruckt. Doch aufs Ganze
gesehen handelte es sich um ein erfolgreiches Nicht-Zustandekommen.
Denn trotzdem erreichte der PUNKT das ideelle Ziel, das er sich vorge-
nommen hatte: Er bot für eine gewisse Zeit Anlass und Möglichkeit, um
junge, kritische Akademiker zur Diskussion zusammenzuführen und sie
zur Niederschrift ihrer Gedanken zu akuten liechtensteinischen Fragen
zu bewegen.” Diese Handreichung nutzten die Angesprochenen denn
auch ebenso dankbar wie lebhaft.” Und möglicherweise — dies als
Hypothese —- wurden die aus dem Nicht-Zustandekommen gezogenen
Lehren ein Jahrzehnt später bei Gründung des VLAG verwertet. Viel-
leicht brachte ja jemand aus dem Umfeld des PUNKT, der sich zum Bei-
spiel später in der LAG engagierte oder der gar bei der Verlagsgründung
selbst mitwirkte, die gewonnenen Erfahrungen dabei ein. Folgende
Andeutung des ersten Verlagsleiters Gerard Batliner lässt zumindest auf-
horchen: «Einem frühen Vorhaben einer eigenen Zeitung oder Zeitschrift
(unter dem Namen «Der Punkt») folgend, erschien 1972 der erste Band
der <Politischen Schriftem [...]. Das war das Gründungsjahr des Verla-
ges.» Obwohl eine solche gerade Einflusslinie vom PUNKT hin zum
37 Vgl. Quaderer, S. 57.
38 Quaderer, S. 57.
39 Batliner, LAG, S. 11, Hervorhebung des Autors.
201
Emanuel Schädler
VLAG nicht direkt nachweisbar ist, so sind bei dessen Ausgestaltung
doch gewisse Gegentendenzen mehr als augenfällig, die im Rückblick so
anmuten, als wären sie eine gezielte konzeptionelle und strukturelle
Umorientierung gewesen. Man bedenke beispielsweise: Anstelle des
Periodikums einer Zeitschrift, die eine Regelmässigkeit des Erscheinens
bedingt, wurde ein Verlag eingerichtet, dessen Veröffentlichungen zeit-
lich ungebunden waren. Sooft ein Erzeugnis der Veröffentlichung wert
erschien, konnte man es verlegen; blieb ein solches Erzeugnis über län-
gere Zeit aus, konnte auch die Verlagstätigkeit ruhen, ohne irgendwelche
Erwartungen des Publikums zu enttäuschen. Anstelle eines Herausge-
ber-/Redaktoren-Teams wurde der Verlag als Ein-Mann-Verlag konzi-
piert und dessen Führung in der Verlagsleitung beim Verlagsleiter gera-
dezu ad personam konzentriert, was einfaches, direktes und effizientes
Handeln garantierte. (Dies war allerdings zugleich ein Risiko. Denn es
band das Know-how an die Person des Verlagsleiters, sodass allzu häu-
fige Wechsel in diesem Posten für den Verlag besonders schädlich wirken
sollten — was glücklicherweise in der Folge aber ausblieb.) Anstelle einer
Zeitschrift, die sich aktuellen Debatten widmet und sich womöglich
aktiv-polemisch daran beteiligt, sollte der Verlag ein eher atemporales
Momentum ausstrahlen. Anstatt mit Artikeln sollte er sich mit grösseren
Sammelbänden oder mit Monografien hervortun, die allein schon von
ihrem Erscheinungsbild her für wissenschaftliche Distanz bürgten und
für eine Beobachter- statt einer Teilnehmerperspektive standen. Und
anstelle von nicht-zweckgebundenen finanziellen Förderungen, welche
den Sponsoren erfahrungsgemäss nur sehr schwer zu entlocken sind, rie-
fen derartige grössere Publikationen eher nach projektbezogenen Spen-
den, die gemeinhin bereitwilliger erfolgen, weil ihre Verwendung durch
die Zweckbindung abgesichert ist. (Als diesbezüglichen Sicherungsme-
chanismus auferlegte die Generalversammlung der LAG anlässlich der
Verlagsgründung dem Verlagsleiter zusätzlich, dass die Finanzierung
jeder Publikation zum Voraus gesichert sein muss, ehe die Drucklegung
angegangen wird.“ Dieser Sicherungsmechanismus ist bis heute erhalten
geblieben.)
Ob die konzeptionelle und strukturelle Ausgestaltung des VLAG
1972 eine wie auch immer geartete Einfluss- oder Reflexwirkung des
40 Broggi/Gantner/Marxer / Wille, S. 25 Fn. 10.
202
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
PUNKT war, muss blosse Vermutung bleiben, da es sich weder zwei-
felsfrei belegen noch widerlegen lässt. Abgesehen davon — und das ist
viel wichtiger - waren jedoch die Hintergedanken und Ziele, die zur
Gründung des VLAG führten, jedenfalls noch dieselben, wie sie schon
zuvor dem Projekt PUNKT 1963/1964 zugrunde gelegen hatten.
Damals allerdings hatten sie nicht im Druck verwirklicht werden kön-
nen. Im Abstand eines Jahrzehnts bezeugen die Bestrebungen um den
PUNKT und um den VLAG gleichermassen die Notwendigkeit von
Neuerungen auf dem publizistischen Feld des damaligen Liechtenstein
sowie eine dementsprechende Aufbruchsstimmung unter der Akademi-
kerschaft. Während es beim PUNKT aber bei der Planung blieb, konnte
der VLAG aus derselben Gesinnung heraus mit den LPS und KS zwei
Schriftenreihen begründen, die bis heute fortgeführt werden. Daraus
folgt: Die (bewusste oder unbewusste) Ahnherrin der Schriftenreihen
LPS und KS ist die nie erschienene Zeitschrift PUNKT.
III. Ausblick
1. Künftiges
Aufgrund seiner langjährigen und erfolgreichen Verlagstätigkeit ist der
VLAG heute in der vorteilhaften Lage, dass er sich als fester Bestandteil
ın der liechtensteinischen Verlagslandschaft etabliert hat und ein gewisses
Renommee vorweisen kann. An die Stelle seines damals jugendlich-pio-
nierhaften Drangs zur publizistischen Auffrischung der liechtensteini-
schen Verlagslandschaft ist mittlerweile ein Traditionsbewusstsein ge-
treten, das sich sowohl qualitativ als inzwischen auch quantitativ auf
57 Bände der LPS und 55 Ausgaben der KS stützen kann. Der massgebli-
che Prüfstein, von welchem der bisherige Erfolg der Verlagstätigkeit her-
rührt, scheint dabei die Qualitätssicherung und mithin das hohe Niveau
der Veröffentlichungen zu sein. Gelingt es weiterhin, die Beiträge auf ei-
nem solchen Niveau zu halten, so dürfte dies auch inskünftig eine erfolg-
reiche Verlagstätigkeit und den Bestand des VLAG gewährleisten.
Qualitätssicherung ist indessen keine leichte Aufgabe, wie im
Rückblick die Erfahrungen seit 1972 zeigen. Qualitätssicherung bedingt
stete Wachsamkeit und bedeutet selbstkritische Prüfung, ob man den
festgesetzten Prinzipien nach wie vor treu ist und die gesteckten Ziele
203
Emanuel Schädler
noch immer auf dem bestmöglichen Weg verfolgt. Wie die Erfahrung
lehrt, dürfen selbst Rückschläge bei innovativen Formen der Verlagstä-
tigkeit oder Projektabbrüche in weit gediehenem Zustand nicht davon
abbringen, dem ursprünglichen Zweck des VLAG mutatis mutandis treu
zu bleiben. Mögen sich viele Umstände auch geändert haben, so gilt
noch heute: Die Verlagstätigkeit des VLAG ist das logisch konsequente,
aber ins bloss Formale gewendete Weiterdenken und Weiterentwickeln
des Grundgedankens der LAG, nämlich am für Liechtenstein überle-
bensnotwendigen Diskurs zu liechtensteinischen Fragen teilzunehmen,
dazu beizutragen und ihn ständig wieder neu zu entfachen. Die Verlags-
tätigkeit als offenes Medium im Gegensatz zum Verein der LAG mit
dem geschlossenen Kreis ihrer Mitglieder ermöglicht es dabei — unter der
selbst auferlegten Ägide einer strengen Qualitätssicherung —, Beiträge
nahezu jeglichen Fachbereichs aufzunehmen und an die gesamte Öffent-
lichkeit zu richten. Insofern sind der VLAG und seine Verlagstätigkeit
nichts anderes als die Fortsetzung der LAG mit anderen Mitteln.
2. Erwünschtes
Zu heutigen Zeiten des allenthalben um sich greifenden Sparzwanges in
Liechtenstein bleibt für die Zukunft des VLAG zu hoffen, dass seine
Tätigkeit weiterhin als lohnend anerkannt und entsprechend gefördert
wird. Ein Verlag von der bescheidenen Grösse des VLAG, der noch
dazu nicht gewinnorientiert arbeitet und sich zu einem guten Teil vom
Idealismus aller Mitwirkenden nährt, ist auf der finanziellen Seite
zwangsläufig auf Sponsoring angewiesen. Ohne die grosszügigen pro-
jektbezogenen Spenden von Organisationen und von Privatleuten wäre
von Anfang an ein Grossteil der Verlagstätigkeit, wie sie sich seit 1972
entfaltet hat, nicht möglich gewesen. Beginnend mit den ersten Heften
der LPS“ belegen dies die jeweiligen einleitenden Danksagungen in den
Veröffentlichungen. Ein grosser Dank gebührt deshalb an dieser Stelle
all jenen, die seither zur Verlagstätigkeit beigetragen haben, sei es in
materieller oder in ideeller Form.
41 Siehe Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.), LPS 2, 5. 4; LPS 3, 5. 4.
204
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
Der Wunsch für die Zukunft lautet demzufolge, dass die Verlagstätigkeit
wie bisher als förderungswürdig erachtet, wertgeschätzt und auf alle
erforderlichen Arten unterstützt wird. So wird sichergestellt, dass der
VLAG die Erreichung seiner - zugegebenermassen — hoch gesteckten
Ziele nicht vernachlässigen muss. Natürlich sind diese Ziele im Abs-
trakt-Idealistischen angesiedelt («die Idee Liechtenstein», «Beitrag zum
Diskurs», «Aktivierung des Staatsbewusstseins» etc.). Das ist im Gegen-
satz zu einem Sportspektakel oder zu einer Prunkbaute weniger greifbar
und die Förderung solcher Ziele vorderhand entsprechend weniger pres-
tigeträchtig. Nichtsdestotrotz ist sie dringlich. Denn der Mensch lebt
ebenso sehr in einer Welt der Ideen.“ Und ebenso dringlich hat Liech-
tenstein deswegen immer wieder aufs Neue seine kulturelle, staatspoliti-
sche, soziale, philosophische und religiöse Eigenart zu diskutieren, zu
ergründen und zu klären: «Jedes freie Staatswesen bedarf der ständigen
geistigen Durchdringung.»* — So lautete der erste Satz des ersten Heftes
der LPS im Jahre 1972, mit dem die Herausgeber den Bedarf einer neuen,
ja überhaupt einer liechtensteinischen politischen Schriftenreihe begrün-
deten. Diese Begründung gilt nach wir vor. Wird die genannte geistige
Durchdringung unseres besonderen liechtensteinischen Staatswesens
vernachlässigt, wird es sich auf Dauer rächen,“ weil bei solch ziellosem
Herumschlendern statt eines zielgerichteten Voranschreitens schlei-
chend dessen Legitimation entfallen wird, welche den Gründervätern
der LAG so sehr am Herzen lag“.
IV. Schlusswort
Georg Malin hat im Schlusswort seiner Dissertation, wo er Feldmar-
schall Fürst Johann I. und seinen Landvogt Josef Schuppler als «Schöp-
fer des modernen Liechtenstein»* würdigte, einen einprägsamen Satz
42 Vegl. Batliner, LAG, S. 12 unter Hinweis auf Max Frisch.
43 Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.), LPS 1, S. 7, Hervorhebung
des Autors.
44 Völ. Batliner, Idee, S. 10 f.
45 Vgl. Broggi/Gantner / Marxer / Wille, S. 24.
46 Malin, S. 171.
205
Emanuel Schädler
notiert. Er lautet: «In ihnen kristallisierte sich das Anliegen ihrer Zeit.»*
Dasselbe kann auch für den Jubilar selbst gelten. Auch in ihm kristalli-
sierten sich Anliegen seiner Zeit und er vermochte ihnen bleibenden
Ausdruck zu verleihen, indem er in mannigfaltigen kulturellen, wissen-
schaftlichen und politischen Gebieten als Gestalter und Förderer eines
fortschrittlichen Liechtenstein wirkte. Unter anderem gelang Georg
Malin dies zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter, als sie 1951 die
LAG gründeten. Aus ihr wiederum ist 1972 der VLAG hervorgegangen,
welcher bis heute im Geiste der Gründerväter eine wesentliche Aufgabe
erfüllt: Durch die Verlagstätigkeit vermittelt der VLAG die «kritische
Auseinandersetzung mit der Idee Liechtenstein»*? (Gerard Batliner), wo
immer sie schriftlichen Niederschlag auf hohem wissenschaftlichem
Niveau gefunden hat, nach aussen an die Öffentlichkeit. Die Verlagstä-
tigkeit des VLAG bewahrt in den Schriftenreihen solche Beiträge als
ausbaufähige Grundlage für künftige Generationen in der Hoffnung,
dadurch den Diskurs zur Idee Liechtenstein beständig um weitere Berei-
cherungen anzuregen.
47 Malin, 5. 171.
48 Batliner, LAG, S. 12.
206
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
LITERATUR
Batliner, Gerard: Vorwort, in: Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.): Bei-
träge zum liechtensteinischen Selbstverständnis, LPS 3, Vaduz 1973, S. 7-8.
Batliner, Gerard: Zur /dee des Liechtenstein-Instituts, in: Eröffnung des Liechtenstein-Insti-
tuts. Feier vom 22. August 1987 im Gemeindesaal Gamprin, KS 11, Vaduz 1987, S. 9-14.
Batliner, Gerard: 50 Jahre LAG: Einige Erinnerungen und Gedanken (und viel Selbstlob),
in: 50 Jahre Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (LAG). Vorträge anlässlich
des Festaktes vom 8. Dezember 2001 in Vaduz, KS 35, Schaan 2001, S. 9-15.
Broggi, Mario F./Gantner, Manfried/Marxer, Wilfried/Wille, Herbert: 25 Jahre Liechten-
stein-Institut, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.): 25 Jahre Liechtenstein-Institut
(1986-2011), LPS 50, Schaan 2011, S. 2343.
Büchel, Hubert (Protokollführer)/Meier, Guido (Versammlungsleiter): Protokoll der aus-
serordentlichen Generalversammlung der LAG vom 16. Juni 1986 [19 5.].
Frick, Marie-Theres: Begrüssung, in: 50 Jahre Liechtensteinische Akademische Gesell-
schaft (LAG). Vorträge anlässlich des Festaktes vom 8. Dezember 2001 in Vaduz,
KS 35, Schaan 2001, S. 5-8.
Haas, Norbert: Ein Land wie Heimat, in: 50 Jahre Liechtensteinische Akademische Gesell-
schaft (LAG). Vorträge anlässlich des Festaktes vom 8. Dezember 2001 in Vaduz,
KS 35, Schaan 2001, S. 17-39.
Haas, Norbert: Fluchtpunkt Landesbibliothek oder Porträt eines jungen Mannes als Bib-
liothekar, in: Roman Banzer (Hrsg.): Flucht.Punkt. Literaturhaus Liechtenstein. Jahr-
buch 4, 2009, Triesen 2010, S. 41—43.
Liechtenstein-Institut (Hrsg.): 25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986-2011), LPS 50,
Schaan 2011.
Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.): Fragen an Liechtenstein. Vorträge,
LPS 1, Vaduz 1972 [2. Aufl. 1977].
Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.): Beiträge zur liechtensteinischen
Staatspolitik. Herausgegeben zum 50jährigen Bestehen des liechtensteinisch-schweize-
rischen Zollvertrages, LPS 2, Vaduz 1973.
Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.): Beiträge zum liechtensteinischen
Selbstverständnis, LPS 3, Vaduz 1973.
Malin, Georg: Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren
1800-1815 [Diss.], in: JBL 53 (1953), S. 5178.
Öhri, Reto: Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (LAG), in: HLFL, Bd. I, Vaduz/
Zürich 2013, S. 555.
Quaderer, Rupert: Wilhelm Beck Passage, in: Claudine Kranz/Hansjörg Quaderer/Hans-
Jörg Rheinberger (Hrsg.): Album für Robert Allgäuer 75, Frankfurt am Main/Basel
2012, 5. 57.
Sele, Patrick: Verlagswesen, in: HLFL, Bd. IT, Vaduz/Zürich 2013, S. 1007.
Wille, Herbert: Zu den Beiträgen, in: Liechtensteinische Akademische Gesellschaft
(Hrsg.): Fragen an Liechtenstein. Vorträge, LPS 1, Vaduz 1972 [2. Aufl. 1977], S. 9.
207
Der Historische Verein für das Fürstentum
Liechtenstein: Entwicklung, Stellenwert,
Herausforderungen
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
Georg Malin gehörte von 1955 bis 1996 dem Vorstand des Historischen
Vereins für das Fürstentum Liechtenstein an. Er prägte damit vier gan-
ze Jahrzehnte der nunmehr über 100-jährigen Vereinsgeschichte wesent-
lich mit. Der nachfolgende Aufsatz bietet einen Überblick zur Ge-
schichte und Bedeutung des Historischen Vereins, dessen sichtbarste
Ergebnisse die mittlerweile erschienenen 115 Jahrbücher darstellen.
Doch der Verein hat auch grössere Forschungsprojekte initiiert und
begleitet. In diesem Beitrag soll zudem das spezielle Engagement von
Georg Malin — seit 1996 Ehrenmitglied des Historischen Vereins — nicht
unerwähnt bleiben.
Entwicklung
Eine Bildungselite gründet 1901 den Historischen Verein
Am 10. Februar 1901 versammelten sich im Gasthaus Kirchthaler (im
späteren «Vaduzer Hof») in Vaduz 45 «Geschichtsfreunde» mit dem
Ziel, einen historischen Verein in Liechtenstein zu gründen. Diese Grün-
dungsversammlung leitete der Liechtensteiner Arzt, Historiker und
Politiker Albert Schädler, der dem Historischen Verein von 1901 bis
1922 als erster Präsident vorstand. Als weitere Vorstandsmitglieder wur-
den folgende Persönlichkeiten gewählt: Landesvikar Johann Baptist
Büchel als Schriftführer, Oberlehrer Alfons Feger als Kassier sowie Lan-
desverweser Karl von In der Maur und Egon Rheinberger. Der Vorstand
setzte sich damit aus einigen der angesehensten Personen des Landes
zusammen. — Ende 1901 zählte der Historische Verein bereits 79 Mit-
glieder, die allesamt der Bildungselite Liechtensteins angehörten: Lehrer,
Geistliche, Beamte, Industrielle sowie auch Ärzte, Juristen und Ge-
209
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
schäftsleute. Einfache Bauern und Arbeiter, aber auch Frauen befanden
sich keine unter diesen Gründungsmitgliedern.
Die Gründung des Historischen Vereins war eine Folge des kultu-
rellen Aufbruchs in Liechtenstein. Der freiheitliche Geist der Verfassung
von 1862 schuf den Rahmen für die Entfaltung des kulturellen Lebens.
Diese Verfassung hatte Vereinsgründungen erst möglich gemacht. Im
kulturellen Bereich entstanden dörfliche Musik- und Gesangsvereine,
eine Theatergesellschaft sowie mehrere Lesevereine. Neben dem 1885
gegründeten Landwirtschaftlichen Verein war der Historische Verein die
zweite landesweite Vereinigung überhaupt und überdies der erste kultu-
relle Verein auf Landesebene. Das stärkte den nationalen Zusammenhalt.
Zudem erschienen ab Mitte des 19. Jahrhunderts erste Publikationen zur
liechtensteinischen Geschichte und Landeskunde: Den Beginn machte
1847 das in Chur erschienene Buch «Geschichte des Fürstenthums
Liechtenstein, nebst Schilderungen aus Chur-Rätien’s Vorzeit», ge-
Der erste Vorsitzende des Historischen
Vereins war Albert Schädler (1848-1922),
Arzt und Sanitätsrat. Das Bild stammt aus
der Zeit um 1898.
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210
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
schrieben vom aus Liechtenstein stammenden Lehrer und Pädagogen
Peter Kaiser. Dieses Werk, von der liechtensteinischen Obrigkeit zuerst
bekämpft, wurde zum Grundlagenwerk der liechtensteinischen Ge-
schichtsforschung. Es folgte 1879 das Buch «Die Alpwirtschaft des Fürs-
tentums Liechtenstein», vorgelegt vom deutschen Gelehrten Hippolyt
von Klenze.
Beiträge zur Geschichte, aber auch zur neuesten Geschichte?
Der Historische Verein beschloss an seiner Gründungsversammlung
1901 Statuten, in denen die Vereinsziele festgelegt wurden. Demgemäss
war es das primäre Ziel, «die vaterländische Geschichtskunde zu för-
dern» ($ 1). Um dies zu gewährleisten, beschloss die Vereinsversammlung
die Herausgabe eines Jahrbuchs. Darin enthalten sein sollten «grössere
und kleinere Aufsätze über die ältere, neuere und neueste Geschichte des
Landes und einzelner liechtensteinischer Gemeinden» ($2).
Dieser Wunsch nach Beiträgen im Jahrbuch über die «neueste Ge-
schichte» ist bemerkenswert. Lediglich in den frühen Vereinsjahren wurde
diesem Wunsch nachgelebt. Ein Blick in die ersten zwanzig Jahrbücher
zeigt, dass Albert Schädler einige Beiträge über die neueste Geschichte
Liechtensteins publizierte. So verfasste er mehrere Aufsätze zur Tätigkeit
des Landtags im 19. Jahrhundert. Darin enthalten war auch die politische
Geschichte, die man für die Jahre des Aufbruchs nach 1862 relativ unbe-
fangen und sogar mit einer gewissen Begeisterung darstellen konnte. Es
gab zu diesem Zeitpunkt noch keine politischen Parteien in Liechtenstein,
die erst im Zuge des Ersten Weltkriegs aufkamen.
Bereits in den 1920er-Jahren, in einer Zeit grosser innenpolitischer
Auseinandersetzungen, wendete sich das Blatt deutlich. So hiess es in
einem Protokoll der Finanzkommission des Landtags vom 6. Februar
1924, man werde dem Historischen Verein den Landesbeitrag von hun-
dert Franken auch für das laufende Jahr bewilligen, jedoch mit der
Bemerkung, «dass die Bewilligung nur unter der Bedingung erfolge, dass
künftig in den Vereinsschriften keine Parteipolitik mehr getrieben wird.»
Offen bleibt, ob dies eine indirekte Kommentierung von Schädlers
erwähnten Beiträgen zur «neuesten Geschichte» Liechtensteins war.
Albert Schädler hatte die im November 1918 erzwungene Abdankung
des Landesverwesers Leopold von Imhof kritisiert und sich damit klar
211
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
als konservativ denkender Mann positioniert, wohl der Bürgerpartei
näherstehend als der zwischen 1922 und 1928 regierenden Christlich-
sozialen Volkspartei.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man von einer Auf-
arbeitung und Darstellung der «neuesten Geschichte» lange Zeit nichts
mehr wissen. Die Zeit des Nationalsozialismus — der auch in Teilen der
liechtensteinischen Bevölkerung seine Anhänger gefunden hatte — war
noch bis in die frühen 1980er-Jahre tabu. Im Interesse des inneren Frie-
dens wollte man die jüngere Zeitgeschichte während mehrerer Jahr-
zehnte nicht aufarbeiten, und dies vor allem in der Absicht, ein erneutes
Aufreissen von kaum verheilten Wunden in der Gesellschaft möglichst
zu vermeiden.
Quellen- und Grundlagenforschung für Liechtenstein
Die ersten Vereinsstatuten von 1901 forderten, dass in den Jahrbüchern
ebenfalls eine «thunlichst vollständige Sammlung aller noch vorhande-
nen, unser Land und unsere Gemeinden betreffenden Urkunden von
den ältesten Zeiten an» ($ 2) enthalten sein sollte. Der Geistliche Johann
Baptist Büchel, neben Albert Schädler die treibende Kraft bei der Ver-
einsgründung von 1901, sammelte und publizierte zahlreiche Quellen-
texte — zum Teil in zusammengefasster Form als Regesten. Dabei er-
kannte er den besonderen Wert dieser Urkunden und betonte die Wich-
tigkeit einer sicheren Aufbewahrung dieses wertvollen Schrift- und
Kulturguts. Die umfangreichste Arbeit von Johann Baptist Büchel im
Jahrbuch stellte jedoch die 1902 veröffentlichte «Geschichte der Pfarrei
Triesen» dar. Es war die erste umfassende und fundierte Ortsgeschichte
unseres Landes. Büchel folgte dem 1922 verstorbenen Albert Schädler
als zweiter Vereinsvorsitzender.
Als Büchels Hauptwerk gilt die umstrittene Überarbeitung und
Erweiterung von Peter Kaisers «Geschichte des Fürstenthums Liechten-
stein», welche vom Historischen Verein 1923 neu veröffentlicht wurde.
Johann Baptist Büchel machte sich dennoch damit verdient, da er mit
dieser bearbeiteten Neuauflage das Werk Peter Kaisers wieder in Erin-
nerung rief und für nachfolgende Generationen bekannt machte. Das
Buch erschien in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Der Historische
Verein widmete das Werk dem Landesfürsten Johann II.
212
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Die Überarbeitung von Kaisers Werk durch Johann Baptist Büchel war
deshalb umstritten, weil Büchel obrigkeitskritische Passagen von Peter
Kaiser zum Teil löschte oder sprachlich glättete. Ein Beispiel: Peter Kai-
ser betrachtete den 1808 von Fürst Johann I. neu eingesetzten Landvogt
Josef Schuppler kritisch: «Dieser in seiner Art eben so thätige, als eigen-
mächtig vorgreifende Mann bezog im Herbst 1808 als ein zweiter Harp-
recht [sic] seinen Posten» (Kaiser, S. 500). Diese Passage etwa fehlt in
Büchels Neubearbeitung von 1923. Stephan Christoph Harpprecht von
Harpprechtstein war Rechtsberater des Fürsten Anton Florian gewesen
und hatte 1719 im neu geschaffenen Fürstentum Liechtenstein gewalt-
sam Reformen im Sinne des Absolutismus durchgesetzt. Er hatte dabei
die Landammann-Verfassung inklusive der damit verbundenen Mitbe-
stimmungsrechte des Volkes ausser Kraft gesetzt. Auch Schuppler war
umstritten, da er im Auftrag des Fürsten 1809 eine Umgestaltung der
politischen Verhältnisse in Liechtenstein erzwang. Peter Kaiser schrieb
dazu, das Volk habe nun grössere Lasten zu tragen und geniesse weniger
Rechte (a. a. O., S. 502).
Der Historische Verein würdigte Peter Kaisers Verdienste wieder-
holt. Zum 150. Geburtstag Kaisers wurde am 3. Oktober 1943 in Ver-
bindung mit der Vereinsversammlung bei dessen Geburtshaus in Mau-
ren eine Gedenktafel angebracht. Zwölf Jahre später, am 26. Juni 1955,
enthüllte das Land Liechtenstein bei der Pfarrkirche in Mauren eine von
Georg Malin geschaffene Peter-Kaiser-Büste. Der Historische Verein
bereicherte die damit verbundene Feierstunde zudem mit einer Kranz-
niederlegung.
Auf den 1927 verstorbenen Johann Baptist Büchel folgte Joseph
Ospelt als dritter Präsident des Historischen Vereins. Joseph Ospelt
erwarb sich besondere Verdienste mit seinem Engagement für ein Liech-
tensteinisches Urkundenbuch, eine Sammlung und wissenschaftliche
Kommentierung alter Quellentexte zur Geschichte des Landes. Er
bemühte sich dabei auch um Abschriften von Urkunden aus ausländi-
schen Archiven, soweit sie für Liechtenstein wichtig waren. Die Arbei-
ten für das Urkundenbuch begannen 1934, nachdem der Landtag die
Finanzierung bewilligt hatte. Am Urkundenbuch wird bis heute unun-
terbrochen gearbeitet. — Bearbeiter des Urkundenbuches waren der
St. Galler Stiftsarchivar Franz Perret, die Bregenzer Archivare Viktor
Kleiner, Meinrad Tiefenthaler und Benedikt Bilgeri, der Liechtensteiner
Historiker Georg Malin sowie der Appenzeller Historiker und Lehrer
213
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
Otto P. Clavadetscher. Seit 1998 bearbeitet Claudius Gurt, ehemaliger
Mitarbeiter Clavadetschers, das Liechtensteinische Urkundenbuch.
Mit der Sammlung und Veröffentlichung von Regesten und
Urkunden hat der Historische Verein eine wertvolle Grundlagenarbeit
geleistet, deren Früchte allen Forscherinnen und Forschern zur liechten-
steinischen Geschichte zugutekommen. Das erwähnte Pionierwerk von
Peter Kaiser wurde zudem 1989 — mit einem wissenschaftlichen Apparat
versehen - vom Balzner Historiker Arthur Brunhart neu herausgegeben.
Heimat- und Denkmalschutz, Inventarisierung
von Kunstdenkmälern
Als an der Jahresversammlung 1910 die Gründung eines «Vereins für
Heimatschutz» in Liechtenstein angeregt wurde, beantragte Albert
Schädler, diese Aufgabe dem Historischen Verein zu übertragen. Der
Antrag wurde angenommen, was 1912 zu einer Neufassung der Statuten
führte. Wichtiges Ziel des Vereins war es nun auch, «die Eigenheit des
Landes zu erhalten, a) durch Schutz des Landschaftsbildes, der erhal-
tungswürdigen Sitten und Gebräuche; b) durch Pflege der bodenständi-
gen Bauweise, soweit sie charakteristisch und beachtenswert ist, und
durch Erhaltung der bestehenden historisch interessanten Bauten;
c) durch tunlichsten Schutz der Naturdenkmäler des Landes».
In der Folge bat der Historische Verein 1929 die Regierung, bei der
Erteilung von Baubewilligungen darauf zu achten, dass bei Neubauten
auch der Landschaftsschutz berücksichtigt werde. Gerade in Vaduz
seien in letzter Zeit Neubauten entstanden, die man als Störung des
Landschaftsbildes betrachten müsse. Konkret beanstandete der Histori-
sche Verein 1932 auch das von Architekt Ernst Sommerlad entworfene
Bauprojekt von Hermann Zickert an der Feldstrasse in Vaduz. Gebaut
wurde dieses besondere Haus mit seinem markanten viertelkreisförmi-
gen Grundriss trotzdem — und es steht heute unter Denkmalschutz.
Der Historische Verein war aktiv engagiert bei der Erarbeitung des
ersten Denkmalschutzgesetzes, das 1944 in Kraft trat. Dieses Gesetz
ermöglichte es der Regierung in Vaduz, eine Inventarliste der schützens-
werten Baudenkmäler in Liechtenstein zu erstellen. Eine Frucht dieser
Inventarisierung war das vom Historischen Verein initiierte und 1950
erschienene Buch «Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechten-
214
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
stein», das vom deutschen Kunsthistoriker Erwin Poeschel verfasst
wurde. Poeschel hatte zuvor die Kunstdenkmäler des Kantons Grau-
bünden inventarisiert und in Buchform (in insgesamt sieben Bänden)
publiziert. Der auch für Liechtenstein zuständige Churer Bischof Chris-
tianus Caminada hatte Poeschel für die Kunstdenkmäler-Bearbeitung in
Liechtenstein empfohlen. — Die Kunstdenkmäler des Fürstentums wur-
den schliesslich ab Herbst 1999 von der in Liechtenstein lebenden deut-
schen Kunsthistorikerin Cornelia Herrmann vollständig neu bearbeitet
und in zwei Bänden (Band 2: Oberland, 2007; Band 1: Unterland, 2013)
publiziert. Der Historische Verein war Träger dieses Projekts. Alle er-
wähnten Bände erschienen in der Reihe «Die Kunstdenkmäler der
Schweiz» und wurden von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstge-
schichte herausgegeben.
Pfarrkirche sowie renovierte Pfrundbauten
in Eschen. Aufnahme aus der Zeit um 1980.
Georg Malin hatte sich für den Erhalt der
historischen Pfrundbauten eingesetzt.
215
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
Der Historische Verein hat seit 1944 auch Einsitz in der Denkmalschutz-
Kommission der Regierung in Vaduz. Diese Kommission entschied
jedoch nicht immer im Sinne des Historischen Vereins. So befand die
Denkmalschutz-Kommission am 13. Mai 1965 mehrheitlich, dass die
historischen kirchlichen Pfrundbauten in Eschen nicht erhaltenswert
seien und deshalb abgebrochen werden könnten. Georg Malin, Vor-
standsmitglied des Historischen Vereins, wollte sich mit diesem Ent-
scheid nicht abfinden. Mit Schreiben vom 18. Mai 1965 bat Malin die
Regierung, die Abbruchbewilligung zu verweigern. Er verwies dabei auf
die historische Bedeutung dieses Ensembles und stellte fest: «Ein Bau
aus dem 16. Jahrhundert, der öffentliches und geistiges Zentrum des
Dorfes war, stellt eine Verpflichtung dar.» Georg Malin betonte die
Bedeutung der Pfrundbauten auch für das Ortsbild von Eschen: «Würde
das Pfrundhaus entfernt, um eine schnittige Kurve für den rasanten
Innerortsverkehr zu erreichen, ginge Wesentliches in der Dorfkernge-
staltung verloren. Die wenig schöne Kirche stünde nackt da, und das
Unvermögen ihrer Erbauer würde überlaut.» Ein Abbruch der Pfrund-
bauten konnte knapp verhindert werden. In einer Volksabstimmung
sprachen sich die Eschner mit 185 Ja- zu 180 Nein-Stimmen für den Er-
halt und die Renovation der Pfrundbauten aus.
Infrastruktur, organisatorische Entwicklung,
Mitgliederzahlen und Finanzen
Im 1905 fertiggestellten Regierungsgebäude erhielt der Historische Ver-
ein nördlich des Eingangs ein Zimmer als Vereinslokal zugewiesen. Ein
weiterer Raum war für die vereinseigene Sammlung reserviert. Der Ver-
ein konnte diese Räume während rund 20 Jahren nutzen. 1929 stellte
Fürst Franz I. dem Historischen Verein Räumlichkeiten auf Schloss
Vaduz zur Verfügung, die der Verein 1938 — als Fürst Franz Josef II. auf
Schloss Vaduz seinen Wohnsitz nahm — räumen musste. Später waren
der Verein sowie seine Bibliothek und Sammlung zeitweise im Vaduzer
Rathaus und im Engländerbau untergebracht. 1954 erhielt der Histori-
sche Verein ein Zuhause im oberen Stock des neuen Landesbank-Gebäu-
des in Vaduz, ebenso wurden die grösser gewordenen Vereinssammlun-
gen hier untergebracht. 1967 musste der Verein auch hier wieder auszie-
hen, da die Bank mehr Platz benötigte. Nach einem weiteren
216
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Provisorium — mit einer Verteilung der Vereinssammlungen auf mehrere
Orte in Vaduz — fand der Historische Verein 1972 ein vorläufiges neues
Zuhause, und zwar im neu eröffneten Landesmuseum im Vaduzer
Städtli. Die räumlichen Kapazitäten für den Verein wurden hier jedoch
zusehends knapper. Als an der Messinastrasse in Triesen 1990 ein neues
Mehrzweckgebäude fertiggestellt wurde, erhielt der Historische Verein
1991 hier Büro- und Lagerräume, die er bis 2006 nutzen konnte. Im
Sommer 2006 erhielt der Historische Verein schliesslich im renovierten,
historischen Gamanderhof in Schaan ein neues Zuhause.
Verantwortlich für die Leitung und Verwaltung des Vereins ist seit
1901 der Vereinsvorstand. Gemäss den Statuten muss er die Beschlüsse
der Mitgliederversammlung umsetzen und insbesondere die Redaktion
sowie die Herausgabe des Jahrbuchs gewährleisten. Innerhalb des Ver-
einsvorstands haben der Präsident (der Vorsitzende) sowie der Kassier
die meisten Aufgaben. Bereits 1910 wurde der Kassier finanziell ent-
schädigt, seit 1935 erhält auch der Präsident eine Entschädigung.
Ohne eine regelmässige finanzielle Unterstützung, vor allem durch
den Staat, hätte der Historische Verein nicht in dieser Form Bestand
haben können. Der Landtag hatte dem Verein 1901 eine jährliche Lan-
dessubvention von 200 Kronen zugesichert, dieselbe Summe kam auch
von Fürst Johann II. Mit dieser Unterstützung sowie mit den Mitglie-
derbeiträgen konnten die Jahrbuchkosten gedeckt werden. 1958 zum
Beispiel belief sich der Staatsbeitrag an den Historischen Verein auf
10000 Franken, was den damaligen Jahrbuchkosten entsprach. Im Jahr
2015 erhielt der Verein einen Staatsbeitrag von 150000 Franken, entrich-
tet über die Kulturstiftung Liechtenstein. An Mitgliederbeiträgen erhielt
der Verein 2015 rund 50000 Franken, dazu kam ein Beitrag des Fürsten-
hauses in Höhe von 5000 Franken. Die Mitgliederbeiträge deckten 2015
drei Viertel der Jahrbuchkosten ab. Aufgaben und Infrastruktur des His-
torischen Vereins waren über die Jahrzehnte deutlich gewachsen.
Zur Entlastung des Vereinsvorstands wurde 1991 eine Geschäfts-
stelle eingerichtet. Sie wurde bis 1993 von Veronika Marxer geleitet. Von
1993 bis 1995 war Sandra Wenaweser die Geschäftsführerin, und zwi-
schen 1995 und 2008 leitete Klaus Biedermann die Geschäftsstelle. Er
wurde abgelöst von Ruth Allgäuer. Von 2009 bis Ende 2013 leitete
Marco Schädler die Geschäftsstelle. Seit Anfang 2014 ist Cornelia Büh-
ler die Geschäftsführerin des Historischen Vereins. — Die Redaktion des
Jahrbuchs war über viele Jahre Aufgabe des Vereinsvorsitzenden oder
217
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
eines Vorstandsmitglieds. Hier sind insbesondere Felix Marxer sowie
Robert Allgäuer als langjährige Redaktoren zu erwähnen. Seit 1997 ist
Klaus Biedermann mit der Redaktion des Jahrbuchs betraut. Für die gra-
fische Gestaltung der Jahrbücher zeichnete von 1987 bis 2010 die Grafi-
kerin Silvia Ruppen verantwortlich.
Der Historische Verein zählte im Jahr 1910 132 Mitglieder. Diese
Zahl stieg bis 1925 auf 233 Mitglieder. Darin enthalten waren die elf
Gemeinden des Landes, fünf Vereine sowie drei Bibliotheken als Kol-
lektivmitglieder, ebenso 214 Einzelmitglieder, darunter acht Angehörige
des Fürstenhauses. Relativ spät, im Jahr 1933, traten die 14 liechtenstei-
nischen Volksschulen sowie die Sekundarschulen von Vaduz und Eschen
dem Historischen Verein als Mitglieder bei. Das Collegium Marianum —
das heutige Liechtensteinische Gymnasium - wurde 1938 Kollektivmit-
glied. Im Jahr 1950 betrug die Mitgliederzahl 356 Personen. 1975 waren
es bereits 727 Personen, und bis ins Jahr 2000 stieg die Zahl der Mitglie-
der auf 863 an. Die seit 1999 mögliche Ehepaar- und Partnermitglied-
schaft führte zu einer Erhöhung des Frauenanteils auf 20 Prozent.
Gemäss einer Stichprobe vom November 2000 lag das Durchschnittsal-
ter der liechtensteinischen Vereinsmitglieder bei rund 56 Jahren. Heute
liegt die Mitgliederzahl wieder etwas tiefer: Per Ende 2015 gehörten 741
Personen dem Historischen Verein für das Fürstentum Liechtenstein als
Mitglieder an. — Erst im Jahr 1991 wurde mit der Juristin Marie-Theres
Frick die erste Frau in den Vorstand gewählt. Eva Pepic präsidierte als
erste Frau zwischen 2005 und 2011 den Historischen Verein.
Stellenwert
Der Verein als Initiator für die Archäologie
und für das Landesmuseum
Die erwähnte Neufassung der Statuten von 1912 hatte nicht nur den Hei-
matschutz, sondern auch die archäologische Erforschung Liechtensteins
zu einer neuen Vereinsaufgabe gemacht. Demzufolge sollten im Jahrbuch
des Vereins in Zukunft auch «Berichte über archäologische Forschungen
und Funde» ihren Platz finden ($ 2). Albert Schädler hatte an der Jahres-
versammlung 1909 einen Vortrag gehalten über frühgeschichtliche und
römische Funde in Liechtenstein. Für Aufsehen gesorgt hatte zum Bei-
218
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
spiel der 1887 beim Bau einer Wasserleitung bei Schaan gemachte Fund
von zwei Römerhelmen. Leider gelangten die beiden Helme in ausländi-
sche Museen, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass da-
mals (1887) noch ein Verein in Liechtenstein fehlte, der sich für einen
Verbleib solch wichtiger Kulturgüter im Land eingesetzt hätte.
Mit dem erwähnten Vortrag, publiziert im Jahrbuch Band 9, hatte
Albert Schädler nicht nur einen wesentlichen Anstoss für weiterfüh-
rende archäologische Forschungen gegeben, sondern auch für den Auf-
bau einer «Sammlung liechtensteinischer Altertümer». Der Aufbau einer
solchen Sammlung wurde statutarisch 1912 ebenfalls zu einer zentralen
Aufgabe des Historischen Vereins. Der Vaduzer Egon Rheinberger,
Gründungs- und Vorstandsmitglied des Historischen Vereins, übernahm
als Konservator die Verantwortung für dessen Sammeltätigkeit. Nach
Rheinbergers Tod 1936 wurde der Pfarrer und Politiker Anton From-
melt neuer Konservator.
Der Vorstand des Historischen Vereins bei einer Besichtigung der
Ausgrabungen auf der Burg Gutenberg. Von links: Professor Eugen
Nipp, Egon Rheinberger, Pfarrer Anton Frommelt, Ing. Gabriel
Hiener, Fürstlicher Rat Josef Ospelt sowie Professor Gero von Mer-
hart. Foto aus dem Sommer 1933.
219
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
Bis zum Erlass des ersten Denkmalschutzgesetzes 1944 führte der His-
torische Verein in eigener Verantwortung archäologische Ausgrabungen
durch. Nach 1944 erfolgten diese Ausgrabungen im Auftrag der Regie-
rung. Mehrere Vorstandsmitglieder widmeten sich ehrenamtlich der
Ausgrabungstätigkeit, insbesondere Egon Rheinberger, Anton From-
melt, David Beck und Georg Malin. Unter den Präsidentschaften von
Joseph Ospelt und David Beck, zwischen 1928 und 1966, wurde die
archäologische Forschung zu einem Hauptanliegen des Vereins. Beson-
ders David Beck gilt als «Vater der Archäologie» in Liechtenstein. Beck
besuchte universitäre Fachkurse, die von der Schweizerischen Gesell-
schaft für Ur- und Frühgeschichte angeboten wurden. David Becks
Nachfolger als Vereinspräsident, der von 1966 bis 1986 amtierende Felix
Marxer, war hingegen primär als Konservator und Museumsleiter tätig.
Im Laufe der Zeit erreichten die Grabungs- und Auswertungsar-
beiten ein immer grösseres Ausmass, sodass der Historische Verein
zunehmend auf die Mithilfe externer Fachkräfte angewiesen war. Das
führte dazu, dass der Verein zur Betreuung der archäologischen For-
schung in Liechtenstein 1982 erstmals eine externe Fachkraft anstellte,
Einblicke in die 1954 eröffnete Ausstellung des Historischen Vereins
im Obergeschoss des neu errichteten Gebäudes der Liechtensteini-
schen Landesbank. Diese Ausstellung war der Beginn des Liechten-
steinischen Landesmuseums.
220
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
und zwar den Schweizer Archäologen Jakob Bill. Nach Bills Demission
lag die Leitung der Archäologie wieder in liechtensteinischen Händen.
Von 1987 bis 1997 koordinierte und leitete Eva Pepie die archäologische
Forschung in Liechtenstein, seit 1997 übt Hansjörg Frommelt diese
Tätigkeit aus.
Da die Aufgaben der Archäologie stetig gewachsen waren, mussten
für die Trägerschaft und rechtliche Stellung der Archäologie neue
Lösungen gefunden werden. Die Archäologie wurde in der Folge per
Ende 1998 aus dem Historischen Verein ausgegliedert und vorerst zu
einer Fachstelle beim Hochbauamt. Seit 2013 sind Archäologie und
Denkmalpflege in Liechtenstein im Amt für Kultur beheimatet. Dem
Historischen Verein kommt das Verdienst zu, die archäologische For-
schung in Liechtenstein wesentlich mitinitiiert sowie über Jahrzehnte
geleitet und gefördert zu haben.
Ebenfalls ein «Kind» des Historischen Vereins ist das Liechtenstei-
nische Landesmuseum. Wie erwähnt, war das Sammeln «liechtensteini-
scher Altertümer» 1912 zur statutarisch festgelegten Vereinsaufgabe ge-
worden. Im oberen Stock des neu errichteten Landesbankgebäudes in
221
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
Vaduz wurde an Pfingsten 1954 das erste Liechtensteinische Landesmu-
seum eröffnet. Jetzt konnten die Sammlungen des Historischen Vereins
einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Funde zur Ur-
und Frühgeschichte sowie zur Römerzeit, sakrale Kunstwerke sowie
volkskundliche und geologische Kostbarkeiten wurden in verschiedenen
Vitrinen gezeigt.
Bis August 1967 konnte der Verein diese Räume im Landesbank-
gebäude nutzen, nachher musste er für seine Sammlungen einen neuen
Standort suchen. Der Staat konnte dafür das «Batliner-Haus» im Vadu-
zer Städtli erwerben, welches noch heute Sitz des Landesmuseums ist; es
ist dies die einstige herrschaftliche Taverne in Vaduz. Die Wiedereröff-
nung des Landesmuseums fand hier im April 1972 statt. Mit Gesetz vom
9. Mai 1972 wurde die öffentlich-rechtliche Stiftung Liechtensteinisches
Landesmuseum errichtet. Der Historische Verein gab damit die Träger-
schaft über das Museum ab, die vom Verein aufgebaute Sammlung
wurde als Dauerleihgabe dem Museum übergeben. Dem Historischen
Verein wurde eine Vertretung im Stiftungsrat des Landesmuseums zuge-
sichert. Auch wurde vertraglich vereinbart, dem Historischen Verein
Georg Malin leitete von 1973 bis 1975 Ausgrabungen in Nendeln,
die zur Freilegung und Konservierung der Grundmauern einer römi-
schen Villa führten.
222
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
«nach Möglichkeit» Räumlichkeiten im Landesmuseum zur Verfügung
zu stellen. Damit hat sich das Land verpflichtet, dem Historischen Ver-
ein auch inskünftig eine gewisse Raum- und Büroinfrastruktur zu garan-
tieren. Dieser Verpflichtung kommt das Land mit den dem Verein im
Gamanderhof in Schaan überlassenen Räumen bis heute nach. Die Tra-
dition, die Jahresberichte des Landesmuseums im Jahrbuch des Histori-
schen Vereins zu publizieren, wird bis heute fortgesetzt.
Nochmals Bezug nehmend auf die Archäologie darf der Hinweis
nicht fehlen, dass Georg Malin als Vorstandsmitglied des Historischen
Vereins selbst mehrere Ausgrabungen leitete. Es waren dies insbesondere
die Ausgrabungen auf dem Kirchhügel in Bendern 1969 bis 1977 sowie
Ausgrabungen beim römischen Gutshof in Nendeln 1973 bis 1975.
Weitere wissenschaftliche Projekte, Publikationstätigkeit
Der Historische Verein lancierte grössere wissenschaftliche Projekte,
deren Forschungs- und Publikationsergebnisse einen wichtigen Stellen-
wert innerhalb der landeskundlichen und historischen Veröffentlichun-
gen einnehmen. Auf das Urkundenbuch sowie auf die Kunstdenkmäler-
Bände wurde bereits hingewiesen. Besonders in den ersten Jahrzehnten
seines Bestehens pflegte der Historische Verein eine enge Zusammenar-
beit mit Vorarlberg.
Ein grosses grenzüberschreitendes Projekt war der Vorarlberger
Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein. Der Vorarl-
berger Projektleiter, Professor Eugen Gabriel, begann 1964 mit ersten
Tonbandaufnahmen im Fürstentum. Der vollständige Atlas mit fünf
Kartenbänden sowie zahlreichen Kommentar- und Abbildungsheften
lag schliesslich im Jahr 2006 in gedruckter Form vor. Eugen Gabriel
wurde unterstützt von seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Hubert
Klausmann. Liechtenstein war mit elf Prozent der Kosten an diesem
grossen, bislang zu wenig beachteten Forschungsprojekt beteiligt.
Unter der Präsidentschaft von Felix Marxer übernahm der Histori-
sche Verein die Trägerschaft für ein zu schaffendes Liechtensteiner Na-
menbuch. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Hans Stri-
cker konnte 1981 mit dessen Erarbeitung begonnen werden. Die zwi-
schen 1986 und 1991 erschienenen Flurnamenkarten der elf Gemeinden
waren die ersten publizierten Forschungsergebnisse dieses Projekts. We-
223
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
sentliche Vorarbeiten hatten Arthur Brunhart und Claudius Gurt mit ih-
rer unverzichtbaren Archivarbeit geleistet. Projektleiter Hans Stricker
konnte in den Folgejahren auf die Mitarbeit von Toni Banzer und Her-
bert Hilbe zählen. Der erste Werkteil mit den Orts- und Flurnamen in
neun Bänden wurde 1999 publiziert. Er ist auch online zugänglich. Die
Publikation des zweiten Werkteils mit den Personen- und Familienna-
men in vier Bänden folgte im Jahr 2009. Ein letzter, den Rufnamen gewid-
meter, volkskundlich interessanter Teil konnte leider nicht erscheinen.
Unter der Präsidentschaft von Alois Ospelt (1986 bis 1996) be-
schloss der Verein 1988, ein Historisches Lexikon für das Fürstentum
Liechtenstein zu erarbeiten. Erster Lexikon-Redaktor war Arthur Brun-
hart. Dank eines vom Landtag gesprochenen Ergänzungskredits konnte
das Historische Lexikon per Anfang 2001 auf eine neue Basis gestellt
werden. Die Trägerschaft ging vom Historischen Verein auf den Staat
über. Projektleiter Arthur Brunhart wurde nun neu unterstützt von
einem Redaktionsteam, das von Fabian Frommelt geleitet wurde. Das
zweibändige Historische Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, an
dem mehr als 200 Autorinnen und Autoren mitgewirkt hatten, wurde
am 27. Januar 2013 in Balzers präsentiert. Das Lexikon erschien im Ver-
lag des Historischen Vereins sowie im Chronos-Verlag, Zürich.
Gerade bei Publikationen von überregionalem Interesse arbeitete
der Historische Verein regelmässig mit dem renommierten Chronos-
Verlag in Zürich zusammen. Grosse Forschungsprojekte, deren Ergeb-
nisse ın beiden Verlagen erschienen, waren etwa die Arbeiten von Peter
Geiger und von Rupert Quaderer. Beide hatten ihre Forschungsprojekte
im Auftrag des Liechtenstein-Instituts bearbeitet. 1997 erschien das erste
zweibändige Werk von Peter Geiger «Krisenzeit — Liechtenstein in den
Dreissigerjahren 1928 bis 1939». Die beiden Folgebände «Kriegszeit —
Liechtenstein 1939 bis 1945» wurden 2010 präsentiert. Rupert Quaderer
konnte seine Forschungsarbeit 2014 veröffentlichen. Sie erschien in drei
Bänden unter dem Titel «Bewegte Zeiten ın Liechtenstein 1914 bis
1926». Rupert Quaderer war von 1996 bis 2005 Vorsitzender des Histo-
rischen Vereins.
Mit der Publikation dieser Arbeiten ist der Historische Verein dem
1901 formulierten Vereinsziel wieder etwas nähergekommen, auch Ar-
beiten zur «neueren Geschichte» (wenn auch nicht zur «neuesten» Ge-
schichte) zu publizieren. Diesem Vereinsziel entsprachen ebenso die
2005 erfolgten Veröffentlichungen der «Unabhängigen Historikerkom-
224
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
mission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg» (UHK). Die 2001 von der
liechtensteinischen Regierung eingesetzte UHK hatte den Auftrag, spe-
zifische Fragen zur Rolle Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg zu unter-
suchen. Die UHK stand unter dem Vorsitz von Peter Geiger. Im Auftrag
der UHK forschten folgende Historikerinnen und Historiker: Hans-
peter Lussy, Veronika Marxer, Christian Ruch, Esther Tisa Francini,
Ursina Jud und Stefan Karlen. Der zusammenfassende Schlussbericht
der UHK erschien 2005 auf Deutsch sowie 2009 auch auf Englisch.
Im Anschluss an das UHK-Projekt wurden weitere zu erforschen-
de Themen benannt und — soweit möglich - im Rahmen neuer Projekte
untersucht. So startete 2008 der Historische Verein ein Forschungspro-
jekt zum Thema «Einbürgerungen in Liechtenstein». Unter der Projekt-
leitung von Regula Argast bearbeiteten die Forschungsbeauftragten
Klaus Biedermann, Nicole Schwalbach und Veronika Marxer die Teilge-
biete «19. und frühes 20. Jahrhundert», «Finanzeinbürgerungen 1919 bis
1955» sowie «Einbürgerungen ab 1945». Die Forschungsarbeiten sowie
der Schlussbericht von Regula Argast wurden 2012 veröffentlicht. — Ein
weiteres neues Forschungsprojekt, das vom Historischen Verein getra-
gen und im Landesarchiv in Vaduz erarbeitet wurde, war die Erstellung
von Quellenbänden zur liechtensteinischen Geschichte im 20. Jahrhun-
dert. Forschungsbeauftragte waren hier Stefan Frey, Lukas Ospelt und
Paul Vogt. Der erste Band mit Quellen für den Zeitraum von 1928 bis
1950 erschien 2012, der zweite Band mit Dokumenten zu den Jahren
1900 bis 1930 folgte im Jahr 2015.
Aufgrund der Enteignung des fürstlich-liechtensteinischen Besit-
zes in der Tschechoslowakei nach 1945 war das Verhältnis zwischen Prag
und Vaduz über Jahrzehnte belastet. 2010 nahm eine Liechtensteinisch-
Tschechische Historikerkommission ihre Arbeit auf, mit dem Ziel, die
gegenseitigen Beziehungen aus historischer Sicht zu beleuchten. Peter
Geiger (Schaan) sowie Tomas Knoz (Brünn) standen dieser Kommission
vor. Zahlreiche Forschende aus Tschechien und aus Liechtenstein erar-
beiteten Beiträge, die zwischen 2012 und 2015 in acht Bänden im Verlag
des Historischen Vereins erschienen. — Ein weiteres Buchprojekt des
Historischen Vereins war zum Beispiel die Untersuchung der liechten-
steinischen Auswanderung nach Amerika, die im 19. Jahrhundert ein-
setzte. Eine erste, von Norbert Jansen erarbeitete Buchausgabe erschien
1976. Zusammen mit Pio Schurti sowie weiteren Autoren verfasste Nor-
bert Jansen eine erweiterte Zweitausgabe, die 1998 erschien. Sehr popu-
225
Klaus Biedermann / Guido Wolfinger
lär ist auch die Buchedition der liechtensteinischen Sagen geworden, die
Otto Seger zusammengetragen hatte und die der Historische Verein 1966
veröffentlichte.
Herausforderungen
Anlässlich der Statutenrevision von 2005 hat der Historische Verein sei-
nen Zweckartikel wie folgt neu definiert: «Der Zweck des Vereins
besteht in der Förderung der Geschichts- und Landeskunde und der Bil-
dung des historischen Bewusstseins. Der Verein initiiert und unterstützt
diesbezügliche Forschungsarbeiten, vermittelt deren Ergebnisse und
setzt sich für den Schutz des kulturellen Erbes ein» (Art. 2). Dieser
Zweck wird insbesondere erreicht «durch die Initiierung und Begleitung
von Forschungsprojekten sowie die Herausgabe eines Jahrbuchs»
(Art. 3). In diesem Umsetzungsartikel (Art. 3) werden auch Vorträge
und Diskussionsrunden erwähnt. Das ist von entscheidender Bedeu-
tung. Forschung und Publikation sind zwar unabdingbar, aber die per-
sönliche Vermittlung der Ergebnisse ist ebenso zentral und auf jeden Fall
gute Werbung für die Arbeit des Vereins.
Da zahlreiche Leserinnen und Leser sich nicht mehr viele dicke
Bücher anschaffen möchten, hat in dieser Hinsicht auch ein gewisses
Umdenken stattgefunden. Unter der Präsidentschaft von Aldina Sievers
konnte 2011 mit Band 110 die erste Ausgabe eines schlankeren und
handlicheren Jahrbuchs veröffentlicht werden. Zudem sind die Digitali-
sierung der Jahrbücher sowie die Veröffentlichung der Jahrbuch-Bei-
träge ım Internet heute wichtige Aspekte geworden.
Eine Herausforderung wird es sein, auch in Zukunft genügend
Autorinnen und Autoren für das Jahrbuch zu finden. Ebenfalls ist es
keineswegs selbstverständlich, dass sich auf ehrenamtlicher Basis enga-
gierte Frauen und Männer für die Mitarbeit im Vereinsvorstand zur Ver-
fügung stellen. Mit Blick auf die Zukunft ist es hilfreich, gerade auch
jüngere Historikerinnen und Historiker für eine Mitarbeit zu gewinnen,
sei es als Mitglieder im Vorstand, sei es als Autorinnen und Autoren.
Im Jahr 2015 kooperierte der Historische Verein mit der Histo-
risch-Heimatkundlichen Vereinigung des Bezirks Werdenberg bezüglich
der Inhalte ihrer Jahrbücher. Es waren zuvor gemeinsame Themen aus-
gewählt worden, die dann in zum Teil gemeinsame, in zum Teil separate
226
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Beiträge einflossen. Solche Kooperationen, zum Beispiel mit Vorarlberg,
sind sicherlich zukunftsweisend. Damit wird auch eine gewisse Tradi-
tion fortgesetzt, denn der Historische Verein hat immer auch Kontakte
mit Partnervereinen in den Nachbarländern gepflegt. Seit vielen Jahren
ist der Historische Verein zum Beispiel Mitglied des Arbeitskreises für
interregionale Geschichte des mittleren Alpenraumes (AIGMA).
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein ist über
hundert Jahre von der öffentlichen Hand unterstützt worden, vom Staat,
vom Fürstenhaus, von den Gemeinden, von der Kulturstiftung, aber
auch von privaten Gönnerinnen und Gönnern. Dafür sind wir sehr
dankbar. Wir hoffen, dass dem Verein auch in Zukunft dieses Wohlwol-
len seitens des Landes Liechtenstein und seiner Bevölkerung erhalten
bleibt. So kann der Historische Verein seine bisherige Arbeit mit Zuver-
sicht und Optimismus fortsetzen.
ABBILDUNGSNACHWEISE
Amt für Kultur, Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz; Foto: C. Risch-Lau,
Bregenz: S. 210
Amt für Kultur, Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz: S. 215, 219, 222
Liechtensteinisches Landesmuseum, Vaduz: S. 220, 221
227
KUNST UND ÖFFENTLICHER RAUM
Begegnungen mit Georg Malins Kunst in Mauren
Elisabeth Huppmann / Barbara Bühler (Fotografie)
Wer sich mit dem vielseitigen künstlerischen Schaffen von Georg Malin
auseinandersetzt, kommt nicht um dessen Präsenz im öffentlichen Raum
herum. Bereits in den 1950er-Jahren erhielt Malin seine ersten Aufträge.
Handelte es sich zuerst um die Mitarbeit bei der Ausgestaltung von
Sakralbauten, folgten schon bald Aufträge für Grabmonumente, Reliefs
und Porträtbüsten. Doch nicht nur zahlreiche Sakralbauten in Liechten-
stein, wie jene ın Schellenberg, Schaan, Ruggell, Eschen, Schaanwald und
Mauren, sondern auch der Dom St. Jakob in Innsbruck oder die Gna-
denkapelle im Kloster Einsiedeln tragen Malins Handschrift — um hier
nur einige zu nennen. Somit war Georg Malin schon von Anfang an ein
Künstler, der für das Aussen schuf, der den Blick von aussen nicht
scheute und dem es fernlag, Kunst für das stille Kämmerlein zu schaffen.
Aktuelle Themen, Naturformen, die Elemente, geometrische Formen
und Buchstaben boten Vorlagen für seine Skulpturen, die vor zahlrei-
chen öffentlichen Gebäuden, Gedenkstätten, Schulen, Firmensitzen und
Klosteranlagen eine neue Heimat fanden. Dadurch wurde das Werk von
Georg Malin noch stärker in den Aussenraum und somit auch über die
Landesgrenzen hinaus getragen. Zahlreiche Skulpturen in Privatbesitz
zeugen davon, dass Malin mit seinen Arbeiten die Menschen anspricht
und Bezüge schafft. Skulpturen im Foyer des Europarates in Strassburg
und im EFTA-Gerichtshof in Luxemburg belegen die internationale
Wirkungskraft seiner Kunst.
Malins Schaffen ist der beste Beweis dafür, dass Kunst und öffent-
licher Raum keinen Widerspruch darstellen. Vielmehr gehört die Kunst
in den öffentlichen Raum. Dabei darf es nicht darauf ankommen, ob die
Kunst mit dem öffentlichen Raum harmoniert oder ob sie zu ihm ein
Spannungsfeld aufbaut. Beides sind interessante Aspekte, die den Men-
schen für sein Umfeld sensibilisieren, seinen Blick schärfen und ihn
manchmal vom allzu profanen Alltag ablenken. Losgelöst von elitär an-
231
Elisabeth Huppmann
mutenden Kulturinstitutionen kann die Kunst im öffentlichen Raum ein
viel breiteres Publikum erreichen. Sie bietet Zugänge für all jene, denen
der Gang in ein Museum fremd ist. Dennoch hat sie nichts mit Strassen-
kunst zu tun, die nur auffallen und unterhalten will. Auf diese Gratwan-
derung muss sich auch ein Künstler einlassen, der für den öffentlichen
Raum arbeitet. So darf es nicht verwundern, dass Kunst im öffentlichen
Raum immer wieder zu heftigen Debatten führt. Gegner und Befürwor-
ter liefern sich so manchen Schlagabtausch, wenn es darum geht, zu klä-
ren, ob die Kunst gefällt, ob sie genau an diesen Standort gehört oder ob
es sich tatsächlich um Kunst handelt. Georg Malin hat solche Debatten
während seiner langen Schaffenszeit auch erfahren müssen, bis hin zur
Demontage seiner Kunstwerke. Was tun, wenn die eigene Kunst nicht
verstanden wird oder gar ein konträres Kunstverständnis vorliegt? Soll
nicht gerade die Kunst im öffentlichen Raum zur Debatte, zur aktiven
Diskussion und zur Auseinandersetzung anregen? — Sie müsste unwei-
gerlich als schlecht bezeichnet werden, wenn sie einen derartigen Dis-
kurs nicht auslösen würde! Denn nur wer sich mit einer Sache auseinan-
dersetzt, kann sich ein Urteil bilden, seine Meinung zum Ausdruck
bringen und diese im besten Fall sogar hinterfragen. Nur eine solche
Auseinandersetzung fordert den Menschen und fördert bei ihm einen
wachen und kritischen Geist. Und genau das will die Kunst im öffentli-
chen Raum!
Umso schöner ist es, dass die Kunst von Georg Malin, der stets zu
seinen liechtensteinischen Wurzeln stand, auch hierzulande an vielen
öffentlichen Orten anzutreffen ist. Landauf, landab stösst man immer
wieder auf seine Werke: so zum Beispiel bei der Fürstengruft in Vaduz
(Granitskulptur Fürst Johannes II.), an der Gedenkstätte für Johann
Baptist Büchel in Balzers, im Pausenhof des Liechtensteinischen Gym-
nasitums in Vaduz (Sonnenuhr) oder am Schulzentrum Unterland in
Eschen («Knospe»), auf dem Benderer Kirchhügel (Brunnenanlage) so-
wie ım Städtle Vaduz («Z-Würfel»).
Dass es gerade in seiner Heimatgemeinde Mauren besonders viele
künstlerische Arbeiten von Georg Malin zu entdecken gibt, darf nicht
verwundern, zumal Malin mit Mauren stets eng verbunden war. Es ist
eine Tatsache, dass sich Malins Skulpturen derart gut in das Landschafts-
und Dorfbild einfügen, dass sie kaum mehr auffallen. Diesem Umstand
möchte die Gemeinde Mauren mit der vorliegenden Bilderstrecke entge-
genwirken. Es gilt, den Blick erneut zu schärfen, wahrzunehmen, von
232
Begegnungen mit Georg Malins Kunst in Mauren
welcher Kunstfülle man hier umgeben ist, und zu schätzen, was das für
eine Gemeinde wie Mauren bedeutet. So ist zum Beispiel die Peter-Kai-
ser-Büste mitten im Dorfzentrum ein Werk Malins. Sein «M-Würfel»
vor der Gemeindeverwaltung dürfte da schon besser bekannt sein. Aber
wer hätte gewusst, dass Georg Malin auch für den Entwurf der Wap-
penurkunde des Dorfes verantwortlich zeichnet? Bei der grossen Aus-
wahl an Werken im Skulpturengarten am Weiherring mag die Urheber-
schaft von Georg Malin noch nahe liegen, aber dass er auch Architekt
des Wohnhauses im Bachtalwingert war, dürfte manchem neu sein. Und
wie viele Schülerinnen und Schüler der Primarschule Mauren werden
wissen, dass das Relief in der Aula von einem im Dorf beheimateten
Künstler stammt?
Bewusst wurde in der vorliegenden Bilderstrecke der Fokus auf die
Präsenz Georg Malins in der Gemeinde Mauren-Schaanwald gelegt, stets
im Wissen, dass sein künstlerisches Schaffen im ganzen Land Spuren
hinterlassen hat. Dennoch will die Bilderstrecke den Blick ganz bewusst
auf seine Heimatgemeinde lenken, damit gerade hier sein Schaffen nicht
als selbstverständlich angesehen oder gar übersehen wird. Dieser Fokus
soll Kunstinteressierte dazu ermuntern, mit wachem Blick durch Mau-
ren zu wandern, um die zahlreichen Werke zu entdecken und persönlich
zu erleben, wie gut sie sich in den öffentlichen Raum integrieren, wie
«natürlich» sie hier wirken — um alsdann mit geschärftem Blick durch
das Land zu fahren und immer wieder auf Malin zu stossen, eine Begeg-
nung, die sich stets aufs Neue lohnt.
Kunstwerke von Georg Malin bereichern den öffentlichen Raum,
unseren Alltag und unsere Dorfbilder. Seien wir bereit, mit wachem
Blick und offenem Geist durch unsere Gemeinden zu gehen, um dieser
Kunst aus Liechtenstein zu begegnen, die im Ausland längst schon ihre
Anerkennung gefunden hat - und die uns immer wieder zu ihren Wur-
zeln in Liechtenstein zurückführt.
233
Die Wappenurkunde der Gemeinde Mauren beruht auf einem Entwurf von Georg Malin.
234
235
236
Gold und Schwarz erun-
agehörigkeit
Schwert erinn
Patrozunuum der Pfarrei.
237
Peter-Kaiser-Büste im Dorfzentrum Mauren, 1954/55
238
239
Modell zum Kirchenportal Schellenberg, 1992
240
241
Blick in den Skulpturengarten am Weiherring, Richtung Pfarrkirche
242
243
S-Würfel, 1994/95
244
245
E-Würfel, 1989/90
246
247
'T-Würfel, 2004
248
249
Kniender, 2005
250
251
Stehender, 2010/11
252
253
Blick in den Skulpturengarten am Weiherring
254
255
Weltohr I, 1989/90
256
257
Weltohr I, 1989/90
258
259
Weltohr IT, 1994/95
260
261
Weltohr IT und Sitzender, 1994/95 und 2009
262
263
Wasserspiel, 1974/76
264
265
Wohnhaus im Bachtalwingert, 1963/64
266
267
Das Wohnhaus im Bachtalwingert von der Ostseite mit «Rad» im Vordergrund
268
269
Relief «Komposition Stufenbau» in der Aula der Primarschule Mauren, 1987/88
270
271
M-Würfel vor der Gemeindeverwaltung Mauren, 2008
272
273
Papstdenkmal Sportpark Eschen-Mauren, 1985/86
274
275
Innenraum der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Mauren, nach der grossen Renovation, 1986/88
276
277
Friedhofsbrunnen an der Südseite der Pfarrkirche Mauren, 1987/89
278
279
Friedhofsbrunnen, Detailansicht
280
281
Portal der Totenkapelle auf dem Friedhof Mauren, 1972
282
283
Innenraum der Totenkapelle auf dem Friedhof Mauren, 1971/72
284
285
Blick aus der Totenkapelle auf den Friedhofsbrunnen
286
287
11.
POLITIK UND RECHT
Landtags- und Regierungstätigkeit
in den 1970er-Jahren und heute — ein Vergleich
Christian Frommelt
Einleitung
Politik ist etwas sehr Dynamisches, weshalb jedes politische System
einem permanenten Veränderungsprozess unterliegt. Dies gilt sowohl
mit Blick auf die Inhalte, Strukturen, Prozesse und Institutionen der
Politik als auch hinsichtlich der politischen Kultur. Auch im politischen
System Liechtensteins gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder
Veränderungen. Beispiele für Veränderungen sind die Einführung des
Frauenstimmrechts im Jahr 1984, die Erhöhung der Zahl der Landtags-
abgeordneten im Jahr 1989, der Beitritt zum Europäischen Wirtschafts-
raum (EWR) im Jahr 1995 oder die Verfassungsreform von 2003. Solche
Veränderungen sind einerseits das Ergebnis von neuen oder zumindest
geänderten Präferenzen und Bedürfnissen der Bevölkerung und somit
neuen Forderungen und Erwartungen an die Politik. Andererseits wer-
den viele Veränderungen durch die Politik selbst initiiert, um unter an-
derem die Effizienz und Legitimität eines politischen Systems zu ver-
bessern. Beispiele hierfür in den vergangenen Jahren sind die Abän-
derung der Geschäftsordnung des Landtages (LGBl. 2013 Nr. 9) und
des Geschäftsverkehrs- und Verwaltungskontrollgesetzes (LGBI. 2013
Nr. 8) sowie die von der Regierung zwischen 2009 und 2012 durch ver-
schiedene Gesetzesrevisionen erwirkte Reform der Landesverwaltung
(LGBl. 2012 Nr. 348).
Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, wie sich
derartige Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen auf die
konkrete Tätigkeit der politischen Akteure auswirken. Um diese Frage
zu beantworten, wird im vorliegenden Beitrag die Landtags- und Regie-
rungstätigkeit in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 mit der Land-
291
Christian Frommelt
tags- und Regierungstätigkeit in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978
verglichen.‘
Nach der Wahlrechtsreform von 1973 (LGBI. 1973 Nr. 50) wurde
im Februar 1974 der Landtag erstmals nach dem heute immer noch prak-
tizierten Kandidatenproporz gewählt. Die Fortschrittliche Bürgerpartei
(FBP) konnte dabei eine äusserst knappe Mehrheit der Stimmen auf sich
vereinen und errang acht von fünfzehn Landtagsmandaten. Als Regie-
rungschef wurde Walter Kieber gewählt, welcher einer Regierung aus
drei FBP-Vertretern und zwei Mitgliedern der Vaterländischen Union
(VU) vorstand.? Auch Georg Malin war Mitglied dieser Regierung,
nachdem er von 1966 bis 1974 bereits Mitglied des Landtages gewesen
war. Als Regierungsrat betreute Georg Malin die Ressorts Kultur und
Umwelt. Neben der FBP und der VU waren in der Mandatsperiode von
1974 bis 1978 keine weiteren Parteien im Landtag vertreten.
Bei der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 handelt es sich gegen-
wärtig um die letzte abgeschlossene Mandatsperiode. Die VU stellte mit
Klaus Tschütscher den Chef einer fünfköpfigen Koalitionsregierung
zwischen der VU und der FBP.* Mit der Freien Liste (FL) war zusätzlich
zu den beiden Regierungsparteien noch eine weitere Partei im Landtag
vertreten, welche allerdings nur über ein einziges Landtagsmandat ver-
fügte. Nach dem Austritt von Harry Quaderer aus der VU im Jahr 2011
war zudem ein parteiloser Kandidat Teil des Landtages. In der Folge ver-
fügte die VU nicht länger über die absolute Mehrheit. Die Koalitionsre-
gierung aus VU und FBP konnte sich aber weiterhin auf eine stabile
Mehrheit von 23 der 25 Abgeordneten stützen.
1 Bei der im Folgenden verwendeten empirischen Analyse wurden für die Mandats-
perioden von 1974 bis 1978 die Jahre 1974, 1975, 1976 und 1977 ausgewertet. Bei der
Mandatsperiode von 2009 bis 2013 zählten die Jahre 2009, 2010, 2011 und 2012.
2 In der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 waren der Regierungschef und der Regie-
rungschef-Stellvertreter vollamtlich tätig, während die übrigen Regierungsräte ihre
Regierungstätigkeit nur als Nebenamt ausübten. Das Amt des Regierungschefs übte
Walter Kieber (FBP) aus und das Amt des Regierungschef-Stellvertreters Hans
Brunhart (VU). Die weiteren Regierungsräte waren Hans Gassner (FBP), Georg
Malin (FBP) und Walter Oehry (VU).
3 Der Regierung in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 gehörten folgende Perso-
nen an: Klaus Tschütscher (VU, Regierungschef), Martin Meyer (FBP, Regierungs-
chef-Stellvertreter), Hugo Quaderer (VU), Renate Müssner (VU) und Aurelia Frick
(FBP).
292
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Aus methodischer Sicht beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf die
deskriptive Analyse des in den Landtagsprotokollen der beiden genann-
ten Mandatsperioden festgehaltenen Politikgeschehens. Als eine weitere
Quelle dient die chronologische Rechtssammlung und die daraus eruier-
bare Übersicht über die Rechtssetzung in Liechtenstein.
Der Beitrag gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel werden
die rechtlichen und politischen Grundzüge von Regierung und Landtag
in Liechtenstein dargestellt. Das zweite Kapitel geht der Frage nach, wie
stark sich der Umfang der Landtags- und Regierungstätigkeit im Unter-
suchungszeitraum verändert hat. Im dritten Kapitel werden die konkre-
ten Themen der Landtags- und Regierungsarbeit in den beiden Mandats-
perioden beleuchtet. Das vierte und letzte Kapitel widmet sich schliess-
lich der Frage, inwieweit sich die politische Kultur Liechtensteins verän-
dert hat bzw. welche weiteren Entwicklungen sich derzeit abzeichnen.
Dabei werden auch Daten und Informationen zur aktuellen Mandatspe-
riode eingearbeitet, in welcher mit der FBP, der VU, der FL und den Un-
abhängigen (DU) erstmals vier Parteien im Landtag vertreten sind.
Der Beitrag zeigt auf, dass zwischen der Landtags- und Regie-
rungstätigkeit von heute und derjenigen in den 1970er-Jahren durchaus
Parallelen bestehen. Die zahlreichen Änderungen der politischen Rah-
menbedingungen seit den 1970er-Jahren haben folglich die Aufgaben
und Zuständigkeiten von Landtag und Regierung und damit ihre kon-
krete Tätigkeit nicht grundlegend verändert. Auch die politische Kultur
Liechtensteins zeigt sich erstaunlich persistent. Unterschiede lassen sich
insbesondere mit Blick auf den Umfang und vereinzelt auch hinsichtlich
der behandelten Themen nachweisen, wobei der Umfang im Zeitverlauf
stetig gestiegen ist und wirtschaftliche Themen an Bedeutung gewonnen
haben. Als treibender Faktor ist in diesem Zusammenhang vor allem die
EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins zu erwähnen.
Rechtliche und politische Grundzüge des Landtages
Gemäss Art. 45 der Landesverfassung (LV) (LGBl. 1921 Nr. 15, LR 101)
ist der Landtag «das gesetzmässige Organ der Gesamtheit der Landes-
angehörigen und als solches berufen, (...) die Rechte und Interessen des
Volkes im Verhältnis zur Regierung wahrzunehmen». Zu diesem Zweck
verfügt der Landtag über zahlreiche Rechte und Pflichten. Hervorzuhe-
293
Christian Frommelt
ben sind neben der Wahl der Regierung“ insbesondere die Mitwirkung
an der Gesetzgebung, die Mitwirkung beim Abschluss von Staatsverträ-
gen, die Festsetzung des jährlichen Voranschlages, die Bewilligung von
Steuern und anderen öffentlichen Abgaben sowie die Beschlussfassung
über verschiedene von der Regierung regelmässig zu erstattende
Rechenschaftsberichte.
Die verfassungsmässigen Rechte und Pflichten des Landtages ent-
sprechen im Grossen und Ganzen den klassischen Parlamentsfunktio-
nen eines nach parlamentarischem Muster organisierten demokratischen
Staates. Im Verhältnis zu seinen Wählern erfüllt der Landtag demnach
eine Repräsentations- und Artikulationsfunktion (von Beyme 2002,
S. 285). Das heisst, im Sinne eines Bindeglieds zwischen Bürger und
Regierung haben die Landtagsabgeordneten die Möglichkeit, Anregun-
gen aus der Öffentlichkeit aufzunehmen und in den politischen Willens-
bildungsprozess einzubringen (Bernauer et al. 2009, S. 345). Zugleich
erhöht der Landtag durch die öffentliche Debatte die Sichtbarkeit der
politischen Willensbildung Liechtensteins, was wesentlich zur demokra-
tischen Legitimation des gesamten politischen Systems beiträgt.
Im Verhältnis zu Regierung und Verwaltung übt der Landtag eine
Kontrollfunktion aus (von Beyme 2002, S. 285). Formal gründet die
Kontrollfunktion des Landtages auf dessen Möglichkeit, die Regierung
zu entlassen (Misstrauensvotum). Faktisch äussert sich die Kontroll-
funktion des Landtages jedoch vor allem in der Mitwirkung bei der Ge-
setzgebung oder bei Finanzvorlagen sowie bei der Genehmigung von
Staatsverträgen. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Richtungs-
kontrolle (Patzelt 2003, S. 363), wonach der Landtag kontrolliert, in-
wieweit die konkreten Vorlagen mit der im Regierungsprogramm ver-
ankerten politischen Gesamtlinie übereinstimmen. Zudem verfügt der
Landtag auch über die Möglichkeit, durch Kleine Anfragen oder Inter-
pellationen eine Leistungskontrolle der Regierung auszuüben. Schliess-
lich kann der Landtag im Sinn einer rechtlichen Regierungskontrolle
(ebd. 2003, S. 363) zur «Feststellung von Tatsachen sowie zur Abklärung
von Verantwortlichkeiten» eine Untersuchungskommission einsetzen
(Art. 30 Geschäftsverkehrs- und Verwaltungskontrollgesetz).
4 Genau genommen werden der Regierungschef und die Regierungsräte vom Landes-
fürsten einvernehmlich mit dem Landtage auf dessen Vorschlag ernannt.
294
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Eine Verbindung zu den Bedürfnissen der Bevölkerung Liechtensteins
wird durch die Gesetzgebungsfunktion des Landtages sichergestellt (von
Beyme 2002, S. 285). Die Gesetzgebungsfunktion ist wohl die wichtigste
Funktion eines Parlaments. Auch in Liechtenstein kann gemäss Art. 65
der Verfassung ohne Mitwirkung des Landtages «kein Gesetz gegeben,
abgeändert oder authentisch erklärt werden». Statistische Analysen zei-
gen allerdings, dass Gesetzesvorlagen von der Regierung durch den
Landtag nur sehr selten zurückgewiesen bzw. abgelehnt werden. Zwi-
schen 1997 und 2015 konnten diesbezüglich lediglich vier Fälle doku-
mentiert werden (Büsser und Frommelt 2016). Der Landtag besitzt aber
auch das Recht, durch gezielte Fragen und Kommentare in der ersten
Lesung sowie konkrete Änderungsanträge in der zweiten und dritten
Lesung ein Gesetz mitzugestalten — ein Recht, welches von den Land-
tagsabgeordneten durchaus genutzt wird.
Die vierte Parlamentsfunktion, die sogenannte Rekrutierungs- und
Wahlfunktion, äussert sich im Verhältnis des Landtages zu den Parteien
sowie allgemein zur politischen Elite. Neben der Regierung kann der
Landtag auch die Vertreter für verschiedene wichtige Staatsämter wäh-
len. Zwar wurden die Befugnisse des Landtages, Personen ın öffentli-
che Ämter zu wählen, in den vergangenen Jahren mehrmals reduziert,
dennoch spielen Bestellungen durch den Landtag weiterhin eine wich-
tige Rolle.
Um seine verschiedenen Funktionen wahrzunehmen, steht dem
Landtag ein breites Spektrum an Instrumenten zur Verfügung. Hervor-
zuheben sind die sogenannten parlamentarischen Eingänge, welche ın
der Geschäftsordnung des Landtages (LGBl. 2013 Nr. 9, LR 171.101.1)
definiert sınd. Grundsätzlich kann dabei zwischen parlamentarischen
Eingängen unterschieden werden, die einen politischen Prozess initi-
ieren möchten, wie z.B. die parlamentarische Initiative oder die Mo-
tion, und solchen, deren Stossrichtung eher kontrollierend ist, wie
z.B. die Interpellation oder die Kleine Anfrage. Bei Postulaten vermi-
schen sich die beiden Stossrichtungen, weshalb keine klare Zuordnung
möglich ist.
Der Einsatz von parlamentarischen Eingängen wird stark durch die
damit verbundenen formalen Bestimmungen, aber auch die zur Verfü-
gung stehenden Ressourcen beeinflusst. So ist beispielsweise die Inter-
pellation für eine Oppositionspartei besonders interessant, da ihre Über-
weisung im Unterschied zu Postulat, Initiative und Motion keine parla-
295
Christian Frommelt
mentarische Mehrheit benötigt. Zugleich werden Initiativen eher selten
verwendet, da die Ausarbeitung einer Gesetzesinitiative ein hohes Mass
an juristischer Expertise voraussetzt und damit einerseits viele Ressour-
cen bindet und andererseits nur wenig politischen Spielraum lässt.
Die Landtagstätigkeit wird schliesslich auch durch strukturelle
Faktoren bestimmt. Der Landtag verfügt aktuell über verschiedene
Kommissionen, ın welchen einzelne Politikgeschäfte vorberaten werden.
Im Vergleich zu anderen Parlamenten ist das Kommissions- und Aus-
schusswesen des Landtages jedoch unterentwickelt, weshalb sich der
wesentliche Teil der Landtagsarbeit immer noch im Rahmen der ordent-
lichen Arbeitssitzungen vollzieht. Vor diesem Hintergrund überrascht es
nicht, dass die Arbeitsteilung auch innerhalb der Fraktionen im interna-
tionalen Vergleich nur geringfügig institutionalisiert ist und meist auf
Ad-hoc-Basis funktioniert.
Seit 1990 verfügt der Landtag ferner über ein eigenes Sekretariat
(LGBI. 1989 Nr. 66), welches nach der jüngsten Reform der Geschäfts-
ordnung des Landtages als Parlamentsdienst bezeichnet wird. Der Par-
lamentsdienst ist dem Landtag verantwortlich und soll den Landtag
in seiner parlamentarischen Arbeit unterstützen. Dazu gehört gemäss
Art. 17 der Geschäftsordnung des Landtages die Protokollierung der
Landtagsdebatten, das Verlesen der Vorlagen, die Regelung der Admi-
nistrationsgeschäfte sowie die Beschaffung von Informationen und
Unterlagen zuhanden der Abgeordneten, Kommissionen und Delegatio-
nen des Landtages. Der Parlamentsdienst ist zudem offizielle Anlauf-
stelle des Landtages «für Belange der Regierung bzw. Verwaltung,
der Öffentlichkeit sowie anderer Parlamente und internationaler
Organisationen» (Information des Parlamentsdienstes, www.landtag.lı).
Mit gegenwärtig 640 Stellenprozent verfügt der Parlamentsdienst aller-
dings nur über beschränkte Ressourcen und kann damit den durch
das Milizsystem bedingten Ressourcenmangel des Landtages nicht kom-
pensieren.
Rechtliche und politische Grundzüge Regierung
Der Ressourcenmangel des Landtages wird umso deutlicher, wenn man
den Parlamentsdienst mit den personellen Ressourcen der Regierung
und Verwaltung vergleicht, welche per 31. Dezember 2014 über 1021
296
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Vollzeitstellen verfügten.” Gemäss Art. 92 der Verfassung obliegt der
Regierung der «Vollzug aller Gesetze und rechtlich zulässigen Aufträge
des Landesfürsten oder des Landtages». Neben dem Erlass von Verord-
nungen sowie verschiedenen Aufsichts- und Verwaltungsaufgaben fällt
in den Wirkungskreis der Regierung insbesondere die «Ausarbeitung
von Regierungsvorlagen an den Landtag sowie die Begutachtung der ihr
zu diesem Zwecke vom Landtag überwiesenen Vorlagen» (Art. 93 LV).
Analog zu den meisten europäischen Staaten spielt die Regierung
in der politischen Praxis Liechtensteins eine wesentlich wichtigere Rolle,
als es die staatsrechtliche Bezeichnung «Exekutive» vermuten lässt (Ber-
nauer et al. 2009, S. 375). Die Regierung vollzieht nämlich nicht nur Ge-
setze, «sondern bereitet die Gesetzgebung auch vor und wirkt auf der
Verordnungs- bzw. Regulierungsebene sogar selbst als Gesetzgeber»
(ebd. 2009, S. 375). Die Stellung der Regierung im Gesetzgebungspro-
zess wird dadurch weiter aufgewertet, dass ihr die Verarbeitung der im
Rahmen von Vernehmlassungen eingegangenen Stellungnahmen von
Verbänden und anderen Organisationen anvertraut ist. Demnach wider-
spiegelt sich in einer Gesetzesvorlage der Regierung an den Landtag
nicht nur die Expertise der Verwaltung, sondern auch diejenige der Ver-
bände und der Zivilgesellschaft.
Neben der Vorbereitung von Vorlagen für das Parlament zählen zu
den Kernaufgaben einer Regierung ferner die Leitung und Aufsicht der
Verwaltung, die Verwaltung des staatlichen Vermögens, die Information
der Öffentlichkeit und die Repräsentation des Staates. Die Analyse der
Regierungsarbeit in diesem Beitrag beschränkt sich allerdings — wie ein-
gangs dargelegt — auf die in den Landtagsprotokollen abgebildete Regie-
rungstätigkeit sowie die Rolle der Regierung in der Rechtssetzung.
Die in diesem Beitrag skizzierten rechtlichen Bestimmungen zu
Regierung und Landtag haben sich seit den 1970er-Jahren nur unwe-
sentlich geändert. Die wenigen Veränderungen zielten dabei vor allem
auf organisatorische Aspekte wie z.B. die Schaffung eines Landtagsse-
5 Die dem Autor vom Amt für Statistik zur Verfügung gestellten Zahlen beziehen sich
lediglich auf die Landesverwaltung, Regierung, die Alters- und Hinterlassenenver-
sicherung (AHV), die Invalidenversicherung (IV) und die Familienausgleichskasse
(FAK). Im Unterschied dazu inkludieren die in der Beschäftigungsstatistik ausge-
wiesenen Beschäftigungszahlen für die öffentliche Verwaltung auch Beschäftigte bei
den Gemeinden.
297
Christian Frommelt
kretariats im Jahr 1990 und später dessen Umwandlung in den Parla-
mentsdienst. Auch mit Blick auf die Regierung beziehen sich die Verän-
derungen vor allem auf den organisatorischen Bereich wie z.B. die zwi-
schenzeitlich vollamtliche Tätigkeit aller Regierungsräte. In den folgen-
den zwei Kapiteln werden die Regierungs- und Landtagstätigkeit in den
Mandatsperioden von 1974 bis 1978 sowie 2009 bis 2013 miteinander
verglichen.
Veränderungen im Umfang der Landtags-
und Regierungstätigkeit
Um den Umfang der Landtags- und Regierungstätigkeit zu messen, bie-
ten sich verschiedene Indikatoren an. So werden in Tabelle 1 die Anzahl
Arbeitssitzungen (ohne Eröffnungssitzungen) und Sitzungstage sowie
die Anzahl Traktanden für die Jahre 1974 bis 1977 sowie 2009 bis 2012
dargestellt. Die Tabelle zeigt, dass sich der Umfang der Landtagstätigkeit
sowohl mit Blick auf die Anzahl Sitzungstage als auch der behandelten
Traktanden stark erhöht hat. Ähnliches gilt für die Anzahl der von der
Regierung dem Landtag vorgelegten Berichte. Im Unterschied dazu hat
sich die Anzahl Arbeitssitzungen nicht verändert. Dies unterstreicht,
dass der Landtag auch in den 1970er-Jahren über das ganze Jahr hinweg
regelmässig tagte, um entsprechende Politikgeschäfte zu behandeln. Eine
weitere Parallele ist, dass bereits in den 1970er-Jahren Sitzungen verein-
zelt bis in die Nacht dauerten. So endete beispielsweise die Sitzung vom
19. Dezember 1974 erst um 22.40 Uhr.
Dass der Umfang der Landtags- und Regierungstätigkeit stark an-
gestiegen ist, widerspiegelt sich auch in der chronologischen Rechts-
sammlung Liechtensteins (www.gesetze.li). Abbildung 1 stellt dar, wie
viele Landesgesetzblätter jeweils in einem Kalenderjahr publiziert wur-
den. Im Untersuchungszeitraum hat sich die Anzahl publizierter Lan-
desgesetzblätter von 40 im Jahr 1970 auf 602 im Jahr 2011 erhöht. Seit-
her ist die Anzahl Landesgesetzblätter wieder leicht zurückgegangen
und liegt für das Jahr 2015 bei 372 publizierten Landesgesetzblättern.
Die Abbildung zeigt auch, dass die Rechtssetzungsfrequenz mit dem
EWR-Beitritt Liechtensteins vom 1. Mai 1995 sprunghaft angestiegen
ist. Während 1994 noch 86 Landesgesetzblätter veröffentlicht wurden,
waren es im Jahr 1995 bereits 233 Landesgesetzblätter.
298
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Tabelle 1: Anzahl Arbeitssitzungen, Sitzungstage und Traktanden
1974 1975 1976 21977 2009 2010 2011 2012
Arbeitssitzungen 8 7 7 8 8 9 8 8
Sitzungstage 12 11 10 9 19 21 20 21
"Iraktanden 109 110 104 4 222 236 239 267
Quelle: Eigene Erhebung basierend auf Landtagsprotokollen.
Abbildung 1: Anzahl der pro Jahr publizierten Landesgesetzblätter,
1970 bis 2015
700
600
500
400
300
200
100
ON FT OD % ON FT DD % ON X DD %®
NN NR KR CO CO DRRCRR RK RK
SS RR RR RR RR KR RK KO N
NN A A —
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung basierend auf www.gesetze.li.
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2012
2014
Die verstärkte internationale Einbindung Liechtensteins hat den Um-
fang der Regierungs- und Landtagstätigkeit zweifelsohne stark erhöht.
Dies bestätigt auch eine Analyse des Liechtenstein-Instituts, wonach
41 Prozent von den zwischen 2001 und 2009 verabschiedeten Landesge-
setzblättern einen EWR-Impuls hatten und nur 33 Prozent einen natio-
nalen Impuls (Frommelt 2011a, S. 20). Betrachtet man nur Gesetze, lag
der Einfluss des EWR mit 48 Prozent sogar noch höher. Die Studie kon-
statiert aber auch, dass sich der Anteil an Landesgesetzblättern mit
einem EWR-Impuls zwischen 2001 und 2009 kaum erhöhte. Eine noch
nicht publizierte Analyse der Jahre 2010 bis 2014 zeigt sogar, dass sich
der Anteil an Landesgesetzblättern mit einem EWR-Impuls in den ver-
gangenen Jahren leicht verringert hat. Die gestiegene Rechtssetzungsfre-
299
Christian Frommelt
quenz ist also nicht nur das Resultat der Internationalisierung, sondern
erstreckt sich auch auf nationale Regulierungsbereiche.
Interessant ist dabei, dass seit den 1990er-Jahren die Regulierungs-
dichte deutlich stärker angestiegen ist als der Umfang der Landtagstätig-
keit. So hat sich die Anzahl im Landtag behandelter Traktanden sowie
die Anzahl Sitzungstage zwischen 1997 und 2015 nicht erhöht (Büsser
und Frommelt 2016). Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass der
Landtag weniger stark in die Rechtssetzung eingebunden ist. Vielmehr
zeigt die detaillierte Analyse, dass das Verhältnis von Gesetzen und Ver-
ordnungen seit den 1970er-Jahren zwar gewissen Schwankungen unter-
liegt, insgesamt aber nur eine leichte Zunahme der Verordnungstätigkeit
festgestellt werden kann. So wurden beispielsweise in den Jahren 1974
bis 1977 90 Gesetze und 168 Verordnungen, in den Jahren 2009 bis 2012
453 Gesetze und 944 Verordnungen publiziert, was für beide Perioden
ein ungefähres Verhältnis von zwei Verordnungen auf ein Gesetz ergibt.
Dass die Anzahl vom Landtag behandelter Traktanden seit den
späten 1990er-Jahren nicht weiter angestiegen ist, lässt sich auch darauf
zurückführen, dass im Landtag vermehrt grössere Gesetzespakete ın
einem Traktandum behandelt werden. Ein besonderes Beispiel ist das
Partnerschaftsgesetz (LGBl. 2011 Nr. 350), wonach die damit verbun-
dene Einführung einer eingetragenen Partnerschaft gleichgeschlecht-
licher Paare Änderungen in über fünfzig weiteren Gesetzen benötigte
(siehe Bericht und Antrag 2010/139). Des Weiteren hat sich der Anteil
der im Bereich des Internationalen Rechts erlassenen Rechtsakte, welche
die Zustimmung des Landtages erforderten, in den vergangenen Jahren
stetig verringert. So hat der Landtag von 1995 bis 1999 37 Prozent der
im Bereich des Internationalen Rechts erlassenen Rechtsakte zuge-
stimmt, während dies im Zeitraum von 2010 bis 2014 nur mehr für
27 Prozent der Rechtsakte gilt. Eine Erklärung dafür liegt in der Ein-
bindung Liechtensteins in den Schengen-Raum, weshalb neue europäi-
sche Rechtsvorschriften meist in Form eines Notenwechsels zwischen
Liechtenstein und der Europäischen Union (EU) und damit ohne Zu-
stimmung des Landtages in die liechtensteinische Rechtsordnung inte-
griert werden.
Einen weiteren Indikator für den Umfang der Landtags- und Re-
gierungstätigkeit bietet die Anzahl Voten im Rahmen einer Landtags-
debatte. In der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 wurden insgesamt
5780 Wortmeldungen von Landtagsabgeordneten und Regierungsmit-
300
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Abbildung 2: Durchschnittliche Anzahl Voten nach Traktandumstyp
40
1974-1977 (N=305)
MM 2009-2012 (N=696)
30 28
22
20 or 19 19 ®
14
° 12 1
10 7— 7 7
8 N
0 I
Budget- Gesetzes- internationale parlamen- Berichte übrige "Total
vorlagen vorlagen Vorlagen tarische Vorlagen
Eingänge
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung basierend auf Landtagsprotokollen.
gliedern gezählt.® Fast 74 Prozent der Wortmeldungen stammten dabei
von Landtagsabgeordneten und lediglich 26 Prozent von Regierungs-
mitgliedern. In der Mandatsperiode von 2009 bis 2012 konnten insge-
samt 10 830 Wortmeldungen gezählt werden, wobei 78 Prozent der
Wortmeldungen von Landtagsabgeordneten stammten.
Abbildung 2 zeigt die durchschnittliche Anzahl Voten nach Trak-
tandumstyp. Obwohl der Landtag in der Mandatsperiode von 1974 bis
1978 nur 15 Mitglieder zählte, erfolgten pro Traktandum durchschnitt-
lich mehr Voten als in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 mit insge-
samt 25 Landtagsabgeordneten. Der Unterschied ist besonders deutlich
bei Gesetzesvorlagen.
Die Anzahl Voten zu Gesetzesvorlagen schwankte in der Mandats-
periode von 2009 bis 2013 deutlich stärker als in der Mandatsperiode von
1974 bis 1978. Dies entspricht durchaus einem Trend der vergangenen
Jahre, wonach sich die Debatte im Landtag auf einzelne Schlüsseltrak-
6 Die Voten wurden nur bei ausgewählten Traktandumstypen gezählt. Nicht berück-
sichtigt wurden z.B. Voten im Rahmen von Kleinen Anfragen, der Landtagseröff-
nung, von Bestellungen und Einbürgerungen. Die Voten des Landtagspräsidenten
wurden nicht gezählt.
301
Christian Frommelt
tanden konzentriert, während eher technische und international initi-
ierte Vorlagen nur wenig bis gar nicht debattiert werden (Frommelt
2011b). Dementsprechend überrascht es nicht, dass die maximale Anzahl
Voten in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 mit 294 Voten deutlich
höher lag als in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 mit 201 Voten.
Hervorzuheben ist schliesslich die vergleichsweise hohe Anzahl
Voten bei parlamentarischen Eingängen in der Mandatsperiode von 2009
bis 2012. Auch dies entspricht einem Trend, wonach parlamentarische
Eingänge immer wichtiger werden, da sie den Parteien eine gewisse Pro-
filierungsmöglichkeit bieten.
Der konkrete Einfluss des Landtages auf die Gesetzgebung lässt
sich nur schwer messen. Vor diesem Hintergrund kann im vorliegenden
Beitrag keine empirisch fundierte Aussage über mögliche Änderungen
des Einflusses des Landtages auf die Gesetzgebung getroffen werden. In
den Landtagsprotokollen finden sich jedoch verschiedene Indizien — wie
z.B. eine erhöhte Debattenintensität, mehrere zurückgezogene Vorlagen
und eine stärkere Rolle von Landtagskommissionen —, die darauf hin-
deuten, dass der Landtag in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 stär-
ker als Gesetzgeber agierte, als es heute üblich ist. Eine mögliche Erklä-
rung dafür ist, dass sich die Ressourcen von Landtag und Regierung in
den vergangenen Jahrzehnten sehr unterschiedlich entwickelt haben.
Demnach verfügt die Regierung (und Verwaltung) aktuell über deutlich
mehr Personal, mehr Mittel für externe Gutachten, einen stärker institu-
tionalisierten Austausch mit den Verbänden und nicht zuletzt einen
deutlich besseren Zugang zu internationalen Gremien und Verhandlun-
gen. Insofern überrascht es nicht, dass der Landtag heute die Gesetzge-
bung meist nur mehr im Sinne einer Richtungskontrolle begleitet und
gleichzeitig der politischen Willensbildung die demokratiepolitisch not-
wendige Öffentlichkeit sichert.
Zusammenfassend lässt sich ein substanzieller Anstieg der Land-
tags- und Regierungstätigkeit konstatieren. Dieser widerspiegelt sich vor
allem in einer erhöhten Rechtssetzungsfrequenz und einer erhöhten
Anzahl vom Landtag behandelter Traktanden. Im Unterschied dazu zei-
gen sich mit Blick auf das Verhältnis zwischen den einzelnen vom Land-
tag behandelten Traktandumstypen sowie bezüglich der in der chrono-
logischen Rechtssammlung publizierten Rechtsakte kaum Veränderun-
gen. Dies bestätigt die eingangs getätigte Vermutung, dass sich die
Grundzüge des politischen Systems Liechtenstein und das Verhältnis
302
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Abbildung 3: Verteilung der Traktanden nach Typ
11%
31% 33% 33%
1974-1977
(N=417) M Budgetvorlagen
M Gesetzesvorlagen
EM internationale
Vorlagen
EM parlamentarische
9 Eingänge
8% 3% Oo Berichte 10%
0 übrige Vorlagen
2009-2012
(N=964)
12%
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung basierend auf Landtagsprotokollen.
von Regierung zu Landtag trotz stetiger Anpassungen der politischen
und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht stark verändert haben.
Aus einer geringeren Anzahl Traktanden folgt jedoch nicht
zwangsläufig, dass das Landtagsmandat in der Mandatsperiode von 1974
bis 1978 für den jeweiligen Abgeordneten weniger Aufwand bedeutete.
So kann der Landtag heute auf die Unterstützung des Parlamentsdiensts
zurückgreifen und auch innerhalb der Parteien steht den Abgeordneten
aufgrund der weitgehend professionalisierten Parteistrukturen mehr Un-
terstützung zur Verfügung. Entsprechend überrascht es nicht, dass Land-
tagspräsident Gerard Batliner in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978
mehrfach die hohe Arbeitsbelastung des Landtages betonte und entspre-
chende Reformen anmahnte (Landtagssitzung vom 21. Dezember 1976).
Themen der Landtags- und Regierungstätigkeit
Die Landtags- und Regierungstätigkeit gestaltet sich äussert vielfältig.
Dies verdeutlicht bereits eine Auflistung der unterschiedlichen Trak-
tandumstypen. So hat der Landtag neben den Gesetzes- und Budgetvor-
lagen beispielsweise auch über Bestellungen und Einbürgerungen zu
entscheiden. Aktuell werden vom Parlamentsdienst 30 unterschiedliche
Traktandumstypen unterschieden. Abbildung 3 zeigt die Verteilung der
303
9%
28%
Christian Frommelt
vom Landtag behandelten Traktanden nach Traktandumstyp. Die Ver-
teilung zwischen den einzelnen Traktandumstypen in den beiden vergli-
chenen Zeiträumen ist weitgehend deckungsgleich. Einzig bei interna-
tionalen Vorlagen lässt sich ein signifikanter Unterschied erkennen, wo-
nach in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 Staatsverträge und andere
internationale Angelegenheiten für lediglich zwei Prozent der Traktan-
den verantwortlich waren, während es in der Mandatsperiode von 2009
bis 2012 über neun Prozent waren. Dafür gab es in der Mandatsperiode
von 1974 bis 1978 prozentual mehr Gesetzesvorlagen. Die detaillierte
Analyse zeigt ferner, dass in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978
Bestellungen durch den Landtag eine deutlich wichtigere Rolle spielten
als in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013.”
Neben den unterschiedlichen Traktandumstypen äussert sich die
Vielfältigkeit der Landtagsarbeit auch in den unterschiedlichen Politik-
feldern, welchen Gesetzesvorlagen und parlamentarische Eingänge
zugeordnet werden können. Abbildung 4 zeigt, wie sich die Landtags-
und Regierungstätigkeit in den Mandatsperioden von 1974 bis 1978 bzw.
von 2009 bis 2013 auf die einzelnen Politikfelder verteilt. In der Man-
datsperiode von 1974 bis 1978 wurden demnach besonders viele Vorla-
gen im Bereich der Sozialpolitik eingebracht, was auf verschiedene
Reformen der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie
der Arbeitslosenversicherung zurückzuführen ist.
Es ist durchaus üblich, dass während einer Mandatsperiode in
einem bestimmten Politikfeld mehr Vorlagen eingebracht werden als im
langjährigen Durchschnitt. Insofern überrascht es nicht, dass zwischen
den beiden untersuchten Mandatsperioden gewisse Unterschiede beste-
hen. Wichtiger ist demgegenüber die Erkenntnis, dass in der Mandatspe-
riode von 1974 bis 1978 mit Ausnahme der Internationalen Beziehungen
in jedem der aufgelisteten Politikfelder mindestens eine Gesetzesvorlage
oder ein parlamentarischer Eingang erfolgte. Folglich zeichnete sich die
Landtags- und Regierungstätigkeit bereits in den 1970er-Jahren durch
eine hohe thematische Vielfalt aus.
7 In Abbildung 3 ist der Traktandumstyp «Bestellungen» in der Rubrik «übrige Vorla-
gen» inkludiert. Auf eine detaillierte Aufschlüsselung aller Traktandumstypen
wurde aus Platzgründen und mit Blick auf die bessere Veranschaulichung verzichtet.
304
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Abbildung 4: Verteilung der Gesetzesvorlagen und parlamentarischen Eingänge
nach Politikfeld
Wirtschaftspolitik
Verkehr und Infrastruktur
Umweltpolitik
Sozialpolitik
Sicherheit
Migration und Mobilität
Landwirtschaftspolitik
Justiz
Internationale Beziehungen
Inneres
Gesundheitspolitik
MM 2009-2012 (N=389)
MM 1974-1977 (N=169)
0% 5% 10% 15% 20% 25% 30%
Familie und Gleichstellung
Bildung und Kultur
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung basierend auf Landtagsprotokollen.
Abbildung 5: Verteilung der publizierten Landesgesetzblätter nach Gebiets-
systematik (nur Landesrecht)
Wirtschaft
Strafrecht / Strafrechts-
pflege / Strafvollzug
Staat/ Volk /Behörden
Schule/ Wissenschaft / Kultur
Privatrecht / Zivilrechts-
pflege / Vollstreckung
Landesverteidigung
Gesundheit / Arbeit /
Soziale Sicherheit
Finanzen MM 2009-2012 (N=1566)
M 1974-1977 (N=281)
0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35%
Bauwesen / Öffentliche
Werke / Energie / Verkehr
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung basierend auf www.gesetze.li.
305
Christian Frommelt
Selbstverständlich hat sich auch die thematische Vielfalt im Zeitverlauf
stark erhöht, wobei vor allem innerhalb der einzelnen Politikfelder ste-
tig neue Regulierungsbereiche entstehen. Entsprechend schwierig ist es,
eine konsistente und dennoch einfach verständliche Politikfeldkodie-
rung zu entwickeln. Die Abbildungen 4 und 5 können deshalb nur einen
groben Eindruck über die Themen der Landtagsarbeit und jene der
Rechtssetzung bieten. Gerade im Bereich Wirtschaft sowie im Bereich
Umwelt ergingen in den vergangenen Jahren stark differenzierte Regu-
lierungen.® Auf den Bereich Wirtschaft entfielen in den Jahren 2009 bis
2012 auch am meisten Landesgesetzblätter. Dies ist jedoch vor allem auf
Handelsvorschriften im Sinne von Massnahmen zur Durchsetzung
internationaler Sanktionen wie z.B. die Verordnung über Massnahmen
gegenüber Syrien (LGBl. 2012 Nr. 159, LR 946.223.8) zurückzuführen,
welche die Landtagsarbeit grundsätzlich nicht tangieren.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Landtag bereits in
der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 in allen wesentlichen Politikfel-
dern Vorlagen behandelte. Insofern hat sich weniger die Themenvielfalt
als der Spezifizierungsgrad innerhalb der einzelnen Politikfelder geän-
dert. Für die Landtagsabgeordneten bedeutet dies, dass sie in ihrer
Funktion als Gesetzgeber noch viel stärker von der Expertise der Regie-
rung und Verbände abhängen. Für ein exaktes Verständnis der Themen-
vielfalt der Landtags- und Regierungstätigkeit und deren Veränderung in
den vergangenen Jahrzehnten sind jedoch weitere Analysen nötig.
Die bisherigen Ausführungen haben sich vor allem auf die techni-
schen Aspekte der Regierungs- und Landtagstätigkeit beschränkt. Im
folgenden Kapitel steht deshalb die Arbeitsweise des Landtages im Zen-
trum und die Frage, inwieweit sich daraus Schlussfolgerungen zur poli-
tischen Kultur Liechtensteins ableiten lassen.
8 In der liechtensteinischen Rechtsordnung wird der Bereich Umwelt lediglich unter
dem Titel «Schutz des ökologischen Gleichgewichts» als ein Unterkapitel des Be-
reichs «Gesundheit —- Arbeit — Soziale Sicherheit» (LR 814) geführt. Mit diversen
Vorschriften zu Themen wie z.B. Lärmschutz, Emissionshandel, Schutz vor nichtio-
nisierenden Strahlungen, Umweltinformation etc. handelt es sich dabei jedoch über
ein äusserst vielfältiges und stark differenziertes Regulierungsfeld.
306
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Entwicklung der politischen Kultur
Ein Vergleich zwischen den Landtagsprotokollen aus der Mandatsperi-
ode von 1974 bis 1978 und der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 nennt
verschiedene Unterschiede in der Arbeitsweise des Landtages. So wur-
den in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 beispielsweise Interpella-
tionen der Landtagsabgeordneten vom zuständigen Regierungsrat oft-
mals schon in der gleichen Sitzung beantwortet. Dies setzt eine sehr
hohe Dossierkenntnis voraus. Angesichts der heutigen Komplexität von
Politik und Recht, aber auch angesichts des Umfangs von Interpellatio-
nen wäre ein solches Vorgehen heute kaum mehr denkbar. Ebenso wur-
den in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 Kleine Anfragen meist
noch am selben Tag beantwortet. Im Unterschied dazu werden heute
Kleine Anfragen meist schon einige Tage vor Sitzungsbeginn schriftlich
eingereicht, sodass die Regierung genügend Zeit für eine kompetente
Beantwortung hat.
Ferner erfolgten in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 zu Sit-
zungsbeginn deutlich öfter Anpassungen der Traktandenliste. Dies kann
als Indiz gewertet werden, dass die Arbeit des Landtagsbüros weniger
stark institutionalisiert war als heute, was unter anderem auch darauf
zurückzuführen ist, dass erst 1990 ein Landtagssekretariat eingerichtet
wurde.? Ein weiterer Unterschied liegt im Engagement des Landtagsprä-
sidenten, welcher sich in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 fast aus-
schliesslich auf seine Rolle als Moderator beschränkte, während Gerard
Batliner als Landtagspräsident zwischen 1974 und 1978 durchaus inhalt-
liche Beiträge einbrachte (was wohl grossteils auch seiner juristischen
Expertise zuzuschreiben ist).
Mit Blick auf das Abstimmungsverhalten lassen sich keine klaren
Aussagen treffen, da dieses in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978 nur
schlecht dokumentiert ist und insbesondere namentliche Abstimmungs-
ergebnisse fehlen. Alle Regierungsvorlagen wurden jedoch angenom-
men, was angesichts der Grossen Koalition nicht überrascht. Allerdings
gab es in Einzelfällen durchaus heftige Kontroversen zwischen den bei-
9 In einem Votum vom 20. Dezember 1977 weist Landtagspräsident Gerard Batliner
darauf hin, dass für den Landtag ein Sekretär bestellt wurde, dieser aber in der Man-
datsperiode von 1974 bis 1978 seine Tätigkeit noch nicht aufnehmen konnte.
307
Christian Frommelt
den Fraktionen. Ein Beispiel ist die Debatte über das Finanzgesetz und
den Landesvoranschlag 1975 (Landtagssitzung vom 19. Dezember
1974), deren Abschluss vertagt werden musste, weil die VU-Fraktion
damit drohte, den Landtag zu verlassen, wodurch der Landtag
beschlussunfähig geworden wäre. Eine Einigung über den Landesvoran-
schlag für das Jahr 1975 kam deshalb - sozusagen erst in letzter Sekunde
— in einer Sondersitzung am 30. Dezember 1974 zustande.
Einen weiteren Unterschied zwischen den beiden untersuchten
Mandatsperioden findet man in der Kommissionsarbeit. Diese be-
schränkte sich in der Mandatsperiode von 2009 bis 2013 auf die in der
Geschäftsordnung vorgesehenen Ständigen und Besonderen Kommis-
sionen.!° Im Unterschied dazu arbeiteten in der Mandatsperiode von
1974 bis 1978 verschiedene Landtagskommissionen an konkreten Ge-
setzesvorhaben oder anderen Politikgeschäften; so existierte z.B. eine
Landtagskommission für Staatsbürgerrecht und Einbürgerungspraxis
oder eine Landtagskommission betreffend die Umfahrungsstrasse!!.
Zusammen mit der im Durchschnitt höheren Anzahl Wortmeldungen
bei Gesetzesvorlagen kann dies als Indiz für eine stärkere Rolle des
Landtages bei der Gesetzgebung gewertet werden.
Den politischen Stil in der Mandatsperiode von 1974 bis 1978
umschreibt der Landtagspräsident Gerard Batliner im Rückblick auf das
erste Sitzungsjahr wie folgt: «(...) dass in diesem Haus im grossen und
ganzen Sachbezogenheit, Konzilianz und konstruktive Zusammenarbeit
geherrscht haben» (Landtagssitzung vom 30. Dezember 1974). Diese
Aussage deckt sich weitgehend mit den vom Politikwissenschaftler Arno
Waschkuhn für Liechtenstein isolierten Orientierungsnormen «Mitte —
Mischung —- Mässigung» (Waschkuhn 1994, S. 391).
Die von Waschkuhn vorgenommene Beschreibung des politischen
Systems Liechtenstein als ein von Konkordanz und Ko-Opposition
geprägtes System hat zweifelsohne immer noch ihre Richtigkeit. Nach
den Landtagswahlen von 2013 und der Wahl einer vierten Partei in den
Landtag lassen sich aber vermehrt Elemente eines Konkurrenzsystems
10 Zu den Ständigen Kommissionen zählen die Finanzkommission, die Geschäftsprü-
fungskommission und die Aussenpolitische Kommission. Als Besondere Kommis-
sion agiert derzeit die EWR-Kommission.
11 Bei der Landtagskommission betreffend die Umfahrungsstrasse ging es um eine
mögliche Umfahrung von Schaan und Vaduz.
308
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
Abbildung 6: Politisches Profil des Landtages, November 2015 (N=18)
Offene
Aussenpolitik
100
Liberale Liberale
75 Gesellschaft Wirtschaftspolitik
50
25 Ausgebauter Restriktive
Sozialstaat Finanzpolitik
0
Ausgebauter Law & Order
Umweltschutz
Restriktive
— Durchschnittswert Migrationspolitik
Maximaler Wert
=c000000 Minimaler Wert
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung in Zusammenarbeit mit dem Verein «wahlhilfe.li»,
ım Sinne einer verstärkten ideologischen Polarisierung und der Ent-
wicklung eines formalen Oppositionsverständnisses erkennen.
Abbildung 6 zeigt das Spektrum der politischen Positionen der
Landtagsabgeordneten der aktuellen Mandatsperiode. Dabei handelt es
sich um einen sogenannten «Smartspider»,'? welcher die Werthaltung
und politische Einstellung eines Parlamentariers anhand von acht the-
matischen Achsen abbildet. Ein Wert von 100 steht für eine starke Zu-
stimmung zum formulierten Ziel, während ein Wert 0 eine starke Ableh-
nung des formulierten Ziels ausdrückt.
Im Auftrag des Vereins «wahlhilfe.li» (www.wahlhilfe.li) führte das
Liechtenstein-Institut im Oktober 2015 eine Befragung der Landtagsab-
geordneten durch, an welcher sich 18 der 25 ordentlichen Abgeordneten
des Landtages beteiligten. Die Befragung zeigt, dass im aktuellen Land-
12 Weitere Informationen zur Methodik finden sich unter www.smartvote.ch.
309
Christian Frommelt
tag fast das ganze Spektrum an politischen Einstellungen und Werthal-
tungen abgedeckt wird und damit durchaus rechte und linke sowie libe-
rale und konservative Positionen repräsentiert sind. Die Mehrheit der
Abgeordneten lässt sich aber weiterhin der politischen Mitte zuordnen.
Weitere Belege für eine verstärkte Differenzierung der politischen Ein-
stellungen und Werthaltungen finden sich in den parlamentarischen Ein-
gängen, die regelmässig eine klare politische Stossrichtung aufweisen. So
zielt beispielsweise das Postulat der Unabhängigen (DU) betreffend
mögliche Massnahmen zur Reduktion des Personal- und Sachaufwandes
des Staates (Landtagssitzung vom 5. September 2013) auf eine restriktive
Finanzpolitik, während die Freie Liste (FL) in ihrer Motion zum Stimm-
und aktiven Wahlrecht Liechtensteiner Staatsangehöriger im Ausland
für eine Stärkung eines liberalen Gesellschaftsmodells eintritt (Landtags-
sitzung vom 24. April 2013).
Fazit
Die politischen Rahmenbedingungen der Landtags- und Regierungstä-
tigkeit haben sich seit den 1970er-Jahren stark geändert. In der politi-
schen Praxis widerspiegelt sich dies insbesondere in einem starken
Anstieg der vom Landtag zu behandelnden Traktanden sowie in einer
stark erhöhten Rechtssetzungsfrequenz. Anpassungen der Geschäfts-
ordnung des Landtages oder der Organisationsstrukturen der Landes-
verwaltung und der Regierung zielten deshalb stets auf eine Verbesse-
rung der Effizienz, während die Funktion von Regierung und Landtag
und die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente kaum angepasst
wurden. Entsprechend überrascht es nicht, dass sich das Spektrum der
Traktandumstypen sowie der Anteil der einzelnen Traktandumstypen an
der gesamten Landtagsarbeit seit den 1970er-Jahren nur geringfügig
geändert haben. Das politische System Liechtensteins weist somit eine
hohe Persistenz auf.
Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Unterschiede zwischen den
verglichenen Zeiträumen erkennen, die sich insbesondere in der aktuel-
len Mandatsperiode von 2013 bis 2017 manifestieren. Demnach gewin-
nen parlamentarische Eingänge an Bedeutung, einerseits als Instrument
zur Regierungskontrolle und andererseits als Instrument zur ideologi-
schen und damit meist auch parteipolitischen Positionierung. Im Unter-
310
Landtags- und Regierungstätigkeit in den 1970er-Jahren und heute
schied dazu war der Einfluss des Landtages auf die Gesetzgebung in den
1970er-Jahren wohl grösser als heute. Als Erklärung hierfür sind insbe-
sondere die ungleiche Entwicklung der personellen und finanziellen
Ressourcen von Landtag und Regierung seit den 1970er-Jahren sowie die
heute deutlich stärkere Internationalisierung zu nennen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Landtag keinen Einfluss mehr
auf die Gesetzgebung hat. Einerseits gibt es durchaus Vorlagen, bei
denen diverse inhaltliche Änderungen durch den Landtag erfolgen bzw.
von diesem angeregt werden. Andererseits übt der Landtag im Sinne
einer Richtungs- und Leistungskontrolle der Regierung bereits durch
Fragen und Kommentare zu einzelnen vorgeschlagenen Gesetzesbestim-
mungen einen Einfluss auf die Gesetzgebung aus. Schliesslich verschafft
meist erst die Landtagsdebatte einem Gesetzesprojekt eine mediale
Resonanz und damit ein öffentliches Interesse.
Inwieweit sich in den vergangenen Jahren die politische Kultur in
Liechtenstein geändert hat, konnte im Rahmen dieses Beitrages nur
angedeutet werden. Hierfür sind weitere Analysen nötig. Allerdings fin-
den sich auch hinsichtlich der politischen Kultur keine Anzeichen für
grosse Veränderungen. Zwar mag die Politik aufgrund der gestärkten
Opposition konfrontativer und durch ein stetes Ringen um politisches
Profil und öffentliche Resonanz auch plakativer geworden sein, die
grundlegenden Orientierungsnormen der liechtensteinischen Politik
haben aber weiterhin Bestand.
311
Christian Frommelt
LITERATUR
Bernauer, Thomas; Jahn, Detlef; Kuhn, Patrick; Walter, Stefanie (2009). Einführung in die
Politikwissenschaft, Baden-Baden.
Beyme, Klaus von (2002). Parlamente, in: Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.): Vergleichende
Regierungslehre. Eine Einführung, Wiesbaden, S. 270-290.
Büsser, Roman; Frommelt, Christian (2016). Gestern im Landtag, heute in der Zeitung.
Foliensatz eines Vortrages vom 17. Mai 2016 in Bendern. Online abrufbar unter:
http://www.liechtenstein-institut.li/de-ch/publikationen/publikation.aspx?shmid=414
&shact=-1940724959&shmiid=LatBtbytrFA__eql__ (17. Juni 2016).
Frommelt, Christian (2011a). Europäisierung der liechtensteinischen Rechtsordnung.
Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut, 28, Bendern. doi:10.13091/li-ap-28.
Frommelt, Christian (2011b). Europäisierung der Landtagsarbeit. Arbeitspapiere Liech-
tenstein-Institut, 29, Bendern. doi:10.13091/li-ap-29.
Patzelt, Werner J. (2003). Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und
studiumbegleitende Orientierung, Passau.
Waschkuhn, Arno (1994). Politisches System Liechtensteins: Kontinuität und Wandel. LPS
18, Vaduz.
312
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
Herbert Wille
1. Einleitung
Der nachstehende Beitrag beschäftigt sich auf dem Hintergrund der
Landtagsdebatten vom 8. April 1976/14. Juni 1977! mit grundsätzlichen
Fragen und Problemen des Denkmalschutzrechts, wie sie im Zusam-
menhang mit dem heute noch geltenden Denkmalschutzgesetz vom
14. Juni 1977 (DSchG} aufgetreten sind, für das Georg Malin als zustän-
diges Regierungsmitglied verantwortlich zeichnete. Er hat es im Landtag
und in dessen Kommission, zu deren Beratungen ich als Ressortsekretär
der Regierung beigezogen wurde, vertreten. Es geht hier in erster Linie
um Rechtsfragen, die im Denkmalrecht eine massgebende Rolle spielen.
Sie beherrschten denn auch damals die politische Diskussion.
2. "Totalrevision
Das vom Europarat im Jahre 1975 unter dem Motto «Eine Zukunft für
unsere Vergangenheit» proklamierte Europäische Jahr des architektoni-
schen Erbes hat angesichts des fortschreitenden Verlustes an historischer
Substanz auf die grundsätzliche Bedeutung des Denkmalschutzes für
unsere Umwelt und unser Leben aufmerksam gemacht? und zielte auf
1 Landtags-Protokolle (LtProt.) 1976, Bd. I, und 1977, Bd. I.
2 LGBl. 1977 Nr. 39. Dieses Gesetz soll nach BuA der Regierung vom 26. Januar
2016, Nr. 6/2016, betreffend die Schaffung eines Gesetzes über den Schutz, die Er-
haltung und die Pflege von Kulturgütern (Kulturgütergesetz; KGG), S. 5, in dieses
Kulturgütergesetz integriert werden.
3 Georg Mörsch, Kulturelle Identität und Denkmalpflege, in: Denkmalverständnis,
Zürich 2004, S. 11; BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 zum Gesetz über den
Schutz und die Pflege der Denkmäler (Denkmalschutzgesetz), S. 2 f. Vgl. auch
313
Herbert Wille
ein stärkeres Engagement der Öffentlichkeit. Diesem Anliegen ver-
schrieb sich auch das Denkmalschutzgesetz vom 14. Juni 1977, das eine
umfassende Neuordnung darstellt und das lückenhafte und veraltete
Denkmalschutzgesetz vom 28. Januar 1944 (DSchG)* ablöst. Der Denk-
malschutz steht unbestrittenermassen in der Kulturverantwortung des
Staates.” Der Schutz und die Erhaltung von Denkmälern gehören
wesentlich zur Identität einer Bevölkerung. Das bisherige Denkmal-
schutzgesetz entstand auf Initiative des Historischen Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein.“ Es vermochte den «Zielvorstellungen eines
modernen Denkmalschutzgesetzes» nicht mehr zu genügen. Seine «zen-
tralen Bestimmungen» entsprachen sowohl in materiell- als auch in for-
mellrechtlicher Hinsicht nicht mehr den «neuen Verhältnissen». So blieb
es beispielsweise auf das Einzelobjekt ausgerichtet und sparte bauliche
Gesamtheiten — sogenannte Ensembles — aus, die damals im Fokus stan-
den.’ Es stellte zwar alle Denkmäler von Gesetzes wegen unter Schutz,®
konzentrierte sich dabei aber in erster Linie auf Denkmäler, die im
«öffentlichen Eigentume» standen. Es drängte sich aus diesen Gründen
eine Totalrevision auf, die dementsprechend auch angestrebt wurde.'°
LtProt. 1976, Bd. I, S. 19 bzw. S. 21 (Abg. Dr. Franz Beck und Josef Frommelt in
der öffentlichen Landtagssitzung vom 8. April 1976).
4 LGBl. 1944 Nr. 4.
5 So die Landtagsdebatte; siehe auch BuA vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie
Fn. 2), S. 6, 12, 18 und 36. Art. 14 IV erklärt die Förderung der gesamten Volks-
wohlfahrt zur obersten Aufgabe des Staates. Zum öffentlichen Interesse zählt alles,
«was der Staat in Erfüllung einer ihm übertragenen Aufgabe zum Wohl der Ge-
meinschaft unternehmen muss». Vgl. Andrea F. G. Rascher, Wann ist ein Interesse
in der Denkmalpflege ein öffentliches, was bedeutet Verhältnismässigkeit und wie
spielen Gutachten hinein?, in: Bernhard Ehrenzeller (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen
der Denkmalpflege, St. Gallen 2004, S. 47.
6 So Cornelia Herrmann, Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein, Neue
Ausgabe II, Das Oberland, Bern 2007, S. 20. Erwin Poeschel, Die Kunstdenkmäler
des Fürstentums Liechtenstein, Basel 1950, würdigt in seinem Vorwort die rege pu-
blizistische Tätigkeit des Historischen Vereins.
7 Vgl. BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 (wie Fn. 3), S. 1. Georg Malin nennt
in der Landtagsdebatte vom 8. April 1976, LtProt. 1976 Bd. I, S. 33, den Schutz des
Bauensembles als ein «Resultat jahrzehntelangen Bemühens des europäischen
Denkmalschutzes».
8 Vgl. Art. 1 und Art. 6 Abs. 2 DSchG 1944.
9 Vgl. Art. 4 Abs. 3 DSchG 1944.
10 Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, wie Cornelia Herrmann, Die Kunstdenkmä-
ler des Fürstentums Liechtenstein (wie Fn. 6), S. 20, in der Einführung vermerkt,
314
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
Die Neuerungen bestehen in materieller Hinsicht hauptsächlich in einer
Ausweitung bzw. umfassenderen Sichtweise des Denkmalbegriffs, der
auch die zusammenhängende Gebäudegruppe (Ensemble) erfasst. In
formeller Hinsicht wurde vornehmlich das notwendige verfahrensrecht-
liche Instrumentarium geschaffen, das beispielsweise die Inventarisation
der erhaltenswerten Denkmäler oder vorsorgliche Massnahmen umfasst,
die gefährdete erhaltenswerte Denkmäler sicherstellen.!!
Das Denkmalschutzgesetz vom 14. Juni 1977 zeichnet sich durch
seine Kürze und Verständlichkeit aus und folgt darin einem Modellent-
wurf zu einem kantonalen Gesetz über Denkmalpflege vom September
1970. Inhalt und Umfang der Regelung waren umstritten, da sich deren
Gewichtigkeit und Tragweite nicht abschätzen liessen, sodass sich in der
parlamentarischen Diskussion Unsicherheit breitmachte. Mühe bereite-
ten den Abgeordneten, wie die Landtagsdebatte zeigt, insbesondere die
unbestimmten Rechtsbegriffe, wie sie in erster Linie in der Umschrei-
bung des Denkmalbegriffs oder an anderen Stellen der Regierungsvorlage
anzutreffen sind, wie die «aussergewöhnliche Bedeutung» oder das «öf-
fentliche Interesse». Sie sind im Zusammenhang mit dem Denkmalschutz
zentral.'* Da sie sich inhaltlich nicht aus sich heraus ein für alle Mal fest-
legen lassen oder sich zu verschiedenen Zeiten und von unterschiedlichen
Anschauungen her verschieden definieren, können sich daraus zwangs-
läufig Schwierigkeiten bei ihrer Anwendung ergeben. Es wurde denn
auch eingewendet, dass der Denkmalschutz «in vielen Fällen» zur Ermes-
sensfrage werde, wobei der Entscheid über die Unterschutzstellung bei
der Regierung liege, die «umfassende Befugnisse» fordere.!*
Im Raume stand auch die Frage des Verhältnisses der in der Ver-
fassung garantierten Eigentumsgarantie zu den eigentumsbeschränken-
den Massnahmen des Denkmalschutzes. Es überrascht nicht, dass auch
«dass seit 1950 im Fürstentum Liechtenstein mehr als 180 bewegliche und unbe-
wegliche Kulturgüter unter Denkmalschutz gestellt wurden».
11 Vgl. BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 (wie Fn. 3), S. 2.
12 Erist im Anhang zu den Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Ver-
waltungskurse an der Hochschule St. Gallen, Neue Reihe, Band 3, St. Gallen 1981,
publiziert.
13 Vgl. Art. 2, 7, 9 und 20 DSchG.
14 LtProt. 1976, Bd. I, S. 24 f. (Abg. Herbert Kindle in der öffentlichen Landtagssit-
zung vom 8. April 1976).
315
Herbert Wille
Bedenken gegen allzu weitgehende bzw. unbegrenzte Einwirkungsbe-
fugnisse der staatlichen Denkmalschutzorgane, namentlich der Regie-
rung, geäussert wurden, da nicht zu übersehen ist, dass in diesem
Zusammenhang denkmalschützerisches Verwaltungshandeln auf wirt-
schaftliche Interessen Privater trifft, mit anderen Worten aus Gründen
des Denkmalschutzes staatliche Massnahmen im Vordergrund stehen,
die die private Eigentumsfreiheit einengen und beschränken können.
Es wurden aus all diesen Gründen Stimmen laut, die für eine
Zurückhaltung des Gesetzgebers plädierten.'” Der Denkmalschutz
wurde zwar grundsätzlich bejaht, doch als eine «Frage des Masses» ver-
standen.'® So lautete zusammenfassend ein Votum: «Ich glaube, wir
haben allen Grund, uns hier zu bemühen, dass das letzte Wenige, das
noch da ist, erhalten bleibt. Auf der anderen Seite haben wir aber die
Pflicht als Volksvertreter, die private Sphäre des Bürgers vor unliebsa-
men An- und Übergriffen der Bürokratie zu schützen.»!
Zugleich wurde an die in der ersten Lesung der Regierungsvorlage
vorgebrachte Kritik auch die Erwartung geknüpft, dass sie der Regie-
rung dienlich sei und sie zu «konstruktiven Alternativvorschlägen»
bewegen möge. !®
3. Inhalt und Umfang des Denkmalschutzes
a) Kommission des Landtags
Die vom Landtag zur Beratung der Regierungsvorlage (RV) eingesetzte
Kommission bemühte sich um vermittelnde Antworten, auch wenn die-
se erwartungsgemäss nicht zu gewichtigen inhaltlichen Korrekturen
15 LtProt. 1976, Bd. I, S. 24 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 8. April 1976).
16 LtProt. 1976, Bd. I, S. 24 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 8. April 1976).
17 LtProt. 1976, Bd. I, S. 25 f. (Abg. Dr. Peter Marxer in der öffentlichen Landtagssit-
zung vom 8. April 1976).
18 LtProt. 1976, Bd. I, S. 24 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 8. April 1976).
316
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
führten.!* Die Kommission hielt im Wesentlichen an der Regierungsvor-
lage fest. Die Änderungen betrafen vornehmlich Formulierungen, die in
ihrer Aussage abgeschwächt wurden, wie dies an einigen Beispielen
ersichtlich wird. So wurde versucht, die Kriterien, die einer Sache die
Eigenschaft eines Denkmals verleihen, zu begrenzen mit dem Ziel, einer
zu weit gehenden Gesetzesauslegung vorzubeugen. In der Landtags-
debatte vom 8. April 1976 war gefordert worden, das Gesetz solle «der
Regierung die rechtliche Grundlage für eine Handhabung des vernünfti-
gen Denkmalschutzes bieten».”° Die Landtagskommission legte sich auf
drei «Qualitätskriterien» fest. Sie sprach von geschichtlicher, künstleri-
scher oder wissenschaftlicher Bedeutung und verstand sie in einem ein-
engenden Sinne, wobei darin auch die anderen vorgeschlagenen Krite-
rien enthalten sein sollten. Auch wenn die Anzahl der Beurteilungs-
kriterien von der Landtagskommission gekürzt und als abschliessend
begriffen wurden, änderte sich am Inhalt und Umfang des Denkmal-
begriffs nichts, da er nicht abschliessend umschrieben werden kann.?!
Eine gleiche Beschränkungsabsicht ist auch bei der Zweckbestimmung
des Gesetzes in Art. 1 auszumachen, die nurmehr von «Schutz und
Erhaltung» der Denkmäler im Fürstentum Liechtenstein spricht. Der
Ausdruck «Pflege», wie er auch im Titel der Regierungsvorlage enthal-
ten war,” wurde fallengelassen. Nach Ansicht der Landtagskommission
19 Der Abgeordnete Herbert Kindle attestierte der Landtagskommission, dass sie sich
«ernsthaft» bemüht habe, «harte Bestimmungen etwas zu entschärfen». Das sei «ihr
zum Teil gelungen und zum Teil nicht». Er lehnte die Gesetzesvorlage nach wie vor
ab, da sie das private Eigentumsrecht zu sehr beschränke und der Regierung zu
grosse Kompetenzen und ein zu grosses Ermessen einräume. So stellte er in der
Landtagssitzung vom 14. Juni 1977 den Antrag, die Gesetzesvorlage «auch dem
Volk zum Entscheid zu unterbreiten», den die Abgeordneten der Fortschrittlichen
Bürgerpartei, der auch Regierungsrat Dr. Georg Malin angehörte, mit acht gegen die
sieben Stimmen der Abgeordneten der Vaterländischen Union ablehnten. Siehe
LtProt. 1977 Bd. I, S. 102-105.
20 LtProt. 1976, Bd. I, S. 32 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 8. April 1976). Er schlägt zu Art. 2 Abs. 1 RV vor, als «Beurteilungs-
kriterien» für den Denkmalschutz keine anderen als den archäologischen, kunsthis-
torischen und volkskundlichen «Aspekt» zu berücksichtigen. Es ist in der Literatur
auch von «Bedeutungskriterien» die Rede.
21 Näheres dazu im Folgenden.
22 Dieser lautete: «Gesetz vom (...) über den Schutz und die Pflege der Denkmäler
(Denkmalschutzgesetz)>».
317
Herbert Wille
war eine Formulierung ausreichend, die den Schutz und die Erhaltung
der Denkmäler zum Gegenstand hat, da die «Pflege» mit inbegriffen
sei.” Dementsprechend wurde auch der Titel des Gesetzes geändert bzw.
eingeschränkt. Die Landtagskommission strich im Katalog der Schutz-
objekte (Art. 2 Abs. 2 RV) auch die «Siedlungsbilder in ihrem land-
schaftlichen Rahmen», da sie diese Bestimmung als «zu unbestimmt und
zu weitgehend» bewertete. In der Landtagsdebatte war der Einbezug
von Siedlungsgebieten in den Denkmalschutz als nicht realisierbar er-
achtet worden, da er in keinem Verhältnis zu den damit verbundenen
Kosten und Eingriffen in das Privateigentum stehe.?** Ebenso wurde in
Art. 2 Abs. 2 RV im Zusammenhang mit den «einzelnen Bauwerken und
Baugruppen» die «Umgebung» weggelassen, da sich diese begrifflich
nicht festlegen lasse.” In der Landtagsdebatte vom 8. April 1976 war
zuvor eingewendet worden, eine Unterschutzstellung von solchen
Denkmälern würde eine «einschneidende Beschränkung der Verfü-
gungsgewalt der Eigentümer bzw. Besitzer und ihrer individuellen Frei-
heit» bedeuten.”
b) Begriffliche Klärungen
Denkmäler im Sinne des Art. 2 DSchG können nur solche «bewegliche
oder unbewegliche Sachen» im sachenrechtlichen Sinne sein, die einen
Bezug zu Liechtenstein aufweisen” und an deren Erhaltung wegen einer
23 BuA der Landtagskommission zur Beratung des Denkmalschutzgesetzes an den
Landtag vom 23. Mai 1977, S. 6 (Beilage zur öffentlichen Landtagssitzung vom
14. Juni 1977, in: LtProt. 1977, Bd. I). Diese Formulierung bzw. Streichung des Be-
griffs «Pflege» darf wohl auch als Zugeständnis an die Kritik gedeutet werden, die
in ihm eine Ausweitung des Denkmalschutzes und damit eine zusätzliche Be-
schränkung der Eigentumsfreiheit erblickte.
24 LtProt. 1976, Bd. I, S. 32 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 8. April 1976).
25 BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), S. 7.
26 LtProt. 1976, Bd. I, S. 24 f. (Abg. Herbert Kindle in der öffentlichen Landtagssit-
zung vom 8. April 1976).
27 Der Passus «und ihrer Beziehung zu Liechtenstein» wurde anlässlich der zweiten
Lesung eingeführt, nachdem die Landtagskommission in ihrem Bericht darauf auf-
merksam gemacht hatte, dass der Begriff der Erhaltenswürdigkeit in Art. 2 Abs. 1
«Jandbezogen>» sei. Ein Denkmal sei erhaltenswürdig, «wenn es für Liechtenstein
318
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Bedeutung ein
öffentliches Interesse besteht.” Um einem Objekt den Status eines
Denkmals zu verleihen, ist Voraussetzung, dass ihm ein solcher beson-
derer Wert zukommt.” So heisst es in Art. 9 Abs. 1 DSchG: «Wenn es
das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Denkmals verlangt, wird
dieses durch Verfügung der Regierung unter Schutz gestellt.» Die Unter-
schutzstellung erfolgt mit Verfügung der Regierung, die die Schutz-
bzw. Erhaltenswürdigkeit feststellt und den damit verbundenen Schutz-
umfang für den Eigentümer verbindlich festlegt.”
Die Kriterien, die den Denkmalbegriff näher bestimmen, bezeich-
nen spezifische Werte, die ein öffentliches Interesse an einem Objekt
begründen. Sie können nicht abschliessend erfasst werden, wie sich dies
aus der Vielfalt menschlichen Handelns und Wirkens ergibt.” Es existie-
ren denn auch in den einschlägigen schweizerischen kantonalen Geset-
zen vergleichbare Definitionen, die aus einem «Bündel» solcher unbe-
stimmten Rechts- bzw. Gesetzesbegriffe bestehen.” Sie sind dem Denk-
malrecht seit Langem geläufig. Es muss sich «mit einer allgemeinen
Umschreibung des zu schützenden Kulturwertes begnügen».
erhaltenswürdig>» sei. Ob eine Sache ein Denkmal sei, beurteile sich nach der Qua-
lität des Denkmals und seiner Beziehung zu Liechtenstein. Vgl. BuA der Landtags-
kommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), S. 6. In der Landtagssitzung vom
14. Juni 1977 stellte der Abg. Dr. Karlheinz Ritter aus Gründen der Gesetzesklar-
heit den Antrag, in Art. 2 Abs. 1 eine entsprechende Ergänzung mit dem Wortlaut
«und wegen ihrer Beziehung zu Liechtenstein erhaltenswürdig sind» aufzunehmen.
Vgl. LtProt. 1977, Bd. I, 5. 81.
28 Siehe Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 DSchG.
29 Völ. Bernhard Furrer, Motive und Objekte der heutigen Denkmalpflege, in: Bernhard
Ehrenzeller (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen der Denkmalpflege (wie Fn. 5), S. 12.
30 Walter Engeler, Das Baudenkmal im schweizerischen Recht, Zürich/St. Gallen
2008, S. 153. Nach Art. 10 Abs. 1 DSchG hat die Verfügung, durch die ein Denkmal
unter Schutz gestellt wird, in geeigneter Weise den sachlichen und örtlichen Bereich
des Schutzes zu umschreiben.
31 Walter Engeler, Das Baudenkmal im schweizerischen Recht (wie Fn. 30), S. 134 f.
«Kulturdenkmale» sind nach Georg Mörsch, Dürfen Denkmäler altern?, in: ders.,
Denkmalverständnis (wie Fn. 3), S. 39, «gegenständliche Zeugnisse menschlichen
Lebens».
32 Christoph Winzeler, Grundfragen des neuen baselstädtischen Denkmalschutzrech-
tes, in: Basler Juristische Mitteilungen, Nr. 4, Oktober 1982, S. 170.
33 Martin Heckel, Staat Kirche Kunst. Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler, Tü-
bingen 1968, S. 14 f.
319
Herbert Wille
Es ist verfassungsrechtlich zulässig, unbestimmte Rechts- bzw. Geset-
zesbegriffe** zu verwenden, die den rechtsanwendenden Organen einen
Beurteilungsspielraum einräumen, den sie durch Auslegung konkreti-
sieren können. Sie gewinnen ihren Inhalt aus dem Sinn und Zweck
des Gesetzes oder aus einzelnen Bestimmungen. Kennzeichnend ist für
sie, dass bei ihnen meist der Tatbestand oder vereinzelt die Rechtsfolge
einer Norm in offener, unbestimmter Weise umschrieben ist. Die Ver-
fassung legt allerdings in Art. 92 Abs. 2 einschränkend fest, dass Rechts-
normen hinreichend bestimmt sein müssen. Danach hat der Gesetzgeber
«die Regelungen so zu treffen, dass sie die Rechtsanwendung in den
wesentlichen Punkten vorausbestimmen und so den nachprüfenden
Organen eine Kontrolle der Gesetzmässigkeit der Vollziehungstätigkeit
ermöglichen».
Was als Denkmal im Sinne von Art. 2 DSchG gilt, entscheidet sich
aufgrund von «ausserrechtlichen Wertungsvorgängen», auf die kaum
Einfluss genommen werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass die
Entscheidung über den Denkmalcharakter einer Sache eine Rechtsfrage
ist. Dazu kommt, dass es bei der Klärung des Denkmalcharakters auch
immer darum geht, das öffentliche Interesse zu ergründen, was eine
«spezifisch juristische Angelegenheit» ist.”
c) Ensemble bzw. Baugruppe
Der Begriff des Ensembles, wie er in der Umschreibung der «Baugrup-
pen» in Art. 2 Bst. a DSchG wiedergegeben wird, ist in einem engen Sinn
zu verstehen. Es entspricht dies auch der Absicht der Landtagskommis-
sion. Sie hat in diesem Zusammenhang bewusst auf den Zusatz der
Regierungsvorlage («und ihre Umgebung») bzw. auf die Verknüpfung
34 Nach Max Imboden/Ren6€ A. Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Bd. I, Basel 1986, Nr. 66/S. 405 verwendet die Praxis unzutreffenderweise den Ter-
minus «Rechtsbegriff».
35 StGH 1979/6, Entscheidung vom 11. Dezember 1979, LES 1981, S. 114. Ausführ-
lich Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, LPS 23,
Vaduz 1998, S. 174 ff. und S. 182 ff. mit Literatur- und Rechtsprechungshinweisen.
36 Vgl. Christoph Winzeler, Grundfragen des neuen baselstädtischen Denkmalschutz-
rechtes (wie Fn. 32), S. 170 f.
320
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
von «Baugruppen» und «Umgebung», wie sie in schweizerischen kanto-
nalen Vorbildern vorgesehen ist,” verzichtet.” Nach ihrer Ansicht
kommt es auf den konkreten Einzelfall an.” Es wird sich zeigen, «was
alles bei der Unterschutzstellung eines Denkmals sachlich und örtlich
erfasst werden muss, um dem Denkmal gerecht zu werden».“ Ob und in
welchem Umfang ein Denkmal zu schützen ist, hängt folglich von seiner
Bedeutung und von möglichen Gefährdungen ab, die aus der Umgebung
entstehen können.“ Der Diskussion anlässlich der zweiten Lesung, der
die Kommissionsvorlage zugrunde lag, ist zu entnehmen, dass jedenfalls
der «örtliche Bereich, der unmittelbar zum Denkmal (Baugruppe)
gehört», ihm zuzurechnen ist, da man zum Beispiel, wie argumentiert
wurde, «einen Hof oder einen Zugang, die zum Objekt gehören, nicht
ausnehmen» kann. Dieser Bereich ist miteinzubeziehen.“ Danach ist ein
«Gruppenschutz von mehreren Häusern» möglich,* wie sich dies aus
dem Begriff «Baugruppen» ergibt.“
Trotz dieser einschränkenden Hinweise bestanden im Landtag
nach wie vor Bedenken, dass «ganze Baugruppen und nach der Weite
37 Siehe $ 2 Abs. 2 Ziffer 2 des Modellentwurfs für ein kantonales Gesetz über Denk-
malpflege (wie Fn. 12); Walter Engeler, Das Baudenkmal im schweizerischen Recht
(wie Fn. 30), 5. 126 f. Nach ihm benennen die kantonalen Gesetze die Schutzobjekte
von baulichen Gesamtheiten mit unterschiedlichen Rechtsbegriffen wie Gruppe,
Ensemble und Ortsbild (S. 122). Der Begriff «Ensemble» verstanden als eine «plan-
volle, wirkungsvoll gruppierte Gesamtheit» lasse sich aus Sicht des allgemeinen
Sprachgebrauchs der «Gruppe» wie auch dem Ortsbild zuordnen (S. 128).
38 Sie wollte der Kritik entgegenkommen, die in der Eintretensdebatte zur Gesetzes-
vorlage vorgebracht worden war. Es könne sicher nicht bestritten werden, dass sich
die Gesetzesvorlage zum Ziel gesetzt habe, über die Einzelobjekte hinaus in die
Umgebung und die Dorfteile vorzustossen (LtProt. 1976, Bd. I, S. 66 f. [Abg. Her-
bert Kindle in der öffentlichen Landtagssitzung vom 8. April 1976]).
39 So kann etwa als «Umgebung» die nähere oder weitere räumliche Situation um ein
zu schützendes Denkmal verstanden werden. Vgl. Walter Engeler, Das Baudenkmal
im schweizerischen Recht (wie Fn. 30), S. 126.
40 BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), S. 7.
41 Vgl. Walter Engeler, Das Baudenkmal im schweizerischen Recht (wie Fn. 30), 5. 127.
42 LtProt. 1977, Bd. I, S. 85 (Präsident Dr. Gerard Batliner in der öffentlichen Land-
tagssıtzung vom 14. Juni 1977).
43 LtProt. 1977, Bd. I, S. 86 (Abg. Noldi Frommelt in der öffentlichen Landtagssitzung
vom 14. Juni 1977).
44 LtProt. 1977, Bd. I, S. 86 (Präsident Dr. Gerard Batliner in der öffentlichen Land-
tagssıtzung vom 14. Juni 1977).
321
Herbert Wille
dieses Begriffs ganze Dorfteile dem Denkmalschutz unterstellt werden,
z.B. in Triesen».“ Der Regierung wurde daher empfohlen, «hier sehr
vorsichtig zu Werke zu gehen, da andernfalls diesem Gesetz das Lebens-
licht sehr bald ausgeblasen würde».*
4. Befugnisse der Regierung
Wenn in der Landtagsdiskussion beanstandet wurde, dass den zuständi-
gen Organen «grosszügige Befugnisse» eingeräumt werden, so geschah
dies vorwiegend im Zusammenhang mit dem Denkmalbegriff (Art. 2
DSchG). Die Rede war etwa auch von einer «Blankovollmacht»“, die
den Behörden in diesem Gesetz zugestanden werde. Diese Kritik über-
sieht, dass das Gesetzmässigkeitsprinzip, wie es in Art. 92 LV festgelegt
ist, konzediert, dass Gesetze Ermessensbestimmungen enthalten dür-
fen.“ Ermessen meint Entscheidungsfreiheit der Behörde. Entscheiden
nach Ermessen heisst aber nicht ungebundenes Entscheiden nach Belie-
ben. Es ist pflichtgemäss auszuüben und hat sich an den allgemeinen
Grundsätzen des Verwaltungsrechts, an der Rechtsgleichheit und an den
Grundrechten zu orientieren,“ wobei alle in der Sache erheblichen Inte-
ressen berücksichtigt und sorgfältig gegeneinander abgewogen werden
müssen.”
45 LtProt. 1977, Bd. I, S. 102 (Abg. Herbert Kindle in der öffentlichen Landtagssitzung
vom 14. Juni 1977). Er kritisiert als «hauptsächliche Neuerung» die «grosse Aus-
dehnung des Begriffs «Denkmab gegenüber dem bisherigen Gesetz».
46 LtProt. 1977, Bd. I, S. 102 (Abg. Dr. Karlheinz Ritter in der öffentlichen Landtags-
sitzung vom 14. Juni 1977).
47 LtProt. 1976, Bd. I, S. 26 (Abg. Dr. Peter Marxer in der öffentlichen Landtagssit-
zung vom 8. April 1976).
48 Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts (wie Fn. 35),
S$. 191.
49 Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts (wie Fn. 35),
$. 192.
50 Vgl. Max Imboden/Ren&€ A. Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Bd. I (wie Fn. 34), S. 416 mit Rechtsprechungshinweisen.
322
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
5. Formeller Denkmalschutz — Verfahren
Das Verfahren zum Schutz eines Denkmals gliedert sich in drei
Abschnitte, die in den Vorabklärungen (Art. 3 DSchG), der Inventarisa-
tion (Art. 7 und 8 DSchG) und der Unterschutzstellung (Art. 9 DSchG)
bestehen. Die Landtagskommission verdeutlichte gegenüber der Regie-
rungsvorlage diese Vorgänge. Sie systematisierte sie und folgt dabei dem
«sachlogischen Ablauf»”, welcher im Folgenden dargestellt wird.
a) Vorabklärungen
Bevor die erhaltenswürdigen Denkmäler in ein Inventar aufgenommen
werden, müssen sie vorgängig wissenschaftlich bearbeitet und erforscht
werden, wobei der Eigentümer, der vorgängig zu informieren ist, «erfor-
derlichenfalls»* den Organen des Denkmalschutzes das Betreten des
Grundstücks zu gestatten hat. Die Regierung kann schon in diesem Sta-
dium von sich aus” oder auf Antrag einer Gemeinde oder der Denkmal-
schutzkommission sichernde Vorkehrungen nach dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit** treffen. Dabei haben allfällige Beschwerden gegen
entsprechende Massnahmen keine aufschiebende Wirkung (Art. 6
DSchG).®
51 BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), 5. 5 f.
52 Die Landtagskommission schränkte ein, indem sie «gegebenenfalls» (Art. 13 RV)
durch «erforderlichenfalls» ersetzte. «Damit kommt besser zum Ausdruck, dass das
Betreten eines Grundstücks nur dann gestattet ist, wenn eine Abklärung es erfor-
dert.» In: BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), 5. 8.
53 Der Abg. Dr. Ernst Büchel geht davon aus, «dass die Regierung auch ohne Antrag
von Amtes wegen handeln, d.h. vorsorgliche Massnahmen anordnen kann». In:
LtProt. 1976, Bd. LI, S. 58.
54 Vgl. Theodor Bühler, Organisation, Verfahren und Rechtsschutz in der Denkmal-
pflege, in: Yvo Hangartner (Hrsg.), Rechtsfragen der Denkmalpflege, St. Gallen
1981, S. 153.
55 Solche Massnahmen sind «meist dringlich», sodass die Regierung, wie der Abg. Dr.
Ernst Büchel ausführte, in der Lage sein muss, «jederzeit rasch handeln zu können».
Anderer Ansicht war Abg. Dr. Karlheinz Ritter, der für eine aufschiebende Wirkung
plädierte: «Ich bin der Meinung, dass die Vielzahl der in Betracht fallenden Mass-
nahmen es doch rechtfertigen würde, einer Beschwerde gegen eine solche Mass-
323
Herbert Wille
b) Inventarisation
Erhaltenswürdige Denkmäler werden durch Verfügung der Regierung in
ein Inventar aufgenommen. Es bildet die Grundlage für die denkmal-
pflegerische Arbeit. Das Inventar stellt neben der Unterschutzstellung
eine eigene Schutzkategorie dar. Es ist auch ein wesentlicher Faktor der
Rechtssicherheit für die einzelne Eigentümerschaft.” Der Eigentümer
hat im Verfahren Parteistellung. Die Regierung hat ihm die Verfügung
zuzustellen, die er anfechten kann.” Aus der Inventarisation folgt bei-
spielsweise, dass der Eigentümer verpflichtet ist, alle beabsichtigten Ver-
änderungen am Denkmal der Regierung zu melden (Art. 8 DSchG).°
c) Unterschutzstellung
Die Unterschutzstellung erfolgt mit Verfügung der Regierung, die die
Schutz- bzw. Erhaltenswürdigkeit feststellt und den damit verbundenen
Schutzumfang für den Eigentümer verbindlich festlegt.”
Ein Denkmal wird von der Regierung unter Schutz gestellt, wenn
das öffentliche Interesse seine Erhaltung verlangt (Art. 9 Abs. 1
DSchG).® Es ist gemäss Art. 1 DSchG zunächst ein zu schützendes und
wird im Fall einer Schutzanordnung der Regierung zum geschützten Ob-
nahme aufschiebende Wirkung zu geben, denn diese Massnahme kann in Vorkeh-
rungen bestehen, die nicht wieder reparierbar sind.» In: LtProt. 1976, Bd. I, S. 58
bzw. S. 60 f. Vgl. auch BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 (wie Fn. 3), 5. 6.
56 Vgl. Bernhard Furrer, Motive und Objekte der heutigen Denkmalpflege (wie
Fn. 29), 5. 15.
57 Vgl. BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), 5. 9 f.
58 Im BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 (wie Fn. 3), S. 4, heisst es noch, dass
der Inventarisation nur deklaratorische Bedeutung zukommt. Demgegenüber stellt
der Abg. Dr. Ernst Büchel fest, dass die Inventarisation «bereits juristische Bedeu-
tung» habe. Siehe LtProt. 1976, Bd. I, S. 44.
59 Art. 10 Abs. 1 DSchG; siehe schon vorne Fn. 30.
60 BuA der Landtagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), S. 10, stellt gegenüber
Art. 7 Abs. 1 RV, der als Kann-Bestimmung abgefasst war, klar, dass sie aus «sach-
logischen Gründen» fallengelassen werde. So heisst es denn: «Wenn das öffentliche
Interesse an der Erhaltung des Denkmals gegeben ist, ist kein Platz mehr für einen
Ermessensentscheid der Regierung».
324
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
jekt.“ Die Unterschutzstellung eines Denkmals stellt einen Hoheitsakt
dar,® der ein «Denkmalschutzverhältnis» zwischen dem Staat einerseits
und dem Eigentümer des Denkmals andererseits begründet. Es umfasst
die Rechtsbeziehungen, die der Schutz des Denkmals mit sich bringt.®
Der Eigentümer und andere Betroffene sind vor der Beschlussfassung
«anzuhören».“ Die Verfügung der Regierung umschreibt den sachlichen
und örtlichen Bereich des Schutzes (Art. 10 Abs. 1 DSchG). Sie wird in
der Folge in das Verzeichnis der geschützten Denkmäler eingetragen
(Art. 11 DSchG), das die einzelnen Unterstellungsbeschlüsse enthält.®
Als Problem erwies sich die Öffentlichkeit des Verzeichnisses der
geschützten Denkmäler, wie dies noch Art. 17 Abs. 2 RV vorgesehen
hatte. In der Diskussion zu Art. 5 RV, der die Möglichkeit der Veröf-
fentlichung eines Denkmals im Inventar vorsah, wurden auch die «Kehr-
seiten» einer Veröffentlichung bzw. der Öffentlichkeit angesprochen,
sodass die Landtagskommission davon absah, das Verzeichnis der ge-
61 Vgl. Christian Renfer, Denkmalpflege im Planungs- und Bauprozess: Zusammen-
wirken von Denkmalpflege und Recht nach der Praxis des Planungs- und Baugeset-
zes des Kantons Zürich, in: Bernhard Ehrenzeller (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen
der Denkmalpflege (wie Fn. 5), S. 135.
62 Die Regierungsvorlage zu einem Gesetz über den Schutz, die Erhaltung und die
Pflege von Kulturgütern (Kulturgütergesetz; KGG) spricht sich in diesem Zusam-
menhang für das Kooperationsprinzip in der Ausgestaltung eines öffentlich-rechtli-
chen Vertrags zwischen dem Eigentümer des Kulturguts und dem Amt für Kultur
(Art. 8) aus. Kommt kein Vertrag zustande, ordnet das Amt für Kultur die Mass-
nahmen zum Schutz, zur Erhaltung und zur Pflege von Kulturgütern mit Verfügung
an (Art. 9). Siehe BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie Fn. 2),
S. 123 f. bzw. S. 50 f. (Kommentar).
63 Vgl. Hans-Peter Friedrich, Privatrechtliche Probleme der Denkmalpflege, in: Yvo
Hangartner (Hrsg.), Rechtsfragen der Denkmalpflege (wie Fn. 54), S. 100; vgl. ins-
besondere Art. 16 bis Art. 19 DSchG.
64 Der Abg. Dr. Ernst Büchel lässt im Zusammenhang mit dem Begriff «anhören»
(Art. 15 Abs. 3 RV bzw. Art. 9 Abs. 3 DSchG), der zu Missverständnissen verleiten
könnte, in der ersten Lesung der Regierungsvorlage keine Zweifel über die Partei-
stellung des Eigentümers aufkommen. Nach seiner Meinung steht «dem Eigentümer
die Stellung einer Partei zu. Er kann sich deshalb am Verfahren beteiligen, Anträge
stellen, Sachverständige benennen, Rechtsmittel ergreifen usw.» In: LtProt. 1976,
Bd. I, S. 61. So auch Präsident Dr. Gerard Batliner in der Landtagssitzung vom
14. Juni 1977, in: LtProt. 1977, Bd. I, S. 87.
65 Vgl. Theodor Bühler, Organisation und Rechtsschutz in der Denkmalpflege (wie
Fn. 54), 5. 144 sowie BuA der Regierung vom 4. Dezember 1975 (wie Fn. 3), 5. 6 f.
66 LtProt. 1976, Bd. I, S. 46 (Präsident Dr. Gerard Batliner in der öffentlichen Land-
tagssitzung vom 8. April 1976). Er gibt zu bedenken, «dass, wenn bewegliche Ver-
325
Herbert Wille
schützten Denkmäler für öffentlich zu erklären. Die Einsichtnahme
wird heute dementsprechend nur demjenigen zugestanden, der ein «be-
rechtigtes Interesse»” glaubhaft machen kann. Es besteht, wie sie be-
tonte, «bei den Denkmälern kein Verkehrsinteresse, wie es etwa bei den
im Grundbuch eingetragenen Grundstücken» der Fall sei.®
6. Denkmalschutz und Eigentumsgarantie
Das Verhältnis von Denkmalschutz und Privateigentum ist ein äusserst
sensibler Themenbereich, mit dem sich der Landtag auseinanderzuset-
zen hatte. So wurde der Denkmalschutz, wie ihn die Regierungsvorlage
präsentierte, als «Einschnitt in die freie Verfügbarkeit des Eigentums»
gesehen und gleichzeitig beigefügt: «Wir Liechtensteiner sind nicht
gerne bereit, von der freien Verfügung des Eigentums abzukommen».“
Demgegenüber wurde aber auch zu bedenken gegeben: «Wir stehen viel-
leicht an der Schwelle eines neuen Zeitabschnittes. So ist es unserer
Generation auch nicht möglich, absolut zu sehen, was wirklich schüt-
zenswert ist, aber wir tragen trotzdem die Verantwortung, Tradition als
Landschaftsbild weiterzugeben.»”°
a) Eigentumsgarantie
Die Eigentumsgarantie”' schützt das durch die Rechtsordnung geschaf-
fene Eigentum des Privaten. Sie bewahrt alle natürlichen und juristischen
mögenswerte zu Denkmälern erklärt werden, nicht unbedingt alle Eigentümer da-
mit einverstanden sind, dass ihre Denkmäler nun allen anderen, evt. auch Dieben,
bekanntwerden».
67 Regierungsrat Dr. Georg Malin verweist als Beispiel auf den «Käufer eines Ob-
jekts». Siehe LtProt. 1976, Bd. I, S. 62.
68 Siehe Art. 11 Abs. 2 DSchG; dazu LtProt. 1977, Bd. I, S. 88 (Präsident Dr. Gerard
Batliner in der öffentlichen Landtagssitzung vom 14. Juni 1977) und BuA der Land-
tagskommission vom 23. Mai 1977 (wie Fn. 23), S. 11.
69 LtProt. 1976, Bd. I, S. 22 (Abg. Noldi Frommelt in der öffentlichen Landtagssitzung
vom 8. April 1976).
70 LtProt. 1976, Bd. I, S. 23 (Abg. Noldi Frommelt in der öffentlichen Landtagssitzung
vom 8. April 1976).
71 Siehe Art. 28 Abs. 1 Alt. 2 LV und Art. 34 Abs. 1 LV.
326
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
Personen des Privatrechts vor unberechtigten Eingriffen des Staates in
deren Eigentum. Zentral ist für sie die Bestandesgarantie, welche kon-
krete Vermögenspositionen sichert.”
Die Eigentumsgarantie ist kein absolutes Recht. Es gelten für sie
die gleichen Schranken wie bei allen anderen Grundrechten. Neben einer
hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage muss ein öffentliches
Interesse gegeben sein. Beschränkungen des Eigentums durch Denkmal-
schutzmassnahmen liegen zwar allgemein im öffentlichen Interesse.”
Der Eingriff in das Eigentum muss aber auch zweck- und verhältnis-
mässig sein, das heisst, die Eigentumsbeschränkung darf nur so weit
gehen, als sie zur Wahrung des öffentlichen Interesses «unabdinglich» ist
oder sich ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit nicht als «übermässig»
erweist.”*
b) Eigentumsbeschränkungen
Massnahmen, die den Schutz der Denkmäler zum Gegenstand haben,
sind häufig mit Eigentumsbeschränkungen verbunden. Dabei stehen
sich das Interesse des Eigentümers an einer umfassenden Ausübung sei-
ner Eigentumsrechte und das Interesse der Allgemeinheit am Schutz der
Denkmäler gegenüber.”” Schon im Stadium der Inventarisation kann der
Eigentümer angehalten werden, den Organen des Denkmalschutzes den
Zutritt zum Grundstück zu gewähren und alle erforderlichen Auskünfte
zu erteilen (Art. 8 Abs. 2 DSchG). Wird ein Denkmal unter Schutz
gestellt und in das Verzeichnis der geschützten Denkmäler eingetragen,
hat es der Eigentümer so zu unterhalten, dass es in seinem Bestand gesi-
chert bleibt (Art. 16 Abs. 2 DSchG).7° Solche Massnahmen stellen unbe-
72 Vsl. Klaus A. Vallender/ Hugo Vogt, Eigentumsgarantie, in: Klaus A. Vallender /An-
dreas Kley, Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS 52, Schaan 2012, S. 710 f., und
Herbert Wille, Liechtensteinisches Verwaltungsrecht, LPS 38, Schaan 2004, 5. 52 f.
73 Vel. Elsbeth Wiederkehr Schuler, Denkmal- und Ortsbildschutz, Zürich 1999, S. 44.
74 Vsl. Herbert Wille, Liechtensteinisches Verwaltungsrecht (wie Fn. 72), S. 153, und
Klaus A. Vallender/Hugo Vogt, Eigentumsgarantie (wie Fn. 72), S. 714 f.
75 Vel. Elsbeth Wiederkehr Schuler, Denkmal- und Ortsbildschutz (wie Fn. 73), S. 5.
76 LtProt. 1976, Bd. I, S. 50. Regierungsrat Dr. Georg Malin widerspricht dem Abg. Hil-
mar Ospelt, der zu Art. 8 Abs. 3 RV bzw. Art. 16 Abs. 2 DSchG die Ansicht vertrat,
dass es «keine Unterhaltspflicht des Privaten zur Verwirklichung von öffentlichen
327
Herbert Wille
streitbar einen staatlichen Eingriff in die von der Eigentumsgarantie ge-
schützten Nutzungs- und Verfügungsrechte des Eigentümers dar. Es
geht bei der Unterschutzstellung grundsätzlich um die Frage, wie weit
diese Rechte durch die Schutzziele des Denkmalschutzes eingeschränkt
werden dürfen.”
Sind die Eigentumsbeschränkungen derart, dass sie einer materiel-
len Enteignung gleichkommen, so ist volle Entschädigung zu leisten.
Nach der Spruchpraxis des Staatsgerichtshofs, die der Rechtsprechung
des schweizerischen Bundesgerichts folgt,’® liegt eine materielle Enteig-
nung vor, «wenn der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Ge-
brauch der Sache verboten oder in besonders schwerer Weise einge-
schränkt wird, oder wenn ein einziger oder einzelne Grundeigentümer
so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit als
unzumutbar erschiene, wenn hiefür keine Entschädigung geleistet
würde».”
Dem Eigentümer eines unter Schutz gestellten Denkmals steht
nach Art. 21 DSchG auch das sogenannte Heimschlagsrecht zu, das
heisst das Recht des Eigentümers, jederzeit zu verlangen, dass es vom
Staat erworben wird, wenn ihn die Unterschutzstellung wie eine Enteig-
nung trifft, wobei die Entschädigung nach den Bestimmungen des
Gesetzes über das Verfahren in Expropriationsfällen festgesetzt wird.”
Interessen» gibt, indem er ihm zur Antwort gab: «Ich würde glauben, dass ein Stück
Verpflichtung dem Eigentümer zugemutet werden kann. Eigentum verpflichtet».
77 Vs8l. Andrea F. G. Rascher, Wann ist ein Interesse in der Denkmalpflege ein öffent-
liches, was bedeutet Verhältnismässigkeit und wie spielen Gutachten hinein? (wie
Fn. 5), S. 46.
78 Danach sind die Kriterien für eine materielle Enteignung die Eingriffsintensität und
das Sonderopfer. Eine materielle Enteignung liegt dann vor, «wenn wegen einer
denkmalpflegerischen Massnahme eine bestimmungsgemässe, wirtschaftlich sinn-
volle und gute Nutzung nicht mehr möglich ist». So Elsbeth Wiederkehr Schuler,
Denkmal- und Ortsbildschutz (wie Fn. 73), S. 127.
79 StGH 1977/9, Entscheidung vom 21. November 1977, LES 1981, S. 53 (56); SIGH
1999/26, Entscheidung vom 29. Februar 2000, nicht veröffentlicht, Erw. 2.3 und
StGH 2005/52, Urteil vom 14. Dezember 2009, Erw. 2.3 (im Internet abrufbar un-
ter www.gerichtsentscheide.li); siehe dazu auch Klaus A. Vallender/ Hugo Vogt, Ei-
gentumsgarantie (wie Fn. 72), S. 717 f., und Herbert Wille, Liechtensteinisches Ver-
waltungsrecht (wie Fn. 72), S. 135 f.
80 Siehe LGBl. 1887 Nr. 4 und dazu Herbert Wille, Liechtensteinisches Verwaltungs-
recht (wie Fn. 72), S. 122 ff.
328
Rechtsfragen des Denkmalschutzes
7. Schluss
Man könnte aus manchen kritischen Voten der Abgeordneten den Ein-
druck gewinnen, als sei sowohl der materielle als auch der formelle
Denkmalschutz, wie ihn das Gesetz bzw. die Regierungsvorlage vertritt,
«eigentumsfeindlich» geprägt und werde mit «obrigkeitlicher» Verfü-
gung der Regierung durchgesetzt. Die vorstehenden Ausführungen ha-
ben jedoch dargelegt, dass das Denkmalschutzgesetz rechtsstaatlichen
Grundsätzen verpflichtet ist. Die von der Verfassung gewährleistete
Eigentumsgarantie bleibt gewahrt. Dies trifft auch auf die formelle bzw.
verfahrensrechtliche Seite des Denkmalschutzes zu, der sich ohne Zu-
stimmung bzw. Einbezug des Eigentümers nicht realisieren lässt. Eine
sachgerechte Vorgehensweise verlangt eine Blickrichtung, die nicht nur
die Anliegen des Denkmalschutzes berücksichtigt, sondern auch diejeni-
gen des Eigentümers.“ Es geht mit anderen Worten um einen Ausgleich
der Interessen. In der Praxis drängt der Grundsatz der Zweck- und Ver-
hältnismässigkeit häufig zu einem wohlerwogenen Kompromiss.”
Die Regierungsvorlage zu einem Kulturgütergesetz (KGG) setzt
diese Verwaltungspraxis um, wenn sie die «Stärkung der partnerschaft-
lichen Zusammenarbeit zwischen Behörden und Eigentümern» als
t® und als «neuen Weg» den öffentlich-rechtli-
Zielvorgabe umschreib
chen Vertrag zwischen dem Eigentümer des Kulturguts und dem Amt
für Kultur wählt.” So gesehen stellt die (hoheitliche) Verfügung den
Ausnahmefall dar, der nur eintritt, wenn zwischen dem Eigentümer
81 Vgl. Elsbeth Wiederkehr Schuler, Denkmal- und Ortsbildschutz (wie Fn. 73),
$. 179.
82 Vgl. Raymund M. von Tscharner, Probleme der Eigentumsgarantie und der Ent-
schädigungspflicht in der Praxis der Denkmalpflege, in: Yvo Hangartner (Hrsg.),
Rechtsfragen der Denkmalpflege (wie Fn. 54), 5. 82.
83 BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie Fn. 2), S. 9 und S. 10.
84 Zum verwaltungsrechtlichen Vertrag, wie er auch genannt wird, siehe Andreas Kley,
Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts (wie Fn. 35), S. 134 ff. Hans-
Peter Friedrich, Privatrechtliche Probleme der Denkmalpflege (wie Fn. 63), S. 100 f.,
betrachtet den öffentlich-rechtlichen Vertrag nur als «ausnahmsweise Form für die
Durchsetzung öffentlicher Interessen durch die Verwaltung», da er deren Hand-
lungsfreiheit beschränke.
85 BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie Fn. 2), Art. 8 KGG,
S. 50 ff. und S. 123 f.
329
Herbert Wille
und dem Amt für Kultur keine einvernehmliche Regelung getroffen
werden kann.®
Was die begrifflichen Festlegungen bzw. die Begriffsbestimmungen
in der Regierungsvorlage zu einem Kulturgütergesetz betrifft, so kann
man feststellen, dass auch sie wie bisher das Denkmalschutzgesetz unbe-
stimmte Rechts- und Gesetzesbegriffe verwendet,” gegen die sich unter
anderem die Kritik im Landtag gerichtet hatte. Es gilt auch hier darauf
hinzuweisen, dass sich viele Rechtsfiguren, wie beispielsweise das Denk-
mal oder das Kulturgut, juristisch gar nicht abschliessend definieren las-
sen.® Der Gesetzgeber muss sie aber so weit wie möglich konkretisieren,
wie dies sowohl im Denkmalschutzgesetz als auch in der Regierungs-
vorlage zu einem Kulturgütergesetz, dessen Titel und Zweckausrichtung
den «Schutz, die Erhaltung und die Pflege» von Kulturgütern zum In-
halt hat (Art. 1 und 7 KGG), geschehen ist.
Begegnete dieser weit gefasste Denkmalschutz aus eigentumsrecht-
lichen Gründen bei der Schaffung des Denkmalschutzgesetzes noch
erheblichen Bedenken, sodass der Begriff «Pflege» fallengelassen
wurde,** spielen solche Erwägungen heute keine Rolle mehr, da die neue
Gesetzesvorlage der Regierung, wie vorhin erwähnt, auf die partner-
schaftliche Zusammenarbeit zwischen «der öffentlichen Hand» und den
«Eigentümern von Kulturgütern» setzt.”
86 BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie Fn. 2), Art. 9 KGG, S. 51
und S. 124.
87 Im BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie Fn. 2), S. 15, ist denn
auch die Rede davon, dass die Gesetzesvorlage im Sinne der «Rechts- und Begriffs-
kontinuität» auf dem Denkmalschutzgesetz von 1977 aufbaue.
88 Siehe dazu auch vorne Abschnitt 2. und 3./b).
89 Siehe vorne Fn. 23.
90 Siehe beispielsweise BuA der Regierung vom 26. Januar 2016, Nr. 6/2016 (wie
Fn. 2), S. 5 und S. 10 («Zusammenarbeitsprinzip») sowie vorne Fn. 62.
330
Kunstschaffen und der Schutz
des geistigen Eigentums
Georges Baur
I. Einführung: Georg Malin als Prototyp
des Kunstschaffenden
Georg Malin kann aus verschiedenen Gründen als «Prototyp» des
Kunstschaffenden angesehen werden: Über beinahe ein Jahrhundert
Lebensspanne deckt er alle möglichen Formen des Kunstschaffens ab, als
Bildhauer, Maler, Schriftsteller und vieles mehr. Betrachtet man bei-
spielsweise die Wikipedia-Seite' zu Georg Malin, so kann man die Band-
breite seines künstlerischen Schaffens ermessen: Sakralbauten und
Sakralkunst, skulpturale Arbeiten, Malerei, Grafik, Briefmarken, Denk-
mäler und Gedenkstätten. Seine Schriften geben Zeugnis davon, was er
denkt, und somit auch konkrete Hinweise zur Interpretation seines
künstlerischen Werks. Dieses ist auch heute noch aktuell und Gegen-
stand von Ausstellungen.?
Georg Malin ist der breiteren Öffentlichkeit, zumal heute, vor
allem durch seine Werke im öffentlichen Raum bekannt. Deshalb ist es
auch interessant, die Schutzwirkung des Urheberrechts in diesem
Zusammenhang darzustellen. Es sind ihm Dinge widerfahren, die als
Lehrbuchbeispiele zum Urheberrecht dienen könnten: die Verfügung
über ein Werk. Und in dieser Hinsicht lässt sich am Werk Georg Malins
das Wesen des Urheberpersönlichkeitsrechts studieren.
1 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Malin, besucht am 22.5.2016.
2 Siehe nur Kunstmuseum Liechtenstein, Georg Malin, Museumsmann und Künstler,
Ausstellung vom 24. Juni bis 2. Oktober 2016.
331
Georges Baur
II. Warum ist künstlerisches Schaffen schützenswert?
Das Schaffen von Kulturgütern ist ein wesentlicher Bestandteil mensch-
licher Betätigung. Kulturschaffen wird vor allem durch das Urheber-
recht geschützt.” Das Wesen kultureller Schöpfungen ist oft immateriel-
ler Natur, weshalb auch von Immaterialgüterrecht gesprochen wird.
Darunter fallen nicht nur die Schaffung und der Schutz gewerblich nutz-
barer Güter. Wie diese bedarf auch die Schöpfung von Werken der Lite-
ratur und Kunst sowie verwandter Formen des Schutzes durch unsere
Rechtsordnung vor Verletzungen wie z.B. Nachahmung oder uner-
laubte Nutzung. Dieser Schutz erfolgt durch das Urheberrecht, welches
durch schöpferische Tätigkeit entsteht und einem Urheber zukommt,
wenn er ein Werk der Literatur oder Kunst oder ein Computerpro-
gramm hervorbringt.* Dessen wesentlicher Inhalt ist das ausschliessliche
Recht einer Person, über das Ergebnis ihres geistigen Schaffens zu ver-
fügen. Solche Ergebnisse können Kunstwerke wie etwa Bilder, Musik
oder Skulpturen sein, sofern sie über eine gewisse Originalität bzw. Indi-
vidualität verfügen.
Neuerdings gelten auch Computerprogramme als urheberrechtlich
zu schützende Werke, obwohl ihre Originalität — im Vergleich mit dem
ursprünglichen Verständnis des Urheberrechts — gering ist.” Auch abge-
leitete Kunstformen, wie z.B. die Darbietung eines Werkes durch Musi-
ker und Musikerinnen, sind seit geraumer Zeit als sogenannte verwandte
Schutzrechte durch das Urheberrecht geschützt. Letzteres zeigt auch
beispielhaft das Problem des sogenannten Urheberpersönlichkeitsrechts
(droit moral) auf. Während es beim eher industriell und maschinell
bestimmten Halbleiterprodukt auf den Urheber oder die Urheberin als
Person kaum ankommt, ist künstlerisches Schaffen eng mit der Person
des Künstlers oder der Künstlerin verbunden.® Ein Ölbild ist nicht nur
eine mit Ölfarben dekorierte Leinwand, die in ihrem Ursprung von
3 Bericht und Antrag Nr. 11/2000 der Regierung an den Landtag des Fürstentums
Liechtenstein betreffend Zielsetzung und Prioritäten der liechtensteinischen Kul-
turpolitik (Kulturbericht 2000) vom 15.2.2000, S. 14.
4 Manfred Rehbinder, Schweizerisches Urheberrecht, 2. Aufl., Bern 1996, 5. 15.
Rehbinder (Fn. 4), S. 70.
6 Rehbinder (Fn. 4), S. 107.
nm
332
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
jedermann ın gleicher Weise produziert werden könnte, sondern Aus-
druck der Persönlichkeit des Schöpfers oder der Schöpferin. Es geht um
die Idee zum Werk, also «das imaginäre Bild, mag dieses in einer inneren
und äusseren Form erscheinen, in welcher er es will».
III. Wie schützt Liechtenstein die Rechte
seiner Künstlerinnen und Künstler?
Ein paar Bemerkungen zum urheberrechtlichen Schutz in Liechtenstein
sind vielleicht hilfreich, um den Streit um die Nutzung oder Verfügung
über gewisse Werke einordnen zu können.
Zunächst ist festzuhalten, dass Liechtenstein, wie nur wenige
andere Staaten, den Urheberrechtsschutz in der Verfassung vorsieht.®
Deren Art. 34 Abs. 2 lautet: «Das Urheberrecht ist gesetzlich zu regeln.»
Dies war 1921, bevor das Urheberrecht auf Gesetzesstufe geregelt
wurde.? Diese Verfassungsbestimmung ist nach wie vor in Kraft.
Das erste liechtensteinische Urheberrechtsgesetz (URG)'°, welches
1928 in Kraft trat und bis 1999 galt, war noch vom Gedanken geprägt,
dass lediglich von Urhebern und Urheberinnen geschaffene Werke von
einiger Originalität urheberrechtlichen Schutz verdienen. Dieser
erschöpft sich grundsätzlich im Verbot des Nachahmens, Kopierens
usw. Bereits in der liechtensteinischen Gerichtspraxis zum alten URG
wurde anerkannt, dass Urheber und Urheberinnen Anspruch auf Vergü-
tung allfälliger Verwendungen ihrer Werke haben.
Mit dem Inkrafttreten des neuen URG'!! im Jahr 1999 kamen neue
Schutzkategorien hinzu. Im Wesentlichen sind dies die sogenannten
7 Josef Kohler, Das literarische und artistische Kunstwerk und sein Autorschutz, eine
juridisch-ästhetische Studie, Mannheim 1892, S. 37.
8 Art. 34 Abs. 2 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921,
LGBl. 1921 Nr. 15, LR 101.
9 Siehe auch Georges Baur/ Wolfgang Seeger, Das Urheberrecht im Fürstentum
Liechtenstein, in: UFTTA: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht,
Bd. 128 (1995), Bern 1995, S. 71.
10 Gesetz vom 26. Oktober 1928 betreffend das Urheberrecht an Werken der Litera-
tur und Kunst, LGBl. 1928 Nr. 12.
11 Gesetz vom 19. Mai 1999 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte,
LGBl. 1999 Nr. 160, LR 231.1.
333
Georges Baur
Nachbarrechte (Schutz der ausübenden Künstler und Künstlerinnen
und Interpreten und Interpretinnen), Senderechte und der Leistungs-
schutz für Computerprogramme. Lange Zeit waren die Formen der
Werkwiedergabe auch in Liechtenstein schutzlos, weil es ihnen gemäss
der älteren Rechtsprechung an Originalität fehlte. Nunmehr gehören
diese Schutzkategorien auch zum europäischen Rechtsbestand. Dazu
kommen neuerdings eingehendere Regelungen der Werknutzung und
der dafür gegebenenfalls geschuldeten Vergütung. Ebenfalls neu für
Liechtenstein war mit dem heute geltenden Urheberrechtsgesetz die
Einführung der kollektiven Verwertung. Auch der Rechtsschutz wurde
dem verstärkten urheberrechtlichen Schutz entsprechend stärker gestal-
tet. Waren Urheberrechtsverletzungen unter dem alten Recht noch eher
«Kavaliersdelikte», sind sie seit der Totalrevision mit ernsthaften Sank-
tionen bedroht; sie können sich auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
bzw. 360 Tagessätze belaufen.‘ Schliesslich waren zur Umsetzung ein-
schlägiger Bestimmungen des internationalen Urheberrechts auch Be-
stimmungen hinsichtlich der Zollmassnahmen einzuführen. Sie bezwe-
cken in erster Linie den Schutz vor Raubkopien und die Sanktionierung
von Im- und Exporten von Gütern, die Urheberrechte verletzen. Auf-
grund europäischer Harmonisierung wurde die Schutzdauer im Bereich
des Urheberrechts auf 70 Jahre angehoben.
Der allgemeinen Tendenz und völkerrechtlichen Verpflichtungen
entspricht der bereits erwähnte Schutz der sogenannten verwandten
Schutzrechte. Dies sind die Rechte von darstellenden Künstlern und
Künstlerinnen, wie Schauspielern und Schauspielerinnen, Musikern
und Musikerinnen usw., den Sendeanstalten, Tonträgerproduzenten und
Tonträgerproduzentinnen und Filmherstellern und Filmherstellerinnen.
Die diesbezügliche Schutzdauer beträgt 50 Jahre. Einen Bruch mit dem
klassischen zivilrechtlichen Verleihbegriff brachte die EWR-weite Ver-
gütung für das Vermieten und Verleihen, weil Leihe nach dem liechten-
steinischen Vertragsrecht begriffsnotwendig entschädigungsfrei ist.'* Al-
12 Z.B. Art. 61 (neues) URG.
13 Manfred Rehbinder / Alesch Stähelin, Das Urheberrecht im TRIPs-Abkommen, Ent-
wicklungsschub durch die New Economic World Order, in: UFITA 127 (1995), 5. 28.
14 $ 971 ABGB (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch) vom 1. Juni 1811, ASW,
LR 210.0.
334
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
lerdings schmälert auch das Verleihen von Werksexemplaren, z.B. einer
Musik-CD oder von Videos — auch wenn dies wegen der heute vorherr-
schenden Downloads technisch schon wieder überholt scheint —, nach
der dieser Regelung zugrunde liegenden Auffassung den Anspruch des
Urhebers oder der Urheberin auf Vergütung, weil er/sie dadurch unter
Umständen ein Werksexemplar weniger verkauft.
Die heutige Massennutzung durch Kopieren, Streamen und der-
gleichen bringt es mit sich, dass die Durchsetzung des Urheberrechts-
schutzes zunehmend komplizierter wird bzw. der Urheberrechtsschutz
in dieser Hinsicht an Wirksamkeit verliert. Aus diesem Grund werden
die Entschädigungen für die Nutzung urheberrechtlich geschützter
Werke heute in Tarifen festgesetzt und von grossen Verwertungsgesell-
schaften eingezogen. Diese Verwertungsgesellschaften haben die gesam-
ten Rechte inne und gelten deshalb als zur Erteilung der Werknutzungs-
bewilligung ermächtigt. Die von ihnen bei den Werknutzern und Werk-
nutzerinnen eingezogenen Gebühren werden sodann, nach Abzug der
Verwaltungskosten, aufgrund eines Schlüssels an die Urheber und Urhe-
berinnen ausbezahlt. In Liechtenstein wurden wegen der engen Verbin-
dung zum schweizerischen Kulturmarkt schweizerische Verwertungsge-
sellschaften konzessioniert, so beispielsweise für literarische Werke und
für solche der bildenden Kunst die schweizerische Verwertungsgesell-
schaft «Pro Litteris».!
Selbstverständlich gibt es auch Schranken des Urheberrechts!®, sei
es in zeitlicher Hinsicht, z.B. 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers oder
der Urheberin, sei es hinsichtlich bestimmter Werknutzungen, z.B. zum
Eigengebrauch oder zum Gebrauch im Unterricht. Im ersten Fall unter-
steht die Werknutzung nach Ablauf dieser Frist keiner Zustimmung des
Rechteinhabers oder der Rechteinhaberin mehr. Bekanntestes Beispiel
dafür ist der Ablauf der Schutzfrist für Adolf Hitlers «Mein Kampf»,
dessen Veröffentlichung vom Rechteinhaber, dem Freistaat Bayern, seit
dem 30. April 2015, also 70 Jahre nach dem Tod Hitlers, nicht mehr ver-
hindert werden kann. Im zweiten Fall handelt es sich um Beschränkun-
gen zugunsten überwiegender Interessen. So ist die Verwendung des
15 Siehe http://prolitteris.ch/, besucht am 18.6.2016.
16 Art. 22 ff. URG.
335
Georges Baur
Werkes für den Eigengebrauch, durch eine Lehrperson im Unterricht
oder die Vervielfältigung in Betrieben, in der öffentlichen Verwaltung
oder in Instituten erlaubt.” Für diese Nutzung ist eine Vergütung zu
zahlen, welche von den Verwertungsgesellschaften eingezogen wird. !8
Dabei handelt es sich z.B. um Kopiergebühren oder Leerkassettenabga-
ben.'* Des Weiteren sind gewisse Beschränkungen des Urheberrechts
zugunsten der Allgemeinheit zu erwähnen, wie z.B. das Recht, aus Wer-
ken zu zitieren, verbunden mit der Pflicht, dies gebührend kenntlich zu
machen, oder das Recht, Archivkopien herzustellen. In unserem Zusam-
menhang besonders erwähnenswert ist das Recht zur Abbildung eines
Werkes, z.B. einer Plastik, auf öffentlich zugänglichem Grund. Aller-
dings darf die Abbildung weder dreidimensional sein noch zum gleichen
Zweck wie das Original dienen.”
Mittlerweile wurde das Urheberrecht aufgrund der rasanten tech-
nischen Entwicklung, insbesondere der Digitalisierung und der grundle-
genden Veränderung vorab im audiovisuellen Bereich, mit der vor allem
die Rechtsetzung in der EU Schritt zu halten versucht, mehrfach
ergänzt. Natürlich hat Liechtenstein alle einschlägigen EU-Richtlinien?'
übernommen und ist den internationalen Abkommen zum Schutz des
Urheberrechts, insbesondere der WIPO (World Intellectual Property
Organisation, eine Unterorganisation der UNO), beigetreten.” Es wür-
de in diesem Rahmen zu weit führen, darauf weiter einzugehen. Stell-
vertretend sei dafür auf die Informationen des schweizerischen Instituts
für Geistiges Eigentum (IGE) im Internet verwiesen, wo die einschlägi-
gen Organisationen aufgeführt sind und deren Erlasse eruiert werden
können.?
17 Art. 22 URG; Rehbinder (Fn. 4), S. 116.
18 Art. 23 URG.
19 Rehbinder (Fn. 4), S. 117.
20 Art. 29 URG.
21 Siehe http://ec.europa.eu/internal_market/copyright/index_de.htm, besucht am
18.6.2016.
22 Siehe www.wipo.int/copyright/en/#laws, besucht am 18.6.2016.
23 Siehe www.ige.ch/juristische-infos/organisationen.html, besucht am 18.6.2016.
336
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
IV. Konflikte: Georg Malin und Urheberrechtsverletzungen
1. Zwei Fälle
Selbst bei noch so detaillierten Gesetzen können Konflikte im Umfeld
des Urheberrechts nicht ausgeschlossen werden. Dies gilt auch für
Liechtenstein. Einer breiteren Öffentlichkeit sind die beiden Fälle
«Malin-Brunnen» sowie die Entfernung eines seiner Werke aus der
Kapelle des Alters- und Pflegeheims St. Florin in Vaduz in Erinnerung
geblieben. Sie gilt es im Folgenden kurz im Lichte des Urheberrechts zu
betrachten.
Zunächst zum «Malin-Brunnen»: Georg Malin hatte das «Wasser-
spiel» im Jahre 1974 für ein Kunst-am-Bau-Projekt im Schulzentrum
Resch in Schaan geschaffen. Bei dieser Plastik handelt es sich um eine 12
Meter hohe Struktur mit 18 verschieden grossen, runden Schalen, aus
welchen und über welche das Wasser treppenähnlich nach unten fliesst.
2010 wurde das Kunstwerk abgebrochen und zerlegt, da auf dem Schul-
gelände dafür kein Platz mehr vorhanden war. 2013 konnte das «Was-
serspiel» in einem neuen Schaugarten in Mauren integriert werden. Auch
einer von Malins legendären Buchstabenwürfeln aus Stahl, der Buch-
stabe «B», wird dort ausgestellt. Allerdings musste für das Aufstellen des
«Wasserspiels» aufgrund seiner Höhe von der Gemeinde Mauren eine
Ausnahmebewilligung eingeholt werden. Georg Malin hatte die Schen-
kung des Brunnens mit der Verpflichtung verbunden, dass der Brunnen
der Öffentlichkeit während mindestens zehn Jahren in geeigneter Form
präsentiert werden müsse.”*
Während die Sache mit dem Malin-Brunnen dank privaten Enga-
gements einer offenbar für alle Parteien befriedigenden Lösung zuge-
führt werden konnte, führte die Entfernung eines Kunstwerks aus dem
Andachtsraum der Kapelle des Alters- und Pflegeheims St. Florin in
Vaduz zu grösserer Aufregung. Als im Jahre 2007 in Vaduz das Alters-
und Pflegeheim St. Florin gebaut wurde, erhielt Georg Malin den Auf-
24 Karlheinz Pichler, Symbolträchtige Wasserspiel-Brunnenanlage von Georg Malin in
Mauren, in: Kultur — Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft vom 17.9.2013, www.
kulturzeitschrift.at/kritiken/ausstellung/symboltraechtige-wasserspiel-brunnenan
lage-von-georg-malin-in-mauren, besucht am 7.6.2016.
337
Georges Baur
trag, die Innenraumgestaltung der Kapelle auszuführen. Seine Idee war
es, «eine Osterkapelle zu gestalten, welche die Bewohner zur Meditation
über die christliche Osterbotschaft einlädt. (...) Liturgische Kunstob-
jekte und Gerätschaften sowie der im österlichen Gold mittels Farb-
klängen aus den Fenstern eingestimmte Raum sollten den Zugang zur
Botschaft der Hoffnung nach den Qualen des Karfreitags erleichtern.
Frühchristliche Symbole, wie das Kreuz mit dem Siegeskranz, schufen
Bezüge zum Beginn christlichen Kunstschaffens.»”” Im Frühjahr 2009,
also nach zwei Jahren, teilte der Geschäftsleiter der Stiftung Liechten-
steinische Alters- und Krankenpflege (LAK) Georg Malin mit, dass sein
Werk im Rahmen einer «Umgestaltung» aufgrund «erheblicher Kritik»?
entfernt und durch andere Objekte ersetzt worden sei. Durch die Zer-
störung der Einheit von Werk und Raum, die ohne jede Absprache mit
dem Urheber erfolgt war, sah der Künstler sein Urheberrecht aufs
Gröbste verletzt.” Obwohl Georg Malin rechtliche Schritte ernsthaft in
Erwägung gezogen haben soll, haben sich die Parteien hier offenbar auf
einen Kompromiss geeinigt.”
Gerade die beiden Beispiele zeigen, in welch einem Spannungsfeld
jegliche Veränderung eines Werkes und die verschiedenen Schutzansprü-
che eines Urhebers oder einer Urheberin stehen.
2. Urheberrechtliche Beurteilung
Beide Fälle, vor allem aber jener des Andachtsraums im Alters- und Pfle-
geheim St. Florin in Vaduz, werfen die Frage nach der Integrität des
Werkes auf. Gerade bei den vorstehend erwähnten Beispielen liegt als
25 Osterkapelle, Innenraumgestaltung der Kapelle im Alters- und Pflegeheim St. Flo-
rin in Vaduz von Georg Malin, in: Forum Kunst und Kirche 3/09, www.lukasgesell
schaft.ch/pdfs/forum_09_3.pdf, besucht am 3.6.2016, S. 6.
26 Zitiert nach Markus Rohner, Ihre Durchlaucht räumt auf, in: NZZ vom 21.6.2009,
www.nzz.ch/ihre-durchlauchtraeumt-auf-1.2780955, besucht am 22.5.2016.
27 Markus Rohner, Die grosse Wut des Georg Malin, in: St. Galler Tagblatt vom
23.6.2009, www.tagblatt.ch/ostschweiz/ostschweiz/ost/Die-grosse-Wut-des-Georg-
Malinzart138,1340477, besucht am 3.6.2016; ders., in: Südostschweiz vom 23.6.2009,
S.7.
28 Siehe den Beitrag von Janine Köpfli in diesem Band.
338
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
Besonderheit zudem eine Kombination aus Werk und Raum vor, das
heisst, das Werk besteht nicht nur aus einem einzelnen Bild oder einer
Skulptur, das Kunstwerk bezieht auch seine Umgebung mit ein und das
«imaginäre Bild»? des Künstlers besteht dann eben aus der Einheit von
Werk und Raum. Damit kollidieren in verstärktem Masse die Interessen
des Künstlers oder der Künstlerin an der Unversehrtheit seines/ihres
Werkes bzw. an der Werkeinheit mit jenen des Eigentümers oder der
Eigentümerin des Raums, in welchem sich das Werk befindet. Aus die-
sem Grund ist auch die Rechtslage kompliziert. Natürlich sieht das
Urheberrechtsgesetz einen Schutz des Werkes vor Veränderung, Zerstö-
rung und dergleichen vor.”° Doch kann es natürlich ebenso schützens-
werte Interessen des Raumeigentümers oder der Raumeigentümerin
geben, welche dem Schutz des Werkes vorgehen. Dem Urheberrechts-
schutz des Künstlers oder der Künstlerin steht namentlich die Eigen-
tumsfreiheit des Eigentümers oder der Eigentümerin gegenüber. Es
kommt also bei Sachlagen wie denjenigen in Vaduz und Schaan zwin-
gend zu einer Güterabwägung zwischen dem Recht des Eigentümers
oder der Eigentümerin, über das Kunstwerk zu verfügen, und dem
Recht des Urhebers oder der Urheberin, sein/ihr Werk unverändert
bzw. unversehrt zu sehen. Nicht zufälligerweise ist deshalb die zu dieser
Frage ergangene Rechtspraxis so zahlreich wie unterschiedlich.
Die erste Frage, die sich bei der Güterabwägung stellt, ist jene nach
der Werkkategorie: Handelt es sich bei Kunstwerken im öffentlichen
Raum und Kunst am Bau um Werke der Baukunst? Letzteren käme
nämlich ein weniger weit gehendes Recht zur Abwehr von Werkeingrif-
fen zu; solange Ehre und Ruf des Werkschöpfers oder der Werkschöpfe-
rin nicht verletzt sind, z.B. durch Entstellung, dürfen ausgeführte Werke
der Baukunst vom Eigentümer oder der Eigentümerin geändert wer-
den.” Nach überwiegender Ansicht sind die hier infrage stehenden
Werke aber nicht solche Werke der Baukunst, sondern Werke der bil-
denden Kunst.” Wie bei anderen Werken der Malerei, der Bildhauerei
29 Kohler (Fn. 7), S. 37.
30 Art. 12 URG.
31 Art. 12 Abs. 4 URG.
32 Werner Stauffacher, Kunst und Bau — die Mühen mit dem Urheberrecht, in: Schwei-
zer Kunst 1/2004, $. 27.
339
Georges Baur
oder der Grafik haben die Künstler oder Künstlerinnen dementspre-
chend das ausschliessliche Recht, zu bestimmen, «ob, wann und wie das
Werk geändert werden darf».
Die zweite Frage ist jene nach der Erschöpfung, das heisst, ob die
Rechte mit dem Verkauf durch den Künstler oder die Künstlerin erlö-
schen und somit der Künstler oder die Künstlerin kein Recht mehr
darauf hat, über die Verwendung seines/ihres Werkes zu bestimmen.
Die Rechte des Künstlers oder der Künstlerin gehen mit dem Verkauf
nur bezüglich der Weiterverbreitung des gekauften Werkexemplars ver-
loren. Wer also z.B. ein Bild kauft, darf es ohne die Zustimmung des
Malers oder der Malerin weiterverkaufen oder verschenken. Die
Erschöpfung erstreckt sich aber nicht auf das Recht der Bearbeitung
oder Änderung des Kunstwerks. Das bedeutet, dass dem Erwerber oder
der Erwerberin beispielsweise rechtlich weiterhin verwehrt ist, das Werk
zu ändern, etwa indem Andy Warhols Mao-Porträt eine rosa Federboa
beigefügt und es in der Öffentlichkeit als Original des Urhebers ausge-
geben wird.
Beim Recht des Künstlers oder der Künstlerin, ausschliesslich über
die Werkintegrität zu bestimmen, kommt es auf den Umfang und das
Ausmass der Änderungen nicht an.** Wenn Werke beispielsweise erkenn-
bar ortsbezogen bestellt und geschaffen wurden, dürfen sie nicht einfach
in ihrem Kontext verändert oder gar daraus herausgerissen werden. Es
handelt sich in solchen Fällen nämlich um eine (unzulässige) Änderung,
unter Umständen sogar um eine Entstellung des Werkes selbst.”
Von Praktikern und Praktikerinnen, die mit einschlägigen Fällen
befasst waren?°, wird deshalb folgendes Vorgehen vorgeschlagen:
Zunächst sei bei Skulpturen und Wandarbeiten im öffentlichen Raum zu
33 Art. 12 Abs. 1 lit. a URG.
34 Denis Barrelet/Willi Egloff, Urheberrecht, 2. Aufl., Bern 2000, Rz. 5 zu Art. 11
chURG.
35 Bruno Glaus, Eigentumsfreiheit vs. Urheberrecht, www.glaus.com/bilderpdf/8kun
st/wem_gehoert_kunst.html, besucht am 3.6.2016.
36 Gilaus (Fn. 35) nennt das Beispiel «Mocmoc» in Romanshorn, welches für heftige
Diskussionen sorgte (siehe dazu www.srf.ch/news/regional/ostschweiz/zehn-jahre-
mocmoc-in-romanshorn, besucht am 3.6.2016), aber auch Richard Serras «Tilted
Arc» in New York (siehe dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Tilted_Arc, besucht
am 3.6.2016).
340
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
prüfen, inwiefern das Kunstwerk aus seiner künstlerischen Konzeption
heraus ortsgebunden ist oder nicht. Dabei könne der Ortsbezug formal
sein, wenn beispielsweise Formen, Farben und Materialien mit der
Umgebung korrespondieren, oder inhaltlich, wenn sich z.B. das Werk
auf ein Ereignis bezieht, das am entsprechenden Ort stattgefunden hat.
So beeinträchtige die Entfernung eines Mahnmals von seinem Bezugsort
das Urheberpersönlichkeitsrecht, «wenn das Werk nach seinem Inhalt
nur an seinem Aufstellungsort gedacht werden kann». Ebenso könne
ein Versetzen des Kunstwerkes oder das Amputieren eines Teilstückes
aus einem Gesamtkonzept eine unzulässige Verletzung der Werkintegri-
tät sein. Dies sei vor allem bei Gesamtkunstwerken zu beachten, welche
aus Pflanzen-, Licht-, Bild- und Filmelementen bestehen und über ganze
Gebäude oder Areale verteilt sind. Wer auf einen Teil verzichte oder die-
sen nachträglich aus dem Gesamtkonzept herausbreche, indem er bei-
spielsweise den Videoteil im Eingangsbereich, der das Gesamtwerk
prägt, entfernt, entstelle das Gesamtwerk.
Sodann sei auf die vertraglichen Abmachungen zwischen Künstler
oder Künstlerin und Käufer oder Käuferin abzustellen. Ein an sich nicht
ortsgebundenes Werk könne ortsgebunden, z. B. für einen Verkehrskrei-
sel, verkauft werden. Längerfristig könne eine derartige vertragliche Ver-
einbarung allerdings nur durch eine im Grundbuch verankerte Personal-
dienstbarkeit sichergestellt werden, da man andernfalls Gefahr laufe, die
vertragliche Sicherung zu verlieren, falls der Käufer oder die Käuferin
das Werk einem gutgläubigen Dritten weiterveräussert.?®
Als nächster Schritt sei, wie immer wenn keine ausdrückliche Ver-
einbarung vorliegt, der Vertrag auszulegen und festzustellen, wovon die
Parteien nach 7reu und Glauben ausgehen mussten. Der Vertragsinhalt
könne sich z.B. aus den Wettbewerbsunterlagen und Eingaben ergeben.
Dabei spielten Auffassungen von Kunstexperten oder Kunstexpertinnen
zumindest dort eine Rolle, wo sich der Erwerber oder die Erwerberin
bei der Beschaffung fachlich beraten liess. Ein wichtiges Indiz für oder
gegen Ortsgebundenheit im Sinne von Treu und Glauben sei die Entste-
hungsgeschichte: Wo lediglich ein bereits bestehendes Werk angekauft
37 Artur Wandtke/Winfried Bullinger, Fallsammlung zum Urheberrecht, Weinheim
1999, S. 109.
38 Bruno Glaus / Peter Studer, Kunstrecht, Zürich 2003, S. 51.
341
Georges Baur
werde, könne kaum auf ein ortsbezogenes künstlerisches Konzept
geschlossen werden. Wo aber bereits aus den Projekteingaben die Orts-
gebundenheit klar erkennbar sei, sei diese auch Teil des künstlerischen
Konzepts. Jede räumliche Veränderung setze in einem solchen Fall die
Zustimmung des Künstlers oder der Künstlerin voraus. Jede Verzerrung
oder Verfälschung der Wesenszüge eines Werkes sei eine Entstellung im
Sinne des Gesetzes. Diese könne unter anderem durch teilweise Über-
malung oder Hinzufügungen, durch Zerteilung einer Einheit, ja selbst
durch Umhängung oder Umplatzierung entstehen.” Glaus verweist auf
das Beispiel der evangelischen Kirchgemeinde in Inzell (DE), welche
Figuren des Künstlers Stephan Balkenhol vom Altarraum wieder in den
Eingangsbereich zurückstellen musste, weil der Plastiker die Figuren für
diesen Ort geschaffen hatte.“
V. Schluss
Wenn man nun zur Frage nach dem Widerstreit zwischen Eigentums-
freiheit und Urheberrecht zurückkehrt, kann abschliessend bei Werken
der bildenden Kunst, auch wenn sie sich im öffentlichen Raum befindet,
als Faustregel festgestellt werden, dass die Eigentumsfreiheit des Bestel-
lers oder der Bestellerin bzw. des Käufers oder der Käuferin eine einge-
schränkte ist. Zur Änderung des Werks bedarf er/sie grundsätzlich der
Zustimmung des Künstlers oder der Künstlerin.
Anders verhält es sich bei der weniger stark geschützten Baukunst
(Architektur). Der Künstler oder die Künstlerin kann nicht verlangen,
dass das Werkstück für immer erhalten und unterhalten wird. Soll ein
Werk der Baukunst zerstört werden, beispielsweise weil ein neues Ge-
bäude erstellt wird, so hat der Urheber oder die Urheberin nur die Mög-
lichkeit, das Bauwerk zu fotografieren und/oder Kopien der Pläne
anzufertigen. Vorbehalten bleiben öffentlich-rechtliche Schutzbestim-
mungen bezüglich der Werke mit Kulturgutqualität (Denkmalschutz)
und der Schutz der Bauten, bei welchen ein Verbot der Änderung oder
39 Glaus (Fn. 35) m.w.H.
40 Ebd. mit Verweis auf Günther Picker, Kunstgegenstände & Antiquitäten, München
2000, S. 380.
342
Kunstschaffen und der Schutz des geistigen Eigentums
Zerstörung im Grundbuch als Personaldienstbarkeit eingetragen wurde
und deshalb eine solche nur mit Zustimmung des Urhebers oder der
Urheberin geschehen kann.“
Bei anderen Werken — hier interessiert uns vor allem die Kunst am
Bau, also Werke der bildenden Kunst - ist davon auszugehen“, dass der
Künstler oder die Künstlerin die Vernichtung des Werkexemplars nur
verhindern kann, wenn er/sie — wo überhaupt praktikabel — dazu bereit
ist, das Werk zum Materialwert zurückzunehmen. Allerdings muss dem
Künstler oder der Künstlerin durch den Werkeigentümer oder die Werk-
eigentümerin überhaupt Gelegenheit dazu geboten, das heisst, die Zer-
störungsabsicht mitgeteilt werden, weil das Urheberrecht sonst seine
Schutzwirkung gar nicht entfalten kann.
Nach dem Ausgeführten bleibt zu hoffen, dass das Bewusstsein für
die Kunst und die Rechte der Künstlerinnen und Künstler zunimmt,
denn noch immer fehlt es hieran häufig, wie die beiden Fälle aus den Jah-
ren 2009 und 2010 gezeigt haben. Jedenfalls gibt es in Liechtenstein zahl-
reiche Kunstschaffende, an deren Werken ein solches Bewusstsein ge-
schärft und verstärkt ausgebildet werden kann. Und zu eben diesen
Kunstschaffenden gehört auf jeden Fall Georg Malin mit seinem vielfäl-
tigen Werk.
41 Glaus (Fn. 35).
42 Siehe z.B. Art. 15 chURG.
343
IV.
NATUR UND UMWELT
Rote Listen - Rote Fäden im Natur-
und Umweltschutz von den 1960er-Jahren
bis in die Gegenwart
Mario FE. Broggi
Dimidium factı, qui coepit, habet. Sapere ande, incipe!
Einmal begonnen ist halb schon getan.
Wage die Einsicht, fange nur an! (nach Horaz, Leitspruch der Aufklärung)
Rote Listen werden für seltene und gefährdete Arten und Lebensräume
erstellt. Die damit verbundenen Roten Fäden wollen andeuten, dass auch
die Vernetzungen der Beziehungen zwischen den Arten und den
Lebensräumen gefährdet sind. Die Roten Fäden werden hier in einige
Stichworte gebündelt und kommentiert. Sie dokumentieren die «Via do-
lorosa» des liechtensteinischen Natur- und Umweltschutzes in den ver-
gangenen Jahrzehnten. Ein Spurwechsel ist angezeigt, auch im Interesse
von uns Menschen.
Die Anfänge des liechtensteinischen Natur-
und Umweltschutzes
Wir verdanken die wichtigsten Impulse für einen Natur- und Umwelt-
schutz in Liechtenstein dreifach dem Ausland. Anfang des 20. Jahrhun-
derts erhielten wir die ersten Anstösse aus einer mitteleuropäischen
Strömung als Antwort auf die Industrialisierung und die von ihr verur-
sachte Bedrohung der Naturvielfalt. Diese Zurück-zur-Natur-Welle
schwappte damals bis ins noch ländliche Liechtenstein und führte 1903
zum Schutz des Edelweisses und weiterer Alpenpflanzen und damit zu
den ersten hiesigen Naturschutzbestimmungen überhaupt. 1933 folgte
ein liechtensteinisches Naturschutzgesetz, noch ohne Resonanz für eine
Anwendung. 1958 wurde ein Verein für Naturschutz und Landschafts-
pflege unter Vorsitz von Landesforstmeister Eugen Bühler gegründet.
347
Mario FE. Broggi
Karikatur von Louis Jäger gegen den Ölumschlagplatz in Sennwald
(Liechtensteiner Volksblatt vom 22. Juli 1972). | Zwei Autokleber
gegen das geplante Atomkraftwerk Rüthi und die Ölanlagen in
Sennwald. | Interpellation zum geplanten Ölumschlagplatz in Senn-
wald im Liechtensteiner Landtag (Liechtensteiner Volksblatt vom
12. Juli 1972).
Osk-Dostillerie und -Raffinerie
Sannwakd:
348
Dumpfes Unbehagen
Dr. Georg Malin zur InterpelNation
Wie bereits berichtet, behandelte der Landlag in sehr Sitzung vom 6. Jul auch eine Inferpel-
lalion zum geplasten Oelumschlagsplatz in Senmwald uad zum Atomkraftwerk Rülkd. Nachdem
wir gestem die Interpellationsbegründung des FBP-Abgeordnelen Antom Gerner verbilent-
lhcht haben, geben wir heute einem weiteren Votum Raum, Dr. Georg Malin [FBP) warst darin
vor möglichen Fohjen, die die bolden Projekte für unser Land zeitlgen könnlen.
«Als Mitunterzeichmer der Interpellation tei-
1e ich die dort aufgezelkgte Besorgnis. De Pra-
bleme, welche die Enengieversatgung auDwirlt,
sind mir auch als Laien bekannt. Die Veranlt-
wortlichen aus den verschiedensten Tätigkeits-
bereichen stehen vor sehr schwierigen Probie-
men: Einerseits erfordern der stekgpende Wohl-
stand und der technische Fortschritt erhöhten
Energieaufwand, anderseits wächst nach Am-
sicht massgebender Wissenschaftler die Um:
weltverschmutzung ins Ciqantische usd nlmmt
geradezu dämönische Züge an. Kurz: stelgen-
der Konsum verlangt vermehrte Produktion,
die natürliche Welt droht dabei zu zerbrechen. | A
r ! Osten und Westen von Bergketten gesäumt,
Das Problem ist weltweit geworden. Wir selbst
müssen es bereits sehr intensiv erfahren.
Bei Sennwald (eigentlich näher Rıspyell als
Sonnwald) soll im Endausbaäu eine Celrall
Tie enistehen, im RKüthi ein Atomkraftwerk.
kann sich fragen, 0b die Kombination von zwei
Anlagen nicht das zu gefährden vermag, Was
eine Anlage nicht allein zu verderben Veran,
(Dabei denke ich an die Verbindung Yon Qr0S-
sen Mengen verdampften Rheinwassers im
Bühl mit den 507 Immissionen aus Sennwald.)
Die besondere Lage unseres kleinen Landes
und des oberen Rheintales schlechthin stellen
die Uebernahme anderorts ertechneter (jefah-
renlimiten in Frage. Das obere Rheintal, gegen
kennt ganz besondere meierologische Verhält-
nisse {etwa die Staulagen und die Tage wor
Zwei Anlagen, die mittelbar oder unmittelbar | Föhnausbruch), Als kleines Beispiel: ein Klei
mit. der Enerqgieversorgung Zusammenhängen,
[ner schweizerischer Beirieb auf der Hühe des
sollen am Aussersten Rand der schweizerischen | Scheildgrabens zwischen Bendern und Schaan
Cktgrenme errichtet werden. Dabei treten Pro-
bleme zutage, die drimgend einer grümdlichen
Prüfung bedürfen. Wir haben © hier mit ganz
spezifischen Gegebenheiten zu in
vermag unter derartigen Bedingungen, mit üb-
lem Geruch die ganze weite Landschaft zu be-
lästigen. In den Proportionen zu dem, was kom-
men soll, eine Kleinigkeit. E% scheint Mir von
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
Dieser Verein mit rund 60 Mitgliedern ging 1963 im Liechtensteiner
Alpenverein auf. Es war noch zu früh für eine eigenständige nichtgou-
vernementale Naturschutzinstitution.
Einen kräftigen Impuls für den Umweltgedanken brachten anfangs
der 1960er-Jahre zwei umweltrelevante Projekte im St. Galler Rheintal:
ein kalorisches Kraftwerk — später Atomkraftwerk — bei Rüthi und eine
Ölraffinerie — später Destillationsanlage — bei Sennwald. Diese geplanten
Vorhaben führten zur bisher grössten Umwelt-Demonstration «Rüthi
nie» in Feldkirch, wo sich am 11. September 1965 zwischen 10000 und
25000 Demonstranten aus der Region versammelten. Das damalige «Ak-
tionskomitee für die Reinhaltung der Luft im Rheintal» kann als Ge-
burtsstunde des grenzüberschreitenden Umweltschutzes gelten. Weder
das kalorische Kraftwerk oder das später am gleichen Ort geplante Atom-
kraftwerk noch die Ölraffinerie wurden gebaut, hingegen eine kleiner di-
mensionierte Öldestillationsanlage, die an die Ölpipeline Genua-Ingol-
stadt angeschlossen wurde. Die auch bei der Destillationsanlage vorhan-
denen Bedenken wegen Luftverschmutzung führten am 8. Februar 1973
in Vaduz zur Gründung der Liechtensteinischen Gesellschaft für Um-
weltschutz (LGU) mit 561 (!) Gründungsmitgliedern. Die Geburtsstunde
Blick vom Hinterschellenberg in Richtung Öltankanlage von Sennwald.
Mario E Broggi
der liechtensteinischen Umweltbewegung verdanken wir also einer Ab-
wehr «gegen aussen». Die LGU tat sich in den Folgejahrzehnten wesent-
lich schwerer, als sie inländische Probleme aufgriff. Es gelang ihr trotz ıh-
res kompetenten Wirkens nie, ihren Mitgliederbestand wesentlich zu er-
höhen, ja überhaupt zu halten (März 2016: 468 Mitglieder).
Den wichtigsten Impuls für den liechtensteinischen Naturschutz
brachte das durch den Europarat ausgerufene «Europäische Natur-
schutzjahr 1970». An diesem beteiligte sich auch Liechtenstein mit
einem «Aktionskomitee zur Aktivierung des Natur- und Landschafts-
schutzes». Dieses staatlich unterstützte Komitee organisierte einige
Manifestationen, so eine Ausstellung im Gemeindesaal von Balzers, und
die Herausgabe einer Schrift, die an jeden liechtensteinischen Haushalt
geschickt wurde. Ebenso im Naturschutzjahr wurde am 1. Mai 1970
unter freiem Himmel im Ruggeller Riet eine regionale naturwissen-
schaftliche Vereinigung, die Botanisch-Zoologische Gesellschaft Liech-
tenstein-Sarganserland-Werdenberg, gegründet. Diese führt seither die
naturkundliche Erforschung des Landes durch, gibt regelmässig For-
schungsberichte heraus und wird dabei vom Land Liechtenstein unter-
Gründungsversammlung der Liechtensteinischen Gesellschaft für
Umweltschutz (LGU) vom 8. Februar 1973. Zweite Reihe, dritter
von links: Georg Malin.
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
stützt. Bis 1970 galt Liechtenstein weitgehend als «weisser Landstrich»
bezüglich der naturkundlichen Erforschung, da die nächsten mit biolo-
gischen Disziplinen ausgestatteten Universitäten, Innsbruck und Zürich,
zu weit entfernt lagen.
Zur Raumentwicklung in Liechtenstein
Raumplanung ist die Koordination raumwirksamer Tätigkeiten durch
die öffentliche Hand. Dies ist ein allerorten schwieriges Unterfangen,
welches viel Geduld verlangt und mit gehörigem Widerstand verbunden
ist. 1947 wurde im liechtensteinischen Baugesetz die Verpflichtung zur
Ortsplanung und Einteilung des Baugebiets festgelegt. 1954 erliess die
Gemeinde Vaduz den ersten Zonenplan mit Bauordnung und als letzte
Gemeinde folgte Triesenberg im Jahre 2000. Ab den 1960er-Jahren zeich-
nete sich ein euphorisches Wachstum mit Bodenspekulation ab. Auf
Landesebene erarbeitete 1964 die ETH Zürich im Auftrag der Regierung
ein landesplanerisches Gutachten, das einer Regionalplanung mit den
Teilbereichen Siedlung, Landschaft, Verkehr, öffentliche Bauten und
Anlagen entsprach. Der im Jahre 1969 von der Regierung als Richtplan
genehmigte Siedlungsplan sah eine landesweite Bauzonenfläche von
700 ha vor. Die damalige Siedlungsfläche war aber schon doppelt so
gross wie angestrebt. 1968 wurde für die Umsetzung der Raumplanung
eine Stabsstelle für Landesplanung institutionalisiert. Die Ziele waren
hehr: Eindämmung der Streubauweise, Reduktion der Bauzonen, Erlass
eines Erschliessungsgesetzes und Normalisierung des Bodenmarktes.
Eine 1981 veröffentlichte Bestandesaufnahme des Siedlungsplanes 1979
bestätigte alarmierende Ergebnisse. Rund 21 km? waren baulich einge-
zont und boten für mehr als 100000 Einwohner Raum. Die Bauzonen
machten 13 Prozent der Landesfläche oder rund ein Drittel des Talrau-
mes aus. Die Zersiedelung wurde vor allem durch die öffentlichen Mit-
tel für die Baulanderschliessung und die Eigenheimförderung angeheizt.
Im Zeitraum von 1970 bis 2000 haben die öffentlichen Haushalte
1,2 Milliarden Franken für Erschliessungskosten ausgegeben. Entwürfe
für ein neues Bau- und Planungsgesetz von 1968 und 1976 scheiterten
schon in der Vernehmlassung, ein vereinfachter Gesetzesentwurf für
eine Orts- und Landesplanung 1992 wurde auch nicht umgesetzt. Der
vierte Anlauf für ein Raumplanungsgesetz 2002 passierte zwar den
351
Mario E Broggi
Landtag mit nur einer Gegenstimme, wurde aber in der nachfolgenden
Volksabstimmung mit knapp 75 Prozent der Stimmen massiv verworfen.
Die liechtensteinische Raumplanung ist keine Erfolgsgeschichte. Die
Vorlagen für ein liechtensteinisches Raumplanungsrecht kamen — rück-
blickend betrachtet - eine Menschengeneration zu spät. In der Schweiz
wurde über viele Jahre hinweg in jeder Sekunde ein Quadratmeter
Boden verbaut, in Liechtenstein geschieht dies in jeder Minute. Die
Schweiz ist aber 263-mal grösser als Liechtenstein, d.h. der Landver-
schleiss findet im kleinen Land proportional mehr als viermal schneller
statt als in der gewiss auch prosperierenden Schweiz. Massive Unge-
rechtigkeiten im Boden- und Steuerrecht werden toleriert. Wir nähern
uns einem nicht verdichteten Stadtstaat Liechtenstein, was sich kaum
jemand wünscht. Aber das heisse Eisen aufgreifen will auch niemand.
Vom Umgang mit dem Berggebiet
Liechtenstein kennt in seiner bisherigen Raumentwicklung deutlich ein
Oben und Unten. Während im Dauersiedlungsgebiet die «Mutter aller
Schlachten» bei massiver Zersiedlung in der «Verbrauchslandschaft»
Verbauung Maurer Riet — auf dem Weg zum Stadtstaat Liechtenstein?
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
geschlagen wird, scheint die liechtensteinische Bevölkerung zur «Schön-
landschaft» der Alpen — ausser Malbun — eine vorsorglichere Beziehung
zu pflegen. Über dem Nebelmeer liegt unser «moralisches Massiv», viel
Mythos, den wir pflegen. Die vielen Gipfelkreuze und die Berggottes-
dienste auf unseren Alpen lassen erahnen, dass hier oben die Welt heiler
bleiben soll. Die forstlichen Organe hatten rechtzeitig nach dem Zwei-
ten Weltkrieg auf eine bedrohliche Situation im Bergwald und auf wach-
sende Bodenerosionen hingewiesen. Wegen diesen «ungesunden» Ent-
wicklungen wurde ab 1963 eine «Berglandplanung» an die Hand ge-
nommen, welche in einen Auftrag zuhanden der ETH Zürich mit
Begleitung einer einheimischen Expertengruppe mündete. Der Tatbe-
stand sollte erfasst sowie Vorschläge für die Sanierung und Vorstellungen
zum rechtlichen Schutz der Landschaft ausgearbeitet werden. Im Juni
1965 wurde eine Vorlage einer Berglandplanung von der Regierung ver-
abschiedet. Im Landtag war Artikel 1 mit einer Zonenaufteilung in
Schutz-, Wald-, Landwirtschafts-, Waldweide- und Bauzone umstritten,
weil sie angeblich die Gemeindeautonomie und die Eigentumsgarantie
verletzte. Der angerufene Staatsgerichtshof verneinte dies. Es wurde
wegen der verbleibenden Uneinigkeit am 20./22. Januar 1967 eine
Volksabstimmung angesetzt. Man warf den Befürwortern, die ein Unter-
stützungskomitee gebildet hatten, Zentralismus vor. Die Gesetzesvor-
lage wurde mit 61 Prozent der Stimmen verworfen.
Innert etwas mehr als Jahresfrist wurde aber mit Inkrafttreten am
1. Juni 1968 auf dem Verordnungsweg - mit der Verordnung über die
Sanierung der Alp- und Berggebiete —- eine Regelung über die Sanierung
der Alp- und Berggebiete (BGS) ausgearbeitet. Sie stützte sich auf das
Waldgesetz, das Gesetz zur Verbesserung der Alpwirtschaft und das
Gesetz für Rüfeschutzbauten. Der Sanierungsraum wurde im Vergleich
zur damaligen Berglandplanung etwas reduziert auf rund 6300 ha, was
40 Prozent der Landesfläche entspricht. In ihm befindet sich nur drei
Prozent Privatbesitz im Malbun und Steg, alles Weitere gehört den
Gemeinden und Genossenschaften. Es waren dies im Wesentlichen die
Gebiete, die nach 1939 unter alpwirtschaftlicher Weideeinwirkung
standen. Hervorzuheben ist die damals geplante ganzheitliche Sicht zur
Beurteilung allfälliger Sanierungsmassnahmen. Ein Sanierungszwang
bestand nicht mehr, die Bodeneigentümer mussten im Gegenteil einen
Antrag für die Ausarbeitung von Projekten an die Regierung stellen.
Nutzungszonen wurden nicht mehr ausgeschieden, dafür ein gesetzli-
353
Mario E Broggi
cher Schutz der subventionierten Sanierungswerke für eine Mindestzeit-
dauer von 30 Jahren vorgesehen. Das heisst, dass für 30 Jahre der Sanie-
rungszweck nicht verändert werden darf. Sämtliche Projektierungs-
kosten gehen zulasten des Staates. Sanierungsmassnahmen werden zu
85 Prozent vom Staat subventioniert, 7,5 Prozent stammen von der
beteiligten Gemeinde und 7,5 Prozent vom Bodeneigentümer. Alle
Massnahmen im Bereich der Alpwirtschaft werden zu 60 Prozent vom
Staat subventioniert, 13,3 Prozent von den Hoheitsgemeinden und
der Rest vom Bodeneigentümer. Generelle Projekte mit einer Übersicht
über alle anstehenden Massnahmen wurden zwischen 1969 und 1992
erstellt. Sie bildeten die notwendigen Grundlagen für Detailsanierungs-
projekte.
Bis 2011 wurden rund 77 Millionen Franken in die BGS investiert.
Die Mittel wurden vor allem in Erschliessungen, Wald-Weide-Trennun-
gen, Schutz vor Naturgefahren und alpwirtschaftliche Sanierungen
(Wasserversorgung, Alpgebäude) investiert. Diese Investitionsmittel
wurden im Zuge knapper Finanzen in den letzten Jahren mehr als hal-
biert. Im Jahre 2008 wurde die Verordnung den neuen Entwicklungen
angepasst. Nicht alles, was in den vergangenen Jahrzehnten unter der
BGS realisiert wurde, kann aus der Sicht des Natur- und Landschafts-
schutzes bedingungslos begrüsst werden. Dazu gehören die mehr als 90
km langen Wald-Weide-Trennungen mit zu konsequenter Auftrennung.
Die klaren Linienführungen bewirkten eine Auflösung der attraktiven
Übergänge von Wald zur Weide. Die schädliche Auswirkung einer
Waldweide wird heute unter geeigneten Rahmenbedingungen auch nicht
mehr gleich gesehen. Manche kostspielige Sanierungsmassnahme müsste
auch bezüglich Kosten-Nutzen-Überlegungen kritisch beurteilt werden.
So waren beispielsweise die Sanierungsmassnahmen für die Alp Garselli
mit einer Viehtrieberschliessung, der Wasserversorgung und der Restau-
ration der Alpstallungen in keinem sinnvollen Kosten-Nutzen-Verhält-
nis anzusiedeln. Man hätte das dort geweidete, meist ausländische Galt-
vieh «vergolden» können; eine Alpwirtschaft in solch peripheren Grenz-
ertragslagen kann nicht sinnvoll betrieben werden. Sorge muss auch die
weitere Entwicklung der Landwirtschaft, hier im Speziellen der Alp-
wirtschaft, wecken. Die grossen Milchwirtschaftsbetriebe mit Hochleis-
tungstieren («Turbo»-Milchkühe) sehen die Alpsömmerung nicht mehr
als grosse Arbeitserleichterung an. Bei einem Verzicht auf die Alpung
kann heute die für den Winter erforderliche Futterreserve auf dem
354
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
Heimbetrieb erzeugt oder zugekauft werden. Demgemäss herrscht
zunehmend Mangel an zu alpenden Tieren. In einer Gesamtbilanz kön-
nen dennoch dieses Planungsinstrument BGS und seine Umsetzungen
als innovativ und positiv für die langfristige Erhaltung der Kultur- und
Naturlandschaft beurteilt werden. Insbesondere die vorgenommene
Gesamtschau der Landnutzungen mit einer Koordination mit dem aus-
ufernden Erholungsbetrieb war und bleibt sehr bedeutsam.
Ein Entwicklungs- und Erhaltungskonzept
für das Berggebiet mit «Sonderfall» Malbun
Ausgelöst durch ein Landtagspostulat des Jahres 1987 wurde im Jahre
2000 ein «Entwicklungs- und Erhaltungskonzept Berggebiet» vom
Landtag gebilligt. Das Bearbeitungsgebiet wurde umfassender als der
BGS-Perimeter oberhalb der 1100-m-Höhenlinie gewählt. Der Erho-
lungsraum mit seinem Konfliktpotenzial und die Bedeutung des Bergge-
bietes als Rückzugsraum für Pflanzen und Tiere sollten verstärkt
berücksichtigt werden. Der Tourismus im Wintersportort Malbun mit
seiner Hotellerie war in den Logiernächten rückläufig, die Zunahme der
Ferienhäuser mit den «kalten Betten» hingegen weiterhin gegeben. Die
Zahl der Erholungssuchenden nahm laufend zu und deren Aktionsra-
dius erweiterte sich. Es folgte darum ein Malbuner Tourismuskonzept.
Es bejahte einen familienfreundlichen Tourismus, was wohl in der brei-
ten Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Das Bergbahnenkonzept des Jahres
2003 sah 26 Millionen Franken Investitionskosten vor, darunter auch
Beschneiungsanlagen. Im Jahr 2010 folgte ein Verkehrskonzept mit Tief-
garage und weiteren 18 Millionen Franken Investitionen. Ohne mass-
gebliche Mithilfe der öffentlichen Hand (Land und Gemeinden) wären
alle diese touristischen Investitionen nie getätigt worden. Malbun wird
weiterhin ein Sorgenkind bleiben, weil die Stossrichtung unter dem tou-
ristischen Wettbewerbsdruck nicht ausreichend klar definiert ist und
inkonsequent umgesetzt wird. Ursprünglich war in der Berglandpla-
nung die Anlage eines Ringdorfes mit Weilern im hinteren Malbunkes-
sel vorgesehen gewesen. Man hatte dabei allerdings die Lawinengefahr
nicht berücksichtigt. Der Lawinenzonenplan 1973 führte zur Auswei-
sung Roter Zonen, die die Überbauungsmöglichkeiten räumlich massiv
einschränkten.
355
Mario E Broggi
Inwieweit wurden die Ziele des Entwicklungs- und Erhaltungskonzep-
tes für das Berggebiet erreicht?
356
Die ökologischen Leistungen mit Mahd zur Offenhaltung der noch
bestehenden Magerwiesen werden seit 1998 abgegolten und die
Prämien wurden auch erfolgreich abgerufen. Gemäss Umweltsta-
tistik 2014 wurden 578 ha als ökologische Ausgleichsflächen (ex-
tensiv genutzte Wiesen) in Liechtenstein gefördert, dies mehrheit-
lich im Berggebiet.
Das revidierte Naturschutzgesetz 1996 schaffte die Rechtsgrundla-
gen für die Ausscheidung verschiedener Schutzgebietsformen.
Dazu gehören die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Land-
schaftsschutzgebieten (z.B. für Masescha-Profatscheng, Gugger-
boden-Steg) und Naturdenkmälern. Im Projektperimeter dieses
Konzeptes wurde von den Schutzvorschlägen der Inventare bisher
nichts umgesetzt.
Auf der Grundlage des Waldinventars 1996 wurden im Jahre 2000
1296 ha Waldreservate und 456 ha Sonderwaldflächen (mit Pflege-
bedarf) im ganzen Land ausgewiesen, dies mehrheitlich im Bergge-
biet. Dies ist eine anzuerkennende grosse Leistung. Für die recht-
lich ausgewiesenen Sonderwaldflächen fehlt bis heute allerdings die
Benennung der individuell nötigen Zielsetzungen.
Ruhezonen für Wildtiere wurden im Jahre 1985 aufgrund der
Erfahrungen in Graubünden und St. Gallen in der «Bergheimat»,
dem Organ des Alpenvereins, angeregt und 2003 auch im Landtag
postuliert. Auf den 1. Januar 2013 erliess die Regierung eine Ver-
ordnung, welche Schon- und Winterruhezonen definiert, die als
Wildtierlebensräume mit hoher ökologischer Bedeutung und als
Rückzugsräume erhalten werden sollen. Dabei blieben alle belieb-
ten Winterwanderwege und Skitourenpfade offen. Diese Verord-
nung wurde von einer Interessengemeinschaft «Tier und Mensch»
und dem hiesigen Alpenverein unter dem Titel «Verzonung» mit
1700 Petitionären bekämpft. In einer revidierten Verordnung vom
21. November 2014 wurden die Winterruhezonen redimensioniert
und die ganzjährigen Schonzonen gestrichen. Diese Rückzugs-
räume für das Wild hätten vier Prozent der Landesfläche ausge-
macht, das ist nur das Doppelte der bestehenden Strassenoberflä-
che im Land. Also immer und überall zuerst der Mensch, von
Demut und Ehrfurcht vor der Schöpfung keine Spur?
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
— Im unteren Saminatal wird seit dem Europäischen Naturschutzjahr
1970 eine Grossreservation vorgeschlagen. Das Anliegen bleibt
immer noch pendent und könnte heute als Wildnisgebiet eine neue
international anerkannte Widmung erfahren. Derzeit wird eine
grenzüberschreitende Naturmonografie über diese Gebietseinheit
bis zum Vorarlberger Galinatal erstellt.
— Der kürzlich ausgeführte Ausbau des Wasserkraftwerkes im Steg
verblieb gemäss Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung
1999 unterhalb der Grössenordnung für eine Prüfpflicht. Man
übernahm hier Daten grösserer Staaten. Die in den umgebenden
Staaten geltenden Restwasserbestimmungen wurden hingegen
massiv unterschritten.
Ein stummer Frühling auch bei uns
Die Veröffentlichung von «Stummer Frühling» der US-Zoologin Rachel
Carson im Jahre 1962 war ein weltweites Signal mit Hinweisen auf mas-
sive Veränderungen in unserer Natur. Carson zeigte die Auswirkungen
des rigorosen Pestizideinsatzes, was schliesslich trotz massiver Anfein-
dungen zur weltweiten Ächtung des Insektizids DDT führte. Neben den
Pestiziden ist es ein Zuviel an Stickstoff, welches unsere Natur seither
verstummen lässt. Alle Lebewesen brauchen Stickstoff. Lange Zeit steu-
erten natürliche Prozesse die Verfügbarkeit von Stickstoffverbindungen.
Biologisch aktiver Stickstoff entsteht mittlerweile im industriellen Mass-
stab unbeabsichtigt bei Verbrennungsmotoren und vor allem in der
Landwirtschaft. Eine Verzehnfachung der freigesetzten Mengen in den
letzten 100 Jahren führte zu massiven Störungen des Stickstoffkreislau-
fes. Diese Mengen beeinträchtigen die Gesundheit, das Klima, die
Gewässer, die Biodiversität. Der grösste Handlungsbedarf besteht in der
Landwirtschaft. Der Stickstoff ist mit einer zu intensiven Tierhaltung
verbunden. Die Tierhaltung ist in unseren Breiten doppelt so hoch wie
umweltverträglich. Der Stickstoff stammt also von zu vielen Nutztieren,
aber auch aus den Säcken der Futtermittelimporte und der Kunstdünger.
Ein grosser Teil davon entweicht in Form von Ammoniak in die Atmo-
sphäre und damit flächendeckend in unsere Lebensräume.
Auf den ersten Blick sieht man verschiedenenorts noch liebliche
Landstriche. Es herrscht aber neben allfälliger Strukturvielfalt mit
357
Mario E Broggi
Hecken und Bäumen eine beklemmende ökologische Monotonie. Vor
bald 40 Jahren hielt der Schweizerische Bund für Naturschutz (heute
Pro Natura Schweiz) fest, dass im Mittelland im Vergleich zur Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg nur mehr ein Prozent der Tagfalter-Populatio-
nen anzutreffen sind. Die bunten Blumenwiesen mit Margerite, Wiesen-
salbei und Glockenblume bestehen ebenfalls nur mehr auf ein bis zwei
Prozent der Flächen im Vergleich zu 50 Jahren vorher. Dazu trägt auch
ein gnadenloses Schnittregime bei. Dies führt zu Landschaften, die
nichts Anderes mehr sind als «Produktionslandschaften». Man könnte
auch von glatt gestrichenen «Botox»-Landschaften sprechen. Wird diese
umweltschädigende, fast flächendeckende Intensiv-Grünlandwirtschaft
von der breiten Öffentlichkeit toleriert? Es scheint zumindest so, als ob
das Gelb der Löwenzahnblüten und des Hahnenfusses genüge. Als Kon-
zession für eine ökologischere Landwirtschaft werden inzwischen
naturnahe Ausgleichsflächen im Ausmass von sieben Prozent auf den
Landwirtschaftsbetrieben verlangt. Sie erfüllen leider wegen der Stick-
stoffverfrachtungen ihren Zweck kaum. Im Übrigen wurden bereits im
Jahre 1989 in einer schweizerischen Nationalfondsstudie für diesen öko-
logischen Ausgleich zwölf Prozent der Landwirtschaftsflächen gefor-
dert. Die jetzige Agrarpolitik ist nicht nur ein liechtensteinisches
Umweltproblem, denn eine europaweite Umweltüberprüfung der gülti-
gen Landwirtschaftssubventionen ist überfällig. Eine mächtige Agrar-
lobby mag dies bisher verhindern. Es ist offensichtlich so, dass mit dem
Übergang von der bäuerlichen in eine postindustrielle Gesellschaft die
emotionalen Wurzeln in unserer Gesellschaft zur Scholle noch nicht
gekappt sind. Das umweltschädliche Wirken in der Agrarwirtschaft wird
noch nicht ausreichend ausserhalb der Fachwelt erkannt. Das dürfte sich
allmählich auch in Teilen der Landwirtschaft ändern, insbesondere in der
Berglandwirtschaft und bei Kleinbauern, und wird ausserhalb der Ver-
bandsstrukturen zunehmend kritischer gesehen. Liechtenstein mit sei-
nen überschaubaren Rahmenbedingungen hätte sich als wegweisendes
Modell für eine adaptierte, ökologisch verträgliche Landwirtschaftspoli-
tik betätigen können. Das Gegenteil ist bis heute der Fall.
358
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
Naturschutzforschung und Schutzgebiete
Mit Verordnung vom 28. September 1961 wurden die ersten beiden
Naturschutzgebiete des Landes — Schwabbrünnen-Äscher (Schaan,
Planken, Eschen) und Gampriner Seelein — ausgewiesen. Das war fast
50 Jahre nach der Gründung des schweizerischen Nationalparks, der sei-
nerseits etwa so gross wie Liechtenstein ist. Auch in Liechtenstein hät-
ten wir zur Landesgrösse vergleichbare Gebiete mit ähnlicher Aus-
gangslage. Der Raum Garselli-Zigerberg im unteren Saminatal ist bei-
spielsweise kaum mit Nutzungskonflikten ausgestattet. Es braucht
einzig das Wollen mit Respekt vor dem Eigenwert der Natur. Bis 1978
folgten fünf weitere Naturschutzgebiete, die ausser dem Ruggeller Riet
nur sehr kleinflächig sind. In jüngster Zeit kamen das Hangmoor Mati-
laberg in Triesen und eine Magerwiese im Maree in Vaduz dazu. Derzeit
sind 179,9 ha oder 1,1 Prozent der Landesfläche als Naturschutzgebiete
ausgewiesen. Das entspricht etwa der Strassenoberfläche im Land.
Schauen wir zum östlichen Nachbarn, so sind in Österreich rund
20,5 Prozent oder ein Fünftel natur- und landschaftsgeschützt. Dies ist
vor allem den Europaschutzgebieten (Natura 2000) zu verdanken. Man
Das Untere Saminatal mit Garselli-Zigerberg wird seit dem
Jahre 1970 als grossflächige Reservation vorgeschlagen.
359
Mario E Broggi
müsste sich für Liechtenstein also die Übernahme der EU-Naturschutz-
bestimmungen wünschen. Als Laie hat man die Vorstellung, man könne
alles in Schutzgebieten «aufbewahren», was an Tier- und Pflanzenarten
und damit an Artenvielfalt bedroht ist. Das ist in Liechtenstein mangels
ausreichender Schutzgebiete nicht möglich. Ebenso sind diese kleinen
Inseln durch eine lebensfeindliche Umgebung gekennzeichnet.
Wir kennen unsere bestehenden und schützenswerten Naturwerte
und damit die Naturvorrangflächen sehr gut. Bereits im Jahr 1977 wurde
ein landesweites Naturschutzgutachten im Auftrag der Regierung
erstellt, in dem die wichtigsten Naturwerte des Landes bereits enthalten
sind. Im Jahre 1992 folgte im Auftrag der Regierung ein umfangreiches
Inventar mit konkreten Vorschlägen für die Ausweisung von Natur-
schutzgebieten, Landschaftsschutzgebieten, Waldreservaten und Natur-
denkmälern. 1920 ha oder 12 Prozent der Landesfläche wurden als be-
sonders schützenswerte Biotope vorgeschlagen, wovon alleine dem
Grossraumbiotop Drei Schwestern-Garselli-Zigerberg 1363 ha zugewie-
sen wurden. Weiters wurden 28 Landschaftsschutzgebiete im Ausmass
von 1557 ha auf der Rheintalseite vorgeschlagen. Es folgten ein Mager-
wieseninventar 1990/91 mit Neufassung 2008, ein Inventar der schüt-
zenswerten Objekte im Siedlungsraum 2006, ein ökomorphologisches
Gewässerinventar 1983 und 2006, eine nationale Strategie für Naturvor-
rangflächen 1997, ein Entwicklungskonzept Natur und Landwirtschaft
2005 und viele monografische Darstellungen von Artengruppen. Insbe-
sondere das «Entwicklungskonzept Natur und Landwirtschaft, Modul
Natur und Landschaft» des Jahres 2005 benennt die Aufgaben klar und
kann als raumorientierte Vorlage für eine Sachpolitik bezeichnet werden.
Es weist für alle Rote-Liste-Arten und Artengruppen die notwendigen
Massnahmen aus. Auch 12 Jahre nach Vorlage ist dieses Konzept immer
noch richtungsweisend und für eine Naturschutzpolitik massgebend —
aber nicht an die Hand genommen.
Bei all diesen Inventaren besteht ein Teilerfolg darin, dass im Jahre
2000 Teile der vorgeschlagenen Waldreservate rechtlich ausgewiesen
wurden. 36 Jahre nach dem ersten Naturschutzgutachten 1977 wurde am
17. September 2013 das erste Landschaftsschutzgebiet Liechtensteins —
Periol, Bofel, Neufeld, Undera Forst — dank Unterstützung der Bürger-
genossenschaft und der Gemeinde Triesen ausgeschieden. Die Gemeinde
Balzers liess sich vom gemeindeüberschreitenden Vorschlag nicht be-
geistern und lehnte mit Gemeinderatsbeschluss eine Fortsetzung des
360
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
Landschaftsschutzgebietes am 26. März 2014 ab. Triesen liess sich da-
durch nicht beirren und am 23. September 2014 wurde das an Balzers
angrenzende Gebiet Wesa-Fokswinkel als zweites Landschaftsschutzge-
biet mit Verordnung der Regierung ausgewiesen.
Die naturkundliche Forschung erlebte in den Jahren 1970 bis 2000
einen starken Aufschwung. Deren Ergebnisse wurden in 38 Berichten der
Botanisch-Zoologischen Gesellschaft Liechtenstein-Sarganserland-Wer-
denberg (BZG) und in 30 Schriften der von der Regierung herausgegebe-
nen Reihe «Naturkundliche Forschung im Fürstentum Liechtenstein»
veröffentlicht. Für Liechtenstein wurden auch einige Rote Listen der ge-
fährdeten und seltenen Arten im Bereich der Wirbeltiere (Fische und
Krebstiere 2014, Amphibien 2011, Reptilien 2006, Vögel 2006), der Amei-
sen 2009 und Gefässpflanzen 2006 als Fachgutachten über den Zustand
Landschaftsschutzgebiet Periol, Bofel, Neufeld, Undera Forst in
Triesen. «Die Weltpflege im Sinne des Umweltschutzes wird zur
kulturpolitischen Aufgabe erster Ordnung. Der ganze kulturelle
Überbau hat sonst kein Fundament.» (Georg Malin — Kulturpolitik
im Kleinstaat, Ansprache Jahresversammlung der Gesellschaft für
Schweizerische Kunstgeschichte, Vaduz, 23. Mai 1992).
361
Mario E Broggi
der Natur ausgearbeitet. Danach sind 25 (Gefässpflanzen) bis 100 Prozent
(Fische) der erfassten Arten gefährdet bzw. vom Aussterben bedroht.
Im Jahre 1997 regte die BZG eine Neuorientierung der naturkund-
lichen Erforschung hin zu einem «Kontrollprogramm Natur und Land-
schaft» an, welches sie im Auftrag der Regierung 2001 skizzierte. Sie ori-
entierte sich dabei am gültigen Biodiversitätsmonitoring der Schweiz.
Diese Idee wurde bisher nicht aufgegriffen. Es gibt damit auch keine
Erfolgskontrolle über die staatlich eingesetzten Mittel im Bereich der
Landnutzungen und des Natur- und Landschaftsschutzes. Die natur-
kundliche Forschung stagniert weitgehend bzw. wurde im Zuge der
Finanzprobleme massiv heruntergefahren. Auch die Kontinuität der
BZG-Berichte und die Reihe der naturkundlichen Forschungen sind
darum in ihrer Kontinuität gefährdet.
Leuchtschnur Revitalisierung Alpenrhein
Die Rheintalebene war reich an natürlichen Fliessgewässern, allein im
19. Jahrhundert flossen noch zwölf liechtensteinische Zubringer in den
Alpenrhein, wo dies heute mit dem Liechtensteiner Binnenkanal nur
mehr einer ist. Man hielt die Hochwasser durch Begradigungen und
hohe Dämme fern und entwässerte das Hinterland. Zwecks Kulturland-
gewinnung kanalisierte und dolte man selbst kleinere Bäche ein, um den
Ansprüchen der Intensivlandwirtschaft gerecht zu werden. So haben
sich von der ursprünglichen Vielfalt nur noch Reste erhalten. Eine erste
Gewässerinventarisierung 1983 zeigte, dass bloss etwas mehr als die
Hälfte aller Fliessgewässer ganzjährig Wasser führte. Sie fielen der
Grundwasserabsenkung im Rheinflussgebiet wegen massiven Kiesent-
nahmen im Rheinbett zum Opfer. Einzig ein kleiner Quellast im Natur-
schutzgebiet Schwabbrünnen-Äscher konnte im Talraum noch als
«natürlich» angesprochen werden. Eine ökomorphologische Kartierung
der Gewässer 1996 im Talboden erbrachte weitere Daten. So waren 90
Prozent der Fliessgewässer in ihrem Verlauf gestreckt worden, ein Fünf-
tel aller Fliessgewässer besass eine Sohlverbauung, die Hälfte eine
Böschungssicherung und nur drei Prozent der Fliessgewässer wurden
noch als «naturnah» betrachtet.
Das Wissen um die Notwendigkeit ökologisch funktionsfähiger
Gewässersysteme hat sich erweitert. Eine Wiederherstellung des ur-
362
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
sprünglichen Zustandes ist meist nicht möglich. Die ökologische Funk-
tionsfähigkeit kann allerdings verbessert werden. Die Fliessgewässer-
wiederbelebung braucht Raum. Ein wichtiger diesbezüglicher Schritt
war die Revitalisierung der Binnenkanalmündung im Jahr 2000. Seither
wurden einige Gewässerabschnitte durch Revitalisierungsmassnahmen
lebenswerter gestaltet, so letzthin gut einsehbar ein Abschnitt des Bin-
nenkanals an der Zollstrasse in Vaduz. Damit haben wir Anschauungs-
objekte. Der Raumbedarf für die Sicherstellung der Biodiversität entlang
der Fliessgewässer wurde 2004 im liechtensteinischen Talraum auf
144,5 km erfasster Strecke mit rund 230 ha berechnet. Innert 30 Jahren
sollten 83 km Fliessgewässerlänge mit einer erforderlichen Fläche von
93,6 ha prioritär behandelt werden. Mit einer jährlichen Revitalisierung
von 3 km Fliessgewässerabschnitte ergäben sich Kosten von jährlich
2,3 Millionen Franken. Im Vergleich zu den Kosten für den Betrieb und
Unterhalt der Abwasserreinigung von Jährlich 19 Millionen Franken
wären dies überschaubare Beträge. Im Zeichen knapper Finanzen wurde
jedoch auch hier der Rotstift angesetzt.
Wiederbelebter Binnenkanalabschnitt bei der Zollstrasse in Vaduz:
Liechtenstein besitzt nun einige «Muster» davon und in den kom-
menden Jahrzehnten soll dies auch am Alpenrhein zur Anwendung
kommen.
Mario E Broggi
Was im Kleinen gilt, sollte auch für das Grosse gelten. Die einstige natür-
liche Flusslandschaft des Alpenrheins mit seinen landschaftlichen Ver-
weisungszusammenhängen ist zerlegt worden. Alles deutet am kanali-
sierten Fluss auf Abgrenzung und Beschränkung, wenig auf ein Zuei-
nander hin. Gelingt hier eine Rückkehr von der Eintönigkeit zur
Vielfalt? Die Normbreite des Rheines beträgt bei uns 120 Meter. Der
Preis für die gesuchte Sicherheit war hoch. Alles wurde auf dem Reiss-
brett geplant, die Kanäle, die Gräben, die Wege und Strassen, Bauten,
Meliorationen mit linearen Windschutzstreifen. Etwas emotional Tiefer-
liegendes sträubte sich in den 1980er-Jahren erstmals gegen den techno-
kratischen Machbarkeitswahn. Wasserkraft gilt zwar als einheimisch,
sauber und erneuerbar; für die betroffene Landschaft gilt dies allerdings
nicht. In Naturschutzkreisen argumentierte man gegen das Projekt der
Rheinkraftwerke mit scheinbaren Petitessen wie dem Vorkommen des
seltenen Flussregenpfeifers und der Rückwanderung von Fischen. Die
Verteidigung der kleinen Tiere und Pflanzen mag als Argument gegen
Kilowattstunden und Gelderlöse etwas hilflos gewirkt haben. Sie löste
aber Emotionen aus. Parallel dazu wurde eingesehen, dass der Rhein
immer weniger als Gefahr denn als Gefährte wahrzunehmen ist. Der
Rhein wird zum zentralen Strom des Tales, ist seine Aorta. Seine An-
wohnerinnen und Anwohner haben ein Anrecht auf ein möglichst
authentisches Gesicht der Landschaft, weil dieses Bild unmittelbar unser
Befinden beeinflusst, weil die Landschaft die Menschen prägt.
Die Idee der Umgestaltung des Rheines ist mittlerweile mehr als 30
Jahre alt. Die Vision für einen naturnahen Fluss ist faszinierend und kei-
neswegs utopisch. Seit 1995 besteht die Internationale Regierungskom-
mission Alpenrhein. Sie hat die Idee der Rheinausweitungen einer von
ihr beauftragten Studie entnommen und in ihr Entwicklungskonzept
2005 eingebaut. Es wurden insgesamt 19 mögliche Aufweitungen am 90
km langen Alpenrhein eruiert, wovon deren vier Liechtenstein betreffen.
Es besteht die Absicht, das ursprüngliche ökologische Wirkungsgefüge
wieder in Teilen herzustellen. Die kanalartige Struktur soll, wo möglich,
aufgebrochen werden. Das bedeutet, dem Gewässer in einzelnen Fluss-
abschnitten wieder mehr Raum zu geben. Damit werden die Kiesinseln
vielfältiger, es wird sich auch Auwald ansetzen. So wird die Durchläs-
sigkeit zwischen Rhein und Umland verbessert, regionale Wildwechsel
werden wieder möglich. Die Menschen des Tales waren lange auf ihren
jeweiligen Nationalstaat ausgerichtet. Die Grenzen wirken trennend,
364
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
was auch in der Landschaft zum Ausdruck kommt. Den Fluss in die
Aufmerksamkeitsmitte zu nehmen, bildet einen grossen Beitrag mit
Symbolkraft. Das Vorhaben ist mehrheitlich mit öffentlichem Land
machbar. Selbstverständlich ergeben sich punktuell Konflikte mit der
heutigen Landnutzung. Die Priorität soll bei der Lebensqualität im
Rheintal liegen. Wir stehen nun an der Schwelle von der Vision zur
Umsetzung. Das Anliegen wurde inzwischen bekannter gemacht. Es gilt
nun, weitere Vorabklärungen zu unternehmen. Wir wissen, dass wir
heute auch der Natur etwas Platz geben müssen, um den Naturhaushalt
in einem fliessenden Gleichgewicht zu halten. Wir sind aufgerufen, die
Probleme klar zu erkennen und auf jenem gedanklichen Niveau anzuge-
hen, das uns heute zur Verfügung steht. Es liegt an der Politik und der
Verwaltung, dieses Jahrhundertwerk voranzutreiben. Die Mandatszei-
tenintervalle wirken sich für ein Jahrhundertwerk aber leider eher läh-
mend aus. «Eine Landschaft behauptet sich in dem Masse, als ein geisti-
ger Anspruch auf eine gewisse Landschaftskultur geweckt wird. Fehlen
die Visionen, dann können ganze Berge aus unbedeutenden Gründen
geschliffen werden», meinte einst der liechtensteinische Künstler Hans-
jörg Quaderer.
Schlussgedanken
Unsere Performance bezüglich der Erhaltung der Naturwerte fällt ma-
ger, ja desaströs aus, um im Jargon der Finanzdienstleistungsbranche zu
schreiben. Diese magere Performance gilt nicht nur für Liechtenstein, sie
ist global gültig, ist bei uns allerdings wie im Brennglas deutlich sichtbar.
Vonseiten des Naturschutzes müssen wir wohl aufhören, die Zeit mit
dem Zählen von Arten zu verpuffen. Ein Spurwechsel ist angesagt. Zum
Beispiel in Richtung «Zero Emission»?
«Im Mörser der Globalisierung, die bestenfalls noch Wirtschafts-
standorte kennt, wird die Landschaftlichkeit unserer Umgebung zer-
stossen, und mit ihr eine ganze Dimension des Humanen, nämlich die
elementare Kenntnis des Nahen, uns Naheliegenden», meinte der Berner
Physiker Eduard Kaeser. Es fehlt uns im Umgang mit Natur und
Umwelt offensichtlich eine Kultur der Wahrnehmung, welche Finger-
spitzengefühl, Takt, Esprit sowie Pflanzen, Tiere, Menschen einbaut. Es
wird in Liechtenstein wenig ganzheitlich geplant. Raumplanung ist und
365
Mario E Broggi
bleibt ein Anhängsel des Baugesetzes und so sieht die Landschaft auch
aus. Sie ist Vollzug von Baubestimmungen, regelt dafür mit Akribie die
Ausnutzungsziffer, Bauabstände und Firsthöhen. Kaum je wird aber die
Frage gestellt, wie wir mit dem Raum als Lebensraum umgehen.
Es stellen sich mir seit längerer Zeit drei Kernfragen zur Land-
schaft: (1) Wie machen wir den besiedelten Raum wieder zu einem Teil
der Kulturlandschaft, ausgestattet mit Lebensqualität? (2) Wie betten
wir unsere ausufernden Ortschaften in die Landschaft ein? Wie schaffen
wir es, Bauten nicht nur als unerwünschte Eingriffe, sondern als bewusst
gestaltete Bestandteile unserer Kultur zu formen? (3) Wie schaffen wir
es, von einem reinen Bodenverzehr zu einer bewussten Entwicklung zu
gelangen? — Ich ging lange von einer grossen Wertschöpfung aus allem
Kleinen, von «der Grösse des Kleinen» aus. Es stünde im liechtensteini-
schen Kontext für positive Eigenschaften wie Überschaubarkeit, Steuer-
barkeit und Geborgenheit. Dies sind Werte, die selbst im Zeichen der
Globalisierung wichtig bleiben und die auch eine schnelle Anwendung
erlauben. Haben wir die Chancen des Kleinseins bei lange gegebener
Prosperität in den letzten 50 Jahren richtig genutzt? In dieser Zeit wurde
der Wahlslogan «Uns geht es gut, so soll es bleiben» geprägt. Der Satte
will also noch satter werden. Die an sich so positive Nähe verschaffte
den vehement vorgetragenen Partikularinteressen ihre gebührende
Beachtung. Das öffentliche Interesse wurde zur Summation der Partiku-
larinteressen. Dabei wird es für die nächsten Menschengenerationen
immer schwieriger, ihre Optionen noch zu realisieren: Sie sind die Opfer
unseres wenig verantwortungsvollen Wirkens mit Ressourcenverschleu-
derung und Bodenverschleiss. Unser Wirtschaftssystem mit seinen
Wachstumserfordernissen ist krank. Nirgends in der Natur wächst ein
Organismus unbegrenzt weiter. Unser ökologischer Fussabdruck, d.h.
der Anteil der Erdfläche, den jeder Mensch für seinen Konsum bean-
sprucht, ist derzeit drei- bis viermal zu gross. Wir brauchen Alternati-
ven, Anpassungen, Entschleunigung. Es ist schwierig, in falschen Struk-
turen richtig zu handeln. Menschen haben aber genug Energie. Diese
ventilieren wir leider immer mehr in Richtung des privaten Bereichs.
Diese Potenziale gilt es künftig jedoch für das Gemeinwohl zu nutzen.
Lernen wir noch, wie eine solidarische Zivilisation aussieht?
366
Rote Listen — Rote Fäden im Natur- und Umweltschutz
QUELLEN
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Amt für Kultur, Abteilung Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz: S. 350
Übrige Fotos: Mario F. Broggi
368
Siedlungsverdichtung unter Berücksichtigung
von übergeordneten Landschaftsstrukturen
Catarina Proidl
In finanziell schwieriger werdenden Zeiten lassen laufend hohe respek-
tive noch ansteigende Infrastrukturerhaltungskosten Länder und Kom-
munen über Siedlungsentwicklung nach innen verstärkt nachdenken.
Eine Siedlungsverdichtung sollte nicht unreflektiert auf Kosten sied-
lungsinterner Landschafts- und Freiräume stattfinden. Ein Ansatzpunkt
ist die sich in den Raumqualitäten ergänzende Betrachtung von Sied-
lungs- und Landschaftsraum, die charakteristische Landschaftsstruktu-
ren als integralen Bestandteil siedlungsräumlicher Strukturen aufgreift.
Diese sind bei zukünftigen Weiterentwicklungen zu stärken, um eine
qualitative Siedlungsverdichtung einzuleiten. Folgenden Fragen wird im
vorliegenden Beitrag nachgegangen:
— Welche Rolle spielen Landschaftsstrukturen für die Ausbildung
und Unterstützung unterschiedlicher Intensitäten an Öffentlich-
keit, Aufenthaltsqualität generell und im Speziellen in den jeweili-
gen Siedlungsräumen? Welche spezifischen Eigenschaften kommen
hier zum Tragen?
— Wie können diese Landschaftsstrukturen auf regionaler und städte-
baulicher Ebene bei Entwicklungsüberlegungen sowie beim kon-
kreten baulichen Eingriff unterstützt werden?
— Wo finden sich Ansatzpunkte im geltenden rechtlichen Instrumen-
tarıum?
Regional bedeutsame Landschaftsstrukturen
Vor dem Hintergrund dynamisch expandierender Siedlungsräume alpi-
ner Längstäler kommt Landschaftsstrukturen eine Mehrfachfunktion
zu. In diesen locker bebauten Gebieten, wo Gebäudestrukturen auf-
grund ihrer niederen Höhe und den weiten Abständen zueinander dies
369
Catarina Proidl
alleine nicht vermögen, sind Landschaftsstrukturen raumbildend und
Orientierung gebend. Über die Siedlungsgliederung hinausgehend sind
bei steigender Siedlungstätigkeit Landschaftsstrukturen in einem sol-
chen Tallandschaftsgefüge auch vermehrt Träger sozialer Funktionen
im Aussenraum. Im Folgenden wird der Fokus auf diese beiden Aspek-
te gelegt.
Vegetationsstrukturen alleine oder im Zusammenspiel mit Gebäu-
den, der Gebäudenutzung und der angrenzenden Topografie können
unterschiedliche Orte von Öffentlichkeit erzeugen oder unterstützen.
Durch die spezifische Konfiguration können und werden Abstufungen
von privaten und halböffentlichen Aussenräumen hin zu öffentlichen
Aussenräumen erzeugt und für den jeweiligen Ort in eine sinnvolle
Aneinanderreihung gebracht. Landschaftsstrukturen sind folglich eine
Kombination von funktionalen Netzen und Flächen sowie der raum-
wirksamen Ausprägung von Topografie und Vegetation auf regionaler,
städtebaulicher und lokaler Massstabsebene. Hierin überlagern sich
physische Ausprägungen der Tallandschaft mit den tatsächlichen und
potenziellen Ansprüchen der gegenwärtigen Gesellschaft. In der Ge-
samterstreckung weisen Landschaftsstrukturen eine Multifunktionalität
auf, die auf das jeweilige Umfeld (landschaftsgebunden, siedlungsgebun-
den) reagiert, das sie durchmessen.
Das Hauptaugenmerk richtet sich demnach auf jene Talbodenbe-
reiche, in denen Siedlungsverdichtung stattfinden wird und in welchen
bereits vorhandene Landschaftsstrukturen zu Qualifizierungsüberle-
gungen beitragen können.
Lineare Landschaftsstrukturen im Talboden
zwischen Triesen und Vaduz
Der Fokus liegt auf dem schmalen Abschnitt des liechtensteinischen Tal-
bodenbereiches, in welchem sich die beiden Ortschaften Triesen und
Vaduz ausbreiten. Der Hauptanteil der Siedlungstätigkeit liegt entlang
der Verzahnung der ausflachenden Schuttkegel der Wildbäche mit der
Schotterebene des Rheins bis zum aktuellen Hochwasserschutzdamm.
Dieser bildet auch optisch den Abschluss des Landes gegen Westen hin.
In jüngster Zeit sind neben der sukzessiv fortschreitenden Besiedelung
des Talraumes durch Wohnbebauung auch inselartig gruppierte Gewer-
370
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
begebiete im nunmehr hochwasserfreien flachen Talraum hinzugekom-
men. Den ebenen Talboden bis zu den ansteigenden Hangbereichen im
Osten hat der Rhein stark geprägt. Seit der Rheinregulierung Ende des
19. Jahrhunderts dominieren vorwiegend markante Linien den Talbo-
den. Das ist auch noch lange nach der Eindämmung und sukzessiven
Entwässerung des Talbodens in regionalen linearen Strukturen nachvoll-
ziehbar. Von Osten nach Westen sind dies das ehemalige Rheinprallufer
— die Hangkante —, der Giessenbach, der Binnenkanal sowie der Binnen-
damm und der aktuelle Hochwasserschutzdamm. Quer dazu finden sich
Baumhecken, die zum Schutz des Bodens vor Windabtrag gepflanzt
wurden (Abb. 1).
Trotz expandierender Siedlungstätigkeit entlang der Hauptverbin-
dungsstrasse durchweben und verbinden diese linearen Landschafts-
strukturen Siedlungsräume und agrarisch genutzte Landschaftsräume.
In der Verzahnung mit der unmittelbaren Umgebung haben sie eine dem
Kontext angepasste Überformung erfahren und übernehmen so auch
andere Funktionen. Das Potenzial für Qualifizierungsüberlegungen bei
weiterer Siedlungsexpansion und Verdichtung im Bestand anhand dieser
Strukturen ist gross. Dies wird im Folgenden anhand der Landschafts-
struktur des ehemaligen Rheinprallufers beschrieben. Sie befindet sich
Abb. 1: Lineare Landschaftsstrukturen im Talboden zwischen Triesen im Süden und Vaduz
ım Norden.
371
Catarina Proidl
im Übergang des Hangfusses zur Talebene und ist als östlichste Linie in
der übergeordneten Karte dargestellt (siehe Abb. 1).
Die Hangkante von bis zu drei Metern Höhe ist im Bereich von
Triesen die markante Geländekante samt Vegetation und Weginfrastruk-
tur der ehemaligen Pralluferlinie des Rheins. Sie erstreckt sich von Süden
nach Norden bis auf Vaduzer Gemeindegebiet und wird vom Schuttke-
gel der Spania-Rüfe überformt. Betrachtet man diese gewachsene Längs-
struktur im Querschnitt, so ergeben sich in der Abfolge vielfältige Kom-
binationen von einem schmalen öffentlichen Weg und der Topografie
der Geländekante. Teilweise verläuft der Weg an der Unterkante des
Geländeversatzes, teils in der Mitte, teils an der Oberkante. Bereichs-
weise und je nach Platzverhältnissen sind die Böschungsbereiche der
Hangkante mit Gehölzen bewachsen, bereichsweise nur als Wiese belas-
sen. Je nach Grösse der Gehölzvegetation (Büsche, Bäume) entstehen
dadurch enge beschattete Bereiche oder weite offene Bereiche mit Blick-
bezügen bis zu den horizontrahmenden Bergflanken. So bewegt man
sich entlang einer abwechslungsreichen Sequenz von Teilräumen. Ab-
schnittsweise ist der Weg nur für Fussgänger und Radfahrer benutzbar,
was den Charakter dieses Bewegungsraumes anders prägt als entlang
einer öffentlichen Strasse. Mit entscheidend für die Aufenthaltsqualität
entlang des Weges und in den angrenzenden Räumen sind die umgeben-
den Nutzungen und die Ausgestaltung ihrer Grenzen. Da der Gelände-
sprung nicht ausschliesslich auf öffentlichem Gebiet liegt, können Gar-
tenmauern, Hecken, Baumhecken und Zäune unterschiedlichster Aus-
prägung diesen Weg begleiten. Schliessen private Gärten an, können
Höhe und Dichte dieses Grenzfilters die Privatheit in den anschliessen-
den Gärten sicherstellen. Schliessen halböffentliche Vorgartenbereiche
und Zugangsbereiche zu Mehrfamilienhäusern an, lädt eine niedrige
Bepflanzung und eine offene Gestaltung zur Kommunikation und zum
Austausch mit den Bereichen des öffentlichen Weges ein. Es entstehen
verschieden breit und verschieden zugänglich gestaltete anschliessende
Aussenräume an den Weg. Bewegt man sich entlang der Hangkante,
durchquert man ein Mosaik von aneinandergereihten Abschnitten je-
weils anderen Charakters.
372
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
Städtebauliche Qualitäten der Landschaftsstruktur
Hangkante innerhalb des Siedlungsgefüges
Betrachtet man die markante Geländekante in Triesen mit Verzahnung
in jeweilige umliegende Bereiche, fällt zuerst auf, dass der Höhenversatz
zwischen einem Meter Höhe und einem Geschoss variiert. Fast durch-
gehend wird diese Kante mit einem Weg (Fussweg oder schmaler
Erschliessungsweg) begleitet. Bereichsweise ist sie durch den unteren,
steil aufgewölbten Abschnitt der Hangrutschung Triesenberg-Triesen
überformt, was im Bereich «An der Halda» zu einer steilen Ausprägung
und anschliessend zu steil ansteigendem Gelände führt. Über die
gesamte Länge verknüpft diese Strukturlinie die öffentliche Wegverbin-
dung mit den höhenabgestuften privater werdenden Freiräumen an den
Gebäuden in abwechslungsreicher Art und Weise. Enge - durch Mauern
und Gebäudewände gefasste -— Räume treten hier (An der Halda)
genauso auf wie breite halböffentliche Flächen in Verwebung von Weg,
Böschung und Parkplätzen vor Restaurants und Büros («Kappileweg»-
Fussweg) (Abb. 2). Genau hier kommt den Einzelbäumen und Baum-
gruppen eine raumbildende und sichtschützende Funktion zu, die Kom-
munikation und Verweilen unterstützt, gleichzeitig durch ihr Kronen-
volumen die notwendige Distanz zu privaten Hausgärten und Häusern
schafft. Bewegt man sich nun entlang dieser Kante, lässt die Kombina-
Abb. 2: Landschaftsstruktur der Hangkante in Triesen
(Kappileweg).
373
Catarina Proidl
tion dieser Strukturelemente mit dem jeweiligen Gelände engere und
weitere Bereiche entstehen, die zusätzlich durch Bäume und Büsche in
der Vegetationsperiode den Charakter verstärken. Dann ergeben sich
wieder Ausblicke auf die umgebende Landschaft über talebene Sied-
lungsteile bis zur Schweizer Horizontlinie. Auffallend ist die dichte Ver-
webung mit querenden Verbindungen (Wege, Treppen, Rampen), die
eine gute Vernetzung dieser Längsstruktur in die umgebenden Sied-
lungsteile sichert. So sind mit der Zeit ideale Bedingungen für ein Netz
engmaschiger Bewegungslinien abseits des motorisierten Verkehrs ent-
standen, die eine hohe Siedlungsqualität sicherstellen.
Das aufgezeigte Zusammenspiel kann die sinnvolle Abstufung vom
öffentlichen Weg zu privaten Aussenräumen unterstützen, wenn diese
kleinräumig und vom Weg zugänglich anschliessen. Je nach gegebener
Topografie wird mit zunehmender Höhendifferenz zu angrenzenden
Gärten eine höhere Privatheit erzielt. Je höher das Gelände von Natur
aus ist, desto weniger hoch müssen Randbepflanzung oder Grenzmau-
ern ausfallen, um die Privatsphäre gleichermassen zu schützen. Förder-
lich für eine Kommunikation entlang des Weges und in breiteren Vor-
gartenbereichen sind kurze Distanzen und niedrige Höhenunterschiede
zwischen den aneinandergrenzenden Bereichen. Rücken Gebäude und
Fenster im Erdgeschoss näher zueinander, kann es notwendig werden,
die einzelnen Bereiche stärker voneinander zu trennen. Grössere Höhen,
dichtere Ränder, weitere Abstände zueinander können — bewusst ein-
gesetzt — stärkere Trennung privater, halböffentlicher und öffentlicher
Abb. 3: Staffelung von privaten Gärten, Vorgärten und
der öffentlichen Strasse entlang der Landschaftsstruktur
Hangkante in Triesen (An der Halda).
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
Räume erzeugen. Die Abwechslung zwischen engen und breiteren Ab-
schnitten, umschlossenen und offenen Bereichen entlang gerader und
gekrümmter Hangkante wirkt für Autofahrer des als Erschliessungs-
strasse ausgebildeten Wegabschnittes tempobremsend (Abb. 3). Die
Landschaftsstruktur der Hangkante kann als Träger von Qualitäten be-
zeichnet werden, die planerisch eingesetzt werden können.
Unter welchen Rahmenbedingungen können
diese Qualitäten bei Siedlungsverdichtung eingesetzt
werden, wann nicht mehr?
Zwei Fallbeispiele von grossvolumigen Wohnhausanlagen sollen den
Umgang mit diesen Qualitäten und Potenzialen zeigen. Ihre Lage im
Siedlungsgefüge ist in Abb. 4 dargestellt. Die spezifische Qualität der
Landschaftsstruktur Hangkante kann anhand vorab definierter Kriterien
festgemacht werden. Darunter fallen Orientierung, funktionelle und
optische Gliederung, soziale Funktionen wie Aufenthaltsqualität, das
Unterstützen bzw. Erzeugen von Öffentlichkeitsabstufungen, Erlebbar-
Abb. 4: Übersicht der Fallbeispiele entlang der Landschaftsstruktur Hangkante in Triesen.
Grün: Fortschreibung der Hangkante im Siedlungsgefüge. Rot: Beseitigung der Hangkante
im öffentlichen Wegenetz.
SS ETC
Jr
=
BZ
375
Catarina Proidl
keit von Natur, Erlebbarkeit von Blickbeziehungen in Nähe und Ferne
und unterschiedliche Raumtiefen in der Bewegungsachse. Diese Krite-
rien sind die Messgrösse, wenn es zu baulicher Verdichtung entlang der
Landschaftsstruktur Hangkante kommt. So kann der transparente
Nachweis für bleibende räumliche Qualitäten im Quartier geführt wer-
den. Genauso können Ansatzpunkte gefunden werden, wenn diese Qua-
litäten nicht mehr gewährleistet sind.
Im Beispielfall einer Terrassensiedlung (Abb. 5 und 6) zeigt das
Überbauen dieser Hangkante und das Verebnen des Strassenraumes eine
Strukturverarmung im Verlauf der Siedlungsstrasse. Durch die Garagen-
sockelzone mit vorgelagerten Parkplätzen wirkt der Strassenraum sehr
breit und lässt Autofahrer den Horizont fixieren. Die Wahl der Einzel-
erschliessung durch aneinandergereihte Garagen lässt keinen gestalteri-
schen Spielraum für Baumpflanzungen und dergleichen zu. Die steil
ansteigende, in den Hang zurückversetzte Wohnbebauung hat ihre pri-
vaten Aussenräume erst ein Geschoss über der Strasse. Entlang der
öffentlichen Strasse abgestellte Autos und Müllcontainer laden nicht zur
Kommunikation und zum Verweilen ein. Ohne parkierte Fahrzeuge
wirkt der Strassenraum insgesamt mit der Fahrbahn überbreit. Das kön-
Abb. 5: Terrassensiedlung an der geraden und ebenen Haldenstrasse in Triesen. | Abb. 6: Lage
der Terrassensiedlung im Siedlungsgefüge.
376
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
nen selbst die kleinkronigen Bäume als einseitig gepflanzte Allee nicht
brechen. Autos fahren automatisch schneller. Der breitere Spielraum
Strasse wird für Kinder gefährlicher als in den schmalen Abschnitten.
Im zweiten Beispielfall handelt es sich um drei Punkthäuser (Ge-
schosswohnungsbau), die im Rahmen eines Überbauungsplanes entstan-
den sind. Am unteren östlichen Rand der Parzelle wurde ein öffentlicher
Fussweg mit Fortsetzung der Hangkante bewusst ins Aussenraumkon-
zept integriert. Der siedlungsgebundene Freiraum umfasst private Gar-
tenparzellen der Erdgeschosswohnungen direkt an den Gebäuden und
gemeinsam nutzbare halböffentliche Aussenräume, die in gewisser Dis-
tanz zu den Gärten auch Kinderspielflächen aufweisen. Diese siedlungs-
zugehörigen Aussenräume befinden sich auf einer Ebene, die durch
einen Geländesprung rund zwei Meter über dem öffentlichen Fussweg
liegt. Der Geländesprung stellt in Form einer mit Wildgehölzen
bepflanzten Böschung die fortgesetzte Landschaftsstruktur der Hang-
kante dar. Ein direkter Sichtbezug zwischen Weg und privaten Gärten ist
in diesem Bereich unterbunden und nur aus der Distanz der Wegfortset-
zung vorhanden. Somit kann für diese Bereiche auch deren Intimität
Abb. 7: Diese Wohnbebauung in Triesen nutzt das Potenzial der
Hangkantenstruktur. | Abb. 8: Lage der Wohnbebauung im Sied-
lungsgefüge.
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377
Catarina Proidl
gewahrt werden. Sichtbezug und damit auch Kommunikation zu den
gemeinsam genutzten Spielflächen und dem öffentlichen Weg ist an der
Böschungskante möglich und wünschenswert. Drei Einzelbäume bilden
an der oberen Hangkante den nötigen optischen Filter zu den Fenstern
weiter westlich anschliessender Bürogebäude und den angrenzenden
Autoabstellflächen. Gleichzeitig schaffen sie Raum und Schatten für den
gemeinsam genutzten Spielbereich dieser Häuser.
Trotz grossvolumigem Wohnbau konnten die Stellung der Ge-
bäude in der Parzelle und die Position der Tiefgarageneinfahrt so kom-
biniert werden, dass die übergeordnete Landschaftsstruktur optisch und
funktional im Gesamtverlauf erhalten blieb (Abb. 7 und 8). Der direkte
Grenzbereich der Bauparzelle weist eine in die Hangkante integrierte
Einfahrt auf, die langsam in die bewachsene Geländekante mit beglei-
tendem Fussweg übergeht. Die Bepflanzung führt den Feldgehölzcha-
rakter mit einheimischen Gehölzen der nördlich und südlich anschlies-
senden Abschnitte bewusst weiter und stärkt somit die gesamte Linie.
Hier konnte die Landschaftsstruktur «Hangkante mit Weg» mit allen ih-
ren Qualitäten und Potenzialen bei der Siedlungsverdichtung eingesetzt
und fortgeführt werden.
Fazit für die Siedlungsplanung
Bei Siedlungsverdichtungen in der Talebene sollte unter Zuhilfenahme
der erkannten Qualitäten der beschriebenen Landschaftsstrukturen und
deren räumlicher Funktion auf regionaler Ebene (Raumbildung, Raum-
gliederung, Leitfunktion) vorgegangen werden. In der Folge sind diese
auf städtebaulicher Ebene (Zusammenspiel mit Gebäudestrukturen und
ihrer Nutzung, Erzeugen und Unterstützen von Öffentlichkeitsintensi-
täten, Erlebbarkeit von Natur) als wesentlicher Bestandteil der sied-
lungsbaulichen Konzeption zu integrieren.
Die Strukturanalyse lässt eine Ordnung erkennen, die sich an
räumlichen Qualitäten und Potenzialen orientiert - von der regionalen
bis zur lokalen Massstabsebene. Gestaltendes und strukturierendes Ent-
werfen mit Komponenten der Landschaft kann räumliche Realität wer-
den, wenn zeitgleich die Rolle und Bedeutung der regionalen land-
schaftlichen Strukturen auf kleineren Massstabsebenen erkannt und in
den Entwicklungs- und Qualifizierungsprozess eingebunden werden.
378
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
Gemeindegrenzen überschreitend können regionale Landschaftsstruk-
turen ein Entwicklungsgerüst bilden. Entlang demselben können quar-
tierbezogene Qualitäten im Zusammenspiel mit der gebauten Umwelt
generiert und in bewährte Abfolgen gebracht werden. Landschaftsstruk-
turen können mit einem lokalen baulichen Eingriff bewusst gestärkt
werden und so selbstverständlicher Bestandteil urbaner Tallandschaft
bleiben.
Städtebau durch Landschaft — für qualitative
Siedlungsverdichtung das Wissen um die Bedeutung
der Landschaftsstrukturen nutzen
Zu den wesentlichen Erkenntnissen zählt, dass Landschaftsstrukturen
als Kombination aus funktionalen Netzen und Flächen sowie raum-
wirksamem Zusammenspiel von Topografie und Vegetation im spezifi-
schen Kontext der Tallandschaft im Alpenrheintal in Erscheinung treten.
Ein und dieselbe Landschaftsstruktur kann auf regionaler, städtebauli-
cher und lokaler Ebene unterschiedliche Beiträge zur Qualifizierung der
urbanen Landschaft im Alpenrheintal liefern - je nach Lage und Funk-
tion im Gesamtzusammenhang. Landschaftsstrukturen beinhalten trotz
unterschiedlicher räumlicher Ausprägung und Form (z.B. lineare Land-
schaftsstrukturen im Talraum) ein funktionales und gestalterisches
Zusammenspiel, das sie als übergeordnetes Leitelement auf regionaler
Ebene erkennen lässt. Ihre Beseitigung führt zu lokal spürbarer gestalte-
rischer und funktionaler Strukturverarmung von betroffenen Entwick-
lungsgebieten. An die Stelle eines Bedeutungszusammenhangs am kon-
kreten Ort sowie eines Zusammenhangs mit der weiteren Umgebung
treten oft beklagte Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Bauweisen und
Bauformen, die den jeweiligen regionalen Kontext der Landschaft kon-
zeptionell wie gestalterisch bei kleinräumigen baulichen Interventionen
nutzen, können auch bei höherer Dichte und zeitgenössischen Baufor-
men vorhandene Qualitäten bewusst «mitbauen» und damit den Ge-
samtkontext stärken.
379
Catarina Proidl
Ansatzpunkte im geltenden rechtlichen Instrumentarium
Das Fürstentum Liechtenstein besitzt als rechtlichen Rahmen der
Gemeinde- und Siedlungsentwicklung ein Baugesetz mit planungsrecht-
lichen Bestimmungen sowie eine zugehörige Bauverordnung. Darin wer-
den die Zuständigkeiten für grenzüberschreitende, landesweite und
gemeindeweite Planungen geregelt (Art. 91, 92, 93 Baugesetz). Die Orts-
planungsinstrumente der elf Gemeinden sind nach dem Detaillierungs-
grad und Verbindlichkeitscharakter abgestuft gereiht und unter Art. 5
des Baugesetzes angeführt: Der Richtplan, die Bauordnung mit Zonen-
plan, der Überbauungsplan sowie der Gestaltungsplan. Hierbei ist der
Richtplan ein langfristiges, Orientierung gebendes Planungsinstrument,
das über das gesamte Gemeindegebiet oder Teile desselben behördenver-
bindlich Entwicklungsabsichten für einen Zeitrahmen von rund 25 Jah-
ren vorgibt. Über inhaltliche Angaben zur «angestrebten Siedlungsge-
staltung, Siedlungsentwicklung und Siedlungsgliederung» (Art. 10 lit. b
Bauverordnung) können sowohl Verdichtungsperimeter als auch über-
geordnete Landschaftsstrukturen in einem Richtplan definiert werden.
Der Zonenplan, der Überbauungsplan sowie der Gestaltungsplan
sind eigentümerverbindliche Planungsinstrumente. Zonenplan und Bau-
ordnung (behördenverbindliches Planungsinstrument) schreiben für das
gesamte Gemeindegebiet die Art und zulässige Nutzung des Bodens
(Art. 4 Bauverordnung) fest. Überbauungsplanperimeter und Gestal-
tungsplanperimeter innerhalb des Baugebietes sind nach Art. 21 Abs. 2
des Baugesetzes unter anderem für die Sicherstellung der geordneten
und haushälterischen baulichen Entwicklung sowie des innerörtlichen
Freiraums bestimmt. Im Rahmen von Überbauungsplänen und Gestal-
tungsplänen werden heute bereits laufend bauliche Verdichtung und
optimierte Erschliessung betrieben. Diese beiden Planungsinstrumente
sind dem konkreten Baugeschehen am nächsten und daher für die Erhal-
tung und Gestaltung des siedlungsinternen Freiraums zentral. In diesen
Planungsinstrumenten können Gemeinden konkrete Fusswegverbin-
dungen durch verdichtete Quartiere führen, landschaftliche Strukturen,
öffentliche und halböffentliche Freiräume gestalterisch sinnvoll in eine
städtebauliche Setzung bringen. In Plandarstellungen sowie in den zuge-
hörigen Sonderbauvorschriften können Landschaftsstrukturen als we-
sentlicher Bestandteil des zu realisierenden Siedlungsteiles festgeschrie-
ben werden. An diesen Rahmen haben sich in der Folge einzelne Bauge-
380
Siedlungsverdichtung und übergeordnete Landschaftsstrukturen
suche im Zuge der Realisierung zu halten. Die Kontrolle erfolgt im Rah-
men der Baubewilligung.
Möchte man gemeindegrenzenüberschreitende Landschaftsstruk-
turen in ihrem jeweiligen Kontext langfristig erhalten oder mit einer
zum Beispiel baulichen Verdichtung innerhalb des Baugebietes weiter-
entwickeln, sind zwei Aspekte wesentlich: zum einen die zeitgerechte
gemeindegrenzenüberschreitende Abstimmung in übergeordneten Pla-
nungsinstrumenten (zum Beispiel zwei Gemeinderichtpläne) sowie die
Abstimmung mit den zuständigen Gemeinde- und Landesbehörden.
Damit kann eine Durchgängigkeit beispielsweise der linearen Land-
schaftsstrukturen im Gesamtverlauf sichergestellt werden. Zum anderen
liegt der Schlüssel zur gebauten Siedlungsqualität (realisierte qualitative
Verdichtung im Bestand) im gelungenen Zusammenspiel der Ortspla-
nungsinstrumente bis zum Einzelbauvorhaben. Richtpläne, Überbau-
ungspläne und Gestaltungspläne sowie einzelne Baugenehmigungen
müssen die angestrebten Qualitäten der Landschaftsstrukturen im Sied-
lungsgefüge im jeweiligen Massstab und in der jeweiligen Verbindlich-
keit sicherstellen.
381
Catarina Proidl
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Amt für Bau und Infrastruktur, Vaduz, Bearbeitung Catarina Proidl: S. 376 unten,
377 unten
Catarina Proidl: S. 373, 374, 376 oben, 377 oben
Swisstopo 25, Bearbeitung Catarina Proidl: S. 371, 375
383
V.
KIRCHE UND GESELLSCHAFT
Zur Matura ins Ausland — Liechtensteins
langer Weg zu höherer Schulbildung
Martina Sochin D’Elia
1. Zu den Anfängen des liechtensteinischen Schulwesens
Der Grundstein zum «modernen» Schulwesen wurde in Liechtenstein
mit einem Erlass der fürstlichen Hofkanzlei vom 18. September 1805
gelegt. Diese fürstliche Verordnung führte die Schulpflicht für sieben-
bis dreizehnjährige Kinder ein. Georg Malin hat sie in seiner Disserta-
tion als Geburtsstunde der allgemeinen Schulbildung in Liechtenstein
bezeichnet.! Der fürstliche Erlass legte fest, dass jede Gemeinde über ein
Schulhaus und einen «tauglichen Lehrer» zu verfügen habe; ebenso hät-
ten die Gemeinden für die Besoldung der Lehrer aufzukommen.
Im Jahr darauf, 1806, wurde der Erlass in einer ausführlichen
Schulordnung noch genauer geregelt. Als Unterrichtsfächer wurden
Religion, Schreiben, Lesen und Rechnen festgelegt. In der sogenannten
Winterschule von Martini bis Georgi (11. November bis 23. April) hatte
der Unterricht an sämtlichen Wochentagen — inklusive Samstag — statt-
zufinden. Unterrichtsbeginn war um 8 Uhr morgens. Zuvor besuchten
die Kinder in Begleitung des Lehrers die Messe. In der sogenannten
Sommerschule hingegen, die entsprechend von Georgi bis Martini dau-
erte, fand der Unterricht jeweils nur am Montag-, Mittwoch- und Frei-
tagvormittag statt. Zudem wurde der Unterricht hier nach Alter aufge-
teilt. Die schon etwas Älteren hatten sich um 6 Uhr morgens zu versam-
meln, um dann, nach dem Besuch der Kirche, um halb 7 mit dem
Unterricht zu beginnen. Der Unterricht dauerte bloss zwei Stunden und
wurde ab 9 Uhr morgens für die jüngeren Jahrgänge weitergeführt. Zur
Zeit der Heuernte waren zwei Wochen «Vakanz» vorgesehen, damit die
1 Malin, Politische Geschichte, S. 91.
387
Martina Sochin D’Elia
Kinder den «Eltern helfen können»?. Mit Vollendung des 12. Lebensjah-
res war man von dieser Schulpflicht befreit, musste weiterhin aber bis
zum Alter von 20 Jahren am Sonntagnachmittag die sogenannte Sonn-
tagsschule, einen Wiederholungsunterricht, besuchen.*
Die genannten Zugeständnisse an die bäuerliche Gesellschaft
Liechtensteins waren wesentlicher Bestandteil der erfolgreichen Durch-
setzung der Schulpflicht. Im Verständnis der kleinbäuerlichen Bevölke-
rung galt die Arbeitskraft der Kinder als viel wichtiger als deren Schul-
bildung. Den Kindern wurde in der Schulordnung deshalb neben dem
Schulunterricht jahreszeitabhängig genügend Zeit eingeräumt, auf dem
elterlichen Hof mitzuarbeiten. Nichtsdestotrotz blieb das Verständnis
der bäuerlichen Bevölkerung dem Schulunterricht gegenüber gering. Ein
Zusammenhang zwischen guter Bildung und einer womöglich daraus
resultierenden zukünftigen besseren Lebenssituation wurde oft nicht
erkannt. Trotz der Schulpflicht wurde der Schulbesuch oft vernachläs-
sigt. Unentschuldigte Absenzen vom Unterricht waren gang und gäbe.
Dafür waren wohl oft die Eltern verantwortlich, die die Kinder lieber bei
der Feldarbeit sahen, als sie in die Schule zu schicken. Auch weigerten
sich viele Gemeinden, ein für den Unterricht geeignetes Schulhaus zu
erbauen. Diese Forderung war in den meisten Gemeinden erst ab Mitte
des 19. Jahrhunderts erfüllt.* Landvogt Josef Schuppler stellte zu Beginn
des 19. Jahrhunderts konsterniert und gleichzeitig aber optimistisch für
die Zukunft fest: «So kann die Bildung, da soviele [sic!] Hindernisse
bekämpft werden müssen, nur langsam vorwärts schreiten, weswegen
ihr Gutes erst in künftigen Generationen bemerkbar sein wird.»> Die
Grundschulbildung in Liechtenstein blieb wohl auch aus diesen Grün-
den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sehr tiefem Niveau. Als
oberste Priorität der Gesellschaft galt die Erziehung der Schüler zu
frommen Christen und gehorsamen Untertanen.
Die fürstliche Verordnung sowie die im folgenden Jahr eingeführte
Schulordnung verdeutlichen neben der neuen Wichtigkeit, die dem Bil-
dungswesen zuteilwurde, auch die Kompetenzverschiebung, die damit
Malin, Politische Geschichte, S. 85.
Malin, Politische Geschichte, S. 83-86.
Bleyle, Schulwesen, in: HLFL, S. 861.
Schuppler zitiert in Malin, Politische Geschichte, S. 92.
SUN
388
Zur Matura ins Ausland
stattfand. Das Schulwesen wurde zentralisiert, war also fortan nicht
mehr Gemeinde-, sondern Landessache und unterstand damit dem
Oberamt. Als Kontrollinstanz zwischengeschaltet waren die Ortsgeist-
lichen, denen damit weitreichende Befugnisse wie die Beaufsichtigung
der Lehrer, die Kontrolle des Unterrichts sowie allgemein die Verwal-
tung der Schule zugestanden wurden.“
Liechtenstein hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der gesetz-
lichen Einführung der Schulpflicht einen Schritt gewagt, wie er bei-
spielsweise in der Schweiz (1874) oder in Deutschland (1919) auf Bun-
desebene erst etliche Jahrzehnte später vollzogen wurde.’ Die kulturelle
Nähe Liechtensteins zu Österreich, welches die Schulpflicht mit der
Theresianischen Schulreform schon 1775 eingeführt hatte, spielte dabei
sicherlich eine wesentliche Rolle.
2. Möglichkeiten höherer Bildung im 19. und
zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Für alle diejenigen Knaben, die einen über die Pflichtschuljahre hinaus-
gehenden Bildungsstand anstrebten und deren Eltern über das dafür
notwendige Verständnis verfügten, gab es in Liechtenstein selbst keine
Möglichkeiten. Zwar führte ab 1859 ein neues Schulgesetz zu einer Ver-
besserung der Bildungslandschaft.® Auch gab es ab 1858 in Vaduz eine
sogenannte Landeshauptschule. Eine höhere Bildungsanstalt, sprich ein
Gymnasium, existierte aber nicht. Das Collegium Marianum als erste
gymnasiale Einrichtung in Liechtenstein wurde erst 1937 gegründet. So
war Liechtenstein — und ist es auch heute noch - bildungstechnisch gese-
hen stark vom Ausland abhängig.? Wer vor 1937 eine gymnasiale Aus-
6 Diese ganz wesentliche Einbindung der Geistlichkeit in die Verwaltung und Kon-
trollaufsicht des Liechtensteiner Schulwesens fand erst mit der Schulreform von
1971 ein Ende.
Grunder, Schulwesen; Reyer, Geschichte des Kindergartens, S. 18.
Schulgesetz vom 8. Februar 1859.
9 Auch heute kann beispielsweise eine Berufsschule oder eine Pädagogische Hoch-
schule zur Erlernung des Lehrerberufs nur im Ausland besucht werden. Zudem gibt
es zwar seit 2011 eine Universität (ab 1997 «Fachhochschule Liechtenstein», ab 2005
«Hochschule Liechtenstein»), deren Studiengänge umfassen aber lediglich die Be-
N
389
Martina Sochin D’Elia
bildung absolvieren wollte, war dementsprechend auf eine Bildungsein-
richtung im Ausland angewiesen. Den Mädchen war eine gymnasiale
Ausbildung in Liechtenstein selbst sogar bis 1968 verwehrt.
Schon seit 1649 gab es im nahe gelegenen Feldkirch ein Jesuiten-
gymnasium,'° ab 1854 zudem auch das Privatgymnasium Stella Matu-
tina. Im Zeitraum von 1777 bis 1848 besuchten insgesamt 22 Schüler
liechtensteinischer Herkunft das Jesuitengymnasium in Feldkirch, von
1850 bis zur Jahrhundertwende dann 50.!! Ärzte und Landesangestellte
schickten ihre Söhne gerne nach Feldkirch ans Jesuitengymnasium. So
finden sich bekannte Namen in den Klassenlisten. Ein Sohn von Land-
vogt Josef Schuppler beispielsweise besuchte das Gymnasium in Feld-
kirch,!? ebenso wie Peter Kaiser während zwei Jahren Schüler in Feld-
kirch war, bevor er ab 1810 das Gymnasium in Wien besuchte.!* Zusam-
men mit Peter Kaiser waren auch Johann Michael Menzinger, späterer
Landvogt,'* und Franz Josef Öhri, der als Reaktion auf Peter Kaiser 1848
ebenfalls einen Verfassungsentwurf präsentierte,!* am Gymnasium in
Feldkirch. Und auch Josef Peer, der ab 1920 in seiner Rolle als Landes-
verweser eine Regierungsvorlage für die Verfassung von 1921 erarbei-
tete,'° war in Feldkirch ans Gymnasium gegangen. Beliebt war die gym-
nasiale Ausbildung in Feldkirch jedoch nicht nur bei den oberen Schich-
ten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen zunehmend Eltern, deren
Bildungshintergrund ein einfacherer war, die Bedeutung einer guten
Ausbildung für zumindest einen ihrer Söhne — meistens den ältesten —
erkannt zu haben. Ab 1850 wird die Liste von Buben, deren Väter eine
handwerkliche oder eine landwirtschaftliche Tätigkeit ausübten, zuneh-
mend länger.
reiche Architektur und Wirtschaftswissenschaften (ohne Volkswirtschaftslehre).
Siehe Bleyle, Universität Liechtenstein, in: HLFL, S. 969.
10 Das Jesuitengymnasium löste die seit ca. 1400 bestehende Lateinschule ab. Seit dem
15. Jahrhundert sind Studenten aus Vaduz-Schellenberg an der Lateinschule belegt.
11 Bleyle, Gymnasium in Feldkirch, S. 81-89. Nicht alle davon schlossen das Gymna-
sium zwingend mit der Matura ab.
12 Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Wilhelm Franz Schuppler,
der von 1823 bis 1827 Gymnasiast in Feldkirch war, ein Sohn von Josef Schuppler ist.
13 Zu Peter Kaiser siehe Vogt, Peter Kaiser, in: HLFL, S. 416 —418.
14 Burmeister, Johann Michael Menzinger, in: HLFL, S. 612-613.
15 Steinacher, Franz Josef Öhri, in: HLFL, S. 674.
16 Quaderer, Josef Peer, in: HLFL, S. 696697.
390
Zur Matura ins Ausland
Es waren jedoch nicht immer ausschliesslich die intellektuellen Fähig-
keiten des Kindes, die über den Besuch einer höheren Bildungseinrich-
tung entschieden. In Liechtenstein herrschte im 19. Jahrhundert Armut.
Bargeld war kaum vorhanden. Ein regelmässiges Einkommen fehlte
meistens. So war es in vielen Fällen schlicht unmöglich, auch nur einem
Kind eine höhere, gymnasiale Ausbildung zukommen zu lassen, für die
in der Regel am betreffenden Schulort Kost und Logis bezahlt werden
musste. Die Familien waren auf Stipendien von aussen angewiesen, die
aber die Kosten meistens nicht vollumfänglich deckten. Und auch dann
noch bedurfte es eines Kraftaktes der ganzen Familie, damit dem meist
ältesten Sohn der Besuch des Gymnasiums finanziert werden konnte.
Vielfach waren es die Dorfpfarrer oder die Lehrer, die die Familien
bei ihrer Entscheidung, ob der Sohn in ein Gymnasium wechseln sollte
oder nicht, unterstützten oder sogar für sie entschieden. Bei begabten,
aber in ärmlichen Verhältnissen lebenden Schülern versuchte man, die El-
tern mittels eines möglichen Stipendiums von der Machbarkeit zu über-
zeugen. Der Dorfpfarrer war auch meistens derjenige, der die angehen-
den Gymnasiasten ausserschulisch mit zusätzlichen Deutsch- und La-
teinkenntnissen versah. Ein eventuelles späteres Theologiestudium der
Gymnasiasten war dabei sicherlich ein Hintergedanke der Geistlichen.!
3. Die Bedeutung von (katholischen) Internatsschulen
Wie in Liechtenstein war auch das Schulwesen in der Schweiz stark vom
Katholizismus geprägt. Einige der in der Schweiz heute noch bestehen-
den (Kloster-)Schulen wurden im Mittelalter — oder auch schon früher —
gegründet. So gibt es beispielsweise Belege dafür, dass das Gymnasium
in Saint-Maurice schon zu Beginn des 6. Jahrhunderts existierte. Die
Klosterschulen in Einsiedeln, Engelberg und Disentis datieren aus dem
10., 12. respektive 13. Jahrhundert.!® Auch wenn eine grosse Anzahl die-
ser Schulen während der Reformationszeit in ihrer Existenz gefährdet
war, erlebten sie spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen
(Wieder-)Aufschwung. In der Schweiz wurde mit dem Ende des Kultur-
17 Bleyle, Gymnasium in Feldkirch, S. 109.
18 Bischofberger, Katholische Gymnasien im Wandel, S. 59-60.
391
Martina Sochin D’Elia
kampfes‘? eine Reihe katholischer Schulen gegründet, deren Beliebtheit
Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte.” Die Kollegien
und Institute waren in ihren Anfängen vornehmlich zur Rekrutierung
und Ausbildung des eigenen Ordensnachwuchses bestimmt gewesen.
Mit der Zeit erlangten jedoch viele von ihnen eine grosse Bedeutung für
die katholische Schuljugend.?! Römisch-katholische Eltern sollten dem
Verständnis der damaligen Zeit zufolge für ihren Nachwuchs nicht
irgendeine Schule wählen, sondern eben eine katholische Schule, die die
entsprechenden konfessionell erwünschten Verhaltensweisen und Werte
an ihre Schüler vermittelte.”
Die Situation der katholischen (Internats-)Schulen hat sich seit den
1960er-Jahren stark gewandelt. Den Schulen in kirchlicher Trägerschaft
machte der Mangel an ordenseigenem Nachwuchs an Lehrkräften zu
schaffen und die Anzahl der Schliessungen oder Verstaatlichungen von
katholisch geprägten Bildungseinrichtungen nahm kontinuierlich zu.
Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das Bildungsange-
bot an öffentlichen Schulen in den Rekrutierungsgebieten der katholi-
schen Gymnasien und Institute massiv erweitert, wie sich auch die von
Kongregationen und Orden geleiteten Schulen den Umständen der Zeit
anpassten, indem sich die Internate öffneten und das andere Geschlecht
zugelassen wurde. Bruno Santini-Amgarten hat diesen Wandel als
«schwere Krise» im katholischen Bildungswesen beschrieben. Heute
sehen sich die katholischen Schulen häufig als Alternative in einer Welt,
in der christliche Grundwerte zu kurz kommen.” Als «Alternativ-Schu-
len» mit dem Leitbild einer christlichen Pädagogik wollen sie im alther-
gebrachten Sinne nicht nur Wissen vermitteln, sondern den Menschen
ganzheitlich fördern**. Sie müssen sich dabei aber vielfach gegen ein
19 Der Kulturkampf umschreibt eine religiös-weltanschauliche Auseinandersetzung
zwischen der Katholischen Kirche und dem politischen Katholizismus einerseits
und dem Staat andererseits. In der Schweiz wurde das Ende des Kulturkampfes mit
der Annahme der Bundesverfassung 1874 eingeläutet. Siehe Franz Xaver Bischof,
Kulturkampf.
20 Santini-Amgarten, Katholische Schulen im Spannungsfeld, S. 45. Siehe auch Braun,
Klosterschulen.
21 Braun, Religiöse Kongregationen, S. 51.
22 Altermatt, Katholizismus und Moderne, 5. 263.
23 Santini-Amgarten, Katholische Schulen im Spannungsfeld, S. 39-41.
24 Katholische Schulen, in: Schweizer Lexikon, Bd. 3, Luzern 1992, S. 782.
392
Zur Matura ins Ausland
Image wehren, das auf ein Abdrängen in den Sonderschulstatus hinaus-
läuft. Schulische Probleme an staatlichen Schulen — seien sie nun leis-
tungsbezogener oder erzieherischer Natur — führen heute häufig dazu,
dass Eltern ihre Kinder in eine (katholische) Privatschule mit ange-
schlossenem Internat schicken.”
4. Zur Matura ins Ausland
Vom heute häufig heraufbeschworenen Ruf vieler konfessionell gepräg-
ter Schulen als Sonderschulen konnte im 19. Jahrhundert und in der ers-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Durch das Fehlen
einer gymnasialen Ausbildungsanstalt auf liechtensteinischem Boden bis
in die 1930er-Jahre kam den österreichischen und schweizerischen Inter-
natsschulen ein hoher Stellenwert zu. Liechtensteiner Buben, die die
Matura erlangen wollten, mussten vor 1937 zwingend ins Ausland. Die
liechtensteinischen Mädchen mussten dies auch, mit dem Unterschied,
dass dieser Zustand bei ihnen noch einige Jahrzehnte länger andauerte.
Dass die Eltern für ihren Nachwuchs meist eine katholische Internats-
schule auswählten, lag im katholisch-konservativ geprägten Liechten-
stein auf der Hand. Aber auch nach der Gründung des Collegium Maria-
num (späteres Liechtensteinisches Gymnasium) behielten die auswärti-
gen gymnasialen Internatsschulen und Lehrerseminare ihre Wichtigkeit.
Ihre Bedeutung für die Ausbildung des (männlichen) liechtensteinischen
Nachwuchses verloren sie erst ab den 1960er-Jahren. Die beginnende
Säkularisierung und eine gleichzeitig stattfindende Demokratisierung
der Bildungslandschaft vor dem Hintergrund, dass die Erlangung der
Matura nun auch in Liechtenstein selbst möglich war, führte zu einem
generellen Rückgang an Schülern, nicht nur aus Liechtenstein.
Das Kollegium Maria Hilf in Schwyz - im Jahr 1856 als «Lehran-
stalt für Knaben mit Internat» gegründet” — war beispielsweise eines
25 Santini-Amgarten, Katholische Schulen im Spannungsfeld, S. 54.
26 Die Kantonsschule Kollegium Schwyz (ehemals Kollegium Maria Hilf) nennt auf
ihrer Website das Gründungsjahr 1856, während bei Graham Martin das Jahr 1858
genannt wird. Siehe Martin, Bildungswesen Liechtenstein, S. 141, und www.kks.ch/
kantonsschule/geschichte-der-schule/geschichte (2. Mai 2016).
393
Martina Sochin D’Elia
derjenigen Institute, das einen konstanten Zulauf an Liechtensteinern
verzeichnen konnte. Seit seinen Gründungsjahren waren kontinuierlich
Liechtensteiner am dortigen Gymnasium eingeschrieben, auch wenn
deren Anzahl dem Wortlaut von Graham Martin zufolge zu keiner Zeit
«sehr gross» war.” Gleichzeitig gab es immer wieder Liechtensteiner, die
am Kollegium Maria Hilf als Lehrer eine Anstellung fanden. So bei-
spielsweise Franz Josef Kind (1850-1911), der in Feldkirch das k.k.
Gymnasium wie auch die «Stella Matutina» besucht hatte und dann nach
einem Studium der Philosophie und Theologie in Rom im Mai 1875 die
Priesterweihe erhielt. Er amtete von 1876 bis 1885 als Lehrer am Kolle-
gium Maria Hilf, bevor er verschiedene Aufgaben in der Heimat erfüllte
und in letzter Station vor seinem Tod als seit Jahrhunderten erster Dom-
herr aus Liechtenstein in Chur waltete.?® Rudolf Meier (1898-1957) war
über zwanzig Jahre lang Lehrer am Kollegium, bevor er Landesschul-
kommissär wurde.?® Ebenso amteten Johann Baptist Büchel
(1853-1927), Priester, Landtagsabgeordneter sowie Historiker,” wie
auch Anton Frommelt (1895-1975), Priester, Politiker und Künstler,“
oder Ernst Nigg (1920-2001), Priester und Landesschulkommissär, als
Lehrer oder Präfekten am Kollegium Maria Hilf, ” um nur einige zu
nennen. Ernst Nigg hatte schon das Gymnasium in Schwyz besucht, wie
beispielsweise auch Otto Schädler (1898-1965), Arzt, Landtagsabgeord-
neter und Mitbegründer des Liechtensteinischen Heimatdienstes.®
Eine spezielle Stellung hatte das Gymnasium Untere Waid der
Salettinerpatres in Mörschwil (SG). Seit 1935 war das Haus Gutenberg
in Balzers im Besitz der Salettiner, wo von 1935 bis 1939 auch ein Pro-
gymnasium geführt wurde, das das von ihnen geleitete Untergymnasium
Untere Waid in Mörschwil erweiterte. Ab 1954 führten die Salettiner das
Gymnasium Untere Waid als Vollgymnasium, wobei die letzten zwei
27 Martin, Bildungswesen Liechtenstein, S. 141. Das Kollegium Maria Hilf führte nicht
nur ein Gymnasium, sondern auch eine Handelsschule, eine sogenannte Industrie-
schule sowie eine Sekundarschule.
28 Näscher, Franz Josef Kind, in: HLFL, S. 435.
29 Näscher, Rudolf Meier, in: HLFL, 5. 610.
30 [Burmeister], Johann Baptist Büchel, in: HLFL, S. 124-125.
31 Vogt-Frommelt, Anton Frommelt, in: HLFL, S. 253-254.
32 Näscher, Ernst Nigg, in: HLFL, S. 651.
33 Schremser, Otto Schädler, in: HLFL, S. 831-832.
394
Zur Matura ins Ausland
Klassen auf Gutenberg unterrichtet wurden.“ Einige Schüler aus Liech-
tenstein — oft aus Balzers stammend — besuchten das Gymnasium Untere
Waid, wie beispielsweise Arthur Brunhart (*1952), Historiker und
Landtagspräsident,® Hans Brunhart (*1945), Landesbibliothekar, Regie-
rungschef-Stellvertreter und während fünfzehn Jahren Regierungschef,*®
Rainer Nägele (*1943), Professor und Schriftsteller,” oder Herbert Wille
(*1944), Regierungschef-Stellvertreter, Vorsitzender der Verwaltungsbe-
schwerdeinstanz und später Forscher am Liechtenstein-Institut.®®
Darüber hinaus gab es im 19. und 20. Jahrhundert noch eine Reihe
anderer Internate, die von liechtensteinischen Buben zur Erlangung der
Maturität besucht wurden. So etwa das Gymnasium in Mehrerau bei
Bregenz. Alois Vogt (1906—1988)* beispielsweise, der Mitbegründer des
Liechtensteinischen Heimatdienstes und der Liechtensteinischen Aka-
demischen Verbindung Rheinmark war, in den Kriegsjahren als Regie-
rungschef-Stellvertreter und später als Landtagsabgeordneter amtete
sowie zeit seines Lebens politisch sehr aktiv war, hatte in Mehrerau die
Matura erlangt, bevor er in Innsbruck, Freiburg i. Ue. und Wien Rechts-
wissenschaften studierte.
Die benediktinische Klosterschule in Disentis, die benediktini-
schen Stiftsschulen in Einsiedeln oder Engelberg, das Kollegium St. Fi-
delis in Stans, aber auch das Gymnasium in Immensee waren Orte, an
die es den liechtensteinischen Nachwuchs zur Erlangung der Matura
hinzog. Georg Malin (*1926) beispielsweise war in Disentis, bevor er in
Zürich und Freiburg i.Ue. Geschichte, Kunstgeschichte und Philoso-
phie studierte.“ Das von Benediktinermönchen geführte Disentis ist
eine derjenigen Klosterschulen, die den Sprung von der Vergangenheit in
die Gegenwart geschafft haben und sich nach wie vor reger Beliebtheit
erfreuen. Josef Hoop (1895-1959), Regierungschef während der Zwi-
schenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg, Landtagspräsident und
34 Mäder, Gutenberg, in: HLFL, S. 321-322.
35 Redaktion, Arthur Brunhart, in: HLFL, S. 118-119.
36 Redaktion, Hans Brunhart, in: HLFL, S. 119-120.
37 Redaktion, Rainer Nägele, in: HLFL, S. 641.
38 Redaktion, Herbert Wille, in: HLFL, S. 1061.
39 Schremser, Alois Vogt, in: HLFL, S. 1014-1015.
40 Vogt-Frommelt, Georg Malin, in: HLFL, S. 579.
395
Martina Sochin D’Elia
Staatsgerichtshofpräsident, besuchte das Kollegium in Stans.“ Anton
Frommelt, der, wie oben beschrieben, später am Kollegium Maria Hilf
tätig war, hatte in Stans die Maturität erlangt. Robert Allgäuer (*1937)
ging in Stans und Immensee ans Gymnasium.“ In Immensee beispiels-
weise maturierte auch Martin Risch (1899-1970), Landesphysikus,
Landtagsabgeordneter und Landtagspräsident.“ Fürst Hans-Adam II.
(*1945) sowie sein Bruder Prinz Nikolaus (*1947) gingen in Wien und
am Alpinum in Zuoz ans Gymnasium.“
Die Reihe an männlichen Persönlichkeiten, die Liechtenstein auf
die eine oder andere Weise prägten und die ihre Matura an einer auslän-
dischen Internatsschule erlangt hatten, liesse sich beliebig fortsetzen.
Nicht genannt wurden in dieser Aufzählung beispielsweise die zahlrei-
chen Männer, die an einer der oben erwähnten Klosterschulen nicht nur
die Matura erlangten, sondern auch ihre Berufung fanden und nach der
Maturität ein Theologiestudium in Angriff nahmen und später die Pries-
terweihe erhielten.
5. Und die Mädchen?
In einer Zeit, in der eine höhere Ausbildung für Buben häufig am man-
gelnden Verständnis der Eltern, aus Kostengründen oder einfach auf-
grund der Tatsache, dass der männliche Nachwuchs als Hilfskraft im
eigenen Betrieb beziehungsweise auf dem eigenen Hof gefordert war,
scheiterte, stand nicht zur Diskussion, einem Mädchen eine gymnasiale
Ausbildung zukommen zu lassen. In Liechtenstein hat sich vor diesem
Hintergrund das Mädchenschulwesen erst ausserordentlich spät ent-
wickelt, wenn man dies mit anderen deutschsprachigen Ländern ver-
gleicht. Wie für die Buben galt auch für die Mädchen seit Beginn
des 19. Jahrhunderts die Schulpflicht. Allerdings kann deren Teilnahme
41 Geiger, Josef Hoop, in: HLFL, S. 378-379.
42 Redaktion, Robert Allgäuer, in: HLFL, S. 11.
43 Büchel, Martin Risch, in: HLFL, S. 771-772.
44 Redaktion, Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein, in: HLFL, S. 539-540; Re-
daktion, Prinz Nikolaus von und zu Liechtenstein, in: HLFL, S. 550.
396
Zur Matura ins Ausland
am Unterricht als nicht so selbstverständlich angesehen werden wie die
der Buben.“
Einem Ansuchen von Eltern im Jahr 1941, Mädchen am Collegium
Marianum zuzulassen, wurde vom Landesschulrat nicht stattgegeben.“
Immerhin war es der weiblichen liechtensteinischen Jugend ab 1941
erlaubt, das Gymnasium in Feldkirch zu besuchen. Diese Möglichkeit
t.” In einer Zeit, da noch
wurde von einzelnen Schülerinnen auch genutz
kaum ein Postauto zwischen Liechtenstein und Feldkirch verkehrte,
kann nur schon die Bewältigung des Schulweges als mühsam bezeichnet
werden; hinzu kam das noch dazumal weitestgehend fehlende Verständ-
nis der Bevölkerung in Liechtenstein für eine höhere Ausbildung von
Frauen. Dass es an diesem Verständnis - sowie an der Nachfrage — auch
Mitte des 20. Jahrhunderts noch stark mangelte, zeigt der Versuch der
Schwesternkongregation «Anbeterinnen des Blutes Christi», am Institut
St. Elisabeth in Schaan im Jahr 1942 ein Mädchengymnasium zu reali-
sieren. Nach nur vier Jahren musste dieses Mädchengymnasium auf-
grund der fehlenden Nachfrage wieder geschlossen werden. Und als die
Schwesternkongregation das Gymnasium 1946 in eine Höhere Töchter-
schule überführte, schlussfolgerte die Regierung: «[...] eine gut geführte
Töchternschule [sic!] kann sich für unser Land nur segensreich auswir-
ken und ist bestimmt eine bessere Lösung als die Führung eines Mäd-
chengymnasiums.>»*8
Mit dieser Ansicht stand das Land Liechtenstein nicht alleine da.
Auch in der Schweiz existierten zwar zahlreiche von Schwesternkongre-
gationen geführte Mädchenpensionate. Meistens handelte es sich dabei
aber um Handelsschulen, Haushaltungsschulen oder Höhere Töchterin-
stitute. Nur in wenigen Fällen führten Lehrschwestern in einem solchen
Zusammenhang auch ein Gymnasium. Für das Gymnasium der Lehr-
schwestern in Menzingen beispielsweise sind in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts bei Graham Martin vereinzelt Liechtensteiner Gymna-
45 Sochin, «Du Mägdlein höre!», S. 35f.
46 © Liechtensteinisches Gymnasium, 50 Jahre Gymnasium, S. 38-39.
47 Büchel, Frauenfrage, S. 23.
48 Rechenschaftsbericht der Regierung 1945, S. 73.
397
Martina Sochin D’Elia
siastinnen belegt oder etwa auch für die Academie Sainte-Croix in Frei-
burg i. Üe. wie auch das Institut Stella Maris in Rorschach.“
Mit der Zulassung von Mädchen ans Liechtensteinische Gymna-
sıum im Jahre 1968 wurde für sie der Weg für die Erlangung der Matu-
rität ım Land geregelt. Seither haben die Mädchen kontinuierlich aufge-
holt: Heute sind mehr als die Hälfte der Gymnasiasten und Gymnasıias-
tinnen Mädchen.
49 Martin, Bildungswesen Liechtenstein, S. 147. Konkrete Namen konnten dazu leider
keine ausfindig gemacht werden.
50 Amt für Statistik, Bildungsstatistik 2015, S. 36.
398
Zur Matura ins Ausland
ONLINE-QUELLEN
Verordnung zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht vom 18. September 1805, LLA
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Schulgesetz vom 8. Februar 1859, LLA SgRV 1859 (www.e-archiv.li/D42365, 27. April
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400
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform:
Erinnerungen an Disentis
Günther Boss
Disentis - Kloster Disentis — Benediktiner: Diese Assoziationen ver-
binde ich spontan mit der Person von Georg Malin. Das Benediktiner-
kloster in Disentis ist ein gemeinsamer Schnittpunkt zwischen der Bio-
grafie Georg Malins und meinem eigenen Lebenskreis. Wie man dem
Lebenslauf Georg Malins entnehmen kann, arbeitete bereits sein Vater
Josef als Stuckateur in der Barockkirche des Klosters in der bündneri-
schen Surselva. Sein Onkel Georg war als Pater Benedikt Mitglied der
Klostergemeinschaft und unterrichtete an der Klosterschule Mathematik
und Naturwissenschaften. Georg Malin selbst hat am Gymnasium des
Klosters maturiert. Bis heute ist den Mönchen und Besuchern der Abtei
Disentis der Name Georg Malin vertraut: In den 1980er-Jahren gestal-
tete Malin den östlichen Innenhof der Klosteranlage. Mit dem «X-Wür-
fel» begann dort seine bekannte Buchstabenserie. Das X ist zugleich das
Emblem des Klosters Disentis.
Kloster auf Zeit
Die Abtei Disentis blickt auf eine lange und ungebrochene Tradition
zurück. Das Kloster wurde in merowingischer Zeit, um das Jahr 720,
gegründet. Im Jahr 2014 feierte man am Vorderrhein unter dem Motto
«Stabilitas in progressu» (Beständigkeit im Voranschreiten) 1400 Jahre
Kloster Disentis. Generationen von Mönchen haben dort das Leben im
Geiste Benedikts gestaltet und damit die Kultur und Gesellschaft weit
über diese bündnerische Bergregion hinaus geprägt.
Für diese Festschrift möchte ich einige ausgewählte Aspekte bene-
diktinischer Lebensform für heute erschliessen. Sicherlich gibt es beru-
fenere Stimmen für benediktinische Spiritualität. Aber ich empfinde eine
persönliche Verbundenheit mit dem Kloster Disentis und dem benedik-
401
Günther Boss
tinischen Geist. Während des Theologiestudiums durfte ich mehrmals
einige Wochen in der Gemeinschaft von Disentis verbringen. Als Gast
des Klosters erlebte ich das, was heute unter dem Label «Kloster auf
Zeit» bekannt und geschätzt ist. So sind diese Zeilen hier durchaus per-
sönlich und narrativ gefärbt — aber doch so, dass sie auch allgemeingül-
tige Impulse des benediktinischen Lebenskonzepts freilegen sollen.
Übrigens bietet auch das Kloster Disentis gegenwärtig «Kloster auf
Zeit» an. Auf der ansprechend gestalteten Website finden sich entspre-
chende Informationen sowie viele weitere Einblicke in die Geschichte
und Gegenwart der Abtei (www.kloster-disentis.ch). Sicherlich bestehen
auch vergleichbare Angebote für Frauen in den verschiedenen Gemein-
schaften der Benediktinerinnen.
Benediktiner — Franziskaner — Jesuiten
Zugang zum Kloster Disentis eröffnete mir vor allem Pater Dr. Bruno
Rieder OSB, ein Neffe des langjährigen Maurer Pfarrers Markus Rieder.
«OSB» steht für das lateinische Ordo Sancti Benedicti, also Orden des
heiligen Benedikt. Kennengelernt haben wir uns 1992/93 in München,
an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten. Die Jesuiten und deren
Gründer Ignatius von Loyola — das wäre wieder ein anderes Thema, ein
weites Feld. Während die Wurzeln der Benediktiner bis in die Antike
und bis zu den frühen Wüstenvätern zurückreichen, sind die Jesuiten der
klassische Orden der Neuzeit, gegründet im 16. Jahrhundert. Mit Papst
Franziskus haben wir ja seit 2013 den ersten Jesuiten auf dem Stuhl Petri.
Viele Theologen sind davon überzeugt, dass die Erneuerung der
Kirche auch heute, wie so oft in der Kirchengeschichte, aus den Ordens-
gemeinschaften und ihren bewährten Spiritualitätstormen kommen
wird. Auch hierfür ist Papst Franziskus ein sprechender Beweis. Er
rückt das Jesuitische allerdings bewusst nicht explizit in den Vorder-
grund — wohl um kein Misstrauen oder keine Missgunst bei anderen
Ordenstraditionen zu wecken. Bei genauerem Hinsehen wird man je-
denfalls starke ignatianische Impulse bei Papst Franziskus finden kön-
nen — ignatianische Impulse, die er mit Anleihen etwa in der franziska-
nischen Tradition bereichert. Die Franziskaner liegen geistesgeschicht-
lich zwischen den Benediktinern und den Jesuiten; sie haben ihre
Wurzeln in der Armutsbewegung des 13. Jahrhunderts. Mit dem Namen
402
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
«Franziskus» betreibt der Jesuitenpater Jorge Mario Bergoglio sozusa-
gen ordensverbindende Politik.
Man sieht allein an diesen drei grossen Ordenstraditionen — Bene-
diktiner, Franziskaner und Jesuiten —-, wie vielfältig die Lebensformen
und Denktraditionen innerhalb der Kirche sein können. Das Bild ist
durchaus vielgestaltig und bunt. Die Breite der Lebensformen innerhalb
des Christentums zeigt auch den Reichtum und die enorme Spannweite
möglicher Verwirklichungen christlicher Existenz auf.
Pater Bruno
Bruno Rieder hatte bereits Germanistik studiert und darin promoviert,
bevor er ins Kloster Disentis eintrat und in München das Theologiestu-
dium aufnahm. Ich verbrachte in München als junger Student mein ers-
tes «Auslandjahr». Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und uns
schon bei der ersten Begegnung lange über Literatur, die theologische
Szenerie und das Leben mit seinen Fügungen unterhalten. Pater Bruno
hat sich ganz viel Zeit genommen und ohne Gewissensbisse das Stun-
dengebet im Stadtkloster St. Bonifaz, seinem Gastkloster während der
Münchner Studienzeit, sausen lassen. Vielleicht habe ich schon bei die-
ser ersten Begegnung auch etwas vom Umgang der Benediktiner mit der
Zeit erfahren. Benediktiner kennen zwar einen strikt strukturierten Tag
mit fixierten Zeiten für Gebet, Arbeit, Meditation und Schlaf — aber das
Zeitgefühl ist gerade deswegen ein anderes als im bürgerlichen Leben.
Durch diesen Rahmen haben die Mönche Zeit, aufmerksam auf das Ein-
zelne zu sein, das ihnen gerade jetzt begegnet, achtsam auf das zu sein,
was ihnen gerade jetzt zugeschickt wird. Eingespannt zwischen End-
lichkeit und Unendlichkeit — in dieser Mittellage bewegt sich das bene-
diktinische Zeitgefühl.
Seit vielen Jahren ist Pater Bruno nun Novizenmeister in Disentis —
also derjenige Pater, der die neu Eintretenden auf ihrem Weg ins Kloster
persönlich und spirituell begleitet und ihnen hilft, ihre Berufung zu prü-
fen. Gegenwärtig ist er auch Dekan der Abtei. Ohne selbst Kandidat oder
Ordensnovize zu sein, konnte ich durch seine Vermittlung gewisse Aus-
zeiten im Kloster Disentis verbringen. So habe ich ein Stück weit bene-
diktinisches Leben und benediktinische Theologie kennengelernt. Es
sind Quellen, aus denen man auch durchaus im säkularen Alltag schöp-
403
Günther Boss
fen kann. Es ist zu vermuten, dass auch das künstlerische Schaffen Georg
Malins eine Inspirationsquelle in der benediktinischen Tradition hat.
Leben unter der Regel?
Die Lebensordnung und Spiritualität, nach denen die Mönche im Klos-
ter Disentis leben, gehen zurück auf Benedikt von Nursia (um 480 bis
547). Benedikt von Nursia schrieb seine berühmte Regel, die «Regula
Benedicti» (im Folgenden abgekürzt: RB) etwa im Jahr 534 im Kloster
Monte Cassino, das 140 km südlich von Rom liegt.' Er hat dabei nicht
alles selbst erfunden, sondern durchaus auf frühere, bewährte Mönchs-
regeln zurückgegriffen. Pater Bruno Rieder hat eine kurze Einführung in
die Regel geschrieben und führt darin aus: «Das kleine Werk ist alles,
was Benedikt der Nachwelt an Schriften hinterliess. Es zeigt den
Ordensvater, der schon früh als Heiliger verehrt wurde, als Realisten
und Praktiker. Benedikt wusste, dass für den suchenden Menschen ein
klar abgesteckter Lebensrahmen hilfreich ist, um seinen Glauben (und
sich selber) zu entwickeln.»?
Leben unter einer Regel - das mag in unseren heutigen Ohren recht
fremd und einengend klingen. Moderne Menschen wollen doch frei sein,
sich nicht durch Regeln fremdbestimmen oder gängeln lassen! Kommt
hinzu, dass die Regel des heiligen Benedikt wohl in deutscher Über-
setzung greifbar ist, inhaltlich aber kaum ohne Erläuterungen und
Hintergründe zu verstehen sein dürfte. Gewisse Sentenzen darin, etwa
über «Gehorsam» oder «Ausschliessung», mögen seltsam auf uns Heu-
tige wirken.
Benedikts Regel ordnet das Leben in der Gemeinschaft, die ver-
schiedenen Ämter, beschreibt die Abfolge der Gebete und den Lauf des
Tages. Er ordnet so alltägliche Dinge wie Essen, Trinken, Küchendienst,
Kleidung, Werkzeug und Geräte, Schlaf und Schweigen. Benedikt er-
weist sich dabei als Realist und als Praktiker, wie Bruno Rieder in seiner
1 Die deutsche Ausgabe der Regel des heiligen Benedikt wird von der Salzburger Äb-
tekonferenz herausgegeben. Im Folgenden wird aus der 5. Auflage zitiert, Beuron
1990.
2 Bruno Rieder, Benedikt von Nursia — Die Regel des heiligen Benedikt: eine Einfüh-
rung, S. 4.
404
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
Einführung treffend bemerkt. Man könnte die Benediktusregel als Ant-
wort auf diese eine Frage lesen: Wie können Menschen, die ernsthaft
Gott suchen wollen, zusammen dieser Suche nachgehen und sich dabei
in Gemeinschaft gegenseitig tolerieren und tragen, ja sich entfalten und
weiter entwickeln? Diese Frage ist auch heute aktuell. Wie geht es
zusammen, Gott zu suchen und in der Postmoderne allein oder in
Gemeinschaft zu leben? Wie lebt man, wenn man so glaubt —- wie glaubt
man, wenn man so lebt? Benedikt hält auch hier eine Mittellage. Er folgt
nicht dem Ideal des einsamen Eremiten, löst den Einzelnen aber auch
nicht restlos in der Gemeinschaft auf. Die je persönliche Berufung wird
gelebt in einer Gemeinschaft von Gottsuchenden. Benedikt hält die Mit-
tellage zwischen Individualität und Sozialität.
Philosophie und Lebensform
In der gegenwärtigen Philosophie — um diesen Seitenblick hier einzuwer-
fen — ist vielleicht nicht die Gottsuche das beherrschende Thema. Die
Philosophie versteht sich heute, von einzelnen Ausnahmen abgesehen,
weitgehend atheistisch oder agnostisch. Wohl aber lässt sich eine Ten-
denz in der Philosophie der Gegenwart beobachten, wieder neu nach
dem Zusammenhang von Denken und Leben, von Vernunft und Lebens-
form zu fragen. Mit dem Anwachsen der Wahlmöglichkeiten in einer
postmodernen Gesellschaft ist der Gebrauch der persönlichen Freiheit
nicht unbedingt leichter geworden. Die Menschen fragen in einer un-
übersichtlich gewordenen Welt durchaus wieder nach Lebenshilfe und
Lebensorientierung, nach Struktur und Zielen — letztlich nach Sinn.
Es war der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der in seinen «Philo-
sophischen Untersuchungen» (posthum publiziert 1953) festgestellt hat,
dass sich Differenzen zwischen Menschen gar nicht so sehr durch ihre
rationalen Überzeugungen ergeben, sondern eher durch Unterschiede in
ihrer Lebensform. Der blosse freie Vernunftgebrauch, wie ihn die Philo-
sophie der Aufklärung postulierte, reicht offensichtlich nicht ganz aus.
Es ist auch die Frage, ob man zu vernünftigen Einsichten nicht erst
durch eine gewisse Lebenspraxis gelangt. Gewisse rationale Überzeu-
gungen hängen eng zusammen mit bestimmten Lebensformen — und
umgekehrt. Jedes «Sprachspiel» — um mit Wittgenstein zu reden — ist ein-
gebettet in eine Lebensform: «Und eine Sprache vorstellen heisst, sich
405
Günther Boss
eine Lebensform vorstellen» (Philosophische Untersuchungen, $ 19).
Gemäss Wittgenstein stimmen die Menschen nicht in dem überein, was
sie meinen und sagen, sondern in der «Lebensform» (vgl. ebd., $ 241).
Bei Wittgensteins Begriff der Lebensform dürfte im Hintergrund
die sogenannte Lebensphilosophie mitschwingen, die sich im 19. Jahr-
hundert im Gegensatz zum Positivismus und Neukantianismus entwi-
ckelt hat. Auf diese Hintergründe kann hier nicht eigens eingegangen
werden. Von den Philosophen der Gegenwart sollen aber wenigstens drei
Autoren genannt werden, die das Verhältnis von Philosophie und Le-
bensform ins Zentrum ihrer Untersuchungen rücken. Sie artikulieren da-
bei mitunter sogar praktische Ratschläge, die einzelne Analogien zur Re-
gel Benedikts zeigen. Zu nennen ist der französische Philosoph Pierre
Hadot, besonders mit seinem Buch «Philosophie als Lebensform. Antike
und moderne Exerzitien der Weisheit».” Hadot greift schwerpunktmäs-
sig zurück auf die antike Philosophie. Er lenkt die Aufmerksamkeit wie-
der neu auf die existenzformende Bedeutung antiker philosophischer
Lehren und geistiger Übungen. Hadot schreibt: «Ich habe erkannt, dass
die Philosophie nicht nur eine bestimmte Art, die Welt zu sehen, ist, son-
dern eine Art zu leben und dass alle theoretischen Diskurse nichts sind
im Vergleich mit dem konkreten gelebten philosophischen Leben.»*
Für den deutschen Sprachraum sind beispielsweise die Arbeiten der
Philosophen Wilhelm Schmid und Peter Bieri zu erwähnen. Wilhelm
Schmid möchte in seiner «Philosophie der Lebenskunst» nützliche Ele-
mente bereitstellen, mit deren Hilfe ein Individuum sein Leben selbst ge-
stalten kann: «Nach Lebenskunst fragen diejenigen, für die sich das Le-
ben nicht mehr selbst versteht, in welcher Kultur und Zeit auch immer.»*
Er führt die Fragen nach Lebensführung, Lebensstil und Lebensform
weiter bis zur ästhetischen Frage nach dem «schönen Leben».
Peter Bieri, emeritierter Professor für analytische Philosophie und
besser bekannt als Romancier unter dem Pseudonym Pascal Mercier
(«Nachtzug nach Lissabon»), hielt 2011 unter dem Titel «Wie wollen wir
leben?» bei den Franziskaner-Minoriten in Graz eine Vorlesungsreihe.
3 Die französische Originalausgabe trägt den Titel «Exercices spirituels et philosophie
antique», Paris 1981. Im Folgenden wird zitiert aus der 2. Auflage der deutschen
Übersetzung, Frankfurt a. M. 2005.
4 A.a.O., 5.9.
5 Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, S. 9.
406
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
Er führt in seiner ersten Vorlesung programmatisch aus: «Die Kultur,
wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille,
in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu
seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles
andere müsste warten.»
Gemeinsam ist all diesen gegenwärtigen Lebenskunst-Philoso-
phien, dass sie Ethik wieder im ursprünglichen antiken Sinne als Suche
nach dem guten Leben verstehen — nicht als moralisierendes Urteil über
die Handlungen anderer.
Benediktinische Gastfreundschaft
Benediktiner haben einen Ort, das Kloster. Und sie pflegen die «stabili-
tas loci», das heisst sie binden sich dauerhaft an einen Klosterstandort
und an eine Gemeinschaft. Dies ist ein grosses Lebenswagnis, kann aber
auch ein grosser Gewinn sein. Die «stabilitas» der Mönche ist sozusagen
ein Gegenkonzept zu unserer schnelllebigen Zeit der ständigen Mobili-
tät und der ökonomischen Globalisierung. Ein Mönch, der in Disentis
eintritt, bindet sich ein Leben lang an diesen Ort und an diese Gemein-
schaft. Dies heisst aber auch, dass auftretende Spannungen oder Kon-
flikte — und die gibt es in jeder Ordensgemeinschaft wie auch in jeder
bürgerlichen Gemeinschaft — am Ort gelöst werden müssen. Selten
kommt es ansonsten zur räumlichen oder definitiven Trennung. Die
Ausführungen in der Regel zu «Verfehlungen und Strafen» oder zur
«Ausschliessung» sind wohl in diesen Kontext der Konfliktbewältigung
einzuordnen.
Ein solches Benediktinerkloster ist ein recht autarkes Gebilde,
meist sehr grosszügig angelegt und mit allem ausgestattet, was eine
Gemeinschaft zum Beten und Leben braucht. Das lateinische «clau-
strum» heisst so viel wie «verschlossener Ort»; von diesem Begriff
stammt die Benennung «Kloster». Man betritt im engeren Bezirk der
Klosteranlage sodann die «Klausur», wo nur die Mönche Zugang zu
ihren «Zellen» haben. All dies könnte einem geradezu Platzangst einja-
gen — meine Erfahrung ist aber eine ganz andere. Zum einen bewegt man
6 Peter Bieri, Wie wollen wir leben?, S. 34.
407
Günther Boss
sich in einer solchen Klosteranlage in sehr grosszügigen, hellen und
«menschenfreundlichen» Räumen. Der Gastbruder weist einem ein ein-
faches, aber stilvolles und geräumiges Zimmer zu. Man kann sich inner-
halb oder ausserhalb der Klosteranlage ganz frei bewegen. Mein Lieb-
lingsraum im Kloster Disentis ist gar nicht so sehr die schöne Barock-
kirche St. Martin — Kunstkenner mögen mir verzeihen —, sondern der
grosse Speisesaal der Mönche, der im Stil eines Gebirgsklosters ganz in
Holz gestaltet ist. Dass bei den Benediktinern beim Essen meistens
Schweigsamkeit herrscht, empfinde ich als eine weitere Wohltat. Man
muss nicht reden. Wie heilsam kann das sein, in unserer Zeit der ständi-
gen Geschwätzigkeit und öffentlichen Selbstdarstellung! Man kann sei-
nen eigenen Gedanken nachhängen oder der Stimme des Tischlesers fol-
gen. Ausserdem war der Lesesaal, in dem Zeitungen und Zeitschriften
aus allen Teilen der Welt aufliegen und immer ein Schwatz mit den Mön-
chen möglich ist, eine Entdeckung. Sogar einen gestimmten Konzertflü-
gel von Bösendorfer gibt es in der Aula des Klosters, und ich durfte
jederzeit darauf spielen. Ein Benediktinerkloster ist also ein grosszügiger
Raum voller Leben und Kultur.
Die Gestaltung des Raumes ist — nebst der Gestaltung der Zeit — ein
ganz wichtiger Aspekt der benediktinischen Lebensform. Wenn ich hier
den Lesesaal oder den Flügel erwähnt habe, zeigt dies auch, dass ein Be-
nediktinerkloster sozusagen ein permeables, offenes System ist. Das In-
nen und das Aussen bedingen sich gegenseitig. Das Kloster ist ein um-
grenzter Raum, aber offen für Kultur, Inspirationen und Menschen aus
allen Richtungen; es hat in diesem Sinne eine starke Integrationsfähigkeit.
Der oft gehörte Vorwurf, Mönche oder Priester würden ja das echte Le-
ben nicht kennen und von der Welt nichts mitbekommen, trifft selten zu.
In einer solchen Klostergemeinschaft kommt eine Fülle an Berufen, Cha-
rismen, Typen und Nationen zusammen, sodass man das Leben in allen
Schattierungen mitbekommt. In der Gemeinschaft finden gelernte
Schreiner, Krankenpfleger, Grafiker, Physiker oder andere Berufe zu-
sammen. Informationen über den Lauf der Welt, über Politik, Kultur
oder Wirtschaft erfährt man in einem Kloster oft rascher als in der Welt
«draussen». Unter den Gästen sind Suchende, Schriftsteller, Zweifler,
Prominente ... Dies alles führt dazu, dass ein solches Kloster ein organıi-
sches Gebilde mit einer beachtlichen kulturellen Vielfalt sein kann.
Auch diese spezifische Gastfreundschaft der Benediktiner geht
zurück auf die Benediktusregel. In Kapitel 53 wird dort gefordert: «Alle
408
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus».
Dies ist eine sehr hohe Forderung, in den Fremden das Wertvollste zu
sehen, das man selber anbetet: Christus. Die Regel kennt eine Reihe von
Anordnungen, wie man mit Gästen achtsam umgehen soll. Gästezim-
mer, ein Gastbruder für die Gästebetreuung usw. sind in jedem Bene-
diktinerkloster vorgesehen.
Ich werde nie vergessen, wie mich Pater Bruno am frühen Nach-
mittag an der Klosterpforte bei meinem Besuch empfing. Ich war soeben
mit der Rhätischen Bahn in Disentis angekommen und er fragte, ob ich
nicht etwas essen möchte, er habe in der Küche noch etwas vom Mittag-
essen für mich auf die Seite gestellt. Das ist typisch benediktinisch: Der
Mensch lebt in Raum und Zeit, der Mensch lebt in einem Leib, und es
gilt zunächst, die Bedürfnisse und Signale des Körpers zu hören und
ernst zu nehmen. Das ist Voraussetzung auch für jede Form von «Geist-
lichkeit». Man kann dies als inkarnatorische Theologie deuten, die ihren
Ansatz in der Menschwerdung Gottes findet.
Bewusst leben — achtsam leben
Benedikt ordnet nicht nur den Umgang mit dem Raum, sondern auch
den Umgang mit der Zeit. Zunächst ist man in einer solchen Klosterzelle
ganz auf sich allein gestellt. Man muss also gut mit sich selbst allein sein
können. Man wird wie von selbst in einen Zustand von Ruhe, Achtsam-
keit und Selbstreflexion geführt. Der Blick geht auf das Innere. Das kann
mitunter leichtfallen — das kann mitunter sehr schwer sein. Es sagt sich
so leicht, der Mensch müsse über sich selbst reflektieren. In Tat und
Wahrheit kann dies auch ein sehr steiniger und schmerzhafter Prozess
sein. Dabei ist es hilfreich, wenn man einen erfahrenen geistlichen Be-
gleiter aus der Mönchsgemeinschaft beiziehen darf. Letztlich kann nur
jemand gemeinschaftsfähig sein, der auch mit sich selbst gut zurecht-
kommt, der gelernt hat, gut mit sich umzugehen, der seine Schwächen
und Stärken kennt.’
Ich meine, dass Benedikt auch hier mit seiner Regel modellhaft ist,
weil er Zeiten des Alleinseins, der Lesung, Besinnung und Meditation
7 Als Anregung dazu: Anselm Grün, Gut mit sich selbst umgehen.
409
Günther Boss
vorsieht. Aber ebenso sieht er regelmässige Gebete und Gottesdienste in
der Gemeinschaft vor. Und ebenso sieht er Zeiten der Arbeit vor. Das be-
rühmte «ora et labora», «bete und arbeite», stammt zwar nicht direkt aus
der Regel des heiligen Benedikt, sondern aus dem Spätmittelalter. Es
zeigt aber gut die Haltung der Regel auf: Ziel ist nicht eine unaufhörliche
Selbstreflexion des Menschen auf sich selbst, sondern eine «gesunde» Mi-
schung zwischen der Hinwendung zu Gott und sich selbst sowie der
Hinwendung zum Anderen und zum Gegenstand der Arbeit. Man findet
in der Regel sogar den überraschenden Satz: «Müssiggang ist der Seele
Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit,
zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigt sein.» (RB 48,1)
Der bekannte Benediktiner Anselm Grün hat, besonders in seinen
frühen Münsterschwarzacher Kleinschriften, sehr ansprechende Hin-
weise gegeben, wie man benediktinische Spiritualität für heute fruchtbar
machen kann. Durch den Einbezug der Psychologie, insbesondere der
analytischen Psychologie C. G. Jungs, gelingt es ihm, heilsame Quellen
für alle zu erschliessen. Wichtig ist ihm vor allem eine «Spiritualität von
unten», wie er sie bereits bei den frühen Wüstenvätern vorfindet. Eine
Spiritualität, die sich einseitig an absoluten, hohen Idealen orientiere, sei
immer in Gefahr, zu misslingen und zu frustrieren. Grün schreibt, «dass
die Spiritualität der frühen Mönche eine Spiritualität von unten war, die
über die Begegnung mit der eigenen Realität, gerade auch mit Versagen
und Scheitern, zu Gott führt.»* Eine ähnliche Haltung einer Spiritualität
von unten findet Anselm Grün bei Benedikt: «Benedikts Spiritualität
beginnt unten, bei der Wirklichkeit des Menschen, bei seinen Bedürfnis-
sen, bei seinen Wunden und Verletzungen, bei den Widerwärtigkeiten
des Alltags, und führt über das Hinabsteigen empor zu Gott».” Immer
wieder weist Grün darauf hin, dass Demut vom lateinischen Wort <hu-
militas» komme, das mit dem deutschen Wort «Humus» verwandt sei.
Es sei wichtig, den eigenen Humus anzuschauen, die Bedürfnisse, Ge-
fühle und unbewussten Kräfte, die uns bewegen, ehrlich wahrzunehmen,
um zu einem wirklich spirituellen Leben zu finden. Grün ist heute ein
spiritueller Erfolgsschriftsteller. Er schafft es, in einer einfachen Sprache
sowohl theologisch als auch psychologisch Berührendes auszusagen.
8 Anselm Grün /Meinrad Dufner, Spiritualität von unten, S. 31.
9 — FEbd.,S. 41.
410
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
Mass und Rhythmus
Zur Gestaltung der Zeit gehören für die Benediktiner ganz wesentlich
die gemeinsamen Gebetszeiten und Gottesdienste. Der Rhythmus des
Tages beginnt in Disentis um 5.30 Uhr mit Vigil und Laudes, dem
Nacht- und Morgengebet. Es folgt ein Gottesdienst um 7.30 Uhr. Das
Stundengebet wird wieder am Mittag und am Abend aufgenommen,
bevor der Tag mit der Komplet, der Schlussandacht, abgeschlossen wird.
Als Gast im Kloster kann man nach eigenem Ermessen und Empfinden
daran teilnehmen — die «soziale Kontrolle» ist erstaunlich gering in
einem solch grossen Haus. Zum Stundengebet der Mönche und zum
Singen der Psalmen wäre vieles zu erklären, was hier nicht möglich ist.
Sicherlich braucht man einen gewissen Zugang zu den Psalmentexten
und ihrer alttestamentlichen Poesie; und sicherlich braucht man eine
gewisse Musikalität, ein gewisses Rhythmusgefühl, um in den Gesang
der Mönche mit einstimmen zu können. Dann aber kann die Teilnahme
am Stundengebet eine sehr berührende Erfahrung sein. Ein solcher
Rhythmus des Tages und die Rhythmen der Gesänge ordnen die Zeit
und ordnen damit auch das Innere des Menschen. Mit Recht stellt Bruno
Rieder fest, dass gerade für den suchenden Menschen ein klar abgesteck-
ter Lebensrahmen hilfreich sein kann.
Nebst einem guten Rhythmus ist auch die Frage nach dem richti-
gen Mass ein bestimmendes Thema in der Regel Benedikts. Da finden
sich etwa Anordnungen über das «Mass der Speise» oder über das «Mass
des Getränkes». Benedikt erweist sich auch hier als umsichtiger Prakti-
ker: «War die Arbeit einmal härter, liegt es im Ermessen und in der
Zuständigkeit des Abtes, etwas mehr zu geben, wenn es guttut.» (RB
39,6) Benedikt erlaubt den Mönchen auch das Trinken von Wein. «Mit
Rücksicht auf die Schwachen meinen wir, dass für jeden täglich eine
Hemina Wein genügt.» (RB 40,3) Bis heute ist allerdings nicht ganz
geklärt, wie viel «eine Hemina Wein» bedeutet ...
Das Masshalten in allem ist demnach für Benedikt ein wichtiger
Grundsatz. Dieses Prinzip des Masshaltens geht in seiner Bedeutung
weit über blosse Regeln für das Essen und Trinken hinaus. Damit ist
auch ein gewisser schöpfungstheologischer Optimismus ausgesagt. Die
ganze Welt und alles in ihr Enthaltene sind Gottes gute Schöpfung. Es
kommt nur darauf an, die Dinge im richtigen Mass zu gebrauchen. Diese
schöpfungstheologische Sicht Benedikts könnte gerade heute sehr hilf-
411
Günther Boss
reich sein. Manche dominante Bewegungen der Lebensführung profilie-
ren sich eher wieder durch eine binäre Logik, in einer Logik von Weiss
und Schwarz, von Gut und Böse. Dieses Essen, dieser Sport, diese Poli-
tik ist moralisch gut, jenes ist moralisch schlecht ... Benedikt verfolgt mit
seinem Masshalten einen anderen Ansatz als eine solche binäre Logik. Es
hängt von den Umständen und von der Persönlichkeit des Einzelnen ab,
was ihm gerade jetzt guttut. Das ist Schöpfungslogik.'°
Gottes Barmherzigkeit
Mit der benediktinischen Stabilitas, Gastfreundschaft, Achtsamkeit, mit
Mass und Rhythmus sind einige Aspekte der benediktinischen Lebens-
form genannt. Sehr viel mehr wäre zu erwähnen, wozu hier der Platz zu
knapp ist. Wenigstens einen rätselhaften und anregenden Satz aus der Be-
nediktusregel möchte ich abschliessend noch anführen. Die katholische
Kirche begeht gegenwärtig, angestossen durch Papst Franziskus, das Jahr
der Barmherzigkeit. Es ist gar nicht leicht zu verstehen, was diese Barm-
herzigkeit Gottes bedeuten soll, wenn man nicht in Plattitüden im Sinne
von «Gott hat euch alle lieb» verfallen will. Ist das Geheimnis Gottes
nicht sehr viel tiefer und dunkler als die oberflächliche Rede vom «lieben
Gott»? Nun findet sich bei Benedikt in der Regel im Abschnitt über «die
Werkzeuge der geistlichen Kunst» der überraschende Satz: «An Gottes
Barmherzigkeit niemals verzweifeln.» (RB 4,74) Gottes Barmherzigkeit
ist für Benedikt jedenfalls nichts Einfaches, man kann daran offenbar so-
gar verzweifeln. Seine Regel möchte dazu einladen, nicht zu verzweifeln,
sondern Gottes Barmherzigkeit im Gang durch das Leben zu finden und
ihr zu vertrauen.!! Zu Ehren des Jubilars Georg Malin — die Älteren eh-
ren! — sei hier der ganze Passus zitiert: «Die Älteren ehren, die Jüngeren
lieben. In der Liebe Christi für die Feinde beten. Nach einem Streit noch
vor dem Sonnenuntergang zum Frieden zurückkehren. Und an Gottes
Barmherzigkeit niemals verzweifeln.» (RB 4,7074)
10 Vgl. Anselm Grün/ Alois Seuferling, Benediktinische Schöpfungsspiritualität.
11 Der Benediktinermönch und bekannte Fotograf Oswald Kettenberger aus der Abtei
Maria Laach hat meines Erachtens eines der schönsten Büchlein über den Lebens-
weg im Kloster geschrieben: Oswald Kettenberger, An Gottes Barmherzigkeit nie-
mals verzweifeln. Gedanken und Erinnerungen eines Benediktinermönchs.
412
Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
LITERATUR
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben?, Salzburg, 4. Aufl. 2011.
Grün, Anselm: Gut mit sich selbst umgehen, Mainz, 3. Aufl. 1995.
Grün, Anselm /Dufner, Meinrad: Spiritualität von unten, Münsterschwarzach 1994.
Grün, Anselm/Seuferling, Alois: Benediktinische Schöpfungsspiritualität, Münster-
schwarzach 1996.
Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit,
Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2005.
Kettenberger, Oswald: An Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln. Gedanken und
Erinnerungen eines Benediktinermönchs, Würzburg 2002.
Rieder, Bruno: Benedikt von Nursia — Die Regel des heiligen Benedikt: Eine Einführung,
in: Disentis 1/2014, Jahrgang 81 (Nr. 309), S. 4.
Salzburger Äbtekonferenz (Hrsg.): Die Regel des heiligen Benedikt, Beuron, 5. Aufl. 1990.
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998.
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt
a.M. 1984.
413
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Franz Näscher
I. Rückbesinnung im 20. Jahrhundert
Von der Erneuerung des urchristlichen Kirchenbildes war die katholi-
sche Kirche im 20. Jahrhundert weitgehend geprägt. Eine Rückbesin-
nung auf das Frühchristentum geschah während Jahrzehnten durch die
liturgische Bewegung. Schliesslich kam es zum Zweiten Vatikanischen
Konzil. Als dieses eröffnet wurde, war die Pfarrkirche von Schellenberg
bereits geplant und im Bau. Sie ist darum für unser Land und darüber
hinaus ein einmaliges Zeugnis für jene Zeit. Dr. Georg Malin hat die
innere Gestaltung ausgeführt; die liturgische Bewegung mit der Rückbe-
sinnung auf das Frühchristentum war für ihn dabei entscheidend.
Die Liturgische Bewegung
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil
hat die liturgische Bewegung besonders in Deutschland, Österreich,
Frankreich und Belgien das Ziel verfolgt, die Bedeutung der Liturgie der
katholischen Kirche zu vertiefen. Anlass dazu gab Papst Pius X., der 1903
von der tätigen Teilnahme (participatio actuosa) sprach und den häufige-
ren Empfang der heiligen Kommunion nahelegte. Ein belgischer Bene-
diktinermönch machte die Bewegung 1909 durch seine Rede beim Ka-
tholikentag in Mecheln bekannt. Federführend waren vor allem die Be-
nediktinerabteien Solesmes in Frankreich sowie Beuron und Maria Laach
in Deutschland. Dort kam es zur Herausgabe von Volksmessbüchern,
nach den Namen der Verfasser Bomm und Schott benannt. Bekannt sind
bis heute auch die Namen Odo Casel, Pius Parsch, Klemens Tilmann, Jo-
sef Andreas Jungmann und Romano Guardini. Guardini schuf 1918 mit
seinem Werk «Vom Geist der Liturgie» eine programmatische Zusam-
415
Franz Näscher
menfassung der Bewegung. In unserem Land befürwortete vor allem der
Schaaner Pfarrer Johannes Tschuor die Bewegung.
Die liturgische Bewegung erhielt schliesslich höchste Anerkennung
durch Papst Pius XII. mit den Enzykliken «Mystici Corporis» 1943 und
«Mediator Dei» 1947. Er hat noch vor dem Konzil mit wichtigen Refor-
men gezeigt, dass die tridentinische Liturgie nach dem Konzil von Trient
(16. Jahrhundert) nicht unveränderbar ist. So findet seit 1951 die Oster-
nachtliturgie nicht mehr am Karsamstagmorgen in der Frühe statt, son-
dern am Abend oder in der Nacht zum Ostersonntag; 1953 kam es zur
Einführung von Abendmessen und zur Änderung des Nüchternheitsge-
botes (für den Kommunionempfang am Nachmittag und Abend drei
Stunden, ab 1957 auch am Vormittag); 1955 wurde die Liturgie am Ho-
hen Donnerstag auf den Abend und jene am Karfreitag auf den Nach-
mittag festgelegt.
Das Gesang- und Gebetbuch für das Bistum Chur «Cantate»
enthielt ab 1947 neben drei lateinischen Choralmessen (Nr. 151-166)
und dem Requiem (Nr. 174) auch sechs Betsingmessen in der Volksspra-
che (Nr. 175-218) und eine lateinisch-deutsche Gemeinschaftsmesse
(Nr. 219-227). Der zelebrierende Priester las jedoch still für sich vorne
am Hochaltar auf Lateinisch die Messe.
Einberufung eines Konzils
Bereits ein Vierteljahr nach seiner Wahl zum Papst hat Johannes XXIII.
am 25. Januar 1959 in der Abtei St. Paul vor den Mauern die Einberu-
fung eines Konzils angekündigt, das als Zweites Vatikanisches Konzil in
die Geschichte eingegangen ist. Einigen Prälaten, die ihn eines Tages
bestürmten, warum er dieses sinnlose Konzil und die damit verbunde-
nen Arbeiten, die ohnehin nichts brächten, auf sich nehmen wolle, habe
er eine Zeit lang ruhig zugehört, dann sei er zum Fenster gegangen und
habe es weit geöffnet: «Ecco, deswegen!» Nach Aussage seines Sekretärs
Loris Capovilla handle es sich zwar um eine Legende, aber eine gute,
denn eine Kirche, in der sich atmen lässt, entsprach seinem Kirchenbild.
Unvergessen und bezeichnend für Johannes XXIII. blieb der von ihm
schon in seiner Zeit als Patriarch von Venedig verwendete Ausdruck
«aggiornamento»; wortwörtlich müsste man ihn etwa mit «Verheuti-
gung» übersetzen.
416
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Nach eingehender Vorbereitung wurde das Konzil am 11. Oktober 1962
eröffnet. Zum ersten Mal in der Geschichte versammelte sich tatsächlich
die Weltkirche in Rom, Bischöfe aus 133 Nationen, dazu die Beobachter
aus nichtkatholischen Kirchen — eine solche Einladung hatte es noch nie
gegeben! Berühmt geworden ist die Ansprache Papst Johannes’ XXIIL;
er sprach über eine halbe Stunde. Er sagte unter anderem:
«Die Hauptaufgabe des Konzils liegt darin, das heilige Überliefe-
rungsgut der christlichen Lehre mit wirksameren Methoden zu
bewahren und zu erklären. [...] Damit diese Lehre die vielfältigen
Bereiche des menschlichen Wirkens erreicht, sowohl den Einzel-
nen wie die Familien und das soziale Leben, ist es vor allem nötig,
dass die Kirche ihre Aufmerksamkeit nicht von dem Schatz der
Wahrheit abwendet, den sie von den Vätern ererbt hat. Sodann
muss sie auch der Gegenwart Rechnung tragen, die neue Umwelt-
bedingungen und neue Lebensverhältnisse geschaffen und dem
katholischen Apostolat neue Wege geöffnet hat.»!
Bereits zehn Tage nach der Eröffnung begann die Besprechung der Litur-
gie-Konstitution «Sacrosanctum Concilium». Sie war eine von vier Kon-
stitutionen; die anderen betrafen die Kirche, die Offenbarung und die
Kirche in der Welt von heute. Dazu kamen weitere zwölf Dokumente,
darunter neun Dekrete und drei Erklärungen. Bei den Konstitutionen
über die Liturgie und die Kirche ging es dem Konzil weder um die Schaf-
fung eines neuen, modernen Kirchenbildes noch um eine neue Form der
Liturgie, sondern um die Erneuerung des Verständnisses von Kirche und
Liturgie mit dem Blick auf die ersten christlichen Jahrhunderte.
Am Pfingstmontagabend, dem 3. Juni 1963, ist Papst Johannes
XXIII. gestorben, womit das von ihm einberufene Konzil beendet gewe-
sen wäre, hätte der Nachfolger nicht schon am 27. Juni, bereits sechs
Tage nach seiner Wahl, die offizielle Wiedereinberufung bekannt gege-
ben. Paul VI., der vergessene Papst, hat den Verlauf des Konzils und die
Durchführung der Beschlüsse entscheidend geprägt.
1 Rede von Papst Johannes XXIII. zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils
am 11. Oktober 1962, in: Herderkorrespondenz 17 (1962/63), S. 85-88.
417
Franz Näscher
Konzilsdokumente
Vier Konstitutionen
— Über die heilige Liturgie (Sacrosanctum Concılium)
— Über die Kirche (Lumen gentium)
— Über die göttliche Offenbarung (Dez verbum)
— Über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes)
Neun Dekrete
— Über die sozialen Kommunikationsmittel (Inter mirifica)
— Über die katholischen Ostkirchen (Orientalium Ecclesiarum)
— Über den Ökumenismus (Unittatis redintegratio)
— Über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche (Christus
Dominus)
— Über die Ausbildung der Priester (Optatam totius)
— Über die zeitgemässe Erneuerung des Ordenslebens (Perfectae
caritatis)
Über das Laienapostolat (Apostolicam actuositatem)
Über Dienst und Leben der Priester (Presbyterorum ordinis)
Über die Missionstätigkeit der Kirche (Ad gentes)
Drei Erklärungen
— Über die christliche Erziehung (Gravissimum educationis)
— Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religio-
nen (Nostra aetate)
— Über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae)
Liturgiekonstitution
Im Oktober 1963 fanden Abstimmungen über Teile der Liturgiekonsti-
tution statt. Am 4. Dezember wurde sie mit 2147 Ja- gegen 4 Nein-Stim-
men angenommen; Papst Paul VI. hat die Konstitution noch am gleichen
Tag feierlich verkündet.
Nach einem Vorwort (Nr. 1-4) und einem grundlegenden theolo-
gischen Kapitel über allgemeine Grundsätze zur Erneuerung und Förde-
rung der Liturgie (Nr. 5-46) folgen Kapitel über die Eucharistie
(Nr. 47-58), die übrigen Sakramente und die Sakramentalien (Nr. 59-82),
418
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
das Stundengebet (Nr. 83-101), das liturgische Jahr (Nr. 102-111), die
Kirchenmusik (Nr. 112-121), die sakrale Kunst, liturgisches Gerät und
Gewand (Nr. 122-130) und ein Anhang zur Kalenderreform. Das Ziel
des Konzils war nicht nur eine Reform der Liturgie, sondern es ging und
geht darum, wie es gleich im ersten Satz der Konstitution heisst:
«Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche
Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem
Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten
unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur
Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stär-
ken, was immer helfen kann, alle in den Schoss der Kirche zu rufen.
Darum hält es das Konzil auch in besonderer Weise für seine Auf-
gabe, sich um die Erneuerung und Pflege der Liturgie zu sorgen.»?
Dogmatische und pastorale Kirchenkonstitutionen
Die dogmatische Konstitution «Lumen gentium» war am Ende der ers-
ten Sitzungsperiode diskutiert worden mit der Folge, dass eine Neu-
fassung entstand. Diese kam in der zweiten Sitzungsperiode im Herbst
1963 zur Diskussion. Ein Jahr später, am 21. November 1964, wurde sie
als zentrales Konzilsdokument mit 2151 Ja- und 5 Nein-Stimmen ver-
abschiedet. Die einzelnen Kapitel betreffen das Mysterium der Kirche
(Nr. 1-8), das Volk Gottes (Nr. 9-17), die hierarchische Verfassung der
Kirche, insbesondere das Bischofsamt (Nr. 18-29), die Laien (Nr. 30-38),
die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche (Nr. 39-42), die
Ordensleute (Nr. 43-47), den endzeitlichen Charakter der pilgernden
Kirche und ihre Einheit mit der himmlischen Kirche (Nr. 48-51) und die
selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der
Kirche (Nr. 52-69).
Nach dieser Konstitution versteht sich die Kirche als «pilgerndes
Volk Gottes auf Erden». Das Konzil hat damit für das Verständnis der
Kirche ein biblisches Bild wieder aufgegriffen. Bis zu Augustinus (+ 430)
2 Die Konzilstexte werden zitiert nach Rahner / Vorgrimler, Kleines Konzilskompen-
dium, 1966.
419
Franz Näscher
hatte es eine zentrale Rolle gespielt. Das Kirchenbild war das grosse
Anliegen des französischen Dominikaner-Theologen Yves Congar, dem
wie seinem Mitbruder Marie-Dominique Chenu und dem Jesuiten
Henri de Lubac als Repräsentanten der «Theologie nouvelle» 1950 der
Lehrstuhl entzogen worden war. Johannes XXIII. hat sie zu Konzilsbe-
ratern berufen! De Lubac wurde unter Johannes Paul II. 1983 sogar zum
Kardinal ernannt. Das zweite Kapitel der Kirchenkonstitution ist über-
schrieben mit «Das Volk Gottes»; dort heisst es:
«Gott hat es gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von
aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, son-
dern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerken-
nen und ihm in Heiligkeit dienen soll. So hat er sich das Volk Israel
zum Eigenvolk erwählt und hat mit ihm einen Bund geschlossen
und es Stufe für Stufe unterwiesen. Dies tat er, indem er sich und
seinen Heilsratschluss in dessen Geschichte offenbarte und sich
dieses Volk heiligte. Dies alles aber wurde zur Vorbereitung und
zum Vorausbild jenes neuen und vollkommenen Bundes, der in
Christus geschlossen, und der volleren Offenbarung, die durch das
Wort Gottes selbst in seiner Fleischwerdung übermittelt werden
sollte. [...] So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsäch-
lich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde
erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare
Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils. Von Christus
als Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit gestiftet,
wird es von ihm auch als Werkzeug der Erlösung angenommen und
als Licht der Welt und Salz der Erde (vgl. Mt 5,13-16) in alle Welt
gesandt.» (Nr. 9)
Unter «Volk Gottes» wird hier nicht die Hierarchie im Gegensatz zu
den Gläubigen verstanden, sondern die Kirche in ihrer Gesamtheit mit
all ihren Gliedgruppen. Die Pyramide — zuoberst der Papst, dann die
Bischöfe und Priester und ganz unten die Laien — ist als Bild für die Kir-
che überholt. Für Johannes Feiner, Theologieprofessor am Priestersemi-
nar in Chur und Konzilstheologe, war in den Vorlesungen vor allem das
Kirchenbild ein Anliegen: In der Kirche befinden sich alle auf der glei-
chen Ebene, allerdings mit hierarchischen Diensten und Aufgaben, im
Mittelpunkt der Papst, umgeben von den einzelnen Ortskirchen, den
Bistümern.
420
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gau-
dium et spes» entstand, weil sich gegen Ende der ersten Sitzungsperiode
in den Reden über die Kirche eine Teilung der Thematik abgezeichnet
hatte, nämlich einerseits dogmatisch über das Selbstverständnis der Kir-
che und andererseits pastoral über das Verhältnis der Kirche zur heutigen
Weltsituation. Die pastorale Konstitution wurde am 7. Dezember 1965
mit 2309 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen genehmigt und ist gleichentags ver-
kündet worden. Auf das Vorwort (Nr. 1-3) und die Einführung über die
Situation des Menschen in der heutigen Welt (Nr. 4-10) folgt der erste
Hauptteil (ab Nr. 11) mit den vier Kapiteln über die Würde der mensch-
lichen Person (Nr. 12-22), die menschliche Gemeinschaft (Nr. 23-32),
das menschliche Schaffen in der Welt (Nr. 33-39) und die Aufgabe der
Kirche in der Welt von heute (Nr. 40-45); dann folgt der zweite Haupt-
teil über wichtige Einzelfragen (ab Nr. 46) mit den fünf Kapiteln über
Förderung der Würde der Ehe und der Familie (Nr. 47-52), die richtige
Förderung des kulturellen Fortschritts (Nr. 53-62), das Wirtschaftsleben
(Nr. 63-72), das Leben der politischen Gemeinschaft (Nr. 73-76) und
die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft
(Nr. 77-90) sowie ein Schlusswort (Nr. 91-93).
Offenbarungskonstitution
Für Liturgie und Gemeindeleben ebenfalls bedeutend ist die dogmati-
sche Konstitution über die göttliche Offenbarung «Dei Verbum». Sie
wurde am 18. November 1965 mit 2344 Ja- gegen 6 Nein-Stimmen an-
genommen und noch am selben Tag feierlich verkündet. Nach einem
kurzen Vorwort (Nr. 1) folgen die sechs Kapitel über die Offenbarung
(Nr. 2-6), die Weitergabe der göttlichen Offenbarung (Nr. 7-10), die
göttliche Inspiration und die Auslegung der Heiligen Schrift (Nr. 11-13),
das Alte Testament (Nr. 14-16), das Neue Testament (Nr. 17-20), die
Heilige Schrift im Leben der Kirche (Nr. 21-26). Dort heisst es:
«Der Dienst des Wortes, nämlich die seelsorgliche Verkündigung,
die Katechese und alle christliche Unterweisung — in welcher die
liturgische Homilie einen hervorragenden Platz haben muss — holt
aus dem Wort der Schrift gesunde Nahrung und heilige Kraft.»
(Nr. 24)
421
Franz Näscher
Kirchenbild und Liturgie
Die Vorgaben, die Johannes XXIII. dem Zweiten Vatikanischen Konzil
gegeben hatte, und das, was die Bischöfe daraus gemacht haben, ist ein
Kirchenbild, das sich an den Anfängen des Christentums orientiert:
nämlich die Kirche als durch die Welt pilgerndes Volk Gottes. Dieses
Verständnis liegt auch der Konstitution über die Liturgie zugrunde. Weil
das ganze Volk, nicht nur Bischöfe und Priester, Kirche ist, soll der Ein-
bezug aller ermöglicht werden.
«Bei den liturgischen Feiern soll jeder, sei er Liturge oder Gläubiger,
in der Ausübung seiner Aufgabe nur das und all das tun, was ihm
aus der Natur der Sache und gemäss den liturgischen Regeln zu-
kommt.» (Nr. 28)
«Auch die Ministranten, Lektoren, Kommentatoren und die Mit-
glieder der Kirchenchöre vollziehen einen wahrhaft liturgischen
Dienst. Deswegen sollen sie ihre Aufgabe in aufrichtiger Frömmig-
keit und in einer Ordnung erfüllen, wie sie einem solchen Dienst
ziemt und wie sie das Volk Gottes mit Recht von ihnen verlangt.
Deshalb muss man sie, jeden nach seiner Weise, sorgfältig in den
Geist der Liturgie einführen und unterweisen, auf dass sie sich ın
rechter Art und Ordnung ihrer Aufgabe unterziehen.» (Nr. 29)
«Um die tätige Teilnahme zu fördern, soll man den Akklamationen
des Volkes, den Antworten, dem Psalmengesang, den Antiphonen,
den Liedern sowie den Handlungen und Gesten und den Körper-
haltungen Sorge zuwenden. Auch das heilige Schweigen soll zu sei-
ner Zeit eingehalten werden.» (Nr. 30)
«Bei der Revision der liturgischen Bücher soll sorgfältig darauf ge-
achtet werden, dass die Rubriken auch den Anteil der Gläubigen
vorsehen.» (Nr. 31)
Dekanat Liechtenstein
Bei der Neuordnung der Dekanate im Bistum Chur ist 1970 aus dem
Bischöflichen Landesvikariat und dem Priesterkapitel das Dekanat
Liechtenstein entstanden. Im selben Jahr kam es in allen Pfarreien zur
Gründung der Seelsorge- oder Pfarreiräte und des Dekanats- oder Lan-
desseelsorgerates. Die Pfarreiseelsorger und die verschiedenen Gremien
422
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
waren bemüht, die Kirche als Volk Gottes bewusst zu machen. Wie
schon das Priesterkapitel setzte sich das Dekanat für das vom Konzil
und von der Diözesansynode (Synode 72) erarbeitete Kirchenbild ein.
Die Erneuerung der Liturgie wurde gefördert; es wurden regelmässig
Einführungen für Frauen und Männer veranstaltet, die sich in den Pfar-
reien zum Lektoren- und Kommunionhelferdienst bereit erklärt hatten.
In Buss- und Versöhnungsgottesdiensten wurde miteinander über
Schwächen des täglichen Lebens nachgedacht und gegenseitig Verge-
bung erbeten. Es wurden verschiedene Arbeitsgruppen und Kommissio-
nen, z.B. für Erwachsenenbildung, Jugendarbeit, Religionsunterricht
u.a. gebildet. In allen diesen Bereichen wurden immer mehr Laien se-
gensreich tätig, ebenso ın der Hilfe für die Menschen in der sogenannten
Dritten Welt. Auch die Beziehungen zu den anderen christlichen Kir-
chen wurden gepflegt.
Synode 72 im Bistum Chur
Bei der Konzilsfeier am 22. Mai 1966 in der Kathedrale hat Bischof
Johannes Vonderach zur Umsetzung der Konzilsdokumente eine Bis-
tumssynode angekündigt und darauf hingewiesen, dass «unsere Synode
vor allem der Seelsorge in unserer Zeit und dem brüderlichen Dienst»
gelten soll. Am 25. September 1969 beschlossen die Schweizer Bischöfe,
1972 in jedem Bistum eine Synode zu eröffnen. In ihrer Einladung zur
Mitarbeit hiess es:
«Eine grundlegende Neubesinnung auf die Aufgabe der Kirche hat
seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingesetzt: erneuerte Litur-
gie, grössere Mitverantwortung aller in der Kirche, offenes
Gespräch mit den Christen anderer Kirchen, sind bereits Früchte
des Konzils.»
Am 23. September 1972 wurde die Churer Synode in der Kirche Maria
Krönung in Zürich-Witikon feierlich eröffnet. Bis 1975 wurden an sie-
ben Arbeitssessionen zwölf Vorlagen behandelt, darunter über die Litur-
gie im Leben der Gemeinde, den kirchlichen Dienst und die Kirche im
Verständnis des Menschen von heute. Synodalen aus dem Dekanat
Liechtenstein waren Sr. Mathild Frick vom Kloster St. Elisabeth in
Schaan, Charlotte Hipp von Vaduz, Prof. Ernst Nigg von Vaduz, Kapları
423
Franz Näscher
Alois Huwiler von Schaan, Pater Ernst Roetheli MS von Balzers und
Josef Sprenger von Triesen (+ 1976), dem wegen Erkrankung Georg
Schierscher von Schaan nachfolgte. Der damalige Vikar in Siebnen (SZ),
Franz Näscher, vertrat von 1972 bis 1974 den Bezirk Ausserschwyz.
Dokumente der Synode 72
— Glaube und Glaubensverkündigung heute (Glaube in dieser Zeit/
Zeitgemässe Glaubensverkündigung)
— Gebet, Gottesdienst und Sakramente im Leben der Gemeinde
— Kirchlicher Dienst
— Kirche im Verständnis des Menschen von heute (Kirche als Ge-
meinschaft/ Arme und dienende Kirche - Offene Kirche - Kir-
chenfreies Christentum)
— Ökumenischer Auftrag in unseren Verhältnissen (Leben in der
Mischehe/ Gemeinsames Zeugnis und Zusammenarbeit der Kirche
und Christen)
— Ehe und Familie im Wandel unserer Gesellschaft (Aktuelle Schwer-
punkte zum Thema Sexualität/Ehe im Werden und in der Krise/
Ehe im Aufbau und Familie in einer Zeit des Umbruchs)
— Verantwortung des Christen in Arbeit und Wirtschaft
— Soziale Aufgaben der Kirche
— Beziehung zwischen Kirche und politischen Gemeinschaften
— Mission als Verantwortung der Kirche für Verkündigung, Ent-
wicklung und Frieden
— Bildungsfragen und Freizeitgestaltung
— Information und Meinungsbildung in Kirche und Öffentlichkeit
Ablehnung des Konzils
Es sei kurz erwähnt, dass sich auch im deutschsprachigen Raum Grup-
pen mit eigenen Zeitschriften und Verlagen bildeten, die das Konzil und
mit ihm sogar die Päpste seiner Zeit ablehnten. Doch heute existieren
nicht mehr viele dieser Gruppen.
Am bekanntesten ist alt Erzbischof Marcel Lefebvre (+ 1991), der
zwar für die Annahme der Liturgiekonstitution gestimmt hatte, aber
424
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
deren Ausführung schon bald einmal öffentlich abgelehnt hat. 1970
gründete er die «Priesterbruderschaft vom heiligen Pius X.» und einige
Zeit später sein Priesterseminar in Ecöne (VS). 1988 kam es wegen un-
erlaubter Weihe von Bischöfen zur Exkommunikation und zur Tren-
nung von Rom.
Als Reaktion gründete ein Teil der Priesterbruderschaft die Pries-
terkongregation St. Petrus (FSSP), die innerhalb der römisch-katholi-
schen Kirche verbleiben wollte; der deutsche Bereich hat seinen Sitz in
Wigratzbad. Ein wichtiges Anliegen dieser Bruderschaft ist die lateini-
sche, sogenannte tridentinische Messfeier nach dem Missale von 1962,
also vor der liturgischen Erneuerung durch das Konzil. Papst Johannes
Paul II. hatte 1984 unter bestimmten Bedingungen die tridentinische
Messe erlaubt, Papst Benedikt XVI. liess sie 2007 an bestimmten Orten
als regelmässigen Gottesdienst zu; 2009 hob er die erwähnte Exkommu-
nikation der von Lefebvre geweihten Bischöfe auf.
Bekannt wurde auch die sogenannte Palmarianisch-Katholische
Kirche des Spaniers Clemente Dominguez y Domez, der sich nach dem
Tode Pauls VI. sogar als Gregor XVII. zum Papst krönen liess.
Die Bischöfe der Zeit nach dem Konzil förderten dessen Umset-
zung; in den vergangenen Jahrzehnten wurden allerdings Bischöfe
ernannt, die diese Umsetzung eher behindern. Dadurch wird die Bestim-
mung der Liturgiekonstitution (Nr. 28) vernachlässigt, dass bei den litur-
gischen Feiern jeder, sei er Liturge oder Gläubiger, in der Ausübung sei-
ner Aufgabe nur das und all das tun soll, was ihm aus der Natur der
Sache und gemäss den liturgischen Regeln zukommt. Papst Franziskus
gibt Hoffnung für eine Kirche als Volk Gottes.
II. Umsetzung des erneuerten Kirchenbildes
Sehr bald nachdem Papst Paul VI. die Liturgiekonstitution nach der
Zustimmung des Konzils am 4. Dezember 1963 verkündet und deren
Veröffentlichung angeordnet hatte, «was so durch das Konzil verordnet
ist», wurde nach und nach dieses und jenes verwirklicht:
— Der Wortgottesdienst erfolgte in der Muttersprache und wurde
wieder als Verkündigung des Gotteswortes erkennbar gemacht;
— die «rituelle Erstarrung», die bisher mit dem Latein gegeben war,
löste sich auf;
425
Franz Näscher
— es gab für die Messfeier immer wieder vorläufige Texte, bis im
Sommer 1975 das deutsche Messbuch erschien;
— in den meisten Pfarreien wurde ein vorerst provisorischer Altar
näher beim Kirchenschiff aufgestellt und der Priester zelebrierte
zum Volk hin;
— da die heilige Kommunion wieder wie in der Urkirche stehend
empfangen wurde, entfernte man die Kommunionbänke, die einer
Abgrenzung zwischen Altarraum und Volk gleichkamen.
Die Pfarrer setzten sich für die Erneuerung der Liturgie ein und arbeite-
ten auch bei den Umgestaltungen der Kirchen massgeblich mit. Bis zu
einer entsprechenden Neugestaltung des Altarraumes dauerte es aller-
dings noch länger. Nur die Pfarrei Schellenberg hatte bereits eine der
erneuerten Liturgie entsprechende Pfarrkirche — und das schon vor
Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie ist ein für unsere Region
einmaliges Zeugnis des religiösen Aufbruchs und der liturgischen Rück-
besinnung auf das frühe Christentum. Für Georg Malin war die Umset-
zung des erneuerten urchristlichen Kirchenbildes und damit die Schaf-
fung der Voraussetzungen für die erneuerte Liturgie ein Grundanliegen.
Sein Vater war Stuckateur und hatte zahlreiche Aufträge in Kirchen,
sodass sein Sohn, wie dieser einmal anmerkte, im Vorschulalter unter
Kirchengewölben aufgewachsen sei. Darunter war auch die Klosterkir-
che von Disentis (GR), wo er 1947 maturiert hat. Bereits ab 1954 arbei-
tete er an der Gestaltung von sakralen Räumen mit. Dabei habe er den
Rat seines Geschichtslehrers Pater Iso Müller befolgt, der immer wieder
darauf hingewiesen habe, dass es wichtig sei, sich bei der Realisierung
von neuen Projekten an die Quellen zu erinnern. Dann komme man zur
Grundidee und diese müsse man immer wieder neu verwirklichen. Die
erste Kirche, die er massgeblich mitgestaltet hat, ist jene von Schellen-
berg, die zu einem zukunftsweisenden Sakralbau weit über die Grenzen
unseres Landes hinaus wurde.
426
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Pfarrkirche in Schellenberg (1960-1963)
Zum Kirchenbau sagt das Konzil in der Konstitution über die Liturgie:
«Beim Bau von Kirchen ist sorgfältig darauf zu achten, dass sie für
die liturgischen Feiern und für die tätige Teilnahme der Gläubigen
geeignet sind.» (Nr. 124)
Als das Konzil 1962 die Liturgiekonstitution mit dieser Bestimmung
verabschiedete, waren seit der Weihe der Kirche in Schellenberg schon
mehr als zwei Monate vergangen.
1951 hatte Bischof Christianus Caminada anlässlich der Firmung
und bischöflichen Visitation beim Verlassen der Kirche zu Pater Daniel
Lins gesagt: «Es muss etwas geschehen, entweder die alte Kirche reno-
vieren oder eine neue bauen.» Erst seit einem Jahr Pfarrer, ergriff Lins
die Initiative und trug das Anliegen der Gemeinde vor. Am 10. Mai 1956
beschlossen die Bürger mit überwältigender Mehrheit den Bau einer
neuen Kirche. Was dann noch gelöst werden musste, war die Standort-
frage. Am 15. Juli 1958 wurde ein Architekturwettbewerb ausgeschrie-
ben; es war für Liechtenstein der erste internationale Wettbewerb in ei-
nem solchen Bereich.
Der Kirchenbau forderte heraus und wurde kirchlich und politisch
über längere Zeit zu einem beherrschenden Thema der Dorfgemein-
schaft. Umso bedeutender ist, dass Pfarreiangehörigen die Möglichkeit
geboten wurde, die Gestaltung neuer Kirchen kennen zu lernen. Schon
kurz nach der Ausschreibung des Architekturwettbewerbs machten am
26./27. Juli 1958 die damaligen Mitglieder des Kirchenchores, Familien-
angehörige, Pater Daniel Lins und die Mitglieder der Kirchenbaukom-
mission mit Georg Malin als Reiseleiter einen Ausflug zwecks umfas-
sender Information über moderne Kirchenbauten, darunter eine Besich-
tigung in Oberwil (ZG) und der Kapelle von Le Corbusier in Ronchamp
bei Belfort. Dies schuf gegenseitiges Vertrauen und stärkte die Weitsicht
und Überzeugung, auch in Schellenberg ein modernes Gotteshaus zu
schaffen. Vor allem aber wurde damit das Kirchenbild ernst genommen,
das vom Konzil ein halbes Jahrzehnt später verabschiedet wurde: Kirche
als Gemeinschaft aller Glaubenden.
Bis zum 30. November 1958 trafen bei der Gemeinde 25 Projekte
ein, von denen am 5. Januar 1959 der erst 29-jährige Eduard Ladner,
Dipl. Architekt in Adliswil (ZH), den ersten Rang erhielt. Ihm wurde
427
Franz Näscher
mit Zustimmung des Churer Bischofs Christianus Caminada die Aus-
führung übertragen. Am 25. September 1960 erfolgte die Segnung des
Bauplatzes und bereits am 19. März 1961 konnte der Bischof den
Grundstein legen. Die künstlerische Ausstattung wurde Georg Malin
zugesprochen. In der Festschrift zur Kirchweihe schrieb er über sein
Vorgehen:
«Bei der Ausstattung der Kirche versuchte ich überall zu Ur-
sprünglichem und Anfänglichem vorzustossen. In der Form begeg-
nete ich immer wieder dem Elementaren. Im Inhalt aber stiess ich
immer wieder auf den Grund unseres Glaubens. Das ist Christus.»
Das wird bereits beim Weg durch die offene und einladende Vorhalle
zum Eingang deutlich, vorbei am Grundstein, den er mit Schriftzeichen
aus der Christianisierungszeit des Alpenrheintales gestaltete, hin zum
schweren Portal, über dem sich eine schwarze Sonne mit einem versil-
berten Fisch als Christussymbol befindet. Die Buchstaben des grie-
chischen Wortes für Fisch sind nämlich die Anfangsbuchstaben für
«Jesus Christus Gottes-Sohn Erlöser».
Spiralförmig geht der Weg in die Kirche weiter bis zum Chorraum
als Mittelpunkt. Die Spirale ist ein Zeichen für das Kommen zur Mitte.
Die runde Chorwand ist weiss gehalten, denn nichts soll ablenken vom
Entscheidenden, das hier geschieht - am Priestersitz, am Altar, am
Ambo und beim Taufstein. Die Teilnahme an einem Gottesdienst besteht
nicht im Zuschauen und gelangweilten Abwarten, sondern im Mitfeiern
als Gemeinschaft. In der Mitte der Chorrundung steht der Priestersitz
aus weissem Marmor; etwas erhöht weist er darauf hin, dass der Priester,
der dem Gottesdienst vorsteht, den auferstandenen Christus vertritt.
Mittelpunkt zwischen Priester und Volk ist der Altar. Georg Malin
schrieb in der Festschrift zur Kirchweihe über dessen Gestaltung:
«In der Form des Altares wurde versucht, die angedeutete Polari-
tät zu versinnbildlichen. Zwei Marmorblöcke halten die urtümliche
Altarplatte. Sie ist in die tragenden Blöcke eingesenkt und mit
ihnen zur Einheit verwachsen. Das dunkle Steinmaterial wirkt in
all seinen Spielarten, als Fels, als gemeisselter Block, als geschliffe-
ner Stein und als polierter Marmor. Der Reichtum der Steinstruk-
tur dämpft den bedrohlichen Eindruck des Elementarischen. Keine
Zugabe von Ornamenten, Symbolen und Schriftzeichen. Der Stein
ist aus sich selbst zur Würde des Altars gerufen. Und wer an den
428
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Steintisch tritt, wird von ihm auch seitlich gefasst, sowohl vom
Chor wie vom Schiff her, so dass der Herantretende in den Tisch
hineingeht: in der heiligen Messe wird der Celebrant als zweiter
Christus in die Geheimnisse von Christi Leiden, Tod und Aufer-
stehung einbezogen; und wer volksseits zum Tisch tritt, soll im
Herangehen derselben Geheimnisse inne werden.»
Was das Konzil in der dogmatischen Konstitution über die Offenbarung
und deren Verkündigung lehrte, als die Kirche bereits vollendet war,
wird im Ambo zur Rechten des zelebrierenden Priesters deutlich: das
Wort des lebendigen Gottes, das verkündet wird; im Ambo aus weissem
Marmor ist griechisch «logos» («das Wort») eingemeisselt. Zwischen
Ambo und Eingang steht der Taufstein; zur Form heisst es in der Fest-
schrift:
«Wer in dem Wasser gereinigt wird, tritt ein in die Dreieinheit der
Gotteszeichen: Drei kräftige, zum Vieleck gebogene griechische
Tau (Gotteszeichen) halten das Wasser. Im Blick auf die Wasser-
höhe im Stein sollen die Formhaken den Eindruck des Quellhaften
vermitteln.»
Der von Georg Malin für den Innenraum der Kirche Schel-
lenberg gestaltete Taufstein, Ambo und Tabernakel.
429
Franz Näscher
Ein weiteres bedeutendes Werk ist das Sakramentshäuschen zur Linken
des zelebrierenden Priesters, der Tabernakel, der «als Gehäuse der
Eucharistie als einziger sichtbarer Gegenstand vergoldet ist. Der Gold-
kern wird von dunklen Eisenhaken, Symbolen des Irdischen, gefasst und
gehalten» (Festschrift zur Kirchenweihe 1963). Georg Malin gestaltete
ferner die Kerzenständer, die Apostelleuchter, das Vortragekreuz und
das Kreuz auf dem Kirchendach.
Es ist durchaus verständlich, dass nicht alle Pfarreiangehörigen
diese Gestaltung der Kirche gleich verstehen konnten, zumal — wie
erwähnt — das Konzil noch gar nicht begonnen hatte, als sie geplant
wurde. Pfarrer Pater Daniel Lins schreibt darum im Willkommgruss der
besagten Festschrift:
«Wesentliches ist uns neu geschenkt; dafür sind viele herzlich
dankbar. Die sich gar so aufregen gegen diese Einfachheit und
Sachlichkeit, die hätten unseren Herrn vielleicht auch nicht erkannt
wegen seiner Krippe, seines Kreuzes, seines Zimmermannkittels
oder wegen des schlichten Brotes, an das er so Grosses gebunden
für das Heil der ganzen Menschheit.»
Die Kirche von Schellenberg gilt seit ihrer Errichtung als zukunftswei-
sender Sakralbau und hat weit über die Landesgrenzen hinaus Beach-
tung und Anerkennung gefunden. Sie wurde im Dezember 1992 mit der
dazugehörenden Gestaltung des Innenraums unter Denkmalschutz
gestellt. Georg Malin hat mit seiner Arbeit in der Kirche von Schellen-
berg einen bedeutenden Schritt in seinem künstlerischen Schaffen getan.
In unserem Land kamen dazu die folgenden Kirchen und Kapellen, die
von ihm entsprechend dem Liturgieverständnis des Zweiten Vatikani-
schen Konzils ausgestattet wurden.
Kapelle St. Peter in Schaan (1962-1963)
Bei St. Peter als ältestem Zeugnis der Christianisierung des Landes kam
es ab 1961 zu historischen Grabungen und zum Umbau der Kapelle.
Dabei wurde auch der Altarraum neu ausgestattet, anknüpfend an alte
Formen aufgrund der Grabungsergebnisse, aber übereinstimmend mit
der um dieselbe Zeit beginnenden liturgischen Erneuerung durch das
Konzil.
430
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Pfarrkirche St. Laurentius in Schaan (1976-1978)
Bei der Renovation und Neuordnung des Innenraums durch Architekt
Eduard Ladner entwarf Georg Malin die liturgische Ausstattung. Der
Altar kam mitten in der Vierung des Innenraumes der Kirche zu stehen,
seitlich davon der Ambo und dahinter der Priestersitz, alles aus massıi-
vem, gebeiztem Eichenholz. Als Taufort wurde die Stelle des früheren
Hochaltares gewählt; das grosse, bronzene Taufbecken wird von einer
ebenfalls aus massivem Eichenholz erstellten Konstruktion getragen.
Die Bestuhlung auf allen vier Seiten des Altars macht die Versammlung
der Gläubigen rund um den Auferstandenen im Wort und in der Eucha-
ristie deutlich.
Pfarrkirche St. Martin in Eschen (1978)
Bei der 1977 begonnenen grossen Renovation kam es auch zur Neuge-
staltung des Kircheninneren. Der erhöhte Bezirk mit Altar, Ambo und
Priestersitz wurde ins Schiff gerückt; dahinter befindet sich der Tauf-
brunnen. Die Ausstattung ist aus Campiglio-Marmor. In der Sakra-
mentskapelle wurde ein marmorner Altar und die Tabernakeltür aus po-
lierter Bronze gestaltet. Auf dem Sportpark Eschen-Mauren steht zudem
die von Georg Malin gestaltete Gedenkstätte zur Erinnerung an den
Liechtenstein-Besuch von Papst Johannes Paul II. am 8. September 1985.
Pfarrkirche St. Peter und Paul in Mauren (1985-1988)
Für seine Heimatgemeinde arbeitete Georg Malin von Anfang an in der
Kirchenbaukommission als künstlerischer Berater mit. Blickpunkt ist
beim Betreten der Kirche das monumentale Ostersymbol in der Apsis.
Die halbrunde Altarinsel reicht ins Kirchenschiff hinein, wo die Stühle
ım Halbrund aufgestellt sind. Altar, Ambo, Taufbrunnen und Bodenbe-
lag sind aus weissem, braungemustertem Carrara-Marmor. Auch für die
übrige Ausstattung wurden nur hell leuchtende Materialien verwendet,
nämlich Stahl, Bronze und Gold. So lädt der helle Raum zur Gemein-
schaft um den auferstandenen Christus ein.
431
Franz Näscher
Theresienkirche in Schaanwald (1996)
Schon bei der Renovationsplanung vom März 1993 bis Dezember 1995
arbeitete Georg Malin in der Baukommission mit und gestaltete dann
Altar und Priestersitz wie die Bodenplatten aus afrikanischem Impala-
Granit, Ambo, Altarleuchter, zwölf Apostelleuchter und Weihekreuze
aus Chromstahl.
Pfarrkirche St. Fridolin in Ruggell (1997-1999)
Bei der Innenrenovation wurde der Altarraum neu gestaltet. Die Altar-
insel wurde in das Schiff erweitert, darauf befindet sich der Altar aus
Lasa-Marmor, am Rand der Altarinsel der Ambo aus massivem, fein
poliertem Chromnickelstahl, ebenso der Tabernakel mit Relief in der
südlichen Chorbogenwand.
Blick in den Innenraum der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Mauren.
Das urchristliche Kirchenbild erneuert
Hauskapelle im Alters- und Pflegeheim St. Florin in Vaduz (2008)
Sie wurde für die gemeinschaftliche Gottesdienstfeier gestaltet. Doch
bald nach der Fertigstellung kam es zu peinlichen Vorfällen; die Kapelle
wurde zeitweise sogar ausgeräumt und anders eingerichtet.?
Kirchen und Kapellen im Ausland
Zur Tätigkeit im Land kam die Gestaltung der Altarräume von Kirchen
im Ausland durch Georg Malin; es seien in zeitlicher Reihenfolge nur
folgende erwähnt:
— Gossau (ZH), Pfarrkirche Mariä Krönung (erbaut 1958-1959)
— Windisch (AG), St. Marienkirche (erbaut 1963-1965)
— Zürich-Witikon, Pfarrkirche Maria Krönung (erbaut 1963-1965)
— Thusis (GR), Pfarrkirche Guthirt (erbaut 1964-1966)
— Amriswil (TG), St. Stefanskirche (renoviert 1971-1972)
— Mels-Heiligkreuz (SG), Pfarrkirche St. Josef (erbaut 1968-1970)
— Bern, Dreifaltigkeitskirche (renoviert 1972-1974)
— Chur, Erlöserkirche (renoviert 1974)
— Feldkirch, Reichenfeld, Hauskapelle der Jesuiten (erbaut 1979)
— Ebmatingen (ZH), St. Franziskus-Kirche (erbaut 1989-1990)
— Innsbruck, Unterkirche im Dom St. Jakob (erbaut 1990-1993)
— Einsiedeln (SZ), Gnadenkapelle in der Klosterkirche (renoviert
1996-1997)
Dankbare Anerkennung
Insgesamt hat Georg Malin die Altarräume von rund dreissig Kirchen
und Kapellen gestaltet. Dabei wird deutlich, wie sehr ihm das grundle-
gende Anliegen war, das durch das Konzil erneuerte urchristliche Kir-
chenbild umzusetzen und die sakralen Räume für die Liturgie so zu
gestalten, dass bei allem Christus im Mittelpunkt steht und die Gläubi-
3 Siehe hierzu auch die Beiträge von Georges Baur, Janine Köpfli und Dagmar Stre-
ckel im vorliegenden Band.
433
Franz Näscher
gen als Volk Gottes um ihn versammelt feiern. Neben der sonstigen
künstlerischen Tätigkeit hat er damit Grossartiges geschaffen, das in die
Zukunft weist. Dafür gebührt ihm grosse Anerkennung und Dank.
Möge es dem Volk und vor allem den verantwortlichen Seelsorgern ein
Anliegen sein, dass Christus im Sinne der konziliaren Erneuerung immer
mehr zum Mittelpunkt des Lebens und dass die Kirche zum Freundes-
kreis um ihn wird!
LITERATUR
Gemeinde Schellenberg, Pfarreirat (Hrsg.): Die Pfarrkirche zum Unbefleckten Herzen
Mariä in Schellenberg (Text: Robert Büchel-Thalmaier und Werner Meier). 2003.
Guardini, Romano: Vom Geist der Liturgie. 23. Aufl. Grünewald /Schöningh Ostfildern.
Herrmann, Cornelia: Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein. GSK Bern.
Bd. 1: Das Unterland. 2013; Bd. 2: Das Oberland. 2007.
Rahner, Karl; Vorgrimler, Herbert: Kleines Konzilskompendium. Herderbücherei 270,
1966.
Schellenberg meine Gemeinde. Gemeindebulletin. August 2013/2, S. 19-26.
Synode 72 Bistum Chur. Gesamtband, 1977.
Einschlägige Kirchenführer und Festschriften.
ABBILDUNGSNACHWEISE
Gemeindarchiv Schellenberg, Fotos Sven Beham: S. 429
Gemeinde Mauren, Foto Paul Trummer: S. 432
434
Jahre vor, während und nach der Synode 72
in Chur. Erinnerungen, Erfahrungen
und Einschätzungen eines Schaaner Seniors'
Georg Schierscher
Jahre vor der Synode 72
Bei meinem Aufwachsen in Schaan war das Leben noch stark kirchlich
geprägt: In der ersten und zweiten Klasse der Volksschule wurden wir
von einer Zamser Klosterschwester unterrichtet; ausser den Kloster-
schwestern gab es damals keine Volksschullehrerinnen. Der Schulkom-
missar war von Amtes wegen ein geistlicher Herr. Wir Volksschüler
besuchten selbstverständlich (!) die allwöchentliche Schulmesse — wer
fehlte, fiel auf. Gleichaltrige, die keine weiterführende Schule mehr
besuchten, waren zur Christenlehre am frühen Sonntagnachmittag ver-
pflichtet. An gewissen Sonntagen, ebenfalls am Nachmittag, waren die
Pfarreiangehörigen zur Vesper eingeladen. Frauen vom Dritten Orden?
hatten ihre regelmässigen Andachten. Die wenige Freizeit bei der dama-
ligen 5%- oder gar 6-Tage-Woche war also durch manche kirchliche
Anlässe besetzt.
An den Bittgängen durch die Felder und an Prozessionen nahmen
alle Volksschulklassen teil, begleitet von ihren Lehrpersonen. Gespannt
erwarteten wir bei der Fronleichnamsprozession an jeder der Stationen
die Dreierserie an Böllerschüssen und ganz besonders jene zum Evange-
lium und zur Wandlung in der anschliessenden Messe, wobei die Kir-
chenmauern von Mal zu Mal stärker vibrierten.
Bei den Messebesuchen waren die Frauen und Mädchen stets links,
die Männer und Buben rechts in den Bänken des Kirchenschiffes ver-
1 Dass der Schreibende Laiensynodale war, geht aus dem vorangehenden Aufsatz von
Franz Näscher hervor.
2 Dritte Orden sind christliche Gemeinschaften, die jeweils gemeinsam mit einem Or-
denszweig für Männer (Erster Orden) und einem für Frauen (Zweiter Orden) eine
Ordensfamilie bilden.
435
Georg Schierscher
sammelt, unter diesen mitunter der Gemeindeweibel in einer hinteren
Bank beim Schild «Kirchenpolizei». Diese Ordnung wurde selbst bei
den von Zeit zu Zeit stattfindenden Volksmissionen eingehalten. Gele-
gentlich drehte sich der Zelebrant am Altar, beispielsweise zum Gruss
«Dominus vobiscum», zum Volk, und dieses antwortete mit «et cum spi-
ritu tuo». Ob alle Gläubigen wussten, was sie mit dem Kommunionge-
bet «non sum dignus ut intres sub tectum meum, sed tantum dic verbum
et sanabitur anima mea» sagten? Selbst die Ministranten, damals aus-
schliesslich Buben, murmelten das Staffelgebet und weitere «Dienstsätz-
chen» auf Lateinisch.
Sonntagspflicht
Es gab keine Abendmessen, sondern nur die Sonntagsfrühmesse um 6.45
Uhr und die Spätmesse um 9.00 Uhr. Wer die Kommunion empfangen
und folglich nicht allzu lange nüchtern bleiben wollte, stieg gern oder
ungern frühmorgens aus dem Bett und ging zur Frühmesse. Zur Kom-
munion kniete man an der Kommunionbank nieder und bekam die Hos-
tie auf die Zunge gelegt; wenn man Pech hatte, streifte sie ein Fingerna-
gel der gebenden Hand. Einem Trüppchen von vorwiegend männlichen
Kirchgängern schien es jeweils nach dem Ruf der Sonntagsglocken
sowohl zu Hause als auch im Kirchenraum nicht so recht zu behagen: als
Kompromiss erfüllten sie ihre Sonntagspflicht in der Vorhalle und konn-
ten sich so sogar eine Zigarre gönnen.
Unter Laien waren damals kaum Messbücher ausser dem «Can-
tate» im Gebrauch. Es gab keine Kommunionhelfer, keine Laienpredi-
ger, keine Bussfeiern, keinen Pfarreisaal, keinen Pfarreirat, nur eine
Friedhofskommission. Gepredigt wurde von der Kanzel, deutlich er-
höht über den Köpfen der Gläubigen. In frischer Erinnerung ist mir
noch das von der Kanzel verkündete sonntägliche «Heuen erlaubt», und
mehr noch Folgendes: Unmittelbar nach der Messe versammelte sich
vorwiegend der Grossteil der Männer am Fuss der mehrstufigen Kir-
chentreppe und hörte sich die Mitteilungen an, die der Weibel im Auf-
trag des Gemeindevorstehers kundtat. Nicht selten wurden dabei —
wohlgemerkt auf dem Kirchplatz! — die Namen jener Zahlungsunfähi-
gen oder Zahlungsunwilligen ausgerufen, die mit einer Zwangsversteige-
rung zu rechnen hatten.
436
Jahre vor, während und nach der Synode 72 in Chur
Synode 72 in Chur
Die Synode 72 hat sich im Voraus mehrere bedeutsame Ziele gesteckt.
Zwei davon seien hier zitiert:
— «[...] Die Synode will die Beschlüsse und Impulse des [Zweiten
Vatikanischen] Konzils aufnehmen, unsern Verhältnissen entspre-
chend verwirklichen und weiterentwickeln.»?
— «Die Synode will die Mitverantwortung aller in Kirche und Welt
fördern. Darum sind alle, Priester, Ordensleute und Laien, zum
Mitberaten, Mitarbeiten und Mitbeten aufgefordert. Dieses ge-
meinsame Suchen nach einer prospektiven Bewältigung der Pro-
bleme soll mithelfen, die Kirche als glaubwürdig und bedeutsam
auch für die Zukunft zu erweisen.»*
Parlamentarischer Betrieb
Die Synode in Chur bestand aus 164 Mitgliedern, zur Hälfte aus Pries-
tern und Ordensleuten einerseits und andererseits aus Laien verschiede-
nen Alters und Geschlechts sowie aus Vertretern der Gastarbeiter; sie
alle waren an keine Weisungen gebunden. Vertreter anderer Kirchen
nahmen mit beratender Stimme an den Plenarversammlungen teil. Diese
waren öffentlich, die Beratungen über die zwölf Vorlagen, die «in engs-
tem Kontakt mit der Öffentlichkeit erstellt» wurden, erfolgten nach par-
lamentarischem Muster: Zu jeder Vorlage fanden in jedem Fall mindes-
tens zwei Lesungen statt. Für die Annahme einer Sachvorlage in der
Schlussabstimmung war die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Syno-
dalen erforderlich. Dank elektronischer Stimmabgabe war das Abstim-
mungsergebnis schnell erfasst. Für Eingaben von Einzelpersonen oder
Gruppen ausserhalb der Synode bestand ein Petitionsrecht.
3 Konferenz der Bischofsdelegierten Synode 1972 (Hrsg.): Synode 72. Vorbereitung.
Konzeption, 0. O. Dezember 1971 (11 S.), 5. 3 f.
4 A.a.0.,5. 4.
5 Alle Synodalen hatten an ihrem Platz drei verschiedenfarbige Knöpfe vor sich; wenn
ich mich richtig erinnere, Grün für ein Ja, Gelb für Enthaltung und Rot für ein
Nein. Der elektrische Kabelsalat war entsprechend gross!
437
Georg Schierscher
Der Bischof - im Fall von Chur Johannes Vonderach — stand der Synode
vor. Synodenbeschlüsse bedurften seiner Zustimmung, um Rechtskraft
zu erlangen. Er hatte das Vetorecht, musste aber bei dessen Anwendung
seine Entscheidung vor der Plenarversammlung zwecks nachfolgender
vermittelnder Schritte begründen. Ich erinnere mich nicht an einen der-
artigen Fall.
Die lebhaften Diskussionen an den Arbeitssessionen wurden nicht
selten kontrovers geführt; sie waren lehrreich und liessen die damalige
Aufbruchstimmung im Bistum Chur hautnah erleben. Gelegentlich
hatte ich beim Bischof subjektiv den Eindruck, dass ihm nicht immer
wohl war bei der Sache. Andererseits schien mir, dass er — wie das Gros
der Synodalen — grosses Vertrauen hatte in die Verhandlungsleiter und in
Dr. Alois Sustar, den damaligen Bischofsvikar und hochgeschätzten
Motor der Churer Synode.
Öffentlichkeitsarbeit der Synodalen
Der nebenberufliche Arbeitsanfall beanspruchte insbesondere die Laien-
synodalen zeitlich sehr stark. Nicht von ungefähr schrieb Ernst Nigg,
Pressesprecher der Synodengruppe FL, von der Gefahr, in der Papierflut
zu ersticken. Die Synodalen waren zudem gebeten, in der Zeit zwischen
den Sessionen in Chur in öffentlichen Gesprächsrunden aktuelle Syno-
denthemen zu diskutieren. Zwei der Anlässe dieser Art seien im Folgen-
den kurz erwähnt.
Soziale Aufgaben der Kirche in Liechtenstein
Die Synodengruppe FL lud die interessierte Öffentlichkeit auf den
12. Februar 1972 zu einem Podiumsgespräch über «Soziale Aufgaben
der Kirche in Liechtenstein» (in thematischer Anlehnung an die Syno-
denvorlage 8 «Soziale Aufgaben der Kirche») ins Foyer des Liechten-
steinischen Gymnasiums in Vaduz ein. Eingangs referierte Walter Wolf,
Angestellter beim liechtensteinischen Fürsorgeamt, zum Thema «Alters-
probleme in Liechtenstein». In der anschliessenden Diskussion wurde
von Schaaner Teilnehmern spontan angeregt, in ihrer Gemeinde einen
freiwilligen Beitrag zur Altersarbeit zu leisten. Es kam zur Gründung
438
Jahre vor, während und nach der Synode 72 in Chur
der Gruppe «Aktives Alter Schaan», die noch heute jährlich zur Weih-
nachts- und zur Fasnachtszeit einen Altersnachmittag organisiert. Fer-
ner lud diese Gruppe lange Zeit jeden ersten Mittwoch im Monat zu
einem «Altershock» im Schaaner Rathaus ein. Daraus ist schliesslich der
heutige «Treff am Lindarank» entstanden.
Kirche und Ausländer
Die Liechtensteinische Akademische Gesellschaft — mit Georg Malin als
einem ihrer Gründer — veranstaltete am 5. Januar 1974 im Treffpunkt
Ebenholz eine Dreikönigstagung zum Thema «Ausländer in Liechten-
stein». Vier Referate gaben Anstösse zur Gruppenarbeit. Die Synodalin
Sr. Mathild Frick referierte über «Kirche und Ausländer». Im Tagungs-
bericht® ist dazu unter anderem Folgendes zu lesen:
«Die Referentin wusste sich als Mitglied der Synode 72 eingeladen
zur Dreikönigstagung und verstand ihr Votum als eine Art <Zwi-
schenbericht von der Synodearbeit-. Die Synode befasste sich in
erster Linie nur mit Problemen der Gast- und Fremdarbeiter, weil
die Situation dieser Leute in der Schweiz und in Liechtenstein die
unmenschlichste ist und versuchte Grundsätze aufzustellen, die bei
einer Neufassung der Vorschriften für Fremdarbeiter berücksich-
tigt werden sollen.»
Vorbereitung der Synode 72
Es versteht sich von selbst, dass die Synode 72 einer langen Vorbereitung
organisatorischer und inhaltlicher Natur bedurfte. Zu diesem Zweck
wurden verschiedene interdiözesane und diözesane Kommissionen ins
Leben gerufen. Darin wirkten mehrere Personen aus Liechtenstein mit,
wie Dr. Gebhard Matt, damals Pfarrer in Winterthur und späterer
Bischofsvikar von Zürich, als Mitglied der interdiözesanen Vorberei-
6 Erschienen als erstes Heft der Reihe «Kleine Schriften» beim Verlag der Liechten-
steinischen Akademischen Gesellschaft: Ausländer in Liechtenstein. Bericht über
die Dreikönigstagung am 5. Januar 1974, Vaduz 1974.
439
Georg Schierscher
tungskommission, Alt-Regierungschef Alexander Frick als Präsident
der diözesanen Synoden-Wahlkommission und offizieller Vertreter der
Fürstlichen Regierung bei der Synode Chur sowie Ing. Josef Braun als
Präsident der Synodalenwahl in Liechtenstein.
40 Jahre nach der Synode 72
Zum Abschluss der Synode 72 im Bistum Chur verabschiedete die Ple-
narversammlung ein Papier zum Thema «Verwirklichung der synodalen
Entscheidungen und Empfehlungen». In Punkt 1 heisst es wörtlich:
«Ermutigt durch ihre Erfahrungen und zugleich in der Sorge um
die Bekanntmachung und Verwirklichung ihrer Beschlüsse
wünscht die Synode, die zuständigen Instanzen mögen sich darum
bemühen, in die Tat umzusetzen, was die Synode an zahlreichen
Sitzungen erarbeitet und verabschiedet hat. In dieses Engagement
wissen sich die Synodalen miteinbezogen.
Die Synode bittet den Herrn Bischof, das Ordinariat, das Synoden-
Präsidium, den diözesanen und die regionalen Seelsorgeräte, die
Dekanate, Pfarreien und Kirchgemeinden, die geistlichen Gemein-
schaften, die kirchlichen Verbände und Bildungsinstitutionen,
diese Aufgabe als vordringlich zu betrachten.»
Man war sich also bei allem Enthusiasmus bewusst, dass es kirchliche
Reformen mitunter schwer haben. Zu Recht, wenn wir an das Heute im
Erzbistum Vaduz denken. Verschwunden sind nach dessen Einsetzung
das Dekanat und die von ihm aufgebauten Arbeitsstellen und Tätigkei-
ten. Wir haben weder einen Landesseelsorgerat noch in Schaan einen
Pfarreirat. Verschwunden sind die Predigten von Laien, die Kommuni-
onhelfer ... Was ist aus der vom Konzil und von der Synode 72 gefor-
derten Aufwertung des Laienstandes und vom geforderten Dialog
geworden?
Es sieht tatsächlich danach aus, dass man —- wie Günther Boss ver-
mutet — einen «starken heiligen Innenraum schützen» will und sich da-
7 In: «Unausgeschöpfte Potenziale — 50 Jahre nach dem Zweiten Konzil», Liechten-
steiner Vaterland, 18. November 2015.
440
Jahre vor, während und nach der Synode 72 in Chur
bei aber notgedrungen stark abgrenzen muss. Wer sich - ohne Freund
von Beliebigkeit zu sein — darin in seiner Gesinnung nicht hinreichend
wiederfindet, fühlt sich ausgegrenzt, wird im kirchlichen Sinne heimat-
los, sucht sich andere Verbindungen oder zieht sich in sich selbst zurück.
Auf diese Weise werden unsere Kirchen leider immer leerer. Kinder und
Jugendliche sind dort selten anzutreffen, eher noch graue Häupter:
Jugendseelsorge wäre offensichtlich dringend nötig.
Das Erzbistum Vaduz untersteht nur dem Papst, ein Umstand, der
die Isoliertheit geradezu begünstigt. Es fehlt das Korrektiv einer
Bischofskonferenz. Nebenbei frage ich mich im Ernst, wie aufgehoben
sich Franziskus, der jetzige Papst, in der katholischen Kirche Liechten-
stein fühlen würde. Sein pastorales und soziales Engagement erscheint
mir in wohltuendem Kontrast zur hiesigen legalistischen Ausrichtung.
Der nachkonziliare und nachsynodale Prozess von der strikten Ord-
nung zum Leben hat sich bei uns leider ins Gegenteil verkehrt.
Vor mir liegt das Buch von Paul M. Zulehner: Wider die Resigna-
tion in der Kirche. Aufruf zu kritischer Loyalität (Wien: Herder ?1989).
Es ist ein Aufruf an all jene, die sich als mündige Christen nicht genü-
gend ernst genommen fühlen, für ihre Sache einzutreten. Wer weiss,
wahrscheinlich gehören wir, die wir uns in der hiesigen Kirche unwohl
oder von ihr gar ausgegrenzt fühlen, zu den Adressaten des Buches.
441
VI.
GEORG MALIN
Georg Malin - Künstler, Historiker, Politiker
1926
Georg Malin wird am 8. Februar als ältestes von drei Kindern
des Stuckateurs und Bautechnikers Josef Malin und der Hildegard,
geb. Batliner, in Mauren geboren; Bürger von Mauren
1947
Matura an der Klosterschule Disentis
1947-1949
Ausbildung in Bildhauerei bei Alfons Magg in Zürich; Zeichenunter-
richt bei Hans Gisler an der ETH Zürich; Malunterricht in der privaten
Schule von Henry Wabel
1947-1952
Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie an den
Universitäten Zürich und Freiburg i. Ue.
1951
Mitbegründer der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
(LAG); 1954 bis 1955 und 1966 Präsident der LAG
1952
Promotion zum Dr. phil. an der Universität Freiburg ı. Ue. mit einer
Dissertation zur politischen Geschichte Liechtensteins in den Jahren
1800 bis 1815
1953-1955
Gymnasiallehrer für Zeichnen, Werken und Kunstgeschichte in Zürich
1955-1996
Mitglied im Vorstand des Historischen Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein (HVFL)
445
1956
Heirat mit Berty Ziegler (*1926), sechs Kinder
1956-1969
Richter am liechtensteinischen Fürstlichen Obergericht
seit den 1960er-Jahren
— Gestaltung öffentlicher Räume und Innenräume von Kirchen,
u.a. Schellenberg, Eschen, Schaan, Ruggell, Schaanwald, Mauren
— Zahlreiche archäologische Ausgrabungen im Auftrag des HVFL,
u.a. 1969 bis 1977 Kirchhügel Bendern, 1973 bis 1975 Römervilla
Nendeln
1966-1974
Landtagsabgeordneter der Fortschrittlichen Bürgerpartei (FBP)
1968-1996
Erster Konservator der Liechtensteinischen Staatlichen Kunst-
sammlung
1971-1974
Mitglied der Parlamentarischen Beobachterdelegation beim Europarat
zur Vorbereitung des Beitritts Liechtensteins (Beitritt 1978)
1974-1978
Regierungsrat (Ressorts Kultur und Umwelt)
1975
Mitbegründer der Liechtensteinischen Kunstgesellschaft
1984—1986
Präsident der Gesellschaft Schweiz-Liechtenstein
Seit 1955 ist Georg Malin als freischaffender Künstler tätig, vorerst in Zü-
rich, ab 1963 in Mauren. Sein künstlerisches Schaffen umfasst Skulpturen
in Bronze, Stein und Stahl, Zeichnungen und Aquarelle, die Innenraum-
gestaltung zahlreicher Sakralbauten sowie rund 100 Briefmarken. Er
hatte Einzel- und Gruppenausstellungen in Liechtenstein, der Schweiz,
Österreich, Deutschland Frankreich, Italien, Jugoslawien, Argentinien,
Malta, Luxemburg und Belgien. Malins Skulpturen sind an vielen Orten
in Liechtenstein, der Schweiz, Österreich und Deutschland im öffentli-
chen Raum, auf Firmengeländen und im privaten Bereich vertreten.
446
Preise und Auszeichnungen
1981
1992
1993
1996
1999
2000
2002
2006
2011
Komtkurkreuz mit Stern des Fürstlich Liechtensteinischen
Verdienstordens
Oberrheinischer Kulturpreis der Johann-Wolfgang-von-
Goethe-Stiftung, Basel
Ehrenmitglied der Liechtensteinischen Kunstgesellschaft
Ehrenmitglied des Historischen Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein
Ehrenrat Kulturkreis Liechtenstein-Weimar
Ehrenmitglied der Gesellschaft Schweiz-Liechtenstein
Ehrenmitglied der Liechtensteinischen Akademischen
Gesellschaft
Anerkennungspreis des Kulturbeirats der liechtensteini-
schen Regierung
Ehrenmitglied der «IDEE-SUISSE»
447
Bibliografie (Auswahl)
SELBSTSTÄNDIGE SCHRIFTEN, HERAUSGEBERSCHAFTEN ETC.
Wer Bescheid weiss, ist bescheiden. Vaduzer Predigt 1974. KS 2. Vaduz 1974.
Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren 1800-1815. Diss.
Universität Freiburg i.Üe. JBL 53 (1953), S. 5178.
Als Herausgeber:
Bestandeskatalog Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung. Vaduz /Bern 1995.
Kunstführer Fürstentum Liechtenstein. 2. Aufl. Bern 1977.
Als Bearbeiter:
Liechtensteinisches Urkundenbuch. Teil I: Von den Anfängen bis zum Tod Bischof Hart-
manns von Werdenberg-Sargans-Vaduz 1416. Band 4: Aus den Archiven des Fürsten-
tums Liechtenstein. Vaduz 1963/1965.
BEITRÄGE IN SAMMELBÄNDEN
Begegnung mit Hans Brunhart. In: Mario Frick / Michael Ritter / Andrea Willi (Hrsg.): Ein
Bürger im Dienst für Staat und Wirtschaft. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans
Brunhart. LPS 56. Schaan 2015. S. 13-16.
Gerard Batliner 1928-2008. In: Liechtenstein-Institut (Hrsg.): «Was will Liechtenstein
sein?» Texte aus dem Nachlass von Gerard Batliner (1928-2008). LPS 46. Schaan 2009.
S$. 21-30.
200 Jahre souveränes Fürstentum Liechtenstein. In: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Klein-
staaten in Europa. LPS 42. Schaan 2007. S. 225-250.
Dorf- und Pfarreigeschichte. In: Herbert Oehri (Hrsg.): Menschen, Bilder und Geschich-
ten. Mauren von 1800 bis heute. Band 1. Eschen 2006. S. 94-115.
Die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung. In: Tiroler Landesmuseum Ferdinan-
deum (Hrsg.): Von Pablo Picasso bis Henry Moore. Meisterwerke aus der Liechten-
steinischen Staatlichen Kunstsammlung Vaduz. Innsbruck 1993. S. 10-13.
Kunsthaus Vaduz: eine Illusion? In: Herbert Batliner. Festgabe zum 60. Geburtstag. Vaduz
1988. S. 297-303.
448
Zur Kirchenrenovation. In: Gemeinde Mauren (Hrsg.): Renovation Maurer Pfarrkirche
St. Peter und Paul 1985-1988. Mauren 1988. S. 17-23.
Eschen «St. Martin». Spätantike Pfostenbauten und Kirchen (merowingisch bis gotisch).
In: HVFL (Hrsg.): Ergrabene Geschichte. Die archäologischen Ausgrabungen im Fürs-
tentum Liechtenstein 1977-1984. Ausstellung im Liechtensteinischen Landesmuseum
Vaduz, 31. März — 31. Oktober 1985. Vaduz 1985. S. 16-21.
Kulturpolitik als Verpflichtung europäischer Kleinstaaten. In: Liechtenstein in Europa.
LPS 10. Vaduz 1984. S. 107-131.
Die Geschichte Liechtensteins. In: Fürstentum Liechtenstein. Zürich 1978. S. 76-137.
Was heisst: an den Schöpfer glauben? In: Christoph Möhl (Hrsg.): Vaduzer Predigten.
Zürich / Köln 1978. S. 112-121.
Die Beziehungen Schweiz-Liechtenstein. Eine historische Skizze. In: Gute Nachbarschaft.
Schriftenreihe der Gesellschaft Schweiz-Liechtenstein, Nr. 1. St. Gallen 1974. S. 15-23.
Bemerkungen zu 150 Jahre Liechtensteinische Außenpolitik. In: Beiträge zur liechtenstei-
nischen Staatspolitik. Herausgegeben zum 50jährigen Bestehen des liechtensteinisch-
schweizerischen Zollvertrages. LPS 2. Vaduz 1973. S. 49-55.
Zur liechtensteinischen Kulturpolitik. In: Fragen an Liechtenstein. Vorträge. LPS 1. Vaduz
1972. S. 3145.
BEITRÄGE IN ZEITSCHRIFTEN UND PERIODIKA
Die Osterkapelle im Haus St. Florin in Vaduz. Fenster — Magazin des Vereins für eine offe-
ne Kirche 1 (2011), S. 12-13.
Zu den Glasfenstern in der Kirche Schellenberg. Eintracht 26 (2001), S. 20-23.
Das alte Pfarrhaus auf dem Kirchhügel Bendern. JBL 98 (1999), S. 143-202.
Kapelle St. Georg in Schellenberg. JBL 80 (1980), S. 7-56.
Mittelalterliche Baureste in Nendeln, Oberstädtle. JBL 80 (1980), S. 287-296.
Ausgrabungen auf dem Kirchhügel von Bendern. Helvetia Archaeologica 9 (1978) 34/36,
$. 223-234.
800 Jahre Dorfgeschichte. Zur Geschichte von Mauren. Amts- und Informationsblatt der
Gemeinde Mauren 30 (1978), S. 23-30.
Zur liechtensteinischen Kulturpolitik. Jahrbuch der Liechtensteinischen Kunstgesellschaft
1 (1976), S. 181-218.
Römerzeitlicher Gutshof in Nendeln. JBL 75 (1975), S. 1-144.
Zur Baugeschichte der Musikschule in Vaduz. JBL 68 (1968), S. 219-239.
Die Wappenscheibe Ulrichs von Ramschwag und seiner Frau Barbara von Hallwil. JBL 59
(1959), S. 361-368.
Das Gebiet Liechtensteins unter römischer Herrschaft. JBL 58 (1958), S. 9-91.
Die Souveränität Liechtensteins. JBL 55 (1955), S. 7-22.
449
VII
ANHANG
Abkürzungsverzeichnis
a.a.0.
Abb.
Abs.
Abs.
AG
Alt.
a.M.
Anm.
Art.
ASW
Aufl.
Bd./Bde.
BGS
BIP
Bst.
BuA
BUB
BZG
bzw.
Ca.
chURG
CS
d.A.
DDT
DE
am angegebenen Ort
Abbildung
Abgeordneter (des Landtags)
Absatz
Kanton Aargau
Alternative
am Main
Anmerkung
Artikel
Amtliches Sammelwerk der vor dem 1. Januar 1863 erlassenen
Rechtsvorschriften in bereinigter Form, LR 170.521
Auflage
Band/Bände
Sanierung der Alp- und Berggebiete
Bruttoinlandprodukt
Buchstabe
Bericht und Antrag der Regierung
Bündner Urkundenbuch
Botanisch-Zoologische Gesellschaft Liechtenstein-Sarganserland-
Werdenberg
beziehungsweise
circa
(schweizerisches) Bundesgesetz über das Urheberrecht und ver-
wandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz, URG) vom 9. Okto-
ber 1992, SR 231.1
Chartularium Sangallense
der Autor/die Autorin
Dichlordiphenyltrichlorethan
Deutschland
453
ders.
d.h.
Diss.
Dr.
Dr. phil.
DSchG
DU
ebd.
EFTA
et al.
etc.
ETH
EU
e.V.
EWR
F&E
FBP
ff.
FIFG
FL
FL
Fn.
Freiburg 1. Br.
Freiburg i. Üe.
geb.
GR
ha
HLFL
Hrsg.
ibid.
Ing.
1R.
454
Abkürzungsverzeichnis
derselbe
das heisst
Dissertation
Doctor
Doctor philosophiae
Denkmalschutzgesetz vom 14. Juni 1977, LGBI. 1977 Nr. 39,
LR 445.0;
Gesetz vom 28. Februar 1944 betreffend den Denkmalschutz,
LGBl. 1944 Nr. 4
Die Unabhängigen
ebenda
European Free Trade Association (Europäische Freihandels-
assozlation)
et alii (und andere)
et cetera
(schweizerische) Eidgenössische Technische Hochschule
Europäische Union
eingetragener Verein
Europäischer Wirtschaftsraum
Forschung und Entwicklung
folgende
Fortschrittliche Bürgerpartei
folgende
(geplantes) Forschungs- und Innovationsförderungsgesetz
Freie Liste
Fürstentum Liechtenstein
Fussnote(n)
Freiburg im Breisgau
Freiburg im Üechtland
geborene
Kanton Graubünden
Hektar
Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein
Herausgeber/Herausgeberschaft
ibidem (ebenda)
Ingenieur
im Ruhestand
JBL
Jh.
KGG
k.k.
km
km?
KMU
KS
KTI
LAG
LAK
LGBl.
LGU
lit.
LLA
LPS
LR
LSK
LtProt.
LUB
LV
Mio.
m. N.
MoMA
MS
m.w.H.
OECD
o.D.
o.J.
0.0.
OSB
Abkürzungsverzeichnis
Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein
Jahrhundert
(geplantes) Gesetz über den Schutz, die Erhaltung und die Pflege
von Kulturgütern (Kulturgütergesetz)
kaiserlich-königlich
Kilometer
Quadratkilometer
kleine und mittlere Unternehmen
Kleine Schriften
(schweizerische) Kommission für Technologie und Innovation
Liechtensteinische Akademische Gesellschaft
Liechtensteinische Alters- und Krankenhilfe
Landesgesetzblatt
Liechtensteinische Gesellschaft für Umweltschutz
litera (Buchstabe)
Liechtensteinisches Landesarchiv
Liechtenstein — Politische Schriften
Systematische Sammlung der liechtensteinischen Rechtsvorschriften
Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung
Landtagsprotokoll
Liechtensteinisches Urkundenbuch
Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921,
LGBl. 1921 Nr. 15, LR 101
Meter
Million(en)
mit Nachweis
Museum of Modern Art
Missionare Unserer Lieben Frau von La Salette
mit weiteren Hinweisen
Nummer
Organization for Economic Cooperation and Development (Orga-
nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
ohne Datum
ohne Jahr
ohne Ort
Ordo Sancti Benedicti (Orden des heiligen Benedikt)
455
Prof.
RB
resp.
RV
Rz.
S.
SG
SNF
SR
Sr.
St.
SZ
TG
u.a.
UB südl. St. Gallen
UHK
UNO
URG
US
USW.
Va.
vgl.
VLAG
VS
VU
z.B.
ZG
ZH
456
Abkürzungsverzeichnis
Professor
Regula Benedicti (Benediktusregel)
respektive
Regierungsvorlage
Randziffer(n)
Seite(n)
Kanton St. Gallen
Schweizerischer Nationalfonds
(schweizerische) Systematische Sammlung des Bundesrechts
(Ordens-)Schwester
Sankt
Kanton Schwyz
Kanton Thurgau
unter anderem/und andere
Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St. Gallen
Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg
United Nations Organization (Vereinte Nationen)
Gesetz vom 26. Oktober 1928 betreffend das Urheberrecht an
Werken der Literatur und Kunst, LGBl. 1928 Nr. 12;
Gesetz vom 19. Mai 1999 über das Urheberrecht und verwandte
Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz), LGBl. 1999 Nr. 160, LR 231.1
United States [of America] (Vereinigte Staaten [von Amerika])
und so weiter
vor allem
vergleiche
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
Kanton Valais/Vallese/Wallis
Vaterländische Union
zum Beispiel
Kanton Zug
Kanton Zürich
Über die Autoren
Georges Baur
*1961. Seit 2012 Assistant Secretary-General (Beigeordneter Generalse-
kretär) beim EFTA-Sekretariat in Brüssel. 2003 bis 2012 stellvertreten-
der Missionschef bei der Mission des Fürstentums Liechtenstein bei der
EU in Brüssel. 2000 bis 2003 Berater der Regierung des Fürstentums
Liechtenstein für Finanzplatzfragen. Zuvor Tätigkeit in einer liechten-
steinischen Anwaltskanzlei und im Rechtsdienst einer liechtensteini-
schen Bank. Promotion an der Universität Zürich und Erlangung des
Anwaltspatents des Kantons Zürich. Von 1996 bis 2003 Mitglied des
Wissenschaftlichen Rates des Liechtenstein-Instituts, ab 2000 als dessen
Vorsitzender. Publikationen vor allem zum Recht des EWR, zum Völ-
kerrecht und zum liechtensteinischen Recht.
Klaus Biedermann
*1963 als zehntes Kind von Anny und Franz Biedermann-Manahl. His-
toriker und Redaktor. Primarschule und Gymnasium in Vaduz. Studium
der Geschichte und Anglistik in Bern. Lizentiatsarbeit «Das Rod- und
Fuhrwesen im Fürstentum Liechtenstein. Eine verkehrsgeschichtliche
Studie mit besonderer Berücksichtigung des späten 18. Jahrhunderts»
(1994), publiziert im Jahrbuch des Historischen Vereins, Band 97. 1995
bis 2008 Geschäftsführer des Historischen Vereins, seit 1997 Redaktor
des vereinseigenen Jahrbuchs. Zahlreiche Publikationen zur liechtenstei-
nischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, so zum Beispiel: «<Aus
Überzeugung, dass er der Gemeinde von grossem Nutzen seyn werde.
Einbürgerungen in Liechtenstein im Spannungsfeld von Staat und Ge-
meinden 1809-1918» (erschienen 2012).
457
Über die Autoren
Günther Boss
*1969 in Vaduz. Studium der Philosophie und Theologie in Freiburg
i.Ue. und München. 1995 Lizentiat in Theologie. 2005 Promotion zum
Dr. theol. mit einer Arbeit über Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg,
erschienen unter dem Titel «Verlust der Natur» als Band 74 der Inns-
brucker theologischen Studien. Spielt in verschiedenen Ensembles Kla-
vier oder Schlagzeug; musikalische Ausbildungen u. a. am Conservatoire
de Fribourg, an der new jazzschool munich sowie am drummer’s focus
München. Arbeitet derzeit als Forschungsbeauftragter am Liechten-
stein-Institut im Bereich Kirche, Religion, Gesellschaft, Staat.
Mario F. Broggi
*1945 in Sierre (Wallis). Schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Auf-
gewachsen in Allschwil (Baselland). 1969 Abschluss des Studiums der
Forstwissenschaften an der ETH Zürich. 1986 Doktorat an der Univer-
sität für Bodenkultur in Wien. 1999 Habilitation an der Universität
Wien. Langjähriger Dozent an den Universitäten Basel und Wien. 1969
bis 1997 freierwerbender Ökologe mit Bürositzen in Zürich, Mäder
(Vorarlberg), Wien und Vaduz/Schaan. 1997 bis 2004 Direktor der Eid-
genössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft
(WSL), Birmensdorf ZH. 1983 bis 1992 Präsident der Internationalen
Alpenschutzkommission CIPRA. 1970 bis 1992 Präsident der Bota-
nisch-Zoologischen Gesellschaft Liechtenstein-Sarganserland-Werden-
berg. 1973 bis 1986 Geschäftsführer der Liechtensteinischen Gesellschaft
für Umweltschutz (LGU). 2007 bis 2014 Hochschul- und Universitäts-
rat Liechtenstein. 2008 bis 2016 Wissenschaftlicher Beirat des Liechten-
stein-Instituts. Mitwirkung in zahlreichen Naturschutz-Stiftungen.
Barbara Bühler
*1968 in Liechtenstein. Ausbildung zur Restauratorin für archäologi-
sches Kulturgut. Tätigkeiten am Landesmuseum Zürich, am Mus&e Ro-
main, Avenches, sowie bei der Archäologie Liechtenstein. Seit 1999
selbstständige Architektur- und Kunstfotografin. 2008 Atelierstipen-
dium in Berlin. Lebt in Basel. Ausstellungen u. a. in folgenden Institutio-
nen: Swiss Photo Award, short-listed, Photobastei, Zürich; Contempo-
rary Art Center, Malta; Art in geo-cultural micro-areas, Milano; Moya,
Wien; Goethe-Institut, Washington D. C.; Kunstmuseum Liechtenstein;
Internationales Fotofestival, Zadar, Kroatien; Noorderlicht, Internatio-
458
Über die Autoren
nales Fotofestival, Groningen; Tama Budaya, Art Center, Yogjakarta;
Visarte M54, Basel. Publikationen in internationalen Architekturzeit-
schriften, Büchern und Kunstverlagen.
Christian Frommelt
*1982. Wohnhaft in Schaan. Politikwissenschaftler. Studium an der Leo-
pold-Franzens-Universität Innsbruck. Seit 2009 am Liechtenstein-Insti-
tut tätig.
Fabian Frommelt
*1971. Studium der Allgemeinen Geschichte, der Volkswirtschaftslehre
und des Völkerrechts an der Universität Zürich, Lizenziat. Danach
Redaktionsleiter beim Historischen Lexikon des Fürstentums Liechten-
stein. Seit 2008 Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut ın
Bendern.
Claudius Gurt
*+1955. Studium der Allgemeinen Geschichte, Germanistik und Linguis-
tik an der Universität Zürich. Mehrjährige Mitarbeit am Liechtensteini-
schen Namenbuch (Quellenbearbeitung für die historischen Namenbe-
lege). Seit 1998 Bearbeiter des Liechtensteinischen Urkundenbuchs Teil
II für die von 1417 bis 1510 dauernde Herrschaftszeit der Freiherren von
Brandis. Daneben Erschliessungsarbeiten (Urkunden-Transkriptionen
und Regest-Erschliessung) der alten Archivbestände in verschiedenen
Gemeindearchiven.
Elisabeth Huppmann
*1978. Musikpädagogikstudium an der Zürcher Hochschule der Künste
(Eidgenössisch diplomierte Musikpädagogin 2003). Kulturmanagement-
studium an der Musikhochschule Wien (Master of Advanced Studies
2005). 2003 bis 2006 Assistenz im Orchesterbüro des Wiener Jeunesse-
Orchesters. 2007 bis 2014 Leiterin der Kulturredaktion beim «Liechten-
steiner Vaterland». 2010 Gründung der Firma «creakult» im Bereich kul-
turelle Dienstleistungen und Musikunterricht. Seit 2014 Kulturbeauf-
tragte der Gemeinde Mauren.
459
Über die Autoren
Janine Köpfli
Journalistin und stellvertretende Chefredaktorin beim «Liechtensteiner
Vaterland». Seit über 15 Jahren journalistisch tätig. Leiterin der Kultur-
zeitung «KuL», die seit zehn Jahren jeden Monat erscheint. Studierte
Journalismus und Betriebswirtschaft und interessiert sich vor allem für
die Menschen, die in einem Unternehmen gemeinsam an Ideen und Pro-
dukten arbeiten. Kürzlich kam ihr zweites Kind auf die Welt. Lebt mit
ihrer Familie in Schaan.
Friedemann Malsch
*1955 in Bielefeld. Dr. phil. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte,
Romanistik, Soziologie und Städtebau in Freiburg, Bonn und Paris.
Dissertation in Kunstgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn. 1983 bis 1993 freier Kunstkritiker und Ausstellungsmacher in
Köln. 1989/90 Beauftragter für Videokunst am Folkwang-Museum,
Essen. 1990 bis 1993 freier Mitarbeiter des Kölnischen Kunstvereins für
Video-Kunst; Lehrbeauftragter für Kunstgeschichte an der Ecole Regio-
nale des Beaux-Arts, Nancy. 1993 bis 1996 Kustos für Zeitgenössische
Kunst am Muse d’Art Moderne et Contemporain de la Ville de Stras-
bourg; Lehrbeauftragter für Kunstgeschichte an der Ecole Nationale des
Arts Decoratifs, Strassburg. 1996 bis 2000 Konservator der Liechten-
steinischen Staatlichen Kunstsammlung, Vaduz. Gründungsdirektor des
Kunstmuseums Liechtenstein (Sammlung, Bau, Institution). Seit 2000
Direktor des Kunstmuseums Liechtenstein, Vaduz. 2011 bis 2014 Präsi-
dent der IKT (Internationale Kunstausstellungsmacher-Tagung). 2014
Justus-Bier-Preis für kuratorische Exzellenz (für die Ausstellung und
den Katalog «Lens-Based Sculpture. Die Veränderung der Skulptur
durch die Fotografie»).
Wilfried Marxer
*1957. Wohnhaft in Triesen. Politikwissenschaftler. Studium an der Lud-
wig-Maximilians-Universität München und der Freien Universität Ber-
lin. Doktorat an der Universität Zürich. Direktor und Forschungsleiter
Politikwissenschaft des Liechtenstein-Instituts in Bendern.
Franz Näscher
*1938. Pfarrer i1.R. in Bendern. Gymnasium Mehrerau, Bregenz. Priester-
seminar Chur. 1965 Priesterweihe. 1965 bis 1975 Vikar in Siebnen (SZ).
460
Über die Autoren
1975 bis 1979 Kaplan in Balzers. 1979 bis 2003 Pfarrer in Vaduz. 1978 bis
1986 und 1995 bis 1997 Dekan.
Hubert Ospelt
*1951. 1963 bis 1971 Collegium Marianum, Vaduz, Matura Typ B. 1971
bis 1972 Georgia Institute of Technology, Atlanta (USA). 1972 bis 1977
Architekturstudium / Diplom ETH, Zürich. 1978 bis 1979 Ecole des
Beaux Arts, Genf. 1979 bis 2003 Architekturbüro, Wettbewerbserfolge,
Realisierung öffentlicher Bauten. 1986 bis 1987 Architekturdozent LIS,
Vaduz. 1991 bis 1993 Nachdiplomstudium Raumplanung / Diplom ETH,
Zürich. 1998 bis 2001 Architekturdozent FH Liechtenstein, Vaduz. 2004
bis 2012 Landesplaner Liechtenstein, Vorsitz Gestaltungskommission.
Seit 2013 Beschäftigung mit Bau-Raum-Kunst.
Catarina Proidl
1995 Abschluss des Studiums der Landschaftsarchitektur an der Univer-
sıtät für Bodenkultur (BOKU) in Wien. 1997 bis 1998 berufsbegleiten-
der Lehrgang zur Mediatorin/Prozessbegleiterin in der Dorf- und
Regionalentwicklung in Kornberg, Steiermark. Nach Studienabschluss
Mitarbeit in Landschaftsarchitektur-, Architektur- und Raumplanungs-
büros in Wien. 2000 bis 2006 parallel dazu Lehrbeauftragte an der
TU Wien sowie an der BOKU Wien. 2006 bis 2009 Mitglied im inter-
diszipliniren Forschungsprojekt der Hochschule Liechtenstein «Per-
spektiven Alpenrheintal», Themenschwerpunkt Landschaft und Sied-
lungsraum. Seit 2009 Teilzeitmitarbeiterin der liechtensteinschen Lan-
desverwaltung (Amt für Bau und Infrastruktur — Raumentwicklung),
seit 2010 parallel dazu selbstständige Landschaftsarchitektin mit Büro-
sitz in Schaan.
Rupert Quaderer
*1942. Von Schaan. Studium der Geschichte und der Germanistik in
Freiburg i. Ue. und in Wien. 1968 Dr. phil. I. 1969 bis 2002 Lehrer am
liechtensteinischen Gymnasium. 1990 bis 1994 und 1999 bis 2014 For-
schungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut in Bendern mit dem
Forschungsauftrag «Geschichte des Fürstentums Liechtenstein vom
Ersten Weltkrieg bis zur Krise der Zwanzigerjahre (1926)». Zahlreiche
Publikationen zur liechtensteinischen Geschichte des 19. und 20. Jahr-
hunderts.
461
Über die Autoren
Emanuel Schädler
*1983. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bern (Ba-
chelor of Law 2007, Master of Law 2009). 2009 bis 2013 wissenschaftli-
cher Assistent am Departement für Grundlagenfächer (römisches Recht,
Rechtsgeschichte) der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität
Bern. 2013 Promotion zum Doctor iuris. 2013 und 2014 Rechtsprakti-
kant beim Rechtsdienst der liechtensteinischen Regierung und Gerichts-
praktikant am Fürstlichen Landgericht Vaduz. 2014 und 2015 Konzi-
pient bei einer liechtensteinischen Rechtsanwaltskanzlei. Seit 2015 For-
schungsbeauftragter im Fachbereich Recht am Liechtenstein-Institut in
Bendern. Seit 2016 Verlagsleiter des Verlages der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft.
Georg Schierscher
*1942. Aufgewachsen in Schaan. Diplom-Studium mit Hauptfach Ma-
thematik in Freiburg i. Üe. Von 1970 bis zur Frühpensionierung im Jahr
2002 Lehrer für Mathematik, Physik und Informatik am Liechtensteini-
schen Gymnasium in Vaduz.
Martina Sochin D’Elia
*1981. Von Eschen. Studium der Zeitgeschichte (Hauptfach), Medien-
und Kommunikationswissenschaften sowie Volkswirtschaftslehre (Ne-
benfächer) in Freiburg i. Ue. 2007 Lizenziat. 2007 bis 2011 Doktorandin
am Liechtenstein-Institut. 2011 Doktorat. Seit 2011 Forschungsbeauf-
tragte im Fachbereich Geschichte am Liechtenstein-Institut. Verschie-
dene Publikationen zu den Themen Migration, Ausländer, Integration,
Flüchtlinge, Bürgerrecht, Liechtensteiner Schulwesen, Katholizismus,
Frauengeschichte.
Dagmar Streckel
Studium der Kunstgeschichte, des Städtebaus und der Italienischen Lite-
raturwissenschaft in Bonn (D) und Rom (I). Magister Artium über den
Schweizer Künstler Andre Thomkins. Freie Kunsthistorikerin und Kura-
torin. Textbeiträge für Fachzeitschriften, Ausstellungskataloge und Publi-
kationen zu Aspekten zeitgenössischer Kunst. Konservatorin des künst-
lerischen Nachlasses von Anne Marie Jehle (1937-2000), Vaduz, und Be-
auftragte für den künstlerischen Nachlass von Andre Thomkins (1930—
1985), Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz. Lebt und arbeitet in Schaan.
462
Über die Autoren
Martin Walch
1988 bis 1992 Besuch der Hochschule für Angewandte Kunst, Wien, mit
Studienfächern Visuelle Kommunikation, Malerei und Grafik. Seit 1992
als freischaffender Künstler tätig. Lehrtätigkeit im In- und Ausland.
Auslandstipendien der Regierung des Fürstentums Liechtenstein sowie
des österreichischen Bundeskanzleramtes für Kunst mit Aufenthalten in
Jekaterinburg/Russland (1993), New York (1997) und Japan (2000).
Diverse Preise für themenbezogene künstlerische Wettbewerbsbeiträge
und Kunst-am-Bau-Projekte; Preisträger der Sussmann-Stiftung, Wien
(2002). Seit August 2015 Direktor der Kunstschule Liechtenstein.
Herbert Wille
*1944 in Balzers. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität
Freiburg i.Ue. 1968 Lizentiat. 1972 Promotion zum Dr. iur. utriusque
mit der Dissertation «Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein».
1970 bis 1986 Ressortsekretär der Regierung. 1986 bis 1993 Mitglied der
Regierung als Regierungschef-Stellvertreter. 1993 bis 1997 Vorsitzender
der Verwaltungsbeschwerdeinstanz (ab 2003: Verwaltungsgerichtshof).
1993 bis 2015 Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut in Ben-
dern. Zahlreiche Veröffentlichungen zum liechtensteinischen Recht, ins-
besondere zum Staats- und Verwaltungsrecht, zum Staatskirchenrecht
sowie zur Rechtsgeschichte.
Guido Wolfinger
*1952 in Balzers. Besuch der Primarschule in Balzers und des Gymnasi-
ums in Vaduz. Lehramtsstudium für Sekundarschulen in Freiburg i. Ue.
(sprachliche Richtung). 1975 bis 1992 Reallehrer in Schaan. 1988 bis 1992
Inspektor für die Realschulen. Anschliessend bis zur Pensionierung 2012
Leiter des Schulamtes des Fürstentums Liechtenstein. Seit 2012 Vorsit-
zender des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein.
463
Publikationen im Verlag der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft
Informationen über das Verlagsprogramm finden Sie auf
www.verlag-lag.lı
Liechtenstein Politische Schriften
(LPS)
LPS 1 Fragen an Liechtenstein. Mit Bei-
trägen von Robert Allgäuer, Gerard Batli-
ner, Hans Brunhart u.a. Vaduz 1972,
1265.
LPS 2 Beiträge zur liechtensteinischen
Staatspolitik. Mit Beiträgen von Clemens
Amelunxen, Gerard Batliner, Livia Brot-
schi-Zamboni u.a. Vaduz 1973, 92 5.
LPS 3 Beiträge zum liechtensteinischen
Selbstverständnis. Mit Beiträgen von
Christian Beusch, Josef Biedermann, Hans
Brunhart u.a. Vaduz 1973, 253 S.
LPS 4 Walter Bruno Gyger: Das Fürsten-
tum Liechtenstein und die Europäische
Gemeinschaft. Vaduz 1975, 244 5.
LPS 5 Dieter J. Niedermann: Liechten-
stein und die Schweiz. Eine völkerrechtli-
che Untersuchung. Vaduz 1975, 175 S.
LPS 6 Probleme des Kleinstaates gestern
und heute. Mit Beiträgen von Gerard Bat-
liner, Hanspeter Jehle, Mario von Ledebur
u.a. Vaduz 1976, 215 S.
LPS 7 Institut für Demoskopie Allens-
bach; Norbert Jansen; Peter Geiger: Das
Bild Liechtensteins im Ausland. Vaduz
1977, 167 5.
LPS 8 Beiträge zur geschichtlichen Ent-
wicklung der politischen Volksrechte, des
Parlaments und der Gerichtsbarkeit in
Liechtenstein. Mit Beiträgen von Peter
Geiger, Alois Ospelt, Rupert Quaderer
und Herbert Wille. Anhang: Verfassungs-
texte 1808-1918. Vaduz 1981, 301 S.
LPS 9 Gerard Batliner: Zur heutigen Lage
des liechtensteinischen Parlaments. Vaduz
1981, 191 5.
LPS 10 Liechtenstein in Europa. Mit
Beiträgen von Marzell Beck, Werner Kägi,
Mario von Ledebur u.a. Vaduz 1984,
252 S. (vergriffen).
LPS 11 Edwin Loebenstein; Georg
Schmid; Dietmar Willoweit: Die Stellver-
tretung des Fürsten. Vaduz 1985, 131 5.
LPS 12 Job von Nell: Die politischen
Gemeinden im Fürstentum Liechtenstein.
Vaduz 1987, 252 S. (vergriffen).
LPS 13 Thomas Allgäuer: Die parlamen-
tarische Kontrolle über die Regierung im
Fürstentum Liechtenstein. Vaduz 1989,
4055.
LPS 14 Peter Geiger; Arno Waschkuhn
(Hrsg.): Liechtenstein: Kleinheit und In-
terdependenz. Vaduz 1990, 300 S.
LPS 15 Helga Michalsky (Hrsg.): Politi-
scher Wandel in konkordanzdemokrati-
schen Systemen. Vaduz 1991, 189 5.
LPS 16 Arno Waschkuhn (Hrsg.): Klein-
staat. Grundsätzliche und aktuelle Pro-
bleme. Vaduz 1993, 356 S.
465
Publikationen im Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
LPS 17 Peter Geiger (Hrsg.): Peter Kaiser
als Politiker, Historiker und Erzieher
(1793-1864). Im Gedenken an seinen
200. Geburtstag. Vaduz 1993, 93 S.
LPS 18 Arno Waschkuhn: Politisches
System Liechtensteins: Kontinuität und
Wandel. Vaduz 1994, 417 S.
LPS 19 Alois Riklin; Gerard Batliner
(Hrsg.): Subsidiarität. Ein interdisziplinä-
res Symposium. Vaduz 1994, 451 S.
LPS 20 Wolfram Höfling: Die liechten-
steinische Grundrechtsordnung. Eine kri-
tisch-systematische Bestandsaufnahme der
Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs un-
ter Berücksichtigung der Grundrechtsleh-
ren des deutschsprachigen Raumes. Vaduz
1994, 281 5.
LPS 21 Gerard Batliner (Hrsg.): Die
liechtensteinische Verfassung 1921. Ele-
mente der staatlichen Organisation. Vaduz
1994, 372 5.
LPS 22 Hans Karl Wytrzens: Der Boden-
markt in Liechtenstein. Eine sozial- und
wirtschaftswissenschaftliche Analyse. Va-
duz 1996, 302 S.
LPS 23 Andreas Kley: Grundriss des
liechtensteinischen Verwaltungsrechts. Va-
duz 1998, 342 S.
LPS 24 Franz J. Heeb: Der Staatshaushalt
des Fürstentums Liechtenstein. Institutio-
nelle Analyse der Ausgabenentwicklung,
Beschreibung der rechtlichen, finanziellen
und organisatorischen Rahmenbedingun-
gen und Zusammenhänge. Vaduz 1998,
2675.
LPS 25 Institut für Demoskopie Allens-
bach: Das Fürstentum Liechtenstein von
aussen betrachtet. Bericht über eine demo-
skopische Umfrage in 21 Ländern. Vaduz
1999, 218 5.
LPS 26 Herbert Wille; Georges Baur
(Hrsg.): Staat und Kirche: Grundsätzliche
und aktuelle Probleme. Symposium des
Liechtenstein-Instituts, 25. bis 27. März
1999, Vaduz 1999, 393 S.
466
LPS 27 Herbert Wille: Die Normenkon-
trolle im liechtensteinischen Recht auf der
Grundlage der Rechtsprechung des Staats-
gerichtshofes. Vaduz 1999, 418 S.
LPS 28 Manfried Gantner; Johann Eibl:
Öffentliche Aufgabenerfüllung im Klein-
staat. Das Beispiel Fürstentum Liechten-
stein. Vaduz 1999, 418 S.
LPS 29 Heiko Prange: Liechtenstein im
Europäischen Wirtschaftsraum: Wirt-
schaftliche Erfolgsbilanz eines Kleinstaa-
tes? Vaduz 2000, 248 S.
LPS 30 Wilfried Marxer: Wahlverhalten
und Wahlmotive im Fürstentum Liechten-
stein. Vaduz 2000, 403 S.
LPS 31 Christian Gstöhl: Das Recht auf
einen ordentlichen Richter in der liechten-
steinischen Verfassung. Vaduz 2000, 302 S.
LPS 32 Herbert Wille (Hrsg.): Verfas-
sungsgerichtsbarkeit im Fürstentum
Liechtenstein. 75 Jahre Staatsgerichtshof.
Vaduz 2001, 162 S.
LPS 33 Sieglinde Gstöhl: Flexible Inte-
gration für Kleinstaaten? Liechtenstein
und die Europäische Union. Schaan 2001,
2575.
LPS 34 Norbert Jansen (Hrsg.): Beiträge
zur liechtensteinischen Identität. 50 Jahre
Liechtensteinische Akademische Gesell-
schaft. Schaan 2001, 171 5.
LPS 35 Martin Georg Kocher: Very Small
Countries: Economic Success Against
All Odds. Schaan 2003, 251 S.
LPS 36 Wolfram Höfling: Die Verfas-
sungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof.
Schaan 2003, 235 5.
LPS 37 Wilfried Marxer: Medien in
Liechtenstein. Strukturanalyse der Medi-
enlandschaft in einem Klleinstaat. Schaan
2004, 340 5.
LPS 38 Herbert Wille: Liechtensteini-
sches Verwaltungsrecht. Ausgewählte Ge-
biete. Schaan 2004, 688 S. (vergriffen).
Publikationen im Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
LPS 39 Erhard Busek; Waldemar Hum-
mer (Hrsg.): Der Kleinstaat als Akteur in
den Internationalen Beziehungen. Schaan
2004, 363 5.
LPS 40 Thomas Bruha; Zoltän Tibor
Pällinger; Rupert Quaderer (Hrsg.):
Liechtenstein — 10 Jahre im EWR. Bilanz,
Herausforderungen, Perspektiven. Schaan
2005, 241 S.
LPS 41 Mario F. Broggi (Hrsg.): Alpen-
rheintal — eine Region im Umbau. Analy-
sen und Perspektiven der räumlichen Ent-
wicklung. Schaan 2006, 320 S.
LPS 42 Dieter Langewiesche (Hrsg.):
Kleinstaaten in Europa. Schaan 2007,
2635.
LPS 43 Tobias Michael Wille: Liechten-
steinisches Verfassungsprozessrecht.
Schaan 2007, 911 S.
LPS 44 Hugo Vogt: Das Willkürverbot
und der Gleichheitsgrundsatz in der
Rechtsprechung des liechtensteinischen
Staatsgerichtshofes. Schaan 2008, 498 S.
LPS 45 Mario F. Broggi (Hrsg.): Natur
und Landschaft im Alpenrheintal. Schaan
2009, 137 5.
LPS 46 Liechtenstein-Institut (Hrsg.):
«Was will Liechtenstein sein?» Texte aus
dem Nachlass von Gerard Batliner
(1928-2008). Schaan 2009, 225 S.
LPS 47 Frank Marcinkowski; Wilfried
Marxer: Öffentlichkeit, öffentliche Mei-
nung und direkte Demokratie. Eine Fall-
studie zur Verfassungsreform in Liechten-
stein. Schaan 2010, 362 5.
LPS 48 Josiane Meier: Rücken an Rücken
oder Hand in Hand? Ein Plädoyer für
grenzüberschreitende Raumplanung im
Alpenrheintal. Schaan 2011, 328 S.
LPS 49 Emilia Breuss: Die Zukunft des
Kleinstaates in der europäischen Integra-
tion. Eine Untersuchung unter besonderer
Berücksichtigung des Fürstentums Liech-
tenstein. Schaan 2011, 360 5.
LPS 50 Liechtenstein-Institut (Hrsg.):
25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986—
2011). Schaan 2011, 500 S.
LPS 51 Thomas Bruha (Hrsg.): Euro-
päischer Föderalismus im Licht der Ver-
fassungsgeschichte. Schaan 2011, 240 S.
LPS52 Andreas Kley; Klaus A. Vallender
(Hrsg.): Grundrechtspraxis in Liechten-
stein. Schaan 2012, 908 S.
LPS 53 Roger Beck: Rechtliche Ausge-
staltung, Arbeitsweise und Reformbedarf
des Liechtensteinischen Landtags. Schaan
2013, 383 5.
LPS 54 Liechtenstein-Institut (Hrsg.):
Beiträge zum liechtensteinischen Recht
aus nationaler und internationaler Per-
spektive. Festschrift zum 70. Geburtstag
von Herbert Wille. Schaan 2014, 320 S.
LPS 55 Emanuel Schädler: Prozessökono-
mie in der liechtensteinischen Zivilpro-
zessordnung von 1912. Rezeption, Ausge-
staltung und Konzept prozessökonomi-
scher Mechanismen aus rechtshistorischer
Sicht. Schaan 2014, 576 5.
LPS 56 Mario Frick; Michael Ritter;
Andrea Willi (Hrsg.): Ein Bürger im
Dienst für Staat und Wirtschaft. Fest-
schrift zum 70. Geburtstag von Hans
Brunhart. Schaan 2015, 412 S.
LPS 57 Herbert Wille: Die liechtensteini-
sche Staatsordnung. Verfassungsgeschicht-
liche Grundlagen und oberste Organe.
Schaan 2015, 784 5.
467
Publikationen im Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
Kleine Schriften (KS)
KS 1 Ausländer in Liechtenstein. Mit Bei-
trägen von Günther Matt, Herbert Wille,
Peter Geiger u.a. Vaduz 1974, 19 5.
KS2 Georg Malin: Wer Bescheid weiss,
ist bescheiden. Vaduz 1974, 10 5.
KS3 Gerard Batliner: Zum Staatsfeiertag
1979. Vaduz 1979, 5 5.
KS 4 Franz Näscher: Die Kirche — keine
Macht, aber eine Kraft in unserem Staat.
Vaduz 1980, 6 5.
KS5 Gerhard Schürch: Macht und Moral
in der demokratischen Politik. Vaduz
1981, 24 S.
KS 6 Alexander Frick: 50 Jahre Pfadfin-
der und Pfadfinderinnen in Liechtenstein.
Vaduz 1981, 10 5.
KS7 Fürstin Gina von Liechtenstein:
Predigt anlässlich der Mai-Wallfahrt der
Frauen- und Müttergemeinschaft vom 1.
Mai 1983. Vaduz 1983, 7 5.
KS8 Hans Weigel: Der Staat ohne
Hauptbahnhof. Vaduz 1983, 9 5.
KS 9 Erinnerungen an Peter Kaiser und
Karl Schädler. Mit Beiträgen von Gerard
Batliner, Loretta Federspiel-Kieber, Peter
Geiger und Paul Vogt. Vaduz 1984, 41 S.
KS 10 Leopold Kohr: Modell Kleinstaat.
Vaduz 1984, 2. Aufl., 175.
KS 11 Alois Riklin: Liechtensteins politi-
sche Ordnung als Mischverfassung. Mit
Beiträgen von Guido Meier, Gerard Batli-
ner, Hans Brunhart und Dominik Schorno
zur Eröffnung des Liechtenstein-Instituts.
Vaduz 1987, 38 S.
KS 12 Hans Brunhart: Liechtenstein mor-
gen und übermorgen. Vaduz 1988, 20 S.
KS 13 Rudolf Kirchschläger: Der Stufen-
bau des Friedens. Vaduz 1988, 18 5.
468
KS 14 Gerard Batliner: Liechtenstein und
die europäische Integration. Vaduz 1989,
315.
KS 15 Roman Herzog: Die Zukunft der
kleinen Staaten. Vaduz 1989, 17 5.
KS 16 Hubert Büchel: Kennt Liechten-
steins Wirtschaftserfolg kein Ende? Vaduz
1989, 24 5.
KS 17 Ferenc Glatz: Europa und Ungarn.
Die neue Kulturpolitik nach der Öffnung.
Vaduz 1991, 20 5.
KS 18 Peter Saladin: Haben unsere Nach-
kommen Rechte? Vaduz 1991, 23 S.
KS 19 Herbert Meier: Über Tugenden.
Vaduz 1994, 27 S.
KS 20 Gret Haller: Grenzen? Gedanken
zum Umgang mit verschiedenartigen
Grenzen im raschen Wandel Europas. Va-
duz 1994, 20 5.
KS 21 Bernd Rüthers: Wissenschaft und
Weltanschauung am Beispiel der Jurispru-
denz. Vaduz 1995, 33 S.
KS 22 Christoph Frei: Direkte Demokra-
tie in Frankreich: Wegmarken einer
schwierigen Tradition. Festvortrag zum
60. Geburtstag von Prof. Dr. Alois Riklin.
Vaduz 1995, 29 5.
KS 23 Dorothee Sölle: Scientia und Sa-
pientia. Wege zu einer ökofeministischen
Spiritualität. Mit einem Beitrag von Gün-
ther Boss. Vaduz 1996, 28 5.
KS 24 Matthias Ospelt: Kaiser, Beck und
Nana: Die Geschichte der Menschen
Liechtensteins. Festvortrag zum 60. Ge-
burtstag von Fürstlichem Rat Robert All-
gäuer. Vaduz 1997, 21 S.
KS 25 Romain Kirt: Zwischen Autarkie
und Scheinsouveränität. Europäische
Kleinstaaten in der postkommunistischen
Ära. Vaduz 1997, 24 S.
Publikationen im Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
KS 26 Wolfram Siemann: Die deutsche
Revolution von 1848/49. Peter Geiger:
Die Revolution von 1848 in Liechtenstein.
Vaduz 1998, 50 5.
KS 27 Hans-Jörg Rheinberger: Wissen-
schaftsfreiheit und Wissenschaftsförde-
rung. Gedanken zum Verhältnis von Staat
und Wissenschaft. Mit Grussworten von
Guido Meier, Mario Frick und Donath
Oehri zur Eröffnung des neuen Gebäudes
des Liechtenstein-Instituts in Gamprin.
Vaduz 1998, 40 5.
KS 28 Peter Leuprecht: Macht und Ohn-
macht der Menschenrechte. Überlegungen
zum 50jährigen Jubiläum der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte. Vaduz
1998, 40 5.
KS29 Anton Pelinka: Demokratie ohne
Staat? Der Beitrag des Communitarismus
zur Demokratietheorie. Vaduz 1998, 24 S.
KS 30 Sieglinde Gstöhl: Wir sind wer!
Wer sind wir? Laute Gedanken zur liech-
tensteinischen Identität. Vaduz 1999, 33 5.
KS 31 Peter Bichsel: Am Ende der Revo-
lution — Staaten ohne Citoyens. Vaduz
1999, 33 S.
KS 32 Rolf Bloch: Kann man aus der Ge-
schichte lernen? Vaduz 2000, 23 S.
KS 33 Franz Näscher: Eine Kirche, die
atmen lässt. Vaduz 2001, 24 5.
KS 34 Kurt W. Rothschild: Ökonomie im
Global Village. Schaan 2001, 32 S.
KS 35 50 Jahre Liechtensteinische Akade-
mische Gesellschaft. Vorträge anlässlich
des Festaktes vom 8. Dezember 2001 in
Vaduz. Schaan 2001, 52 S.
KS 36 Otfried Höffe: Aufbruch zur poli-
tischen Globalisierung: Westliche oder
universale Werte? Schaan 2002, 32 5.
KS 37 Peter Häberle: Gibt es eine euro-
päische Öffentlichkeit? — Kunst, Kultur
und Recht in Europa am Beispiel Liech-
tenstein. Schaan 2003, 52 S.
KS 38 Lord Ralf Dahrendorf: Geht der
Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus? Schaan
2005, 27 5.
KS 39 Franz Näscher: Der Weg der Kir-
che ins 3. Jahrtausend. Schaan 2005, 40 5.
KS 40 Johan Galtung: Das USA-Impe-
rium — ein Ende vor 2020? Schaan 2005,
325.
KS 41 Herbert Meier: Georg Malin —
seine Zeit, seine Kunst. Schaan 2006, 23 S.
KS 42 Jakob Kellenberger: Der Einzelne
und gesellschaftliche Ordnungen. Schaan
2006, 24 5.
KS 43 Jutta Limbach: Sprache und Politik
— Mehrsprachigkeit in Europa. Schaan
2006, 19 5.
KS 44 Peter von Matt: Jenseits von my-
thischer Verklärung und kritischer Entlar-
vung. Schaan 2007, 30 5.
KS 45 Guido Meier: Evi Kliemand —
Künstlerin und Schriftstellerin. Schaan
2007, 28 5.
KS 46 David Beattie: Der Beruf des Di-
plomaten. Schaan 2008, 26. S.
KS 47 Karl-Josef Kuschel: Die Ring-
Parabel — Zur Geschichte von Toleranz-
Geschichten in Orient und Okzident.
Schaan 2009, 34 5.
KS 48 Erhard Busek: Europa - Zukunft
oder Krise. Schaan 2009, 36 5.
KS 49 Alois Riklin: Von der Ringparabel
zum Projekt Weltethos. Schaan 2011, 56 5.
KS 50 Jubiläumsfeier 25 Jahre Liechten-
stein-Institut — Ansprachen beim Festakt
vom 4. September 2011 in Gamprin.
Schaan 2011, 51 5.
KS 51 Matthias Sutter: Hat der Homo
Oeconomicus ausgedient? Schaan 2012,
455.
469
KS 52 Katrin Hilbe: «Em Fredi Hilbe
Siini> — Rede für meinen Vater anlässlich
der Trauerfeier für Dr. Alfred Hilbe am
4. November 2011. Schaan 2012, 19 5.
KS 53 Roland Marxer: Kleinstaatendiplo-
matie: Einflussnahme Liechtensteins im
Konzert der Grossen, Schaan 2012, 36 S.
KS 54 Eberhard Schockenhoff: Wie frei
ist der Mensch? - Zum Dialog zwischen
Hirnforschung und theologischer Ethik,
Schaan 2012, 35 5.
KS 55 Jutta Allmendinger: Lebensent-
würfe heute. Wie junge Frauen und Män-
ner leben wollen. Schaan 2013, 63 S.
470
Einzelpublikationen
Volker Press; Dietmar Willoweit (Hrsg.):
Liechtenstein — Fürstliches Haus und
staatliche Ordnung. Vaduz 1988, 524 S.
Gerard Batliner: Aktuelle Fragen des
liechtensteinischen Verfassungsrechts.
Vaduz 1998, 113 S.
Liechtenstein Politische Schriften, Band 57
Herbert Wille
Die liechtensteinische Staatsordnung
Verfassungsgeschichtliche Grundlagen und oberste Organe
Dieses Buch setzt sich mit dem liechtensteinischen Staat, seiner Gestalt
und seinen Institutionen auseinander. Ausgangspunkt bildet eine verfas-
sungshistorische Analyse, da es sich beim Staats- und Verfassungsrecht
um «historisch bedingtes Recht» handelt. Der enge Zusammenhang zwi-
schen Verfassungsgeschichte und geltender Staats- und Verfassungsord-
nung bestimmt denn auch den methodischen Blickwinkel der Abhand-
lung. Sie erläutert zunächst den geschichtlichen Hintergrund und wid-
met sich dann dem Aufbau und der Tätigkeit der obersten Staatsorgane,
d.h. ihrer Organisation, ihrer Wahl und ihren Zuständigkeiten. Behan-
delt werden die Staatsorgane Landesfürst, Volk, Landtag, Regierung und
Staatsgerichtshof. Neben ihrer Organisation und Zuständigkeit wird
auch ihre Stellung im Gefüge der Staatsgewalten, d.h. ihr Verhältnis zu-
einander beleuchtet.
So setzt sich das Werk zum Ziel, einerseits den Staatstypus der Mo-
narchie liechtensteinischer Prägung aus der entstehungsgeschichtlichen
Perspektive zu untersuchen und im Lichte der heutigen Staats- und Ver-
fassungsordnung zu hinterfragen sowie andererseits das Verhältnis der
einzelnen obersten Staatsorgane zueinander systematisierend zu ver-
deutlichen.
ISBN 978-3-7211-1095-1
784 Seiten, Fadenheftung, broschiert
CHF 85.
471
Zu diesem Buch
CE
Jäahriges Wirken Liechtenstein ın mancherlei Hinsicht geprägt. Die
vorliegende Festschrift anlässlich seines 90. Geburtstages will deshalb
sein Schaffen würdigen, indem die enthaltenen Beiträge sich mit The-
men aus jenen Bereichen befassen, ın denen der Jubilar tätig gewesen
ist. Mıt diesem Konnex behandeln die über zwanzig Autorinnen und
Autoren aktuelle Fragen, zeichnen Entwicklungen nach, berichten
von Erfahrungen, nehmen kritisch Stellung oder ziehen Resümee. Das
thematische Spektrum reicht dabei — entsprechend der Vielseitigkeit
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1ER OA
schaft; zudem widmet sich eine Bilderstrecke eigens der Kunst Malins
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des Jubilars würdigt, sondern diese darüber hinaus ın grössere Zusam-
menhänge einbettet und mit aufschlussreichen Einblicken in die je-
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