Farbige Geschichte Liechtenstein
Zu diesem Buch
Das vorliegende Jahrbuch bietet eine thematisch bunte Palette an Beiträgen – ganz im Sinne
des Mottos «Farbige Geschichte Liechtenstein». Der Hauptbeitrag von Wolfgang Vogt befasst
sich mit den Anfängen der Krankenversicherung in Liechtenstein, die eng mit der Industriali-
sierung des Landes nach 1860 verbunden sind. Gewerbeinspektoren aus Österreich sorgten für
einen ersten, bescheidenen Versicherungsschutz in den Textilfabriken von Vaduz und Triesen.
Erstmals wurden Arbeiterinnen und Arbeiter in Liechtenstein gegen die Folgen von Krankheit und
Unfall versichert. Damals bestand aber noch kein Obligatorium für eine Krankenversicherung.
Die neue Verfassung von 1921 erklärte zwar die Förderung des Versicherungswesens zur Staats-
aufgabe, aber eine allgemeine Verpflichtung zum Abschluss einer Krankenversicherung besteht
in Liechtenstein erst seit 1972. Passend zum Thema des Beitrags von Wohlgang Vogt zeigt das
Titelbild dieses Jahrbuches eine historische Aufnahme der im Jahr 1883 eröffneten Baumwoll-
spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. im Ebenholz in Vaduz.
Der Beitrag von Jan Županiã stellt die Person des Grafen von Bendern vor. Maurice Arnold Frei-
herr von De Forrest, um dessen Abstammung sich Legenden ranken, wurde im Jahr 1932 in
Liechtenstein eingebürgert. Von Fürst Franz I. 1936 zum «Grafen von Bendern» geadelt, blieb De
Forest in Liechtenstein als Mäzen und Wohltäter in Erinnerung. – Nadja Frick und Jeannette Good
berichten über die Aufnahme von 18 tibetischen Flüchtlingen in Liechtenstein. Deren Flucht- und
Reisewege nach Liechtenstein liegen weitgehend im Dunkeln. Dieser Beitrag wird illustriert durch
eine Fotoreportage von Manuel Bauer, welche die Flucht eines Vaters und einer Tochter von Tibet
nach Indien dokumentiert. Unter ähnlichen abenteuerlichen Bedingungen dürfte sich auch die
Flucht der 18 Tibeterinnen und Tibeter nach Liechtenstein abgespielt haben. Alle diese Menschen
flüchteten aus Tibet, weil die chinesischen Machthaber dazu übergegangen waren, die dortige ti-
betische Kultur gewaltsam zu unterdrücken beziehungsweise systematisch zu verdrängen. – Zwei
ausführliche Buchbesprechungen, der Jahresbericht 2010 des Historischen Vereins sowie der Tä-
tigkeitsbericht des Liechtensteinischen Landesmuseums für dasselbe Jahr runden dieses Buch ab.
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Jahrbuch Band 110
hL
Unter dem Namen «Historischer Verein für das Fürstentum
Liechtenstein» besteht ein Verein gemäss Art. 246 des Liech-
tensteinischen Personen- und Gesellschaftsrechts. Er hat sei-
nen Sitz in Vaduz.
Der Zweck des Vereins besteht in der Förderung der Ge-
schichts- und Landeskunde und der Bildung des historischen
Bewusstseins. Der Verein initiiert und unterstützt diesbezügli-
che Forschungsarbeiten, vermittelt deren Ergebnisse und setzt
sich für den Schutz des kulturellen Erbes ein.
Der Verein ist parteipolitisch und weltanschaulich neutral und
in seinen For schungs- und Publikationsaktivitäten unabhängig.
Artikel 1 und 2 der neuen Statuten des Historischen Vereins
für das Fürstentums Liechtenstein, beschlossen an der Mitglie-
derversammlung vom 16. April 2005
Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnen die Verfasserin-
nen und Verfas ser allein verantwortlich.Farbige Geschichte Liechtenstein
Umschlag_JB110 Umschlag angepasst.indd 1 25.07.11 08:37
Farbige Geschichte Liechtenstein
Zu diesem Buch
Das vorliegende Jahrbuch bietet eine thematisch bunte Palette an Beiträgen – ganz im Sinne
des Mottos «Farbige Geschichte Liechtenstein». Der Hauptbeitrag von Wolfgang Vogt befasst
sich mit den Anfängen der Krankenversicherung in Liechtenstein, die eng mit der Industriali-
sierung des Landes nach 1860 verbunden sind. Gewerbeinspektoren aus Österreich sorgten für
einen ersten, bescheidenen Versicherungsschutz in den Textilfabriken von Vaduz und Triesen.
Erstmals wurden Arbeiterinnen und Arbeiter in Liechtenstein gegen die Folgen von Krankheit und
Unfall versichert. Damals bestand aber noch kein Obligatorium für eine Krankenversicherung.
Die neue Verfassung von 1921 erklärte zwar die Förderung des Versicherungswesens zur Staats-
aufgabe, aber eine allgemeine Verpflichtung zum Abschluss einer Krankenversicherung besteht
in Liechtenstein erst seit 1972. Passend zum Thema des Beitrags von Wohlgang Vogt zeigt das
Titelbild dieses Jahrbuches eine historische Aufnahme der im Jahr 1883 eröffneten Baumwoll-
spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. im Ebenholz in Vaduz.
Der Beitrag von Jan Županiã stellt die Person des Grafen von Bendern vor. Maurice Arnold Frei-
herr von De Forrest, um dessen Abstammung sich Legenden ranken, wurde im Jahr 1932 in
Liechtenstein eingebürgert. Von Fürst Franz I. 1936 zum «Grafen von Bendern» geadelt, blieb De
Forest in Liechtenstein als Mäzen und Wohltäter in Erinnerung. – Nadja Frick und Jeannette Good
berichten über die Aufnahme von 18 tibetischen Flüchtlingen in Liechtenstein. Deren Flucht- und
Reisewege nach Liechtenstein liegen weitgehend im Dunkeln. Dieser Beitrag wird illustriert durch
eine Fotoreportage von Manuel Bauer, welche die Flucht eines Vaters und einer Tochter von Tibet
nach Indien dokumentiert. Unter ähnlichen abenteuerlichen Bedingungen dürfte sich auch die
Flucht der 18 Tibeterinnen und Tibeter nach Liechtenstein abgespielt haben. Alle diese Menschen
flüchteten aus Tibet, weil die chinesischen Machthaber dazu übergegangen waren, die dortige ti-
betische Kultur gewaltsam zu unterdrücken beziehungsweise systematisch zu verdrängen. – Zwei
ausführliche Buchbesprechungen, der Jahresbericht 2010 des Historischen Vereins sowie der Tä-
tigkeitsbericht des Liechtensteinischen Landesmuseums für dasselbe Jahr runden dieses Buch ab.
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Jahrbuch Band 110
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Unter dem Namen «Historischer Verein für das Fürstentum
Liechtenstein» besteht ein Verein gemäss Art. 246 des Liech-
tensteinischen Personen- und Gesellschaftsrechts. Er hat sei-
nen Sitz in Vaduz.
Der Zweck des Vereins besteht in der Förderung der Ge-
schichts- und Landeskunde und der Bildung des historischen
Bewusstseins. Der Verein initiiert und unterstützt diesbezügli-
che Forschungsarbeiten, vermittelt deren Ergebnisse und setzt
sich für den Schutz des kulturellen Erbes ein.
Der Verein ist parteipolitisch und weltanschaulich neutral und
in seinen For schungs- und Publikationsaktivitäten unabhängig.
Artikel 1 und 2 der neuen Statuten des Historischen Vereins
für das Fürstentums Liechtenstein, beschlossen an der Mitglie-
derversammlung vom 16. April 2005
Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnen die Verfasserin-
nen und Verfas ser allein verantwortlich.Farbige Geschichte Liechtenstein
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Band 110
Vaduz, Selbstverlag des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein, 2011
Jahrbuch Band 110
hL
Kapitel_1_Vogt.indd 3 26.07.11 13:44
Auslieferung: Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Geschäftsstelle · Gamanderhof · Plankner Strasse 39 · 9494 Schaan · Liechtenstein
T +423 392 17 47 · info@historischerverein.li · www.historischerverein.li · Postscheck-Konto für Spenden und Zahlungen: 90-21083-1
Redaktion: Klaus Biedermann, Vaduz · Gestaltungskonzept: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz · Bildbearbeitung, Satz, Layout, Druck: Gutenberg AG, Schaan
Buchbinder: Buchbinderei Thöny AG, Vaduz · Gedruckt auf Profibulk 115 gm2
© 2011 Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Vaduz · Alle Rechte vorbehalten · Gedruckt in Liechtenstein
ISBN 978-3-906393-50-6
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7 Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Von den Anfängen in den 1870er Jahren bis zum
Wechsel an die Seite der Schweiz
Wolfgang Vogt
47 Der Erbe des Barons von Hirsch:
Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
Das vergessene Schicksal des Grafen von Bendern
Jan Županiã
63 Vetrieben aus der Heimat
Ursachen für die Flucht von 18 Menschen aus Tibet, ihre
Ankunft und Anerkennung in Liechtenstein
Nadja Frick / Jeannette Good
101 Rezensionen
127 Dr. Dr. Arno Ruoff, 1930–2010
131 Jahresbericht des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein 2010
149 Liechtensteinisches Landesmuseum 2010
Inhaltsverzeichnis
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7
Inhalt
8 Einleitung
8 Aufbau und Fragestellung
10 Quellenlage und Forschungsstand
11 Historische Kontextualisierung
12 Hauptteil
12 Erste betriebliche Krankenkassen
in der Textilindustrie
18 Die Gründung von Hilfskassen
24 Die neue Gewerbeordnung von 1910,
ein gescheiterter Modernisierungsversuch?
32 Spätere Initiativen zur Schaffung von
Sozialversicherungen – Ein Ausblick
37 Diskussion der Ergebnisse und Schlussbemerkungen
42 Anhang
Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Von den Anfängen in den 1870er Jahren bis zum Wechsel an die Seite der Schweiz
Wolfgang Vogt
Der nachfolgend publizierte Beitrag von Wolfgang Vogt ist eine leicht gekürzte und
überarbeitete Fassung seiner Lizentiatsarbeit, die er im Oktober 2008 beim Histo-
rischen Seminar der Universität Basel eingereicht hatte. Die Arbeit wurde von PD
Dr. Martin Lengwiler als Referenten und von Prof. Dr. Josef Mooser als Koreferenten
begutachtet.
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8 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Einleitung
Aufbau und Fragestellung
Liechtenstein verfügt seit den 1970er Jahren über ein
hervorragend ausgebautes und im internationalen Ver-
gleich dennoch erstaunlich kosteneffizientes Sozialver-
sicherungswesen.1 Doch die Wurzeln der Sozialversiche-
rung reichen weiter zurück als jene des wirtschaftlichen
Wohlstands. Und die Grundsteine für die heutigen so-
zialstaatlichen Errungenschaften wurden in einer Zeit
gelegt, in der Armut und wirtschaftlich bedingte soziale
Probleme eine Vorsorge und Sicherungspolitik zu einer
Notwendigkeit machten.
Anhand der Entwicklung der Krankenversicherung
in Liechtenstein werden in dieser Arbeit beispielhaft die
vielfältigen Schwierigkeiten im Aufbau eines sozialen
Sicherungs- und Vorsorgesystems aufgezeigt. Die Zeit-
spanne reicht dabei von den ersten Krankenversiche-
rungen in der Textilindustrie um 1870 bis zur Festigung
der Bindungen zur Schweiz in der Folge des Zollvertrags
von 1924. Die Krankenversicherung ist dabei gemeinsam
mit der phasenweise eng an sie gebundenen Unfallversi-
cherung2 lange Zeit die einzige Form sozialer Vorsorge
in Liechtenstein.3 Andere Versicherungszweige wie bei-
spielsweise die Altersvorsorge, die Arbeitslosen- oder
die Invalidenversicherung werden daher auch im Hin-
blick auf den Untersuchungszeitraum ausgeklammert,
einzig die Unfallversicherung ist aus genanntem Grund
am Rande ebenfalls Teil der Betrachtungen.4
Dabei sollen die verschiedenen Akteure, von staat-
licher, institutioneller und privater Seite genauer be-
leuchtet und wo möglich Motive dargelegt werden. Zu
beachten ist die Kleinheit Liechtensteins. Bemühungen
um eine Krankenversicherung des Landes können
nicht verstanden werden, ohne dabei die Entwicklung
der Nachbarländer Österreich und Schweiz, mit denen
Liechtenstein in seiner Geschichte untrennbar verbun-
den ist, im Auge zu behalten. Dabei soll gezeigt werden,
dass Liechtenstein einerseits nicht völlig losgelöst von
Österreich oder der Schweiz agieren konnte, dass aber
zugleich spezifisch liechtensteinische Bedingungen für
eine eigenständige Entwicklung der Krankenversiche-
rung sorgten. Ich versuche im Verlauf der nach Themen
gegliederten Kapitel zu zeigen, dass der Weg zum mo-
dernen Sozialstaat keine einheitliche und klar zielgerich-
tete Entwicklung nahm, sondern dass an verschiedenen
Punkten Rückschläge eingesteckt werden mussten, Mo-
delle scheiterten oder zu wenig Problembewusstsein
vorhanden war.
Die Einleitung legt den Aufbau der Arbeit dar und soll
anhand eines kurzen Überblicks über die hauptsächlich
verwendete Literatur zugleich eine Orientierung zum
derzeitigen Forschungsstand bezüglich des Themas ge-
ben. Dies geschieht sowohl in Bezug auf Literatur, die
spezifisch die Situation in Liechtenstein betrachtet, als
auch etwas erweitert mit Zuhilfenahme wichtiger For-
schungen zur mitteleuropäischen Geschichte der Kran-
kenversicherung. Die Quellenlage wird in einem geson-
derten Abschnitt ebenfalls kurz dargestellt. Als letzter
Punkt des einleitenden Teils folgt ein kurzer Abschnitt
zur besseren Kontextualisierung des Themas innerhalb
der Geschichte Liechtensteins.
Der Hauptteil der Arbeit ist in vier grob chronolo-
gisch und thematisch geordnete Abschnitte aufgeteilt.
Die Ausgangslage der Untersuchung ist dabei die in
Liechtenstein sehr spät einsetzende Industrialisierung.
Erst in den 1860er Jahren siedelten sich erste Industrie-
betriebe im armen und ländlichen Liechtenstein an. Mit
der Industrialisierung des Landes wurde die Errichtung
sozialer Vorsorgesysteme, insbesondere der Kranken-
und Unfallversicherung notwendig. Ein erster Abschnitt
beschäftigt sich daher mit den ersten Krankenversiche-
rungen in Form verschiedener Betriebskrankenkassen.
Liechtenstein hatte 1865 eine sehr liberale Gewerbe-
ordnung erlassen, in der die Arbeitnehmer kaum ge-
schützt waren. Bis zur überfälligen Novellierung dieses
Gesetzes 1910 gab es in Liechtenstein keine gesetzlichen
Regelungen der Krankenversicherung. Doch wurden
zuvor auf Eigeninitiativen der Unternehmer in der
Textilindustrie noch im 19. Jahrhundert erste Betriebs-
krankenkassen errichtet. Als erste Krankenversicherung
Liechtensteins wurde 1870 eine Unterstützungskasse für
die erkrankten und verunglückten Arbeiter der Mecha-
nischen Weberei Vaduz ins Leben gerufen. Im Laufe des
Jahrzehnts folgten weitere Kassen in den anderen Tex-
tilfabriken des Landes. Trotz dieser Initiativen und einer
Beteiligung der Betriebe an der Versicherung waren je-
doch nur Minimalleistungen gewährleistet und zudem
wurden manche Leistungen der Betriebskassen nach
kurzer Zeit bereits wieder eingestellt.
Die im ersten Abschnitt behandelten Betriebskran-
kenkassen blieben für über 20 Jahre die einzigen Kran-
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9Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
1 Vgl. Merki 2007, S. 204.
2 Krankheit und Unfall waren teilweise schwierig voneinander ab-
zugrenzen, ausserdem hatten sie für die Betroffenen ähnliche
Folgen. Siehe dazu Degen 2004, S. 13.
3 Eine Ausnahme dazu bilden die Pensionsansprüche für Staatsbe-
amte, die ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert bestanden.
4 Für die Entwicklung der anderen angesprochenen Bereiche der
Sozialversicherung sei vor allem auf Hilmar Hochs Dissertati-
on zur Geschichte des Liechtensteinischen Sozialversicherungs-
rechts verwiesen, Hoch 1991; Zur Unfallversicherung vgl. den
Artikel «Unfallversicherung» im Historischen Lexikon für das
Fürstentum Liechtenstein (im Folgenden: HLFL).
ordnung nach nur vier Jahren ihres Bestehens erneut re-
vidiert wurde. In der neuen Vorlage waren nur noch Fa-
brikarbeiter der Versicherungspflicht unterstellt. Dieser
gescheiterte gesetzgeberische Modernisierungsversuch
belegt die Schwierigkeiten in der Durchsetzung einer
stärker reglementierten und fortschrittlich orientierten
Gesundheitspolitik.
Im vierten und letzten Abschnitt des Hauptteils wird
der Untersuchungszeitraum mit Liechtensteins Neuori-
entierung hin zur Schweiz abgeschlossen. Dabei werden
die nach Ende des Ersten Weltkriegs in einer Zeit des in-
nenpolitischen Umbruchs erfolgten Initiativen zur Aus-
dehnung der Krankenversicherung untersucht. In einer
Zeit wirtschaftlicher Krisen nach dem Kriegsende kam
es in der Sozialpolitik zu einer regelrechten Aufbruch-
stimmung. Die Aufgabe zur Sozialversicherung wurde in
der Verfassung verankert und damit die Grundlage für
den modernen Sozialstaat gelegt. Auch von privater Seite
veränderte sich die Zusammensetzung der Krankenver-
sicherungen in Liechtenstein in den 1920er und 1930er
Jahren mit einer weiteren Kassengründung und dem
Eintritt schweizerischer Versicherungen in den liech-
tensteinischen Markt. Die Konkurrenzsituation und le-
gislative Massnahmen sorgten in dieser Periode für eine
starke Verbesserung des Versicherungsschutzes und für
eine Ausweitung desselben, wenngleich weite Teile der
Bevölkerung bis in die 1950er Jahre nicht krankenversi-
chert waren. Mit einem diesbezüglichen kurzen Ausblick
über die weitere Entwicklung der Krankenversiche-
rungen werden die Betrachtungen des Untersuchungs-
zeitraums abgerundet.
Der Schlussteil versucht zuerst einen kurzen Über-
blick zu geben, schliesslich die im Hauptteil getrennten
Erkenntnisse zu verbinden und dabei einzelne wichtige
kenversicherungen in Liechtenstein. Als die Unterneh-
menskrankenkassen zunehmend als unzureichend emp-
funden wurden und auch ausserhalb der Textilfabriken
eine Krankenversicherung dringender wurde, kam es zu
verschiedenen Initiativen von privater Seite. Diese hatten
das Ziel, den Versicherungsschutz zu verbessern oder
auszuweiten. Diesen als Vereinen organisierten Hilfs-
kassen auf dem Prinzip der gegenseitigen Versicherung
widmet sich daher der zweite Abschnitt der Untersu-
chung. 1894 erfolgte die Gründung eines «Allgemeinen
Kranken-Unterstützungs-Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein». Auf Initiative des Kleingewerbes und
eines Geistlichen erhielten nun auch Bevölkerungskreise
ausserhalb der Textilarbeiterschaft Zugang zu einer er-
sten Krankenversicherung, womit eine erste Ausweitung
der Krankenversicherung einsetzte. In den folgenden
Jahren gab es auch innerhalb der bereits versicherten Ar-
beiterschaft in der Textilindustrie eine Neuerung mit der
Gründung zweier «Männer-Krankenvereine» in Triesen
und Vaduz, die sich zum Ziel setzten, die mangelnden
Versicherungsleistungen der Textilfabriken durch eigene
Unterstützungsleistungen aufzubessern. Dem Vorbild
des «Allgemeinen Kranken-Unterstützungs-Vereins»
folgten weitere Gründungen: Ein Krankenpflegeverein
1912 und als zweite offen zugängliche Krankenkasse die
Gründung der «Freiwilligen Krankenkasse Balzers» 1925.
Die schon bald mit staatlicher Hilfe finanzierten Kran-
kenunterstützungsvereine waren ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zu einer verbreiteten Krankenunterstützung.
Sie sind zudem ein Beleg für die wichtige Rolle von in-
stitutionellen und privaten Initiativen zur Verbesserung
der Krankenvorsorge.
Der dritte Abschnitt widmet sich der Rolle des Staates.
Erst nach der Jahrhundertwende kam es von staatlicher
Seite zu direkten Massnahmen zur Verbesserung des
Arbeitnehmerschutzes und zum Aufbau einer Sozial-
versicherung. Den ersten grossen Schritt stellt dabei die
1910 durchgeführte Neuregelung der Gewerbeordnung
von 1865 dar. Dabei wurde ein Krankenversicherungs-
obligatorium für alle Arbeitnehmer eingeführt. In der
Praxis hatte die Gewerbeordnung jedoch von Beginn an
mit grossen Widerständen zu kämpfen, die sich sowohl
gegen den verstärkten Staatseingriff aber auch gegen das
weitgehende Krankenversicherungsobligatorium wand-
ten. Der Widerstand vor allem aus dem Kleingewerbe
und der Bevölkerung war so stark, dass die Gewerbe-
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10 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Zum einen ist dies die Festschrift «75 Jahre Liechtenstei-
nische Krankenkasse»6 und zum zweiten die Jubiläums-
schrift von Arthur Brunhart zur Geschichte der «Frei-
willigen Krankenkasse Balzers».7 Dabei ist jedoch zu be-
achten, dass diese beiden Schriften nicht den Anspruch
erheben, eine eingehende historische Untersuchung zu
leisten.
Für das hier behandelte Thema zentral sind zwei Dis-
sertationen: Zum einen ist dies Alois Ospelts Disserta-
tion über die «Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums
Liechtenstein im 19. Jahrhundert»8 zum anderen Hilmar
Hochs rechtshistorische Dissertation zur «Geschichte des
Liechtensteinischen Sozialversicherungsrechts».9 Alois
Ospelts Arbeit zur Wirtschaftsgeschichte Liechtensteins
im 19. Jahrhundert ist, obwohl bereits 1972 erschienen,
immer noch eine unentbehrliche Grundlage für die Be-
schäftigung mit der Geschichte Liechtensteins im späten
19. Jahrhundert. Hilmar Hochs Dissertation beschäftigt
sich eingehend mit der rechtlichen und politischen Ent-
wicklung in Bezug auf die Sozialversicherungen Liech-
tensteins im Allgemeinen. Damit stellt Hoch die bislang
fundierteste Betrachtung zum Thema und zudem bie-
tet er einen hervorragenden rechtspolitischen Rahmen
zur Erfassung des Themas. In Bezug auf die Geschichte
der Industrialisierung Liechtensteins und die gesund-
heitliche sowie soziale Lage der Arbeiterschaft sehr auf-
schlussreich ist der Band «Fabriklerleben»,10 der 1994
im Rahmen einer Ausstellung zur Industriegeschichte
Liechtensteins erschien. Im Sammelband findet sich eine
Vielzahl interessanter Aufsätze zur Industriearchäologie
und -geschichte, sowie unter anderem auch zur Gesund-
heitspolitik11 und zur Arbeiterbewegung in Liechten-
stein.12
Die Entwicklung der Krankenversicherung in einem
Kleinstaat wie Liechtenstein lässt sich natürlich nicht
korrekt darstellen, ohne die Einflüsse seiner zwei grös-
seren Nachbarländer Österreich und Schweiz auf die
Entwicklungen in Liechtenstein zu berücksichtigen. Für
die Entwicklungen der Krankenversicherung in Öster-
reich findet sich eine profunde Überblicksdarstellung
von Herbert Hofmeister13 bei Peter Köhler und Hans Za-
cher in: «Ein Jahrhundert Sozialversicherung».14 Im sel-
ben Werk enthalten ist auch ein Landesbericht über die
Schweiz, verfasst von Alfred Maurer.15 Leider ebenso wie
auch dieser Band bereits etwas älter ist Jürg H. Sommers
politisch und ökonomisch orientierte Untersuchung zu
Aspekte vertieft zu betrachten. Zugleich sollen auch Mo-
dellübernahmen von den Nachbarländern Schweiz und
Österreich, aber auch eigenständige liechtensteinische
Entwicklungen eingehender dargestellt werden. Dabei
wird das Bild einer erfolgreichen, aber keinesfalls ste-
tigen und in sich oft auch widersprüchlichen Entwick-
lung und ihrer Akteure gezeichnet.
Quellenlage und Forschungsstand
Alle in der Arbeit verwendeten Akten sind im Liech-
tensteinischen Landesarchiv in Vaduz zu finden. Der
Grossteil dieser Quellen besteht aus Regierungsakten,
Landtagsprotokollen und den für die Sozialversiche-
rung relevanten Rechtsgrundlagen. Die Regierungsakten
umfassen vor allem Korrespondenzen zwischen den
verschiedenen für die Sozialversicherung relevanten
Akteuren. Insbesondere handelt es sich dabei um Statu-
tendiskussionen zwischen Regierung und Versicherern
sowie Korrespondenzen mit und Berichte von verschie-
denen Experten. Dies sind einerseits für die Frühzeit
des Betrachtungszeitraums vor allem die auch in Liech-
tenstein tätigen österreichischen Gewerbeinspektoren
sowie nach der Jahrhundertwende auch zunehmend
von der Regierung beauftragte externe österreichische
oder schweizerische Experten. Die Akten zu den Be-
triebskrankenkassen und teilweise zu den Gewerbein-
spektionen liegen einem mehrere Archivschachteln
umfassenden Sonderbestand5 vor. Die Landtagsakten
decken vor allem politische Auseinandersetzungen um
die Krankenversicherung, legislative Initiativen sowie
Subventionen für die Krankenversicherungen ab. Zu-
sätzlich zu den Archivsakten werden die Gesetzestexte
für Liechtenstein und sofern für die Untersuchung von
Bedeutung auch aus Österreich und der Schweiz be-
rücksichtigt. Als weitere Quellen dienen die im Unter-
suchungszeitraum erschienenen Zeitungen, vor allem
das «Liechtensteiner Volksblatt» welches ab 1878 auch
die amtlichen Kundmachungen abdruckte. In Einzelfäl-
len werden auch die oppositionellen erst 1914 gegründe-
ten «Oberrheinischen Nachrichten» berücksichtigt. Diese
publizierten – wie auch das «Volksblatt» – Berichte zu
den Landtagssitzungen.
Bezug auf die Geschichte der Krankenversicherung
in Liechtenstein nehmen zwei kleine Jubiläumsschriften:
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11Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
5 Liechtensteinisches Landesarchiv (im Folgenden: LILA) SF 5 Fa-
briksachen: Da die enthaltenen Akten nach Provenienz auch aus
den drei Betrieben aufgeteilt sind, werden sie zur besseren Un-
terscheidung im Folgenden mit «SF 5 Jenny» für Akten bezüglich
der Firma Jenny, Spoerry & Cie., respektive «SF 5 Rosenthal» für
Quellen mit Bezug auf die Weberei Rosenthal in Vaduz zitiert.
6 Beck und Gassner 1969.
7 Vgl. Brunhart 2000.
8 Siehe Ospelt 1972.
9 Vgl. Hoch 1991.
10 Frommelt 1994.
11 Vgl. Rheinberger 1994.
12 Quaderer 19941.
13 Vgl. Hofmeister 1981.
14 Köhler und Zacher 1981.
15 Maurer 1981.
16 Sommer 1978.
17 Degen 1997.
18 Lengwiler 20061.
19 Vgl. Geiger 1970, S. 191 ff. Für die vertraglichen Regelungen vgl.
ebenda, S. 196 ff.
20 Eine schematische Darstellung findet sich bei Vogt 1990, S. 177.
21 Siehe Ospelt 1972, S. 301 ff.
22 Geiger 2000, S. 55 ff., Wille 1981, S. 81 ff.
23 Ospelt 1972, S. 262 ff.; Vogt 1956, S. 101 ff.
24 Ospelt 1972, S. 84.
Zollvertrag auflöste und 1924 die bis heute bestehende
Zollunion mit der Schweiz einging. Liechtenstein löste
sich damals vom stürzenden Habsburgerreich und fand
Anschluss beim vom Krieg vergleichsweise verschont
gebliebenen westlichen Nachbarland.22
Die Industrialisierung setzte in Liechtenstein spät ein.
Erst 1860 wurde die erste Fabrik gegründet. Bis zum Er-
sten Weltkrieg konnten sich nebst drei grösseren Tex-
tilfabriken keine weiteren Industrien im Land etablie-
ren.23 Gewerbebetriebe entstanden erst nach und nach.
Die hauptberufliche landwirtschaftliche Tätigkeit war in
Liechtenstein seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rück-
läufig:
«Dabei ist aber zu beachten, dass sozusagen sämtliche Arbei-
ter in den liechtensteinischen Gewerbe- und Industriebetrie-
ben, auch die Saisonarbeiter, ja selbst Beamte und Geistliche,
nebenberuflich Landwirtschaft betrieben.»24
Damit kam es nicht im selben Ausmass zu einer
Entwurzelung der Landbevölkerung, wie dies in vie-
len anderen Regionen der Fall war. Da der Grossteil
der in der Textilindustrie Beschäftigten zudem Frauen
waren, wurde die Arbeiterschaft auch kaum politisiert
und es kam nicht zur Bildung einer eigentlichen Arbei-
den Ursprüngen und Entwicklungen in der schweize-
rischen Sozialversicherung unter dem Titel «Das Ringen
um soziale Sicherheit in der Schweiz».16 Insgesamt hat
ein Grossteil der Literatur, die sich mit der Geschichte
des Sozialversicherungswesens befasst, bereits ein paar
Jahre Staub angesetzt. Verschiedene weitere Werke so-
wie neuere Aufsätze zu Einzelaspekten sollen daher
eine vollständigere und etwas aktuellere Beurteilung
von Einzelfragen ermöglichen. Bernard Degens Aufsatz17
untersucht die Beziehungen zwischen dem Staat und
verschiedenen Interessensgruppen anhand der frühen
schweizerischen Bemühungen in der Sozialgesetzge-
bung. Martin Lengwilers Aufsatz «Insurance and Civil
Society»18 hinterfragt die herkömmlichen Vorstellungen
zum Verhältnis zwischen Versicherung und Zivilgesell-
schaft. Eine vollständige Liste der weiteren verwendeten
Sekundärliteratur findet sich im hinten angefügten Lite-
raturverzeichnis.
Historische Kontextualisierung
Im Jahr 1852 unterzeichnete Liechtenstein einen Zoll-
vertrag mit dem grossen Nachbarn Österreich. Mitten
in den Auseinandersetzungen zwischen Österreich und
Preussen um die Vorherrschaft in Deutschland konnte
Liechtenstein dabei fast mühelos das erreichen, was das
Land schon seit einiger Zeit angestrebt hatte.19 Durch die
in Wien residierenden Landesfürsten hatte das noch ab-
solutistisch regierte Land im 19. Jahrhundert sehr enge
Bindungen mit Österreich, die durch den nun erreich-
ten Zollanschluss noch verstärkt wurden. Ein Grossteil
der Gesetzgebung wurde jeweils von Österreich über-
nommen. Das Ende des Absolutismus in Österreich
machte auch in Liechtenstein den Weg zu einer konsti-
tutionellen Herrschaft frei. 1862 erhielt das Land eine
zwar konservativ gehaltene Verfassung mit sehr einge-
schränkten Volksrechten, dennoch wurde diese Verfas-
sung in Liechtenstein als grosser Fortschritt wahrgenom-
men.20 Vor allem im südlichen grösseren Landesteil war
die Bevölkerung durch die Nähe zur Schweiz eher zu
diesem Nachbarland orientiert, was in den 1870er Jah-
ren mit den Münzwirren in einer innenpolitischen Krise
gipfelte.21 Letztlich sollte das Land aber bis zum Ende
des Ersten Weltkriegs und der Donaumonarchie eng mit
Österreich verbunden bleiben, bevor es schliesslich den
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12 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Erste betriebliche Krankenkassen
in der Textilindustrie
Bis zum In-Kraft-Treten einer neuen Gewerbeordnung
im Jahr 1910 gab es in Liechtenstein keine gesetzlichen
Regelungen betreffend die Krankenversicherung. Trotz-
dem gab es in Liechtenstein bereits zuvor erste Kranken-
versicherungen, die auf Eigeninitiativen in der Textilin-
dustrie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zurück-
zuführen sind. So wurde als erste Krankenversicherung
bereits 1870 eine «Unterstützungs-Cassa für erkrankte
und verunglückte Arbeiter der Mechanischen Weberei
Vaduz»30 ins Leben gerufen. Im Laufe der Zeit folgten
zwei weitere betriebliche Kassen, womit ab 1891 alle drei
grossen Industriebetriebe im Land ihre Arbeiter mittels
firmeneigener Kassen gegen Krankheit versicherten.
Trotz dieser Initiativen und einer Beteiligung der Unter-
nehmer an der Finanzierung der Kassen wurden dabei
jedoch nur Minimalleistungen gewährleistet und zudem
wurden manche der Leistungen der Betriebskassen nach
kurzer Zeit bereits wieder eingestellt. Auf den folgenden
Seiten sollen die Betriebskrankenkassen als erste Kran-
kenversicherungen in Liechtenstein genauer betrachtet,
ihre Ursprünge untersucht und ihre Entwicklung darge-
stellt werden. Dabei liegt der Fokus auch auf der Rolle
der ab 1886 in Liechtenstein tätigen österreichischen
Gewerbeinspektoren. Es sollen anhand der Berichte der
Gewerbeinspektoren auch Unzulänglichkeiten der Ver-
sicherungen dargestellt werden. Zudem wird auf Kon-
flikte zwischen den betriebseigenen Versicherungen auf
der einen und den Arbeitern beziehungsweise der staat-
lichen Kontrolle auf der anderen Seite eingegangen.
Mit dem Abschluss eines Zollvertrags mit Österreich
im Jahre 185231 war das grösste Hindernis für eine Indus-
trialisierung Liechtensteins, der fehlende Zugang zu den
interessanten europäischen Märkten, beseitigt. Darüber
hinaus bot das Land gerade für Schweizer Unterneh-
mer eine einzigartige Möglichkeit, die österreichischen
Zollmauern zu umgehen.32 Dennoch waren die 1850er
Jahre noch geprägt von ersten zaghaften Versuchen
der Industrialisierung des Landes, welche aber allesamt
scheiterten.33 Erst mit dem Engagement österreichischer
und vor allem schweizerischer Textilunternehmer in
Liechtenstein ab 1860 kann von einer erfolgreichen In-
dustrialisierung des Landes gesprochen werden.34 Diese
Anfänge der Industrie in Liechtenstein waren gekenn-
terbewegung.25 Zugleich mit diesem noch bescheidenen
wirtschaftlichen Aufschwung begann sich auch die Zivil-
gesellschaft in Liechtenstein nach dem Ende des Absolu-
tismus zu formieren. Im Verlauf der 1860er Jahre wurden
die ersten Vereine im Land gegründet. An erster Stelle
stand auch in Liechtenstein ein Leseverein, der sich 1861
konstituierte, doch schon in den folgenden Jahren kam
es zu einer ganzen Reihe von Neugründungen, welche
die Basis für ein später ausgenommen stark ausgeprägtes
Vereinswesen legten.26 Die ab den 1890er Jahren gegrün-
deten Hilfskassen und Versicherungsvereine konnten
also in der Vereinsform auf ein im Ausland bereits er-
folgreich erprobtes und im Inland ebenfalls bereits be-
kanntes Organisationsmodell zurückgreifen. Ab 1878
erschien zudem regelmässig eine Zeitung, das Liech-
tensteiner Volksblatt, in dem auch amtliche Kundma-
chungen publiziert wurden.
Die Verwaltung des Landes erfolgte über einen vom
Fürsten eingesetzten Landesverweser als Regierungs-
chef und seinem kleinen Stab.27 Das Parlament hatte
legislativ aber nur sehr eingeschränkte Kompetenzen,
der Fürst behielt das Sanktionsrecht und blieb alleiniger
Souverän. Erste Gesetze im Sinne einer Sozial- oder Ge-
sundheitspolitik betrafen vor allem das Sanitäts- und das
Armenwesen.28 1865 wurde zudem ein Versicherungs-
obligatorium für Wohngebäude gegen Feuer erlassen,
eine Massnahme, die den seit den 1830er Jahren als er-
sten Versicherungen in Liechtenstein tätigen österrei-
chischen Brandversicherungen Auftrieb gab. Ab 1860
erwarb eine Reihe von Versicherungen eine Konzes-
sion zur Geschäftsaufnahme in Liechtenstein. Neben der
Brandversicherung bestanden seit dem zweiten Drittel
des 19. Jahrhunderts Viehversicherungen und erste Le-
bensversicherungen in Liechtenstein.29 Die erste Kran-
kenversicherung wurde jedoch erst 1870 in der Industrie
gegründet, für eine breitere Bevölkerung zugänglich gab
es eine Krankenversicherung sogar erst 1894. Trotz der
erwähnten sozialpolitischen Massnahmen ist einschrän-
kend zu bemerken, dass die Sozialpolitik in den ersten
Jahren unter der konstitutionellen Verfassung keine Pri-
orität hatte. Trotz aller seit den 1860er Jahren gemachten
Fortschritte blieb das Land im Vergleich zu seinen Nach-
barregionen in vielfacher Hinsicht rückständig.
Hauptteil
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13Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
25 Quaderer 19941, S. 55.
26 Vgl. Vogt 1990, S. 184 ff.
27 Ebenda, S. 176 ff.
28 Vgl. Liechtensteinisches Landesgesetzblatt (im Folgenden: LGBl.)
1869, Nr. 10: Armengesetz vom 20. Oktober 1869, sowie LGBl.
1874: Sanitätsgesetz vom 8. Oktober 1874.
29 Vgl. den Artikel «Versicherung» im HLFL.
30 LILA RE 1870/515: Rosenthal, mechanische Weberei Genehmi-
gung der Statuten der Unterstützungskasse.
31 Zum Zollvertrag mit Österreich siehe Ospelt 1972, S. 367 ff.;
Geiger 1970, S. 186 ff.
32 Ospelt 1972, S. 262; für einen kurzen Überblick zur Industrialisie-
rung vgl. auch Quaderer 19941, S. 255 ff.
33 Vgl. Ospelt 1972, S. 265 f.
34 Ebenda, S. 266 f. Ein kurzer Überblick findet sich auch bei Geiger
1970, S. 314 f.
35 Ospelt 1972, S. 268 f.
36 Zu den Beschäftigtenzahlen in der liechtensteinischen Textilin-
dustrie siehe die tabellarische Zusammenstellung bei Ospelt
1972, Anhang Nr. 67, S. 214.
37 Neben der Textilindustrie konnten sich im 19. Jahrhundert keine
grösseren Industriebetriebe durchsetzen, obwohl es zu verschie-
denen Gründungen kam. Vgl. Ospelt 1972, S. 277 ff.
38 LGBl. 1864, Nr. 2: Gesetz vom 7. März 1864 betreffend die Benüt-
zung der Gewässer im Fürstentum Liechtenstein.
39 LGBl. 1865, Nr. 9: Gewerbeordnung vom 16. Oktober 1865.
40 Zur liberalen österreichischen Gewerbeordnung von 1859 vgl.
Hofmeister 1981, S. 474 ff.
41 LGBl. 1866, Nr. 1: Provisorisches Steuergesetz vom 20. Oktober
1865.
42 Ospelt 1972, S. 265, Fussnote.
43 Vgl. Geiger 1970, S. 331.
44 In Österreich waren Gewerbeinspektoren zwei Jahre zuvor per
Gesetz vom 17. Juni 1883 eingesetzt worden; vgl. Regierungs-
gesetzblatt (im Folgenden: RGBl.) 1883, Nr. 117; siehe ebenso:
Hofmeister 1981, S. 475. Zur Vereinbarung bezüglich der Ausdeh-
nung der Tätigkeit der österreichischen Gewerbeinspektoren auf
Liechtenstein vgl. Sammlung Rechtsvorschriften (im Folgenden:
SgRV) 1885/7: Zuschrift Nr. 40 betreffend Gewerbeinspektion;
siehe auch Ospelt 1972, S. 288 f.
zeichnet von häufigen Besitzerwechseln und Konkursen.
Eine gewisse Stabilität in der sich etablierenden Textil-
industrie wurde erst gut zehn Jahre später erreicht. 1870
engagierte sich die österreichische «k. k. privilegierte
Spinnerei Rankweil» in Vaduz und wurde in Liechten-
stein als «Rosenthal’sche Fabrik» zu einer festen Grösse
in der Textilindustrie.35 Als zweite feste Grösse bet-
rat die Glarner Textilfirma «Enderlin und Jenny» 1869
liechtensteinisches Terrain. Sie ersteigerte die Liegen-
schaft der nach einem Brand 1866 in Konkurs getretene
«Kirchthaler und Dürst, mechanischen Baumwollwebe-
rei in Triesen» und baute innert kurzer Zeit einen Be-
trieb von beachtlicher Grösse auf, der bereits wenige
Jahre später 125 Arbeiter, zumeist Frauen, beschäftigte.36
Mit der Errichtung einer Spinnerei ab 1882 im Vaduzer
Ebenholz, ebenfalls durch die genannte Glarner Textil-
firma, waren jene drei Betriebe, welche die Industrie-
geschichte bis zum Ersten Weltkrieg prägen sollten, in
Liechtenstein etabliert.37 Noch fehlten dem Land aller-
dings viele gesetzliche Bestimmungen, welche ab den
1860er Jahren langsam erarbeitet wurden. So wurden
1864 die Nutzungsrechte für Wasserläufe neu geregelt,38
was insbesondere im Hinblick auf die Energiegewinnung
der aufkommenden Industrie von Bedeutung war. Ein
Jahr später folgte mit der Gewerbeordnung vom 16. Ok-
tober 186539 eine erste, in Anlehnung an ihr österreichi-
sches Pendant von 1859,40 sehr liberal gehaltene Regle-
mentierung des Arbeitsrechts und nur vier Tage später
das «provisorische Steuergesetz vom 20. Oktober»,41 wo-
mit erstmals eine Unternehmensbesteuerung eingeführt
wurde. Die im Vergleich zum benachbarten Ausland
sehr tiefen Steuern waren ein weiterer Standortvorteil
für das noch industriell noch wenig entwickelte Land.
Selbst nach einer Anhebung der Steuern für die Textilin-
dustrie 1879 und einer Neuregelung der Fabrikenbesteu-
erung 1887, in der die Textilfabriken 10 bis 15 Prozent
der Reingewinne als Steuern abliefern mussten, blieben
die Steuerraten in Liechtenstein konkurrenzlos niedrig.
Im Vergleich zu einer Ansiedlung in Vorarlberg hatten
sie nur rund einen Drittel der dort fälligen Steuern zu
entrichten.42 Mit den angesprochenen gesetzlichen Rege-
lungen konnte in Liechtenstein innerhalb weniger Jahre
eine beachtliche Anzahl an Neuerungen eingeführt wer-
den. Dabei erlaubte die Übernahme österreichischer Re-
gelungen zwar eine schnelle und im Austausch mit dem
grossen Nachbarn unproblematische Gesetzgebung. Da-
bei problematisch war, dass die Gesetze zumeist reine
Übernahmen der österreichischen Gesetze darstellten
und somit kaum auf spezifisch liechtensteinische Ver-
hältnisse und Probleme eingingen.43
Infolge einer Vereinbarung mit Österreich übernahm
das österreichische Gewerbeinspektorat 1885 die Kon-
trolle und Aufsicht über die liechtensteinischen Ge-
werbe- und Industriebetriebe.44 Ab 1886 war der jewei-
lige Tiroler und Vorarlberger Gewerbeinspektor auch
für das Gebiet des Fürstentums Liechtenstein zuständig.
Durch dieses neue Kontrollorgan kam es zu einer merk-
lichen Verbesserung der sanitären Zustände und der
Einhaltung der ohnehin lockeren gesetzlichen Bestim-
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14 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Die im Jahre 1883 eröffnete Baumwollspinnerei Jenny, Spoerry & Cie. im Ebenholz in Vaduz, um 1900.
Rechts von der Fabrik befindet sich das im Jahr 1887 fertig gestellte Arbeiterwohnhaus.
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15Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
45 Vgl. Ospelt 1972, S. 288, Fussnote 201. Für die Kompetenzen der
Inspektoren siehe unter SgRV 1887/2: Kundmachung Nr. 159
betreffend Gewerbeinspektion.
46 LILA RE 1870/515: Rosenthal, mechanische Weberei Genehmi-
gung der Statuten der Unterstützungskasse.
47 LILA RE 1871/108: Statuten der Unterstützungs-Cassa für er-
krankte oder verunglückte Arbeiter der mechanischen Weberei
Vaduz von 1870, § 3. Eine Abschrift der Statuten findet sich im
Anhang.
48 Ebenda, § 2.
49 Ebenda, § 4.
50 Ebenda.
51 LILA SF 5, Jenny 1889/101: Gewerbeinspektionsberichte 1888.
Bezüglich der Krankenkasse in der Rosenthal’schen Fabrik
spricht Inspektor Ernst Rziha von einer entsprechenden Beteili-
gung der Betriebsleitung, diese lässt sich in den zu der Zeit gel-
tenden Statuten (LILA RE 1885/125) allerdings nicht nachweisen.
52 RGBl. 1883, Nr. 39: Gesetz vom 15. März 1883 betreffend die
Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung, § 121, sowie
RGBl.1885, Nr. 22, Gesetz vom 8. März 1885 betreffend die Ab-
änderung und Ergänzung der Gewerbeordnung, § 89; vgl. auch
Hofmeister 1981, S. 524 ff.
53 Vgl. Ospelt, 1972, S. 291.
54 Ebenda.
Wochen beschränkt und andererseits § 8 der Statuten
zur Übernahme der Begräbniskosten im Todesfall ersatz-
los gestrichen. Diese Änderungen wurden von der Re-
gierung ohne weiteren Kommentar genehmigt.50 Ab den
späteren 1880er Jahren beteiligte sich die Betriebsleitung
zur Hälfte an den von den Arbeitnehmern zu entrichten-
den Beiträgen. Dies war nicht Folge einer Statutenände-
rung, sondern wurde vermutlich vom Gewerbeinspektor
durchgesetzt, der ab 1886 tätig war.51 Für Österreich be-
stand laut der Gewerbeordnungsgesetze von 1883 und
1885 eine Beitragspflicht an die Krankenversicherung
auch für die Betriebsleitung.52
Die Arbeiter des zweiten grösseren Industriebetriebes
in Liechtenstein, der Weberei «Enderlin & Jenny» in
Triesen, waren ab 1873 ebenfalls gegen Krankheit ver-
sichert. Die Firma richtete anfangs aber keine eigene
Krankenkasse für die Belegschaft in Triesen ein, sondern
nahm die dortigen Mitarbeiter in die bestehende «Kran-
ken-Unterstützungs-Kasse» der Betriebe in Ziegelbrücke
und Niederurnen auf.53 Die Regierung hiess die einge-
reichten Statuten gut und bestand lediglich darauf, dass
der Gerichtsstand bei allfälligen Konflikten Vaduz sein
sollte.54 Auch hierbei handelte es sich um eine verpflich-
tende betriebliche Krankenversicherung. Dabei war
«jeder Arbeiter und jede Arbeiterin im Etablissement
mungen, wenngleich der zuständige Inspektor aufgrund
seines geographisch weiten Tätigkeitsfelds, das sich über
Vorarlberg und Tirol noch inklusive des Südtirols er-
streckte und ab 1886 eben auch Liechtenstein einschloss,
nur beschränkte Möglichkeiten zur Kontrolle der Be-
triebe und zur Einflussnahme hatte.45
Doch deutlich bevor der Staat Massnahmen zur Ver-
besserung der sozialen Lage der Fabrikarbeiter ergriffen
hatte, kam es auf Eigeninitiative der Betriebe hin in den
verschiedenen Textilfabriken des Landes zur Gründung
von Fabrikkrankenkassen. Eine erste Gründung erfolgte
bereits 1870 mit der Errichtung einer «Unterstützungs-
Cassa für erkrankte und verunglückte Arbeiter der Me-
chanischen Weberei Vaduz».46 Die Regierung geneh-
migte am 17. Juni 1870 deren Statuten. Gemäss diesen
hatten alle Arbeiter und Aufseher der mechanischen
Weberei in die Unterstützungs-Cassa einzutreten. Die
Betriebsleitung schoss bei der Gründung einen Betrag
von 200 Gulden als Grundstock in die Kassa ein «um
ausserordentlichen Erfordernissen zu begegnen»,47 sie
beteiligte sich allerdings nicht an den weiteren Einlagen.
Diese monatlichen Beiträge wurden ausschliesslich von
den Arbeitnehmern bestritten, welche verpflichtet wa-
ren, in Form eines direkten Abzugs von ihrem monatlich
ausbezahlten Lohn «von jedem Gulden ein Kreuzer in
die Kassa zu vergüten».48 Dies entsprach einem Versiche-
rungsbeitrag von einem Prozent. Dieser Beitrag konnte
allerdings von der Webereidirektion auf unbestimmte
Zeit erhöht werden, wenn der Kassabestand aufgrund
höherer Auslagen unter 150 Gulden sinken sollte. Im
Krankheits- oder Unglücksfall erhielten die Arbeiter Un-
terstützung durch die Kassa in Form eines Taggeldes,
das 50 Prozent des Lohnes entsprach. Ausserdem wur-
den die Arzt- und Pflegekosten übernommen. Während
des ersten Monats, einer Zeit, in der aufgrund mangeln-
der Erfahrung der neuen Arbeiter im Umgang mit den
Maschinen Unfälle häufiger waren, blieben die Arbeiter
nicht versichert. Bei kleineren Krankheiten und Unfäl-
len, die innert einer Woche auskuriert waren, wurden
ausserdem die ersten beiden Krankheitstage nicht ver-
gütet.49 Bereits kurze Zeit nach der Einführung der Kran-
kenversicherung wurden im Dezember 1870 ausserdem
die Leistungen der Krankenversicherung erheblich ge-
kürzt. So wurde einerseits die Maximaldauer der Unter-
stützungszahlungen durch die Unterstützungs-Cassa von
bisher drei Monaten halbiert und auf höchstens sechs
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16 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
und will sie erst bei Errichtung einer Krankenkassa dann an die-
selbe abführen. Ich glaube, dass sie jetzt schon genügend Leute
beschäftigt um eine solche zu gründen.»61
Von Seite der Regierung ist in ihrem Antwortschrei-
ben kein Echo auf diese Äusserung des Gewerbeinspek-
tors zu lesen, auf eine Anfrage bezüglich der Versiche-
rung in kleineren Gewerbebetrieben kam die lapidare
Antwort, die Regierung habe diesbezüglich «vorerst
keine besonderen Wünsche».62 Als die Betriebskranken-
kasse der Spinnerei in Vaduz 1891 schliesslich gegrün-
det wurde, erhielt sie Statuten, die weitgehend jenen der
Weberei in Triesen entsprachen. Sie war jedoch erstmals
mit nach Höhe der Löhne differenzierteren Beitrags- und
Leistungssätzen ausgestattet. Ebenso enthielt sie, wie dies
bereits einige Jahre zuvor in der Rosenthal’schen Fabrik
der Fall war, eine Beitragspflicht für die Unternehmens-
leitung. Die Beiträge bestanden damit aus den monatlich
vom Lohn abgezogenen Geldern der Arbeiter und «aus
Beitragsleistung der Fabrikbesitzer im Betrage der Hälfte
des Beitrages der Arbeiter, es wird dieselbe ebenfalls pro
Zahltag geleistet».63
Die Regierung wandte sich in Fragen bezüglich der
richtigen Regelungen für die Krankenkassen im Normal-
fall an die Gewerbeinspektoren. So liess sie beispiels-
weise bei ihr eingereichte Statuten direkt vom Gewer-
beinspektor prüfen, was aufgrund seiner Funktion zwar
nicht weiter verwunderlich ist, aber dennoch aufzeigt,
dass in Liechtenstein selbst die nötigen personellen Res-
sourcen dafür fehlten. Wenn dabei gesetzliche Rege-
lungen fehlten, beriefen sich die Inspektoren des Öfteren
auf österreichisches Recht.
Gewerbeinspektor Rziha stellte fest, dass die ihm vor-
gelegten Statuten «vollständig den in Österreich beste-
henden diesbezüglichen Gesetzesvorschriften und Ge-
pflogenheiten» entsprächen. Dies zeigt, dass sich auch die
im Land tätigen Schweizer Unternehmer in der Ausge-
staltung der Krankenversicherung für die Arbeiter in den
Fabriken an die österreichischen Regelungen anpassten.
In der Kontrolle der Krankenkassen nahm der jeweils
amtierende Gewerbeinspektor eine tragende Rolle ein.
Diese österreichischen Beamten orientierten sich an den
für Österreich geltenden Bestimmungen und benutzten
ebenso die dort üblichen Formulare und Kontrollblätter.
Dies führte dazu, dass manche österreichische Vorschrift
auch für das kleine Liechtenstein übernommen wurde,
ohne dass dafür explizit eine gesetzliche Grundlage be-
der HH. Enderlin & Jenny . . . verpflichtet, dieser Unter-
stützungskasse beizutreten, mit Ausnahme derjenigen
Angestellten, die Jahresgehalt . . . »55 bezogen. Dies wurde
auch in der Fabrikordnung festgehalten, bei Eintritt in
den Betrieb erhielt jeder Arbeiter ein Exemplar der Sta-
tuten. Gewichtige Verstösse gegen die Ordnungen der
Krankenkasse konnten mit einer fristlosen Entlassung
geahndet werden. Im Falle einer solchen Entlassung be-
stand kein Anrecht auf ein Zeugnis. Auch fiel der nicht
ausbezahlte Wochenlohn an die Krankenkasse.56
Die Beiträge der Unterstützungskassa wurden «jeden
Zahltag vom Lohne jedes Arbeiters erhoben und zwar
ordentlicherweise per Franken mindestens einen bis
höchstens drei Rappen.»57 Auch wurden verschiedene
Bussen aus Verletzungen der Betriebsordnung in die
Krankenkasse eingeschossen. Abgesehen von einer bei
der Gründung gemachten Grundeinlage war die Firma
vorläufig nicht an der Finanzierung der Kasse beteiligt.
Erkrankte Arbeiter hatten erst «8 Wochen nach dem Ein-
tritt und unausgesetzter Thätigkeit in der Fabrik» und
für maximal ein halbes Jahr Anspruch auf Unterstützung
durch die Kasse. Im Falle von psychischen Erkrankungen
wurde höchstens für drei Monate Unterstützung ge-
währt. Auch für entstehende Kosten im Todesfall kam
die Versicherung teilweise auf und zwar mit einem Zu-
schuss von Fr. 20, respektive Fr. 10 für minderjährige
Versicherte.58 1893 wurde schliesslich eine eigene Ver-
sicherung für die Arbeiterschaft in Triesen gegründet.59
Die Statuten wurden dabei von jenen der Spinnerei in
Vaduz übernommen, wo erst zwei Jahre zuvor eine
Krankenversicherung eingerichtet worden war. Ände-
rungen der Statuten 1894 und 1901 brachten keine ge-
nerellen Veränderungen in der Organisation der Kasse
oder in den erbrachten Leistungen. Sie stellten lediglich
kleinere Neuformulierungen und Detailanpassungen an
die Beitrags- und Leistungssätze mit einer tendenziellen
Verschlechterung der Leistungen dar.60
Die Belegschaft im Vaduzer Ebenholz, wo die Firma
Jenny und Spoerry ab 1883 eine Spinnerei betrieb, hatte
bis 1891 noch keinen Krankenversicherungsschutz. Eine
entsprechende Firmenkasse wurde erst 1891 auf Drän-
gen des Gewerbeinspektors errichtet. Diesbezüglich hielt
Inspektor Ernst Rziha bereits im Begleitschreiben zu den
Inspektionsberichten für 1888 fest:
«Jenny Spörry & Comp. Spinnerei Vaduz hat bis jetzt keine
Krankenkassa, sondern legt die Strafen in die Kostsparkassa
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17Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
55 LILA PA 103/34: Statuten der Kranken-Unterstützungs-Kasse für
alle Arbeiter der Spinnerei und Weberei von Enderlin & Jenny
a/d. Ziegelbrücke und Niederurnen, Glarus 1871, § 2.
56 LILA SF 5 Jenny 1894/1112: Fabrikordnung für die mechanische
Weberei Triesen von Caspar Jenny in Triesen, 1892.
57 Ebenda, § 4. Im Falle des Auftretens von Epidemien konnte der
Satz auf beachtliche fünf Prozent des Einkommens angehoben
werden (vgl. dazu § 15).
58 Ebenda, § 21, dies entspricht ca. dem Lohn eines einfachen Arbei-
ters von zwei Wochen.
59 LILA SF 5 Jenny 1893/42: Statuten der Kranken-Cassa der
Weberei Triesen von Caspar Jenny in Triesen, durch die Regie-
rung genehmigt am 28. Januar 1893.
60 Vgl. Ospelt 1972, S. 291; LILA SF 5 Jenny 1894/792: Statutenände-
rung der Kranken-Cassa der Weberei Triesen von Caspar Jenny
in Triesen; sowie LILA SF 5 Jenny 1901/191: Statuten der Kran-
kenkassa der Weberei Triesen.
61 LILA SF 5 Jenny 1889/101: Gewerbeinspektor Ernst Rziha an
Regierung, 12. Januar 1889. Inspektor Rziha stützt sich in seiner
Beurteilung, dass der Betrieb nun «genügend Leute» beschäfti-
ge, auf das österreichische Arbeiter-Krankenversicherungsgesetz,
welches bei Betrieben 100 oder mehr Mitarbeitern eine Pflicht
zur Krankenversicherung vorsah. Siehe auch Hofmeister 1981,
S. 565.
62 LILA SF 5 Jenny 1889/101: Regierung an Gewerbeinspektor,
22. Januar 1889.
63 LILA SF 5 Jenny 1891/1208: Statuten der Krankenkasse der
Spinnerei von Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz. Damit hielt die
Beitragsaufteilung nach dem Deutschen Sozialversicherungs-
modell Modell über den Umweg einer informellen Übernahme
österreichischer Regelungen auch in Liechtenstein Einzug. Vgl.
Zöllner 1981, S. 89 f. sowie zu den Ursprüngen der Arbeitgeber-
verpflichtung auch ebenda, S. 77.
64 SgRV 1892/1, Nr. 639, betreffend die Fabrikkrankenkassen.
65 Vgl. Hoch 1991, S. 25. Hoch verweist dabei auch auf ärztliche
Unterstützung dieses Vorhabens vgl. ebenda, Fussnote 59.
66 Vgl. LILA RE 1871/108: Statuten der Unterstützungs-Cassa für
erkrankte od. verunglückte Arbeiter der mechanischen Weberei
Vaduz von 1870, sowie LILA PA 103/34: Statuten der Kranken-
Unterstützungs-Kasse für alle Arbeiter der Spinnerei und Webe-
rei von Enderlin & Jenny a/d. Ziegelbrücke und Niederurnen,
Glarus 1871.
67 LILA SF 5 Rosenthal 1911/2722: Rosenthal, neue Satzungen
der Betriebskrankenkasse.
68 LILA RE 1911/385: Originalentwurf Stippergers von 1908.
hatte im Auftrag der Regierung bereits ein Jahr zuvor
einen Entwurf für eine neue Gewerbeordnung in Anleh-
nung an die österreichische Regelung mit einem verbes-
serten Versicherungsschutz für Arbeiternehmer verfasst.
Dieser Entwurf enthielt unter anderem ein Versiche-
rungsobligatorium für die gesamte Arbeitnehmerschaft.68
Bei allen drei bestehenden Fabrikkrankenkassen hielt
Stipperger eine ganze Reihe von Kritikpunkten bezüg-
lich der Statuten fest. Ein Hauptkritikpunkt war, dass die
im Krankheitsfall geleisteten Unterstützungszahlungen
stand. Oder es wurden Bestimmungen erst kurzfristig
festgelegt, um die Übernahme einer österreichischen
Vorgehensweise zu legitimieren, wie dies beispielhaft im
Fall einer auf Wunsch des Gewerbeinspektors von der
Regierung erlassenen Verordnung geschah:
«Fabriks-Kranken-Kassen
dieselben haben jährlich bis spätestens Ende März des da-
rauffolgenden Jahres u. zwar das erste Mal für das Jahr 1892
bis spätestens Ende März 1893 der f. Regg. Rechnungsab-
schlüsse nach den im Österr. eingeführten Formularien ein-
zureichen»64
Bereits kurz nach der Einsetzung der österreichischen
Gewerbeinspektoren äusserten sie erste Forderungen
nach einer Verbesserung des Versicherungsschutzes für
die Arbeiterschaft. Ebenfalls auf eine Initiative des Ge-
werbeinspektors hin wurden alle Industriearbeiter in
Liechtenstein ab 1886 bei der ersten österreichischen
allgemeinen Unfallversicherungs-Gesellschaft gegen Be-
triebsunfälle versichert.65 Unfälle waren bislang teilweise
in den Leistungen der Betriebskassen enthalten und
wurden nur teilweise abgedeckt.66 Ein entsprechendes
gesetzliches Unfallversicherungsobligatorium lag nach
der geltenden Gewerbeordnung von 1865 nicht vor. Die
Gewerbeinspektoren beriefen sich in dieser Frage auf ös-
terreichisches Recht. Diese Praxis wurde auch beibehal-
ten, als Liechtenstein 1910 die betriebliche Krankenversi-
cherung durch die neue Gewerbeordnung gesetzlich re-
gelte. Bei der Beurteilung der in der Folge neu verfassten
Statuten der Krankenkasse der Firma Rosenthal merkte
der amtierende Gewerbeinspektor Franz Eberl an:
«Im Übrigen können die Satzungen als mit den gesetzlichen
Bestimmungen im Einklange stehend bezeichnet werden. In
Österreich kann durch das Kassenstatut dem Betriebsunter-
nehmer oder einem Vertreter desselben der Vorsitz im Vor-
stande und in der Generalversammlung übertragen werden,
die Rechnungs- und Kassenführung ist unter Verantwortlich-
keit und auf Kosten des Unternehmers durch einen von diesem
zu bestellenden Rechnungs- und Kassenführer zu besorgen.
Demnach ist die Fassung des § 11a in Österreich zulässig.»67
Damit berief sich der Gewerbeinspektor trotz der ge-
setzlichen Regelung in der neuen Gewerbeordnung bei
Unklarheiten weiterhin auf österreichisches Recht.
In den Gewerbeinspektionsberichten von 1909 kritisierte
Gewerbeinspektor Hubert Stipperger die veralteten Sta-
tuten der bestehenden Fabrikkrankenkassen. Stipperger
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18 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
von Seiten der Gewerbeinspektoren, die durchaus Er-
folge zeigten, brachte erst eine gesetzliche Neuregelung
der Krankenversicherung eine grundlegende Verbes-
serung der Versicherungsleistungen in den einzelnen
Betrieben. Diese Neuregelung erfolgte im Rahmen der
neuen Gewerbeordnung von 1910.74 In Anpassung an
die verschärften gesetzlichen Bestimmungen erhielten
alle Betriebskrankenkassen in Liechtenstein neue Sta-
tuten, die sich jeweils am neuen gesetzlichen Minimum
orientierten.75
Die Gründung von Hilfskassen
Zwanzig Jahre nach dem Entstehen der ersten Kranken-
versicherungen in den Textilfabriken folgte 1894 die
Gründung eines «Allgemeinen Kranken-Unterstützungs-
Vereins für das Fürstentum Liechtenstein».76 Dank der
privaten Initiative einiger Gewerbetreibender und des
Balzner Kaplans Franz von Reding77 erhielten nun auch
Bevölkerungskreise ausserhalb der Textilarbeiterschaft
Zugang zu einer ersten Krankenversicherung. In den
folgenden Jahren kam es auch in der Industrie zu einer
Neuerung mit der Gründung zweier «Männer-Kranken-
vereine» in Triesen und Vaduz. Diese hatten sich zum
Ziel gesetzt, die mangelnden Versicherungsleistungen
der Textilfabriken durch eigene Unterstützungslei-
stungen auf dem Prinzip gegenseitiger Hilfe aufzubes-
sern. Als weitere Initiative von privater und kirchlicher
Seite wurde 1912 ein Krankenpflegeverein ins Leben
gerufen. Wenngleich der Krankenpflegeverein keine ei-
gentliche Krankenversicherung darstellt, so war er den-
noch ein wichtiges Glied in der Ausweitung der Kran-
kenversorgung auf zusätzliche Bevölkerungskreise. Die
schon bald mit staatlicher Unterstützung finanzierten
Hilfsvereine78 waren ein wichtiger Schritt auf dem Weg
zu einer Verbreiterung der Krankenversicherung. Sie
stehen zugleich als Beleg für private und institutionelle,
das heisst in diesem Fall kirchliche, Initiativen zur Ver-
besserung der Krankenversorgung.
Als erste nichtbetriebliche Krankenversicherung
wurde der allgemeine Kranken-Unterstützungs-Verein
für das Fürstentum Liechtenstein in Schaan ins Leben
gerufen. Der Verein konstituierte sich in einer offenen
Versammlung am 14. Januar 1894 im «Sale zur Post» in
Schaan,79 die Annahme der ersten Vereinsstatuten durch
für erkrankte Arbeiter mittlerweile nur noch zwischen
25 und 50 Prozent des täglichen Lohnes der Arbeiter ab-
deckten und dass die maximale Dauer der Unterstützung
zu kurz sei.69 Ausserdem forderte Stipperger bessere Ent-
schädigungen für Wöchnerinnen, mehr Transparenz in
der Organisation der Betriebskrankenkassen, die Wahl
der Krankenkassenverwaltung durch die Arbeiterschaft,
mehr Kontrollmöglichkeiten durch die Regierung und
eine verbesserte finanzielle Sicherheit der Betriebskran-
kenkassen insbesondere auch für den Fall einer Auflö-
sung.70 Fast schon resignierend mutet die im Inspektions-
bericht angebrachte Bemerkung an:
«. . . Die Krankenversicherung hat nicht allein den Zweck, der
Fabrik gesunde Arbeiter zu verschaffen, sondern allgemein
wohltätig und hilfebringend zu wirken.»71
Ausser in den drei Textilfabriken in Triesen und Vaduz
gab es in Liechtenstein keine weiteren Industrie- oder
Gewerbebetriebe, die gross genug gewesen wären, um
selbstständig Krankenkassen zu errichten. Ausserhalb
der Industriebetriebe bestanden vorerst keine Kranken-
versicherungen. Diesbezüglich richtete auch Inspektor
Ernst Rziha eine Anfrage an die Regierung. «Die klei-
neren Etablissements haben keine Kassen und können
solche auch nicht erhalten, was soll ich Ihnen da anrat-
hen?»72 Soweit aus den Akten ersichtlich ist, ging die
Regierung auf diesen Teil der Anfrage nicht ein. Rzihas
Frage nach einer möglichen Versicherungslösung für die
nicht in den drei Textilfabriken beschäftigten und damit
unversicherten Teile der Arbeitnehmer in Liechtenstein
ist kaum als Vorstoss in die Richtung eines allgemeinen
Versicherungsschutzes für alle Arbeitnehmer zu sehen.
Ein derartiges Projekt wäre zu Beginn der 1890er Jahre
weder politisch noch finanziell realisierbar gewesen. Die
berechtigte Frage nach einer Krankenversicherung auch
für weitere Teile der Arbeitnehmerschaft in Liechten-
stein blieb offen. Es war eine Frage, für die in den fol-
genden Jahren auch von anderer Seite nach einer Lösung
gesucht wurde.73
Trotz Änderungen an den jeweiligen Statuten der
Betriebskrankenkassen wurde der Versicherungsschutz
in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens kaum verbes-
sert. Ein Teil der vorgenommenen Statutenänderungen
brachte sogar Leistungskürzungen, Beitragserhöhungen
und eine Reduzierung des Risikos für die Zuschüsse der
Unternehmen. Trotz verschiedener Vorstösse vor allem
Kapitel_1_Vogt.indd 18 26.07.11 13:44
19Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
69 LILA RE 1909/545: Gewerbeinspektionsbericht, Gewerbeinspek-
tor Hubert Stipperger an Regierung.
70 Ebenda.
71 Ebenda.
72 LILA SF 5 Jenny 1889/101: Gewerbeinspektor Ernst Rziha an
Regierung.
73 Vgl. Kapitel «Die Gründung von Hilfskassen».
74 LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend Erlassung
einer neuen Gewerbeordnung.
75 Vgl. dazu Kapitel «Die neue Gewerbeordnung von 1910, ein
gescheiterter Modernisierungsversuch?»; siehe auch LVolksblatt
vom 1. November 1912, Übersicht über die Fabrikkrankenkassen.
76 Für eine kurze Geschichte vgl. Beck und Gassner 1969.
77 Franz von Reding (1868–1927), aus Schwyz war von 1893 bis
1899 Kaplan in Balzers und später Pfarrer von Triesenberg.
78 Hierbei sind die Männerkrankenvereine nicht eingeschlossen. Sie
leisteten aber als erste Form einer Arbeiterorganisation in Liech-
tenstein und ohne die Gründung oder Protegierung durch die
Fabrikleitung ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Beitrag
in der Verbreitung des Krankenversicherungswesens.
79 Vgl. LILA RE 1894/38: Gesuch um Bewilligung der Gründungs-
versammlung des Krankenunterstützungsvereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein.
80 LILA RE 1896/377: Statuten des allgemeinen Kranken-Unterstüt-
zungs-Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, 1894.
81 Ebenda, § 1.
82 Ebenda,§ 2.
83 Ebenda, § 10.
84 LILA RE 1896/377: Statuten des allgemeinen Kranken-Unterstüt-
zungs-Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, 1894, § 23.
85 Vgl. Ospelt 1972, Anhang Nr. 83; es fehlen jedoch genaue Zahlen.
Vgl. auch Landtagsprotokoll (im Folgenden: LTP) 1897, Tagesord-
nung der Sitzung vom 19. Juni, wo für den Erhalt von Landessub-
ventionen argumentiert wird, es liege «im Interesse der Weiter-
verbreitung des Vereines, die jetzt noch hohen Monatsbeiträge
der Mitglieder mit der Zeit herunterzusetzen».
86 Die Statuten der Fabrikkrankenkassen sahen grundsätzlich Bei-
tragszahlungen von einem Prozent vor, die bei tiefen Kassabe-
ständen auch angehoben werden konnten.
87 Vgl. dazu Lengwiler, 20061, S. 400 f.; vgl. auch Rheinberger 1994,
S. 314 f. Diese These müsste anhand der Mitgliederlisten einge-
hender untersucht werden.
attraktiveren Prämien. Wie auch die Mitgliederzahlen
des allgemeinen Krankenversicherungsvereins belegen,
kann damit von einer Versicherung für die breite Be-
völkerung keinesfalls die Rede sein. Es ist anzunehmen,
dass die meisten Vereinsmitglieder Teil des etablierten
Gewerbes oder verhältnismässig gut verdienende ge-
werbliche Angestellte waren.87
Für den Bezug von Leistungen berechtigt waren Mit-
glieder erst nach dreimonatiger Vereinszugehörigkeit
und Einzahlung der fälligen Eintrittsgebühr von einem
Gulden für die ersten beiden, respektive 75 Kreuzern
für die dritte Klasse, sowie Bezahlung der monatlichen
die Regierung erfolgte am 16. März 1894.80 Erklärtes Ziel
des neu gegründeten Vereins war es laut § 1 der ersten
Vereinsstatuten:
«Jedem Mitgliede eine durch dieses Statut bestimmte Un-
terstützung im Krankheitsfalle, sowie beim Todesfalle einen
Beitrag an die Beerdigungskosten zu verabfolgen, soferne
diese letzteren nicht nach den Statuten eines andern Vereins,
dessen Mitglied der Verstorbene war, zu bestreiten sind.»81
Der Verein verstand sich als offen und wollte die
Krankenversicherung auf breiter Bevölkerungsteile aus-
dehnen. Trotz dieser propagierten Offenheit galten für
die Aufnahme in den Kranken-Unterstützungs-Verein
eine Reihe von einschränkenden Bestimmungen, die sta-
tuarisch festgehalten waren:
Ǥ 2 In diesen Verein werden aufgenommen: Arbeiter und
Dienstboten jeder Kategorie, insofern sie sich durch ein von
einem patentierten Arzte im Lande ausgestelltes Zeugnis für
gesund ausweisen, nicht schon einer Krankenkassa angehö-
ren und den Bestimmungen dieser Statuten entsprechen; auch
darf niemals ein Mitglied einem zweiten ähnlichen oder glei-
chen Institute angehören oder beitreten.»82
Der Verein stand damit zwar auch weiblichen Mitglie-
dern offen, diese konnten allerdings nur in die unterste
von drei Versicherungsklassen aufgenommen werden.83
Der Grund dafür lag im vermuteten höheren Risiko, was
sich einerseits in den im Verhältnis zu den Leistungen
relativ hohen Beiträgen, andererseits auch in der eher
zurückhaltenden Unterstützung von Wöchnerinnen nie-
derschlug. Diese konnten frühestens sechs Wochen nach
der Geburt Leistungen beziehen, sofern sie nach wie vor
nicht erwerbsfähig waren. Weibliche Vereinsmitglieder
zählten in den jährlichen Generalversammlungen aus-
serdem als nicht stimm- oder wahlfähig, sie konnten sich
nur per schriftliche Vollmacht durch ein männliches Ver-
einsmitglied vertreten lassen.84 Ein weiteres Kriterium,
welches einen ausschliessenden Charakter hatte, waren
die verhältnismässig hohen Beiträge. Wenngleich in den
Vereinsstatuten keine Mindestlöhne gefordert waren,
lagen die 50 bis 70 Heller, welche nach den Statuten
von 1894 jeden Monat pünktlich zu entrichten waren,
je nach angenommenem Einkommen zwischen 1,5 und
2,5 Lohnprozent.85 Damit waren die Beiträge eher höher
angesetzt als die Beiträge, die in den Betriebskassen ge-
fordert wurden.86 Mitglieder in höheren Versicherungs-
klassen, das heisst primär besser verdienende Vereins-
mitglieder, profitierten überdies von verhältnismässig
Kapitel_1_Vogt.indd 19 26.07.11 13:44
20 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
einer Unterbrechung war diese Unterstützung theore-
tisch unbeschränkt verfügbar.
«Hat ein Mitglied 6 Monate die Krankenunterstützung
genossen, so bleibt es für 4 Monate im Genusse eingestellt;
nach Verfluss dieser Zeit beginnt die Unterstützung wie von
Anfang.»91
In einer zweiten Statutenrevision, nur drei Monate
nach der ersten Abänderung der Vereinsstatuten, wurde
für den Beitritt zum Verein neu eine Altersvorgabe ein-
geführt. Zusätzlich zu den bereits bestehenden Bestim-
mungen, mussten Neumitglieder nun zwischen 15 und
50 Jahre alt sein. Als Vorsichtsmassnahme gegen «Simu-
lanten» durften Kranke weder Arbeiten ausführen noch
Versammlungen besuchen. Auch das Spazieren war nur
«auf Anraten eines behandelnden Arztes, erlaubt. Der
Besuch von Wirtshäusern und Versammlungen aber,
Beiträge zwischen 50 und 70 Kreuzern. Bedingung für
den Leistungsbezug war zudem ein ärztliches Zeugnis.
Krankheiten, die drei oder weniger Tage dauerten, wa-
ren nicht unterstützungsberechtigt88 und der Erkrankte
musste alle Arzt- oder Apothekerrechnungen selbst tra-
gen.89 Damit übernahm der Verein nur eine Entschädi-
gung für den entstehenden Lohnausfall, nicht aber die
Arzt- und Arzneimittelkosten. Eine Pflegeversicherung
und Unterstützung der Heilungskosten war damit nicht
vorgesehen. Wie auch bei den Fabrikkassen üblich, wa-
ren «selbstverschuldete Krankheiten» von jeder Unter-
stützung ausgeschlossen.90 Damit waren auch Mitglieder
mit Geschlechtskrankheiten nicht bezugsberechtigt. Im
Vergleich zu den bestehenden Fabrikkrankenkassen
wurde aber für die ausgenommen lange Dauer von ma-
ximal sechs Monaten Unterstützung gewährt. Und mit
Ansicht von Triesen um 1900 mit der Weberei (links), dem Kosthaus (Mitte) und dem Armenhaus (rechts).
Kapitel_1_Vogt.indd 20 26.07.11 13:44
21Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
88 LILA RE 1896/377: Statuten des allgemeinen Kranken-Unterstüt-
zungs-Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, 1894, § 14.
89 Ebenda, § 15.
90 Ebenda, § 18.
91 Ebenda, § 15. Diese Regelung wurde aber in einer Revision
der Vereinsstatuten bereits nach wenigen Jahren angepasst, die
Bezugsdauer gekürzt; vgl. LILA RE 1899/1587: Statuten des all-
gemeinen Kranken-Unterstützungs-Vereines für das Fürstentum
Liechtenstein, 1899.
92 Ebenda, § 18.
93 So waren aus praktischen Gründen beispielsweise nur Mitglieder
aus Schaan oder Vaduz, den beiden zentral gelegenen Orten des
Landes, als Vereinspräsidenten oder Kassiere wählbar. Vgl. § 32
der Vereinsstatuten.
94 LILA RE 1896/377: Kranken-Unterstützungs-Verein Statutenrevi-
sion.
95 Vgl. die tabellarische Darstellung bei Sommer 1978, S. 61.
96 Sommer 1978, S. 58; vgl. auch Lengwiler 20061, S. 400.
97 Vgl. Sommer 1978, S. 70.
98 Vgl. Brunhart 2000, S. 23.
99 LTP 1897, Tagesordnung der Sitzung vom 19. Juni 1897.
während der Dauer der Krankheit, ist gänzlich unter-
sagt.»92 Wie für Versicherungsvereine üblich, war der
Einzugsbereich lokal beschränkt, mit der Selbstbeschrän-
kung auf Liechtenstein wurde dabei ein im Verhältnis
zu den vorläufigen organisatorischen Möglichkeiten des
Vereins relativ grosser Einzugsbereich gewählt, wodurch
in der Administration eigens bestimmte Regelungen
zur effektiveren Vereinsverwaltung eingeführt werden
mussten.93 Bereits nach zwei Jahren der Vereinstätigkeit
wurden zur besseren Organisation in einer Statutenän-
derung Untersektionen in den verschiedenen Gemein-
den des Landes eingerichtet. Sie hatten laut Statuten
von 1896 den Zweck, «den Gesammtverein zu beleben,
zu kraeftigen, zu foerdern und die Leitung desselben
zu erleichtern.»94 Damit stellt der Allgemeine Kranken-
Unterstützungs-Verein für das Fürstentum Liechtenstein
eine erste Krankenversicherung auf dem Prinzip der
Hilfskassen dar, wie sie in der benachbarten Schweiz seit
den 1860er Jahren einen grossen Aufschwung erlebten.95
Diese auf dem Prinzip gegenseitiger Hilfe organisierten
Vereine sollten «… mit der Überwälzung des Risikos vom
Einzelnen auf eine mehr oder weniger grosse Gemein-
schaft, den materiell schwachen Einkommensgruppen
Hilfe gegen die Wechselfälle des Lebens»96 bieten. In der
Schweiz versicherte sich vor allem das handwerkliche
Kleinbürgertum in diesen Vereinen gegenseitig, womit
sie die Nachfolge der teilweise bis ins Mittelalter zurück-
reichenden zünftlerischen Vorsorgeinstitutionen antra-
ten.97 Für das bislang sehr ländliche und erst in der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Industrialisie-
rung erfasste Liechtenstein sind keine derartigen Vorläu-
fer nachweisbar. Der Blick ins benachbarte Ausland und
die Übernahme der bereits etablierten Organisation in
Vereinsform dürfte bei der Konstituierung dieses ersten
Hilfsvereins eine Rolle gespielt haben. Allerdings stand
der Beitritt zum Allgemeinen Kranken-Unterstützungs-
Verein de facto nicht jedem Handwerksgehilfen offen,
der Verein hatte durchaus einen einigermassen exklusi-
ven Charakter. Der Vorstand konstituierte sich aus an-
gesehenen Bürgern und Gewerbetreibenden. Ähnliches
stellt auch Arthur Brunhart für die erst deutlich später
gegründete Freiwillige Krankenkasse Balzers fest.98
In den ersten fünf Jahren seines Bestehens erlebte
der Kranken-Unterstützungs-Verein zumindest drei Sta-
tutenänderungen, die auf fehlende Erfahrungen in der
Krankenversicherung und Vereinsorganisation zurück-
zuführen sind. Denn einerseits betrafen sie vor allem die
Versicherungsleistungen und Aufnahmebedingungen,
andererseits sollten sie die mit verschiedenen Problemen
behaftete Verwaltung des Vereins erleichtern. Bereits
nach drei Jahren Vereinstätigkeit ersuchte der Kranken-
Unterstützungs-Verein den Landtag und den Fürsten um
die Gewährung von Subventionen:
«Dieser nützliche Verein hat sich im Jahre 1894 gebildet und
zählt heute über 250 Mitglieder. Für die gedeihliche Gestal-
tung der Zukunft ist es für den jungen Verein ausserordentlich
wichtig, zu Zeiten einen ergiebigen Sicherheitsfond zu schaf-
fen, weil das vorrückende Alter der Mitglieder, Krankheits-
epidemien etc. mit der Zeit recht grosse Anforderungen an die
Vereinskasse stellen können. Auch liegt es im Interesse der
Weiterverbreitung des Vereines, die jetzt noch hohen Monats-
beiträge der Mitglieder mit der Zeit herunterzusetzen. Eine
landschäftliche Unterstützung zu Gunsten der nützlichen
Vereinszwecke erscheint daher am Platze. Nach Mitteilung
der fürstl. Regierung hat Se. Durchlaucht unser Landesfürst
dem Vereine über dessen Bitte eine Subvention von 200 fl. un-
ter der Voraussetzung bewilligt, dass ein Beitrag von mindes-
tens gleicher Höhe auch aus Landesmitteln gewährt werde.»99
Der Landtag stimmte dem Antrag um Gewährung
von Landessubventionen einstimmig zu. Die Unterstüt-
zung wurde in den folgenden Jahren mit dem Wachstum
des Vereins und den sich langsam etwas verbessernden
finanziellen Möglichkeiten des Landes kontinuierlich
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22 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
verdienenden Männern der Weberei zur Aufbesserung
der mangelhaften betrieblichen Krankenvorsorge einen
vorteilhafteren Versicherungsschutz zu gewähren.109 Die
Vereinsgründung erfolgte nicht ohne Schwierigkeiten,
die Betriebsleitung wandte sich an die Regierung um
eine Bewilligung der Statuten zu verhindern und selbst
der Gewerbeinspektor opponierte in einem Schreiben an
die Regierung – freilich aus anderen Motiven – gegen
die Vereinsgründung.110 Während die Betriebsleitung die
Krankenkasse als unnötige und nicht durchdachte Idee
einiger weniger Arbeiter abqualifizieren wollte, hätte der
Gewerbeinspektor statt eines exklusiven Männerversi-
cherungsvereins lieber eine Verbesserung der allgemei-
nen betrieblichen Versicherungsleistungen gesehen.111
Die Regierung war offenbar unschlüssig, wollte das Vor-
haben aber nicht von vorneherein verunmöglichen. So
entschloss sie sich 1897, die Vereinsstatuten für ein Jahr
provisorisch zu genehmigen, unter der Auflage, dass der
Verein eine solide Jahresrechnung vorweisen und damit
seine Lebensfähigkeit belegen müsse.112 Ein Jahr später
erfolgte die definitive Genehmigung durch die Regie-
rung.113 Für eine Aufnahme kamen nur männliche Arbei-
ter der Weberei mit einem täglichen Mindestverdienst
von einem Gulden in Frage. Bei der Festsetzung der Bei-
träge und Leistungen scheint die Vorsicht überwogen
zu haben, im Gegensatz zu den bisherigen Kassengrün-
dungen wurden die Leistungen anfangs zurückhaltend
bemessen und erst in den Statutenänderungen der fol-
genden Jahre ausgebaut. Doch in den letzten Jahren der
Vereinstätigkeit, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs,
sanken die ausbezahlten Taggelder ähnlich wie dies
auch bei den Fabrikkrankenkassen der Fall war von zwi-
schenzeitlich 40 bis 50 Prozent auf nur mehr 30 Prozent
des durchschnittlichen Verdienstes.114 1899 wurde auch
in der Spinnerei in Vaduz ein Männerkrankenverein ge-
gründet, der seine Statuten weitgehend identisch mit je-
nen des Triesner Männerkrankenvereins ausgestaltete115
und damit durch die bereits geleistete Pionierarbeit bei
seiner Gründung nicht mehr auf Widerstände stiess.116
Mit dem Inkrafttreten der neuen Gewerbeordnung von
1910117 kam es zu einem Krankenversicherungsobligato-
rium für alle Arbeitnehmer. In den entsprechenden Re-
gelungen wurden auch gesetzliche Mindestleistungen für
die bestehenden betrieblichen Krankenversicherungen
vorgeschrieben, welche deren Leistungen bedeutend er-
höhten.118 Im Fall des Triesner Männerkrankenvereins
ausgebaut,100 bis es im Zusammenhang mit der Durch-
setzung einer neuen Gewerbeordnung ab 1912 zum
Konflikt zwischen dem Kranken-Unterstützungs-Verein
auf der einen und den staatlichen Behörden auf der an-
deren Seite kam.101 Die selbstbewusste Haltung des Ver-
eins in diesem sich über Jahre hinziehenden Konflikt
erinnert an die oftmals antizentralistische Ausrichtung
der schweizerischen Hilfskassen.102 Der einigermas-
sen exklusive Charakter der Vereinszugehörigkeit mag
mit dazu beigetragen haben, dass sich die Generalver-
sammlungen des Krankenkassenvereins weigerten, die
Statuten so anzupassen, dass die grosse Zahl an unversi-
cherten Hilfsarbeitern Aufnahme gefunden hätte. Dieses
exklusive Selbstverständnis kommt in einem Schreiben
an die Regierung zum Ausdruck, in dem der Vereins-
präsident Theodor Jehle103 an die Regierung notiert: «Ein
rechter Arbeiter versichert sich selbst, wo er Gelegenheit
hat, ohne dazu gezwungen zu werden . . .».104
Die Mitgliederzahlen des Vereins stiegen mit einigen
Schwankungen von 30 im Gründungsjahr auf 225 im
Jahr 1900, 308 um 1905, 479 um 1910, 652 um 1915. In
den Folgejahren erreichten sie mit über 750 Mitgliedern
einen vorläufigen Höchststand.105 In den von wirtschaft-
lichen Krisen und aufkommender Konkurrenzierung
durch private Versicherungen aus der Schweiz geprägten
1920er und frühen 1930er Jahren sank die Mitgliederzahl
wieder unter 600. Der Verein schuf sich von Beginn an
auch mit Hilfe der Landessubventionen eine solide fi-
nanzielle Basis und verfügte schon bald über stattliche
Reserven, nur 1913 sowie in den Kriegsjahren konnte
dem Reservefonds kein Geld zugewiesen werden, son-
dern es mussten Fondseinlagen zur Deckung der Kran-
kengelder herbeigezogen werden.106 In einer Ergänzung
zu den Statuten von 1917 hielt der Verein angesichts des
Krieges fest, dass an Mitglieder, die eingezogen würden
oder freiwillig einrückten, keinerlei Unterstützungslei-
stungen gezahlt werde.107
In den 1890er Jahren wurden die Leistungen der Fa-
brikkrankenkassen auch von der Arbeiterschaft als zu-
nehmend unzureichend empfunden. Nach Vorbild des
1894 gegründeten allgemeinen Krankenvereins wurde
also die Selbstversicherung in Vereinsform ins Auge ge-
fasst. Die erste derartige Gründung erfolgte 1896 in der
Triesner Weberei der Firma Jenny und Spoerry. Die dort
beschäftigten Arbeiter organisierten sich in einem «Män-
ner-Krankenverein».108 Ziel des Vereins war es, den gut
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23Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
100 Vgl. dazu die entsprechenden Landtagsprotokolle: LTP 1897,
Protokoll der Landtagssitzung vom 23. Juni 1897, sowie LTP
1912, Protokoll der Landtagssitzung vom 5. Dezember 1912 mit
der Koppelung zukünftiger Subventionen an die Übernahme der
in der Gewerbeordnung von 1910 vorgesehenen Vorschriften.
Vgl. auch Schädler 1912 mit einem Überblick zu den Landtagsge-
schäften des entsprechenden Zeitabschnitts.
führte dies durch einen Beschluss der Generalversamm-
lung vom 7. Oktober 1911 zur Vereinsauflösung, weil
die Mitglieder einhellig der Ansicht waren, durch die
neuen Satzungen der Firmenkrankenkasse ausreichend
versichert zu sein.119 Anders verlief die Entwicklung des
Vaduzer Männerkrankenvereins, der 1913 neue Statuten
erhielt,120 um sich an die neue Gewerbeordnung anzu-
passen. Die beiden Männerkrankenvereine in Triesen
und Vaduz als Selbsthilfeorganisationen waren damit die
ersten Arbeitervereinigungen Liechtensteins.121 Erst in
der Folge der Gewerbeordnungsrevision von 1910 kam
es 1912 zur Gründung einer Gewerbegenossenschaft
mit angeschlossener Hilfsarbeiterorganisation, welche
jedoch erfolglos nach wenigen Jahren bereits wieder auf-
gelöst wurde. Ein Arbeitnehmerverband konstituierte
sich sogar erst 1925.122
Lange Zeit bleibt der liechtensteinische Krankenun-
terstützungsverein der einzige relativ offen zugängliche
Versicherungsverein. Erst 1912 wurde auf Initiative des
mittlerweile zum Pfarrer der Gemeinde Triesenberg
ernannten Franz von Reding ein «Verein für Haus-
krankenpflege für das Fürstentum Liechtenstein» ge-
gründet.123 Nach einem Jahr wurden die Statuten einer
Generalüberholung unterzogen, der Verein in «Verein
für Kranken- und Wöchnerinnen-Pflege im Fürstentum
Liechtenstein» umbenannt.124 Ziel des Vereins war es,
den Mitgliedern bei Bezahlung eines Jahresbeitrags von
mindestens einer Krone, bei Geburtskomplikationen
und bei Krankheiten eine finanzierbare und geordnete
Pflege zu Hause zu ermöglichen.125 Dafür wurden eigens
Pflegerinnen ausgebildet, die sich um die Krankenpflege
und die Besorgung des Haushalts kümmern sollten.126
Auch hier wurden zur besseren Verwaltung ähnlich wie
beim Kranken-Unterstützungsverein automatisch Abtei-
lungen in Gemeinden mit mindestens 20 Mitgliedern ge-
gründet. Dem jeweiligen Abteilungsvorstand sollte der
amtierende Pfarrer angehören, sofern er Vereinsmitglied
war.127 Auch in der Vereinsleitung war ein kirchliches
101 Vgl. dazu Kapitel «Die neue Gewerbeordnung von 1910, ein
gescheiterter Modernisierungsversuch?».
102 Vgl. Lengwiler 20061, S. 403.
103 Theodor Jehle (1853–1926), Flaschnermeister aus Schaan, von
1894 bis 1921 (mit einer Unterbrechung 1897) Präsident des Kran-
ken-Unterstützungs-Vereins für das Fürstentum Liechtenstein.
104 LILA RE 1915/1497: Krankenunterstützungsverein an Regierung,
22. November 1915.
105 Vgl. LILA Drucksachen (im Folgenden: DS) 49A: Jahresabschlüs-
se des Kranken-Unterstützungs-Vereins, eine Zusammenstellung
findet sich im Jahresabschluss 1918.
106 Ebenda.
107 Vgl. LILA RE 1917/1418: «Zusatz zu § 45: An Mitglieder, welche
zum Kriegsdienste einberufen werden oder freiwillig einrücken,
wird vom Tage der Einberufung an von Seiten der allgemeinen
Krankenunterstützungs-Kassa für das Fürstentum Liechtenstein
keinerlei Unterstützung gewährt.» Kranken-Unterstützungs-Ver-
ein an Regierung, 26. April 1917.
108 LILA SF 5 Jenny 1896/1359: Statuten des Männerkrankenvereins
der Weberei Triesen.
109 Vgl. dazu Hoch 1991, S. 39.
110 LILA SF 5 Jenny 1896/1359: Gewerbeinspektor an Regierung,
30. November 1896.
111 Vgl. dazu Hoch 1991, S. 39, die Bemerkungen in den Fussnoten
143 und 144.
112 LILA PA HS 1/216: Protokolle der Männerkrankenkasse der
Weberei Triesen, Protokoll vom 4. April 1898.
113 Hoch, Geschichte, 1991, S. 39.
114 LILA PA HS 1/216: Protokolle der Männerkrankenkasse der We-
berei Triesen.
115 LILA SF 5 Jenny 1899/1580: Statuten des Männerkrankenvereins
der Spinnerei Vaduz 1899, sowie LILA SF 5 Jenny 1899/1753:
Schreiben des Gewerbeinspektors an die Regierung vom 22.
November 1899.
116 LILA SF 5 Jenny 1899/ad 1580: Statuten des Männerkrankenver-
eins der Spinnerei Vaduz 1899, Genehmigung durch Regierung,
sowie das beigefügte Schreiben der Betriebsleitung an Regierung.
117 LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend Erlassung
einer neuen Gewerbeordnung, LR 930.1.
118 Vgl. dazu Kapitel «Die neue Gewerbeordnung von 1910, ein
gescheiterter Modernisierungsversuch?».
119 LILA PA HS 1/216: Protokolle der Männerkrankenkasse der
Weberei Triesen, Protokoll vom 7. Oktober 1911.
120 LILA SF 5 Jenny 1913/2930: Statuten des Männer-Krankenvereins
der Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz, genehmigt am 6.
Oktober 1913.
121 Vgl. Ospelt 1972, S. 292.
122 Zum Arbeitnehmerverband vgl. Quaderer 1995, S. 7–19; sowie
Quaderer 19941, S. 261 ff.
123 LILA RE 1912/1703: Statuten des Vereins für Hauskrankenpflege
für das Fürstentum Liechtenstein.
124 LILA RE 1912/1703: Änderung der Statuten.
125 LILA PA 100/24/1–2: Statuten des Vereins für Kranken- und
Wöchnerinnenpflege im Fürstentum Liechtenstein, 1913, § 3.
Auch Nichtmitglieder konnten beim Verein um Pflegeunterstüt-
zung ansuchen, sie bezahlten aber den doppelten Betrag pro
Pflegetag.
126 Ebenda, § 4.
127 Ebenda § 5 a.
Kapitel_1_Vogt.indd 23 26.07.11 13:44
24 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
sam auch ein Gewerbe, angeführt von der Heimstickerei
ab den 1880er Jahren, herauszubilden. Um 1860 gab es
im Land rund 200 Gewerbetreibende, bei Ausbruch des
Ersten Weltkriegs aber bei einer fast gleich bleibenden
Einwohnerzahl über 700 zunehmend hauptberuflich be-
wirtschaftete Gewerbebetriebe.133 Diese veränderte wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Klein-
gewerbes, welches sich neben den deutlich grösseren
Textilfabriken zu einer wichtigen Arbeits- und Ver-
dienstquelle für das Land zu entwickeln begann, ver-
langte nach einer Modernisierung der seit 1865 beste-
henden Gewerbeordnung. Kurz nach der Jahrhundert-
wende wurde im Landtag erstmals der Wunsch nach ei-
ner Revision der alten Gewerbeordnung laut. Der liech-
tensteinische Landtag befasste sich in den Jahren 1903
und 1904 mit einer Abänderung beziehungsweise einer
Ergänzung der bestehenden Gewerbeordnung. Aller-
dings stand vorläufig nur die Konzessionspflicht für
den Verkauf alkoholischer Getränke zur Diskussion.134
Die entsprechenden Änderungen wurden in der Sit-
zung vom 5. Dezember «nach längerer Debatte» vom
Landtag mit 13 von 15 Stimmen angenommen. Bereits
in den Diskussionen war zum Ausdruck gekommen,
dass die Gewerbeordnung noch weitergehender Neue-
rungen bedürfe.135 So meinte der damalige Landesver-
weser In der Maur:136 «Die Gewerbeordnung vom Jahre
1865 enthalte übrigens auch in anderer Richtung einige
Bestimmungen, welche der Revision bedürfen. Bei der
geplanten Gesetzesänderung könne das Nötige in die-
ser Beziehung mit vorgenommen werden.»137 Die mitt-
lerweile veraltete Gewerbeordnung bedurfte für diese
deutlich weiter reichenden Anpassungen aber einer
Totalüberholung.138 Dies stellte auch In der Maur in
einem Schreiben an den Landtag fest:
«Ein eingehendes Studium der liechtensteinischen Gewerbe-
ordnung hat mir indes gezeigt, dass ein Auslangen mit der-
selben für die Zukunft nicht mehr gefunden werden kann und
dass insbesondere in Bezug auf das zu fordernde Mass der
Vorbildung für einzelne Gewerbe, ferner in Bezug auf soziale
Fürsorge für Gewerbetreibende etwas geschehen muss.»139
Eine erste eingesetzte Kommission bestand aus
drei Abgeordneten des Landtags und Kabinettsrat In
der Maur. Sie sollte «zunächst ein Programm über den
Umfang der betreffenden Gesetzesrevision . . . entwer-
fen und hiernach in fortlaufenden Beratungen das nä-
here über die vorzunehmende Reform fest . . . setzen».140
Mitglied statuarisch vorgeschrieben.128 Hier finden sich
Ansätze einer kirchlichen Beteiligung an der Kranken-
versicherung, wenngleich der Verein keine Versicherung
im eigentlichen Sinn mehr darstellt. Ein weiterer Beleg
für das christliche Selbstverständnis des Vereins findet
sich im ersten Jahresbericht, wo es heisst: «Je besser sich
unsere Vereinseinnahmen gestalten, desto weitgehender
wird das eben genannte Werk der christlichen Barmher-
zigkeit ausgeübt werden können.»129 Der Verein konnte
im ganzen Land verteilt bereits im ersten Jahr 578 Mit-
glieder verzeichnen und wurde auch gleich nach seiner
Gründung mit einem Beitrag von 400 Kronen vom Land
unterstützt.130 Bei Eintritt eines Familienoberhauptes in
den Verein zählte die nähere Familie als mitversichert.131
Die neue Gewerbeordnung von 1910,
ein gescheiterter Modernisierungsversuch?
Nach längerer Vorbereitungszeit wurde mit der neuen
Gewerbeordnung vom 30. April 1910132 erstmals eine
Regelung des Krankenversicherungsschutzes in der Pri-
vatwirtschaft durchgesetzt. Dabei galt neu ein Kranken-
versicherungsobligatorium für alle Arbeitnehmer. Das
Gesetz geriet aber bereits kurz nach seinem Inkrafttreten
von verschiedenen Seiten unter Beschuss und konnte
sich in der Praxis nicht durchsetzen. Vor allem aus dem
Kleingewerbe erwuchs ihm vehementer Widerstand. In
der Folge wurde es schon nach wenigen Jahren einer
eingehenden Revision unterzogen. In der neuen Geset-
zesvorlage von 1915 waren nur noch Fabrikarbeiter der
Versicherungspflicht unterstellt. Anhand dieses zumin-
dest in seinem vollen Umfang gescheiterten gesetzgebe-
rischen Modernisierungsversuches möchte ich beispiel-
haft die Schwierigkeiten in der Durchsetzung einer stär-
ker reglementierten und fortschrittlich orientierten Ge-
sundheitspolitik aufzeigen. Zugleich soll die wachsende
Bedeutung des Kleingewerbes und auch sein politisches
Gewicht damit veranschaulicht werden.
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestan-
den Gewerbebetriebe in Liechtenstein mit nur weni-
gen Ausnahmen ausschliesslich als Nebenverdienst zur
Landwirtschaft. Wie auch in der Industrie fehlten in der
Landwirtschaft aufgrund der Kleinheit des Landes und
der Armut der Bevölkerung Absatzmöglichkeiten. Erst
mit der aufkommenden Textilindustrie begann sich lang-
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25Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
128 Ebenda § 5 b.
129 LILA PA 100/24/2: Erster Jahresbericht des Vereins für Kranken-
und Wöchnerinnenpflege im Fürstentum Liechtenstein für das
Jahr 1913.
130 Nicht zuletzt, weil der Vereinsvorsitzende Dr. Schädler zugleich
Landtagspräsident war.
131 LILA PA 100/24/1-2: Statuten des Vereins für Kranken- und
Wöchnerinnenpflege im Fürstentum Liechtenstein, 1913, § 2.
132 LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend Erlassung
einer neuen Gewerbeordnung, LR 930.1.
133 Vgl. zu alledem Ospelt 1972, S. 229.
134 LILA RE 1904/2612: Gewerbeordnung vom Jahre 1865, Ände-
rung bzw. Ergänzung; sowie LILA LTA 1904/L01: Tagesordnung
für die Landtagssitzung vom 5. Dezember 1904.
135 Der Kommissionsantrag wurde «nach längerer Debatte» mit
13 von 15 Stimmen angenommen; LTP 1904/64: Annahme des
Kommissionsantrags; vgl. auch LVolksblatt vom 30. Dezember
1904, Beilage.
136 Karl von In der Maur (1852–1913), Landesverweser (vom Fürsten
ernannter Regierungschef) von 1884 bis 1892 sowie von 1896 bis
1913.
137 LVolksblatt vom 30. Dezember 1904, Beilage.
138 Vgl. zur Gewerbeordnungsreform im Allgemeinen: Hoch 1991,
S. 13 ff., Ospelt 1972, S. 291 ff., Nigg 1956, S. 94 f.
139 LTA 1905/L6: In der Maur an den Landtag, 8. Dezember 1905.
140 Ebenda.
141 Ebenda.
142 Vgl. LTA 1907/L1: Tagesordnung für die Landtagssitzung vom
14. Dezember 1907, wo In der Maur auf die «Überbürdung mit
Amtsgeschäften» verweist, die dazu geführt habe, dass «die vom
Landtage im vorigen Jahre bestellte Kommission die ihr übertra-
genen Vorarbeiten für Schaffung eines neuen Gewerbegesetzes
noch nicht in Angriff genommen habe.»
143 Der Gewerbeverein wurde im Dezember 1906 gegründet, die
Statuten im Juni 1907 durch die Regierung genehmigt. Zur Grün-
dung vgl. LILA RE 1906/2352: Antrag um Bewilligung der Grün-
dungsversammlung und Genehmigung; LILA RE 1907/764: Sta-
tuten des Gewerbevereins und Genehmigung.
144 LTA 1907/L6: Petition des Gewerbevereins an den Landtag um
Erlass einer neuen Gewerbeordnung, 30. Oktober 1907.
145 Ebenda, Landtag an Regierung 18. Dezember 1907.
146 Vgl. LTA 1905/L6: Kabinettsrat In der Maur an den Landtag,
8. Dezember 1905. In der Maur kündigte an, für die Ausgestal-
tung des Gesetzes «nach Bedarf von Fall zu Fall auch den k. k.
Gewerbeinspektor in Bregenz, welcher in seinem Wirkungskrei-
se berufen ist, der fstl. Regierung fachliche Beihilfe zu leisten,
eventuell auch, so oft sich dies als wünschenswert herausstellen
würde, einzelne Gewerbetreibende den Verhandlungen beizu-
ziehen.»
147 Vgl. LILA RE 1911/385 mit dem Originalentwurf Stippergers zu
Handen der Regierung. Für die geltende österreichische Rechtsla-
ge vgl. Hofmeister 1981, S. 614 f.
148 LILA RE 1908/598: Stipperger an Regierung, 26. September 1908.
arbeitung des Gesetzes an den geltenden österreichi-
schen Bestimmungen147 und präsentierte seinen Entwurf
bereits im September 1908 der Regierung.148 Stipperger
Die offensichtlich vage Zeit- und Zielvorgabe wurde von
In der Maur noch etwas genauer abgesteckt.
«Wird diese Aktion mit Ernst betrieben, an welchem es mei-
nerseits gewiss nicht fehlen wird, so steht zu hoffen, dass es
gelingen dürfte, bis zum nächsten Landtage einen für unsere
Verhältnisse passenden Entwurf eines neuen Gewerbegesetzes
vorzubereiten und damit die erwünschte Ordnung auf einem
Gebiete anzubahnen, das sich gegenwärtig, wie nicht geleug-
net werden kann, hier als sehr reformbedürftig erweist.»141
Trotz dieser Zuversicht konnte die Kommission
keine Resultate vorlegen, es darf bezweifelt werden, ob
sie überhaupt ihre Arbeit aufnahm.142 Es bedurfte knapp
zwei Jahre später einer Petition des neu gegründeten
Gewerbevereins,143 um einen ernsthaften Anlauf für eine
Gesetzesreform zu ermöglichen. Der Verein schrieb an
den Landtag:
«In der ersten Ausschusssitzung des liechtensteinischen Ge-
werbevereins vom ersten September d. J. in Vaduz wurde all-
gemein anerkannt, dass die heute noch zu recht bestehende
Gewerbeordnung vom Jahre 1865 schon längst den seither
in mehr als einer Richtung veränderten Verhältnissen nicht
mehr entspricht. Das Bedürfnis einer zeitgemässen Reform ist
auch in den letzten Jahren wiederholt von der hohen Fürst-
lichen Regierung und vom hohen Landtage anerkannt wor-
den; dennoch ist noch nichts in der Öffentlichkeit bekannt
geworden, dass eine derartige Gesetzesvorlage in Vorberei-
tung wäre. Der neugegründete Gewerbeverein Liechtensteins
erlaubt sich daher, auch seinerseits auf die Dringlichkeit der
Gewerbereform hinzuweisen und stellt an den hohen Landtag
das Ersuchen, die nötigen Schritte zu tun, dass ein neues Ge-
werbegesetz möglichst bald zu Stande kommt. Zugleich glaubt
er im Interesse der wichtigen Sache zu handeln, wenn er damit
die höflichste Bitte verbindet, es möge bei den Vorberatun-
gen gegebenenfalls auch Delegirten des Gewerbevereins die
Möglichkeit geboten werden, die Ansichten des Vereins vorzu-
bringen und zu vertreten.»144
Der Landtag nahm die Petition positiv auf und setzte
eine neue Kommission ein, um die Gesetzesreform
vorzubereiten.145 Von Seiten der Regierung wurde der
amtierende Gewerbeinspektor Hubert Stipperger in
der Folge beauftragt, einen Entwurf für eine modernere
Gewerbeordnung zu erstellen. Diese Möglichkeit war
von In der Maur bereits in seinem Schreiben an den
Landtag 1905 erwogen worden, aber sie war damals
ebenso wie die Arbeit der Kommission nicht weiter ver-
folgt worden.146 Stipperger orientierte sich in der Aus-
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26 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
für erkrankte Gehilfen und Lehrlinge durch Gründung
einer Genossenschaftskrankenkasse oder durch den
Beitritt zu bereits bestehenden Krankenkassen»154 über-
nehmen.
Gewerbeinspektor Hubert Stipperger hatte von der
Regierung den Auftrag zur Ausgestaltung eines Gesetzes
erhalten. Ergänzend dazu bat die Regierung den liech-
tensteinischen Gewerbeverein um Vorschläge zur neuen
Gewerbegesetzgebung, welche Inspektor Stipperger bei
der Ausarbeitung seines Entwurfes zumindest teilweise
berücksichtigte.155 Der Gewerbeverein forderte ebenfalls
einen verbesserten Schutz der Arbeitnehmer und mo-
dernisierte Krankenversicherungsbestimmungen, ging
dabei allerdings verständlicherweise deutlich weniger
weit. Insbesondere sollten nur Betriebe mit mindestens
20 Hilfsarbeitern verpflichtet sein, Krankenkassen zu er-
richten.156 Diese Grössenbegrenzung betraf de facto nur
die drei im Land tätigen Textilfabriken. Ähnlich wie Stip-
perger wünschten sie ein Krankengeld von minimal ei-
ner Krone pro Tag.157 Ein Versicherungsobligatorium für
die übrigen Arbeitnehmer war nicht vorgesehen. Inte-
ressant ist aber die Forderung des Gewerbevereins nach
mehr Transparenz bei den Versicherungen:
«Die Verfügung über Vermögensteile der Krankenkassen und
deren Fonde darf nie ein einseitiges Recht des Gewerbeinha-
bers sein, sondern es muss auch durch die Arbeiterschaft resp.
ihre Ausschüsse vertretend geleitet werden.»158
Die Regierung war mit Stippergers Arbeit offensicht-
lich zufrieden und erstellte eine Gesetzesvorlage aus sei-
nem Entwurf, wobei sie nur einzelne Punkte veränderte.
In Bezug auf die Krankenversicherung folgte sie sogar
vollständig dem Vorschlag Stippergers. In den kurz da-
rauf stattfindenden Sitzungsperiode 1908 beschloss der
Landtag, die Beratungen zum Gesetz noch fortzuführen
und erst im kommenden Jahr abzuschliessen. Das Ge-
setz wurde damit erst in den Landtagssessionen 1909
eingehend behandelt. In den Kommissionssitzungen
mit einem Vertreter der Regierung wurden noch vor
der Behandlung durch den Landtag einige kleinere Kor-
rekturen beschlossen. Insbesondere das von Stipperger
in seinem Entwurf mit einem Fixbetrag festgelegte mi-
nimale Taggeld im Krankheitsfall wurde verändert. Der
Kommission erschienen die «Taggelder von 1 K 20, 1 K
und 80 h für verschiedene Arbeiterkategorien» als «of-
fenbar zu niedrig gegriffen . . . , weshalb es sich empfiehlt,
das Minimum prozentual festzusetzen».159 Die in der
wollte im Bereich der Krankenversicherungen längst
überfällige Reformen vornehmen. Die Neuregelung der
von Stipperger als unzureichend betrachteten Kranken-
versicherung war in § 55 vorgesehen:
«Jeder Gewerbsinhaber ist verpflichtet sein Hilfspersonal
bei einer mit behördlich genehmigten Statute versehenen
Krankenkasse zu versichern, welche ihren Mitgliedern als
Mindestleistung gewährt:
1. Von Beginn der Krankheit an freie ärztliche Behandlung
mit Inbegriff des geburtshilflichen Beistandes sowie der
notwendigen Heilmittel.
2. Ein tägliches Krankengeld für die Dauer der Erwerbsun-
fähigkeit, und falls diese nicht früher endet, bis zu 20 Wo-
chen; das Krankengeld beträgt für erwachsene männliche
Arbeiter 1.20 K, für erwachsene weibliche Personen 1.00 K
und für jugendliche Arbeiter 0.80 K.»149
Dabei verwies Stipperger auf notwendige weitrei-
chende Anpassungen, welche die neu vorgesehenen
Regelungen von den Betriebskassen und der einzigen
zu der Zeit tätigen nicht betrieblichen Krankenversiche-
rung, dem allgemeinen liechtensteinischen Krankenkas-
senverein, verlangen würden.150 Da er in seinem Entwurf
ein Versicherungsobligatorium für alle Arbeitnehmer
vorsah, musste Stipperger sicher gehen, dass eine Ver-
sicherungslösung für die nicht in den Fabriken beschäf-
tigten Arbeiter grundsätzlich bestand. Eine solche Ver-
sicherungslösung musste auch für den Fall gelten, dass
der Krankenkassenverein sich nicht an die neuen gesetz-
lichen Regelungen anpassen könnte. Er schrieb an die
Regierung, dass für diesen Fall
«die Versicherung der Arbeiter jener Gewerbetreibenden,
welche ihr Gewerbe weder fabriksmässig betreiben noch einer
Genossenschaft angehören, dessen ungeachtet bei der Genos-
senschafts Krankenkasse erfolgen könnte.»151
Die damit angesprochene Gewerbegenossenschaft
beziehungsweise die von ihr zu unterhaltende Genos-
senschaftskasse sollte gemäss dem neuen Gewerbe-
gesetz nach österreichischem Vorbild entstehen.152
Bedingt durch die Kleinheit des Landes konnten aber nicht
Genossenschaften für einzelne Berufsgruppen ent-
stehen. Stattdessen konnte es sich in Liechtenstein
nur um die Errichtung «einer Genossenschaft beziehungs-
weise eines Genossenschaftsverbandes handeln, worin
die einzelnen Gewerbe in entsprechenden Fachsek-
tionen»153 vertreten waren. Bezüglich der Krankenversi-
cherung sollte die Gewerbegenossenschaft «die Vorsorge
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27Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
149 LILA RE 1911/385: Originalentwurf Stippergers.
150 LILA RE 1908/598: Stipperger an Regierung, 26. September 1908.
151 Ebenda.
152 Zu den Vorbereitungen für die Gründung vgl. LILA RE 1911/385:
Durchführung der neuen Gewerbeordnung. Die gesetzlichen Be-
stimmungen finden sich in LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30.
April 1910 betreffend Erlassung einer neuen Gewerbeordnung,
§ 74.
153 LTP 1909, Tagesordnung für die Sitzungen vom 16. und 18.
Dezember.
154 LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend Erlassung
einer neuen Gewerbeordnung, § 74c.
155 Vgl. LILA RE 1911/385: Stippergers Originalentwurf, sowie LILA RE
1908/598 Vorschläge der Gewerbekommission zur Reform des
Gewerbegesetzes, 29. März 1908; vgl. auch Ospelt 1972, S. 234 ff.
156 Vgl. LILA RE 1908/598: Vorschläge der Gewerbekommission zur
Reform des Gewerbegesetzes, 29. März 1908.
157 Ebenda.
158 Ebenda.
159 LTP 1909, Tagesordnung für die Sitzungen vom 16. und 18. De-
zember 1909.
160 Vgl. LTA 1909/L2: Annahme der Regierungsvorlage, Schreiben
des Landtags an die Regierung 18. Dezember 1909.
161 Vgl. Hoch, Geschichte, 1991, S. 14 f.
162 Siehe LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend
Erlassung einer neuen Gewerbeordnung.
163 Vgl. Beilage zum LVolksblatt vom 24. Dezember 1909.
164 Vgl. Kapitel «Spätere Initiativen zur Schaffung von Sozialversi-
cherungen – ein Ausblick».
165 LILA RE 1925/3115: Statuten der Krankenkassa für die Baum-
woll-Spinnerei von Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz, 1910.
166 LILA PA 103/34: Statuten der Kranken- und Pensionskassen für
die Baumwoll-Weberei von Jenny, Spoerry & Cie. in Triesen,
1911.
167 Vgl. dazu Kapitel «Die Gründung von Hilfskassen».
an die neuen gesetzlichen Mindestleistungen deutlich
erhöhen mussten. Die Krankenkassa der Baumwoll-Spin-
nerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz erhielt als erste der
drei Betriebskrankenkassen noch im Dezember 1910165
neue, an die Mindestforderungen der nun gültigen Ge-
werbeordnung angepasste Statuten. Die Weberei des Un-
ternehmens in Triesen folgte nur wenig später im März
1911.166 Im Falle der Triesner Weberei führte die neue
Gewerbeordnung, respektive die dadurch verbesserten
Versicherungsleistungen, zur Auflösung der seit 1896
bestehenden Männer-Krankenkassa,167 da mit den ver-
besserten Versicherungsleistungen durch die Betriebs-
kasse nun kein Bedarf mehr für eine Zusatzversicherung
bestand. In der Generalversammlung des Vereins vom
7. Oktober 1911 wurde daher die
«. . . Anregung des Obermeisters die Männerkasse mit der Fa-
brikskasse zu vereinigen . . . von allen anwesenden Mitglieder
Kommission im Einvernehmen mit der Regierung neu
getroffene Formulierung lautete damit wie folgt:
«. . . das tägliche Krankengeld beträgt 50 Prozent des aus dem
Mittel von acht Wochen sich ergebenden Lohnes jedoch nicht
weniger als: für erwachsene männliche Arbeiter 1.20 Kronen
für erwachsene weibliche Personen 1.– Kronen und für ju-
gendliche Arbeiter 0.80 Kronen.»
Für die meisten Fabrikarbeiter, und hier vor allem für
die weibliche Arbeiterschaft, waren diese Änderungen
irrelevant. Einzig Arbeiter mit einem überdurchschnitt-
lichen Tagesverdienst, das heisst vor allem gut verdie-
nende männliche Arbeiter, konnten von der Heraufset-
zung des minimalen Taggeldes profitieren.
Während den zwei Lesungen des Gesetzes gab es
kaum Widerstand im Landtag. Die noch angebrach-
ten Detailkorrekturen am Krankenversicherungsartikel
dienten nur zur präziseren Formulierung.160 Nachdem der
Landtag die Regierungsvorlage mit den angeführten Än-
derungen am 18. Dezember 1909 einstimmig verabschie-
det hatte, wurde das Gesetz vom Fürsten in Wien am 30.
April 1910 sanktioniert. Die neu geltende Gewerbeord-
nung setzte einen Meilenstein in der liechtensteinischen
Sozialgesetzgebung, indem sie erstmals Vorschriften für
den Versicherungsschutz in der Privatwirtschaft enthielt
und zugleich ein weit reichendes Versicherungsobliga-
torium für alle Arbeitnehmer festlegte.161 In der Gewer-
beordnung war ebenfalls eine obligatorische Unfallver-
sicherung für die Fabriken und Gewerbebetriebe mit
erhöhtem Risiko vorgesehen.162 In den Beratungen zur
Gewerbeordnung wurden ausserdem weitere Sozialver-
sicherungen, im Speziellen eine Alters- und eine Invali-
denversicherung,163 mehrfach als wünschenswert ange-
sprochen. Diese Ideen und Anregungen gingen aber weit
über das soeben erarbeitete Gewerbegesetz hinaus und
alle dahingehenden Planungen wurden auf unbestimmte
Zeit verschoben. Dennoch zeigt dies eindrücklich, dass
kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine so-
zialpolitische Aufbruchstimmung in Liechtenstein ein-
setzte, welche zwar in den folgenden schwierigen Kri-
sen- und Kriegsjahren kaum mehr erkennbar ist, aber
nach Kriegsende sofort wieder aufflammte.164
Die neu erarbeitete Gewerbeordnung trat per 1. Ja-
nuar 1911 in Kraft. Dies führte unter anderem dazu, dass
in den Jahren 1911 und 1912 sämtliche bestehenden be-
trieblichen Krankenkassen in Liechtenstein ihre Statuten
ändern und die Versicherungsleistungen in Anpassung
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28 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
in seinen Statuten zu verankern. 1912 kam es zwar zu
einer Statutenänderung, jedoch ohne Anpassung an die
in der Gewerbeordnung vorgeschriebenen Mindest-
leistungen.174 Dies war insofern bemerkenswert, weil
die Regierung gemäss Gewerbeordnung von 1910 zur
Durchsetzung des Versicherungsobligatoriums für alle
Arbeitnehmer auf die Unterstützung der einzigen ak-
tiven und der Allgemeinheit zugänglichen Krankenversi-
cherung im Land angewiesen war. Die Regierung nahm
diesbezüglich Verhandlungen mit dem allgemeinen
Krankenunterstützungsverein auf, die sich jedoch als
schwierig erwiesen. Vorläufig war der Krankenunterstüt-
zungsverein nicht bereit, seine Statuten entsprechend
der neuen Gewerbeordnung abzuändern und er konnte
somit nicht als offiziell anerkannte Krankenversicherung
dienen. Zusätzlich zu den Verhandlungen versuchte der
Landtag auch finanziell Druck auf den Verein auszuüben,
indem die jährlichen Landessubventionen für die kom-
menden Jahre an die Abänderung der Statuten im Sinne
der Gewerbeordnung von 1910 gekoppelt wurden. Eine
erste Anfrage der Regierung um Zusammenschluss des
Vereins mit der 1912 gegründeten Genossenschaftskran-
kenkasse und um Aufnahme aller Arbeiter ohne Rück-
sicht auf ihr Alter und ohne Beibringung eines ärztlichen
Zeugnisses war vorläufig nicht durchzusetzen.175 Der
Krankenkassenverein forderte staatliche Defizitgarantien
und obwohl er zugleich seit Jahren Landessubventionen
bezog, musste 1912 dennoch eine Genossenschaftskran-
kenkasse gegründet werden. Landtag und Regierung
versuchten in der Folge darauf hinzuwirken, dass eine
Vereinigung der Genossenschaftskrankenkassa mit dem
Krankenunterstützungsverein zu Stande käme, aber alle
dahingehenden Verhandlungen blieben vorläufig erfolg-
los. Als Anreiz für den Verein, sich mit der neu gegrün-
deten und allein kaum tragfähigen Genossenschaftskran-
kenkasse zu vereinigen, wurde gar eine Verdoppelung
der jährlichen Subventionen in Aussicht gestellt.176 Dem
gegenüber standen aber auch klare Forderungen an den
Verein: Aufnahme der neuen Mitglieder ohne Einschrän-
kung in Bezug auf ihr Alter und ohne Beibringung eines
ärztlichen Zeugnisses, Erlass der Eintrittsgelder und
Aufhebung der Frist, in der Neumitglieder noch nicht
bezugsberechtigt waren.177 Die Landtagskommission
mutmasste, dass sich der Krankenunterstützungsverein
durch finanzielle Zuwendungen sicherlich überstimmen
lasse. Dies traf dann aber nicht ein.178
gutgeheissen, zugleich der Beschluss gefasst, die Männerkassa
aufzulösen mit dem Beding bis zum 1. November 1911 Ihren
Verpflichtungen nachzukommen, dann die übrigen Kronen je
nach Einzahlungen unter die Mitglieder zu verteilen.»168
Im Gegensatz zum Männer-Krankenverein der We-
berei in Triesen wurde der Männer-Krankenverein der
Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz nicht aufge-
löst. Der Verein erhielt im Oktober 1913 neue Statuten,
die nach einigen Anpassungen durch den Gewerbein-
spektor auch genehmigt wurden.169 Obwohl dabei die
Leistungen verbessert wurden, mussten die Statuten des
Männer-Krankenvereins nicht an die Gewerbeordnung
angepasst werden; denn er stellte nur eine Zusatzver-
sicherung zum ohnehin bestehenden Krankenversiche-
rungsobligatorium in Form einer Mitgliedschaft in der
Fabrikkrankenkasse dar.
Über ein Jahr nach dem Inkrafttreten der neuen ge-
setzlichen Regelung zur Krankenkasse passte schliesslich
auch die Weberei Rosenthal die Statuten ihrer Betriebs-
krankenkasse der neuen Gewerbeordnung an.170 Damit
hatten sich die drei Betriebskrankenkassen zwar teil-
weise mit Verspätung, aber dennoch erfolgreich an die
neu geltenden gesetzlichen Bestimmungen angepasst.
Obwohl so eine wesentliche Verbesserung der Versiche-
rungsleistungen erreicht war,171 gab es auch weiterhin
Konflikte und Mängel bei den Fabrikkassen. Der neue
Gewerbeinspektor Eberl legte zum Beispiel der Firma
Rosenthal aufgrund der hohen und weiter ansteigenden
Reserven der Krankenkasse eine Reduzierung der Mit-
gliederbeiträge oder eine Erhöhung des im Krankheits-
fall zu leistenden Taggeldes nahe.172 Daraufhin verteidi-
gte die Betriebsleitung die bisher gewährten Minimallei-
stungen:
«Eine Ermässigung der Beiträge, der dann möglicherweise
später leicht wieder eine Erhöhung folgen müsste, würde un-
ter der Arbeiterschaft, die jetzt an die Beitragsleistung von
2 % gewohnt und zufrieden ist, nur Unwillen erregen, wäh-
rend andererseits nach unserer Meinung eine Erhöhung der
Taggelder nur Anreiz zur Simulation & ungebührlicher Aus-
nützung der Krankenkassa mit sich bringen würde.»173
Als letzte im Land aktive Krankenkasse verblieb noch
der «Freiwillige allgemeine Kranken-Unterstützungs-
verein für das Fürstentum Liechtenstein», welcher sich
der Gewerbeordnung nicht angepasst hatte. Der Ver-
ein war aber vorläufig auch nicht bereit, die Leistungs-
erhöhungen und weiteren gesetzlichen Bestimmungen
Kapitel_1_Vogt.indd 28 26.07.11 13:44
29Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
168 LILA PA HS 1/216: Protokolle der Männerkrankenkasse der
Weberei Triesen, Protokoll der Generalversammlung vom 7. Ok-
tober 1911.
169 LILA SF 5 Jenny 1913/2930: Statuten des Männerkranken-Vereins
der Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz, genehmigt am
6. Oktober 1913.
170 LILA SF 5 Rosenthal 1912/1330: Statuten der Betriebskranken-
kasse für die mechanische Weberei in Mühleholz, genehmigt am
3. Februar 1912.
171 LILA RE 1195/1912: Vergleichende Zusammenstellung der wich-
tigsten Daten aus den Rechnungsabschlüssen für die Jahre von
1908 bis 1911 der drei Betriebskrankenkassen im Fürstentum
Liechtenstein, 1. Oktober 1912.
172 LILA SF 5 Rosenthal 1911/2285: Rechnungsabschlüsse der Fa-
brikkrankenkassen, Eberl an die Regierung, 8. Oktober 1911. Eine
Reduktion der Beiträge bei hohem Reservebestand war auch in
§ 10 der Statuten vorgesehen, LILA SF 5 Rosenthal 1912/1330:
Statuten der Betriebskrankenkasse für die mech. Weberei in
Mühleholz 1912.
173 LILA SF 5 Rosenthal 1911/2723: Webereileitung Rosenthal an
Regierung, 25. November 1911.
174 LILA RE 1912/428: Änderung der Statuten des allgemeinen
Krankenunterstützungsvereins für das Fürstentum Liechtenstein.
175 LILA RE 1915/1497: Regierung an Krankenkassenverein, 6. No-
vember 1915.
176 LILA RE 1912/2724: Berichterstattung im LVolksblatt über die
Landtagssitzung vom 5. Dezember 1912.
177 LILA RE 1915/1497: Regierung an Krankenkassenverein, 6. No-
vember 1915.
178 LTA 1915/L1: Bericht der Gesetzeskommission betreffend die
teilweise Änderung der Gewerbeordnung vom 30. April 1910.
179 Für die Jahre 1910 bis 1915 ergibt sich bei einer Mitgliedersteige-
rung von 479 auf 652 Mitglieder zugleich eine Verdoppelung der
Unterstützungsleistungen. Mit der Ausnahme von 1912 konnten
ab 1910 kaum mehr Gelder in den Reservefonds gelegt werden,
dies änderte sich erst nach Kriegsende wieder. Vgl. LILA DS
49: Jahresrechnungen des Allgemeinen Kranken-Unterstützungs-
Vereins 1910 sowie 1920.
180 LILA RE 1915/1497: Krankenkassenverein an Regierung, 22. No-
vember 1915.
181 Ebenda.
182 Vgl. LTP 1915/S4/2: Protokoll der Landtagssitzung vom 11. De-
zember 1915.
183 Ebenda.
Gewerbeordnung – und mit ihr das Versicherungsobli-
gatorium für alle Arbeitnehmer – war zu dieser Zeit be-
reits zum Scheitern verurteilt.
Schwierigkeiten erwuchsen der geltenden Gewerbe-
ordnung nicht nur aus Problemen in der Durchsetzung
des Versicherungsobligatoriums, sondern in stärkerem
Ausmass auch aus dem Kleingewerbe, das sich durch die
strengere Konzessionspflicht für Gewerbebetriebe nun
überreglementiert fühlte. Eben diese Bedenken waren es
Der Krankenunterstützungsverein hatte in den ver-
gangenen Jahren kontinuierlich Reserven aufgebaut und
war nicht Willens, diese Gelder mit vielen Neumitglie-
dern zu teilen – und damit aus Vereinssicht die Reser-
ven und den Versicherungsschutz der Mitglieder zu ge-
fährden. Beim Inkrafttreten der neuen Gewerbeordnung
hatte der Verein 506 Mitglieder, die Aufnahme aller Ar-
beitnehmer der Gewerbebetriebe des Landes innerhalb
weniger Jahre hätte seine organisatorischen und allen-
falls auch die finanziellen Möglichkeiten wohl aufs äus-
serste strapaziert.179 Die in Aussicht gestellte Erhöhung
der Subventionen war dabei zu wenig attraktiv. Vom
idealistischen Gründungszweck, die Krankenversicherung
auszuweiten, war jedoch in der Auseinandersetzung mit
der Regierung auf Vereinsseite nicht viel übrig geblie-
ben, stattdessen wurden exklusiv die Gruppeninteressen
der Mitglieder vertreten. Auch 1915 noch verweigerte
der Krankenunterstützungsverein eine Statutenände-
rung in Anpassung an die Gewerbeverordnung von
1910.180
Zugleich stellte der Verein, der in den vergangenen
drei Jahren keine Subventionen mehr erhalten hatte,
einen erneuten Antrag um Landessubvention.181 Der
Antrag hatte in der angeheizten Stimmung keine Chance
und wurde im Landtag abgelehnt, wenngleich die Ent-
scheidung, den seit Jahren wohltätig wirksamen Verein
nicht zu unterstützen, im Landtag nicht unumstritten
war.182
«Der Landtag hat von jeher Wohlfahrtseinrichtungen
im Lande, zu welchen auch der allgemeine Krankenunter-
stützungsverein gehört, gerne mit jährlichen Landesbeiträgen
unterstützt. Da aber dieser Verein trotz der günstigen Aner-
bietungen der fürstl. Regierung in der Versicherungsfrage
der gewerblichen Hilfsarbeiter jedes Entgegenkommen strikte
abgelehnt hat, ist der Landtag leider derzeit nicht in der Lage,
dem Ansuchen um einen jährlichen Landesbeitrag entspre-
chen zu können.»183
Nachdem das Land über drei Jahre hinweg ver-
sucht hatte, über Verhandlungen mit dem Krankenkas-
senverein doch noch das Versicherungsobligatorium
durchzusetzen, griff der Landtag 1915 mit der Verwei-
gerung gegenüber dem Subventionsgesuch zu einer
direkten finanziellen Strafmassnahme. Dabei konnte
es bereits nicht mehr das eigentliche Ziel des Landtags
sein, den Krankenunterstützungsverein doch noch
umzustimmen, denn die seit erst vier Jahren bestehende
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30 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
den des Landtags fasst Albert Schädler die Probleme mit
Artikel § 71 der Gewerbeordnung wie folgt zusammen:
«An sich wäre nun kein Grund vorhanden, die im § 71 ge-
machten Bestimmungen zu ändern, aber die Schwierigkeiten,
die gewerblichen Arbeiter in eine Krankenkasse unterzubrin-
gen, erfordern vorläufig gewisse Einschränkungen. Alle bishe-
rigen Unterhandlungen mit dem liechtensteinischen allgemei-
nen Kranken-Unterstützungs-Verein führten zu keinem Ziele.
Es empfiehlt sich, unter diesen Umständen die massgebenden
Bestimmungen des § 71 (neu § 70) über die Mindestleistun-
gen u.s.w. auf die Fabrikskrankenkassen einzuschränken, und
der fürstl. Regierung anheimzustellen für die anderen in Ge-
werbebetrieben beschäftigten Hilfsarbeiter, soweit sie allen-
falls keine Aufnahme in dem liechtensteinischen allgemeinen
Krankenunterstützungsverein finden sollten, nähere Bestim-
mungen zu treffen.»192
Es war klar, dass es sich nicht bloss um eine «vorläu-
fige» Einschränkung handeln würde, zumal sich Liech-
tenstein aufgrund seiner engen Bindung an Österreich
in einer aussenpolitisch und wirtschaftlich zunehmend
schwierigen Lage befand. Für ein längeres Ringen um
die Durchsetzung eines Krankenversicherungsobligato-
riums für alle Arbeitnehmer blieb in diesem Klima kein
Raum. Damit wurde der Kommissionsentwurf zur Abän-
derung der Gewerbeordnung von 1910 nach der zweiten
Lesung des Gesetzes am 27. November 1915 vom Land-
tag einstimmig genehmigt.193 Die Sanktion durch den
Fürsten erfolgte noch im selben Jahr und so trat die neue
Gewerbeordnung bereits am 1. Januar 1916 in Kraft.194
Der Artikel zur Krankenversicherung nach der Revi-
sion der Gewerbeordnung von 1915 stellte de jure einen
grossen Rückschritt dar. De facto wurden aber nur die-
jenigen Abschnitte gestrichen, welche bislang noch nicht
durchgesetzt werden konnten und die sich in absehbarer
Zeit auch kaum hätten verwirklichen lassen. Der Staat
war nicht in der Lage, das Obligatorium gegen den Wi-
derstand aus dem Gewerbe zu erzwingen. Auch konnte
das Obligatorium nicht durch einen Staatsbeitrag an die
Krankenversicherung finanziert werden. Der neu formu-
lierte Teil des Krankenversicherungsartikels lautete:
Ǥ 70
1) Jeder Fabriksinhaber ist verpflichtet, sein Hilfspersonal
(§ 36) gegen Krankheit zu versichern.»195
Die damit reduzierte Versicherungspflicht bezog sich im
Falle der Krankenversicherungen nur noch, wie bereits
auch, die in einer Motion von neun Landtagsabgeord-
neten am 25. November 1914184 den Anstoss gaben, eine
Revision der noch jungen Gewerbeordnung vorzuneh-
men. In einer längeren Rede bezeichnete Wilhelm Beck185
die bestehende Gewerbeordnung als «Abklatsch der
österreichischen Gewerbeordnung».186 Für die Kranken-
versicherung forderte er eine staatliche Beitragspflicht.
Landtagspräsident Albert Schädler187 erwiderte darauf
«dass man nicht zu grosse Ansprüche an das Land ma-
chen könne, sonst reiche das Budget nicht ...».188 Obwohl
es in Liechtenstein zu diesem Zeitpunkt noch keine Par-
teien gab, zeigt sich in den Auseinandersetzungen um
die Revision der Gewerbeordnung 1914 und 1915 be-
reits die Formierung der Opposition.189 Kritikpunkte wa-
ren auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung
vor allem die Überreglementierung des Kleingewerbes
und das nicht realisierbare Krankenversicherungsob-
ligatorium. Zuerst trug sich der Landtag dennoch mit
dem Gedanken, gegen den Widerstand der Regierung,
die an der Gewerbeordnung festhalten wollte, nur ein-
zelne Bestimmungen zu lockern.190 Der Landtag kam
in der Sitzung vom 14. Dezember 1914 dann doch zum
Schluss, eine Kommission bis zur nächsten Landtagsses-
sion damit zu beauftragen, die Gewerbeordnung «einer
gründlichen Revision zu unterziehen und den Anforde-
rungen unseres einheimischen Gewerbewesens mehr
anzupassen».191 In den kurz darauf stattfindenden Kom-
missionssitzungen wurden neben der Lockerung der
Konzessionspflicht vor allem zwei weitere Bereiche der
Gewerbeordnung von 1910 angegriffen: Einerseits war
dies das fünfte Hauptstück zur Regelung bezüglich der
verpflichtenden Gewerbegenossenschaften, zum ande-
ren § 71 bezüglich der obligatorischen Krankenversiche-
rung. Die Gewerbegenossenschaft hatte von Beginn weg
mit Problemen zu kämpfen und konnte keine effektive
Tätigkeit erreichen. Eine Zwangsmitgliedschaft in der
Genossenschaft ging vielen Gewerbetreibenden zu weit.
Damit war aber auch § 71 bezüglich der Krankenversi-
cherung betroffen, da ohne funktionierende Gewerbege-
nossenschaft mit einer ihr eigenen Krankenkasse das Ver-
sicherungsobligatorium nur durch eine erfolgreiche Koo-
peration mit dem allgemeinen Kranken-Unterstützungs-
Verein möglich gewesen wäre. Allerdings war dieser
nicht willens, sämtliche Arbeiternehmer jeden Alters und
ohne Einschränkungen in Bezug auf deren Gesundheits-
zustand aufzunehmen. Im Kommissionsbericht zuhan-
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31Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
184 LTA 1914/L12: Motion bezüglich einer Revision der Gewerbe-
ordnung, 25. November 1914.
185 Wilhelm Beck (1885–1936), Jurist und Politiker, Landtagsabge-
ordneter von 1914 bis 1928 sowie von 1932 bis 1935. Beck begann
die oppositionelle Politik und war Gründer der ersten politischen
Partei im Land.
186 LTP 1914, Protokoll der Landtagssitzung vom 7. Dezember 1914,
abgedruckt in der Beilage zum LVolksblatt vom 19. Dezember
1914.
187 Albert Schädler (1848–1922), Arzt und von 1890 bis 1919 Präsi-
dent des Liechtensteiner Landtags. Schädler war zudem Vorsit-
zender des Vereins für Kranken- und Wöchnerinnenpflege; vgl.
auch Kapitel «Die Gründung von Hilfskassen».
188 LTP 1914, Protokoll der Landtagssitzung vom 7. Dezember 1914,
in: Beilage zum LVolksblatt vom 19. Dezember 1914.
189 Vgl. Michalsky 1990, S. 226 ff.; vgl. auch Quaderer 19941, S. 256 f.
190 Vgl. Hoch 1991, S. 15.
191 LTP 1914, Protokoll der Landtagssitzung vom 14. Dezember, in:
Beilage Nr. 52 des LVolksblatt vom 26. Dezember 1914.
192 LTA 1915/L1: Bericht der Gesetzeskommission betreffend die
teilweise Änderung der Gewerbeordnung vom 30. April 1910.
193 Protokoll der Landtagssitzung vom 27. November 1915, abge-
druckt in der Beilage zum LVolksblatt vom 17. Dezember 1915;
vgl. auch Beilage zu den ON vom 11. Dezember 1915. Für die
vorangegangenen Diskussionen im Landtag die sich vorwiegend
um die Konzessionspflicht im Baugewerbe drehen vgl. Beilage
zu den ON vom 4. Dezember 1915.
194 Vgl. LGBl. 1915, Nr. 14: Gesetz vom 13. Dezember 1915 betref-
fend die teilweise Abänderung der Gewerbeordnung.
195 Ebenda.
196 Vgl. vorne, S. 41; ausserdem LILA RE 1908/598: Vorschläge der
Gewerbekommission zur Reform des Gewerbegesetzes, 29. März
1908.
197 LGBl. 1915, Nr. 14: Gesetz vom 13. Dezember 1915 betreffend
die teilweise Abänderung der Gewerbeordnung, LR 930.1.
198 Vgl. Nigg 1956, S. 97.
199 Schädler 1919, S. 62.
200 LILA RE 1910/1769: Basel, internationales Arbeitsamt um Gewer-
beordnung und Austausch bezüglich den Arbeiterschutz.
201 Vgl. diesbezüglich auch Ospelt 1972, S. 293.
Austausch bestand aber nicht, weshalb es zu keiner wei-
teren Zusammenarbeit kam.201 Damit verpasste Liech-
tenstein, dessen aussenpolitische Aktivitäten sich auf ein
Minimum reduziert hatten, eine Chance zum internatio-
nalen Austausch und zur eingehenderen Auseinander-
setzung mit den Sozialversicherungen für die Arbeiter-
schaft.
1908 vom Gewerbeverein gefordert, auf die Arbeiter in
der Textilindustrie.196 Die Leistungen, welche die staat-
lich anerkannten Krankenversicherungen, das heisst
vorläufig nur die drei Betriebskrankenkassen, aber er-
bringen mussten, wurden dabei nicht angetastet. Neben
dem Versicherungsobligatorium gab es durch die Revi-
sion der Gewerbeordnung ein weiteres Opfer: An die
Stelle der ungeliebten verpflichtenden Gewerbegenos-
senschaft trat im fünften Hauptstück die Möglichkeit zu
freiwilligen Zusammenschlüssen zu gewerblichen Ver-
einigungen.197 Damit liess sich die bestehende Gewer-
begenossenschaft und mit ihr die erst drei Jahre zuvor
gegründete Genossenschaftskrankenkasse nicht mehr
halten. Beide Institutionen wurden aufgelöst.198 Damit
verlor das Gewerbe aber wiederum ein Organ, welches
eben in den Auseinandersetzungen der vergangenen
zehn Jahre bereits Potenzial zur politischen Mitsprache
gezeigt hatte.
Im Rückblick schrieb später der ehemalige Landtags-
präsident Albert Schädler zu den Gewerbeordnungsre-
formen folgendes:
«Die veränderten Verhältnisse und die fortschrittlichen und
humanitären Forderungen der Neuzeit machten aber später
eine gründliche Reform notwendig, welche auch durch die
neue Gewerbeordnung vom Jahre 1909 und einige nachfol-
genden Ergänzungen derselben zustande kam. Die Einfüh-
rung des Befähigungsnachweises, die Ausdehnung der Kon-
zessionspflicht, die Einschränkung des Hausierhandels, die
Schutzbestimmungen in den Fabriken und besonders auch die
obligatorische Unfallsversicherung und Krankenversicherung
sind die hervorragenden Merkmale der neuen zeitgemässen
Gewerbeordnung.»199
Interessanterweise ging er dabei mit keinem Wort auf
das zumindest teilweise Scheitern eben dieser von ihm
hoch gelobten sozialen Reformpolitik ein, sondern lobte
einzig die erzielten Fortschritte.
Im Zusammenhang mit der 1910 erlassenen Gewer-
beordnung kam es zu einer kurzen Kooperation mit
dem «Internationalen Arbeitsamt» in Basel, wobei die
Regierung der Organisation auf ihre Anfrage hin die ge-
setzlichen Bestimmungen Liechtensteins zusandte. Dies
führte zur Veröffentlichung der liechtensteinischen Be-
stimmung zu den Sozialversicherungen im Bulletin des
«Internationalen Arbeitsamtes».200 Ein ernsthaftes Inte-
resse Liechtensteins zur Rezipierung europäischer Ten-
denzen in der Sozialpolitik oder zum internationalen
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32 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
lionenhöhe brachte.208 Ausserdem waren die Folgen der
Weltwirtschaftskrise auch in Liechtenstein zu spüren.
Im Bereich der Krankenversicherung wurden dennoch
verschiedene Initiativen unternommen. Erneut wurde
eine Reform der Gewerbeordnung geplant. Die Regie-
rung vergab ausserdem den Auftrag zur Erstellung eines
Gutachtens zum Sozialversicherungswesen an Hermann
Renfer, den Direktor der Basler Lebensversicherungen.
Durch die Niederlassung schweizerischer Versiche-
rungsgesellschaften entstand in Liechtenstein erstmals
ein Markt für die Krankenversicherung.
Obwohl die Wirtschaft durch den Krieg schwer
geschädigt war, wurde ab Beginn der 1920er Jahre wie-
der verstärkt versucht, die Sozialgesetzgebung auszu-
bauen. In der neuen Verfassung waren denn auch zwei
Artikel enthalten, welche die sozialpolitischen Ziele des
Staates festlegten:
«Art. 18
Der Staat sorgt für das öffentliche Gesundheitswesen, unter-
stützt die Krankenpflege und strebt auf gesetzlichem Wege die
Bekämpfung der Trunksucht sowie die Besserung von Trin-
kern und arbeitsscheuen Personen an.»209
Wichtiger aber war der neu eingeführte Artikel 26,
der sich nicht nur mit der Gesundheitspolitik im Allge-
meinen auseinandersetzt, sondern spezifisch die staatli-
che Förderung des Sozialversicherungswesens vorsieht:
«Art. 26
Der Staat unterstützt und fördert das Kranken-, Alters-, Inva-
liden- und Brandschadenversicherungswesen.»210
Bemerkenswert ist, dass der neue Sozialversiche-
rungsartikel 26 kaum zu Diskussionen Anlass gab. Selbst
im Bericht der Verfassungskommission wurde er nicht
erwähnt. Dies erklärt sich jedoch vor dem Hintergrund,
dass vor allem das neue parlamentarisch ausgerichtete
Regierungssystem debattiert wurde. In der ersten For-
mulierung der Regierungsvorlage war jedoch die Kran-
kenversicherung nicht im vorgesehenen Text enthalten,
die Unterstützung und Förderung des Krankenversiche-
rungswesens wurde also erst in den Beratungen im Land-
tag eingefügt.211 Die sehr allgemein gehaltene Formulie-
rung des Artikels 26 zur Förderung und Unterstützung
des Krankenversicherungswesens lässt keine Schlussfol-
gerung zu, in welcher Form diese Förderung und Un-
terstützung der bezeichneten Sozialversicherungen zu
geschehen hätten.212 Dem in der Verfassung festgelegten
Auftrag «wurde in der Folge zumindest insofern nach-
Spätere Initiativen zur Schaffung von
Sozialversicherungen – Ein Ausblick
Der Erste Weltkrieg hatte den in Liechtenstein zuvor
zaghaft einsetzenden Aufschwung gestoppt. Auch in den
1920er Jahren kam es kaum zu einer Besserung der wirt-
schaftlichen Lage. Die Textilindustrie lag nach dem Krieg
am Boden, der Staat hatte kaum Geld, um aus der miss-
lichen wirtschaftlichen Lage aus eigener Kraft herauszu-
kommen. So setzte nach dem Krieg eine aussenpolitische
Neuorientierung ein, weg von der zusammengebro-
chenen Donaumonarchie und hin zur im Krieg neutral
verbliebenen Schweiz.202 Zugleich ergaben sich grosse
innenpolitische Veränderungen. 1918 wurde das direkte
Wahlrecht eingeführt, es kam erstmals in der Geschichte
des Landes zur Gründung politischer Parteien und auch
die Arbeiterschaft wurde nun mehr als je zuvor politisch
mobilisiert.203
«Unübersehbar ist auch hier, dass der vorhandene oppositio-
nelle Kern die Voraussetzung dafür bildete, dass es in Liech-
tenstein 1918 zur Forderung nach einer Verfassungsreform
kam, deren Verwirklichung den europaweiten Demokratisie-
rungswillen schliesslich in einer spezifisch liechtensteinischen
Form zum Ausdruck bringt. Die Parteien sind in diesem Pro-
zess zugleich Motor und Produkt.»204
1921 erhielt das Land eine neue Verfassung, der Fürst
war nicht mehr allein Souverän, sondern die Souverä-
nität sollte im Volk als auch im Fürsten gleichermassen
verankert sein.205 1923 schliesslich konnte das kleine Für-
stentum anstelle des 1919 aufgekündigten Zollvertrags
mit Österreich206 einen neuen Vertrag mit der Schweiz
abschliessen:
«Mit dem Zollanschluss an die Schweiz entrann Liechtenstein
erneut der wirtschaftlichen Isolation. Es fand Anlehnung bei
jenem Nachbarn, der stabiler, fortschrittlicher und wohlha-
bender als der frühere Partner war.»207
Inmitten dieser Umbruchssituation entstand auch
eine sozialpolitische Aufbruchstimmung, mittels neuer
Gesetze sollte das Land modernisiert werden. Die 1920er
Jahre waren allerdings für Liechtenstein von einer ganzen
Reihe wirtschaftlicher Schwierigkeiten geprägt. Das Land
brauchte Zeit, um die Kriegsfolgen zu überwinden, doch
zwei Heimsuchungen stürzten das Fürstentum noch
tiefer in die Krise: der verheerende Rheineinbruch 1927,
der Teile des Landes überschwemmte, und der Spar-
kassaskandal 1928, der dem Land einen Verlust in Mil-
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33Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
202 Vgl. Geiger 2000, S. 75 ff.
203 Insbesondere geschah dies durch die neue Volkspartei, die teil-
weise eine Politik der Strasse betrieb. Dazu kam aber auch die
Gründung des Arbeitnehmerverbands 1920, vgl. Quaderer 1995,
S. 7–19.
204 Michalsky 1990, S. 223.
205 Vgl. Batliner 1994, S. 40 ff.; ebenso Quaderer 19942, S. 105 ff.
206 Vgl. Geiger 2000, S. 53 f.
207 Ebenda, S. 55.
208 Vgl. Geiger 2000, S. 96 ff.
209 Liechtensteinische Verfassung von 1921, Art. 18.
210 Liechtensteinische Verfassung von 1921, Art. 26. Der Artikel
überstand auch die Verfassungsänderung 2003 unbeschadet.
211 Vgl. Hoch 1991, S. 18, insbesondere die Anmerkungen in Fussno-
te 31.
212 Ganz anders sah für die Schweiz ab 1890 Art. 34bis BV einen ex-
plizit legislativen Auftrag für den Bund vor, vgl. Maurer 1981, S.
51 f. Ein Auftrag, der nach dem Scheitern einer ersten umfassen-
den Vorlage, der «Lex Forrer», schliesslich ab 1911 mit dem Bun-
desgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung von 1911
wahrgenommen wurde. Vgl. Sommer 1978, S. 98 ff. insbesondere
S. 105 f.
213 Hoch 1991, S. 43.
214 Ebenda, S. 19.
215 LILA RE 1922/158: Begleitschreiben Dr. Renfers zum Gutachten
an die Regierung, 15. April 1922.
216 Vgl. Hoch 1991, S. 19 f. Hoch verweist zu Recht auf die schwie-
rigen Arbeitsbedingungen für Renfer, der nur sehr mangelhafte
Angaben und Unterlagen zum Stand der Sozialversicherungen
und zur sozialen und wirtschaftlichen Lage von der Regierung
erhielt. Allerdings ist dies nicht auf eine mangelnde Kooperation
von Seiten der Regierung zurückzuführen, derartiges statistisches
Material bestand teilweise schlicht nicht. Vgl. LILA RE 1922/158:
Korrespondenz zwischen Dr. Renfer und der Regierung, 10. Janu-
ar 1922.
217 LILA RE 1922/158: Begleitschreiben Dr. Renfers zum Gutachten
an die Regierung, 15. April 1922.
218 Ebenda.
219 Ebenda.
220 Ebenda.
dig»219 und «dürfte es wohl noch viele Jahre gehen, bis wir
in der Schweiz so weit sind, da zur Durchführung
dieser Versicherungsarten eben bedeutende Mittel
zur Verfügung stehen müssen, die gegenwärtig in der
Schweiz nicht zu erhalten sind. Die Wünschbarkeit
des Anschlusses erscheint also nicht besonders verlo-
ckend».220 Zudem ergaben erste Sondierungen Renfers
beim Bundesamt für Sozialversicherung auch, dass ein
möglicher Einbezug Liechtensteins in die Schweizer Ver-
sicherungen nicht sonderlich erwünscht war. So zitiert
Renfer eine Antwort des Direktors des Bundesamtes für
Sozialversicherung:
gelebt, als das private Krankenversicherungswesen mit
– allerdings bescheidenen – staatlichen Subventionen
unterstützt wurde».213
Noch bevor aber die neue Verfassung in Kraft trat,
begann die Regierung damit, eine umfassende Reform
der Sozialgesetzgebung zu planen. Unter Vermittlung
durch den liechtensteinischen Vertreter in Bern be-
auftragte die Regierung den Direktor der Basler Lebens-
versicherung, Hermann Renfer, ein Gutachten zu verfas-
sen, wie eine umfassende Regelung der Sozialversiche-
rungen in Liechtenstein ausgestaltet werden könnte.214
Es scheint seltsam und doch bemerkenswert, dass ein derart
umfassendes Projekt gerade in einer Zeit, in der das
Land sich innenpolitisch im Umbruch befand und
sich auch aussenpolitisch radikal neu orientierte, in
Angriff genommen wurde. Das Projekt stand in der Folge
schon von Beginn an unter schwierigen Vorzeichen.
Der Auftrag der Regierung an Renfer selbst ist nicht er-
halten. Allerdings findet sich eine Beschreibung der Auf-
gabe im Begleitbrief, mit dem Renfer das Gutachten 1922
der Regierung vorlegte, da er dort einen Teil des an ihn
gerichteten Auftrags zitiert:
«Die mir gestellte Aufgabe möchte ich damit umschreiben,
dass ich eine Stelle aus dem Briefe Ihres fürstlichen Geschäfts-
trägers, Herr Dr. Beck in Bern, zitiere, die lautet: Die fürst-
liche Regierung beabsichtigt, eine Gesetzesvorlage betreffend
Einführung einer Kranken- Unfall-, Alters- und Invaliditäts-
versicherung der unselbständig Erwerbenden auszuarbeiten,
um dadurch den sozialen Anforderungen, die an einen moder-
nen Staat mit Recht erhoben werden, zu genügen.»215
Ursprünglich hatte Renfer beabsichtigt, zugleich mit
dem Gutachten auch Gesetzesentwürfe für eine Neu-
regelung der Sozialversicherungen in Liechtenstein
auszuarbeiten. Er konnte dieses wohl zu ehrgeizig ge-
plante Vorhaben aber nicht umsetzen und beschränkte
sich auf die Abfassung des verlangten Gutachtens.216 Da-
bei holte er sich die Hilfe zweier weiterer «Experten des
eidgenössischen Versicherungsamtes in Bern, den Herren
Dr. Werner Friedli und Ernst Jester».217 Als erste mögliche
Lösung für eine zukünftige Regelung der Sozialversiche-
rung in Liechtenstein erwogen sie, «ob nicht die ein-
fachste und zweckmässigste Lösung darin bestünde, dass
die liechtensteinische sich an die schweizerische Sozial-
versicherung anschliessen solle».218 Dies wurde aus ver-
schiedenen Gründen abgelehnt: Einerseits sei die schwei-
zerische Sozialversicherung selbst noch «recht rückstän-
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34 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Greise und Invaliden grösser macht! Die Führer des Volkes,
die Regierungen tragen eine grosse Verantwortung, wohl ih-
nen, wenn sie rechtzeitig die Mittel und Wege suchen und fin-
den, um die soziale Frage zu lösen. Wo ein Wille ist, da ist
auch ein Weg!»225
Hermann Renfer schlug für Liechtenstein die Einfüh-
rung aller Versicherungszweige vor. Sollte dies, wie wohl
zu erwarten war, nicht finanzierbar sein, so könnten
die verschiedenen Versicherungszweige etappenweise
realisiert werden, gestaffelt nach Häufigkeit des eintre-
tenden Versicherungsfalles:
«. . . Als dringlich muss die Unfallversicherung, dann
namentlich die Kranken- und Invalidenversicherung bezeich-
net werden.»226
Die Übernahme der Unfallversicherung durch eine
neugegründete staatliche Versicherung hielt Renfer
jedoch für zu riskant. Die Schaffung einer liechtenstei-
nischen Entsprechung zur Schweizerischen Unfallver-
sicherungsanstalt war aber wegen des dafür nötigen
unverhältnismässig grossen und komplexen Apparats
unwirtschaftlich und kaum realisierbar.227 Die übrigen
Versicherungszweige sollten jedoch in einer zu grün-
denden «Landesversicherungsanstalt» abgedeckt sein.
Diese sollte an die Landeskassaverwaltung angeschlos-
sen sein und sich zur Verringerung ihres Risikos im
Ausland rückversichern.228 Gerade aufgrund der Klein-
heit des Landes und der wenigen Versicherungsnehmer
betrachtete Renfer ein allgemeines Versicherungsobli-
gatorium als absolute Notwendigkeit. Doch schon bald
nach Abgabe des Gutachtens musste die Regierung die
ehrgeizigen Pläne begraben. In einem Brief an Dr. Renfer
bedankte sich die Regierung daher für die geleistete Ar-
beit und schrieb weiter:
«Die fuerstliche Regierung bedauert nur, dass es im gegen-
waertigen Momente bei dem noch immer schweren Stande unse-
rer Volkswirtschaft unmoeglich wird, ihre Ideen schon jetzt voll
und ganz in die Praxis zu uebersetzen. Immerhin sollen in aller-
naechster Zeit ernste Schritte unter-nommen werden, um die all-
gemeine Krankenversicherung, beginnend mit dem 16. oder 18.
Altersjahre fuer beide Geschlechter durchzufuehren.»229
Selbst eine derart reduzierte Massnahme kam nicht zu
Stande. Das ebenfalls in den 1920er Jahren in Angriff ge-
nommene Gesetz zur Regelung der Ausübung des Versi-
cherungsgewerbes wurde ebenfalls nicht eingeführt, nach-
dem der angefragte Experte – wiederum Hermann Renfer
– die geplante Regelung als zu komplex beurteilt hatte.230
«Ihre Anfrage, ob im Fürstentum Liechtenstein die Sozial-
versicherung allfällig durch Einbeziehung in die schweiz.
Einrichtungen eingeführt werden könnte, habe ich mit Herrn
Bundesrat Schulthess besprochen. Wir mussten übereinstim-
mend feststellen, dass dieser Lösung staatsrechtliche Schwie-
rigkeiten entgegenstehen. Dazu kommen noch gewisse poli-
tische Erwägungen, so dass es Herrn Bundesrat Schulthess
jedenfalls zur Zeit nicht als wünschenswert betrachtet, wenn
Ihrem Gedanken weitere Folge gegeben wird.»221
Renfer schien auch ein Anschluss an das private Ver-
sicherungssystem der Schweiz gerade im Bereich der
Krankenversicherung schwierig. Somit kommt Renfer
zum Schluss, dass vor allem ein Weg gangbar sei, näm-
lich die «Uebernahme der gesamten Sozialversiche-
rung durch das Fürstentum».222 Dabei war sich Renfer
durchaus darüber im Klaren, worin die Probleme dieses
Weges lagen: Eine derart umfassende Sozialversicherung
war allein von der erwerbstätigen Bevölkerung kaum zu
tragen.223 So fasste er seine Ansicht im Begleitschreiben
wie folgt zusammen:
«Die zweckmässige Lösung der Sozialversicherung verlangt
eine äusserst behutsame und weitblickende Behandlung der
ganzen Materie. Kein Land darf hierbei einfach die Gesetze
des andern abschreiben; diese Eigenart von Land und Volk
verlangt verständnisvolle Berücksichtigung.»224
Doch zugleich appellierte Renfer gerade angesichts
der herrschenden wirtschaftlichen Not eindringlich an
die Regierung, alle möglichen Schritte zu unternehmen,
um eine tragfähige Lösung für die Sozialversicherung zu
finden:
«Durch die ungeheuren wirtschaftlichen Schädigungen
des Weltkrieges ist das Erwerbsleben für jeden einzelnen in
allen Staaten ungleich schwerer geworden als vor dem Krieg.
Die enorme Teuerung aller wichtigsten Bedarfsartikel macht
den durch Krankheit, Unfall, Alter oder Tod des Ernährers
bedingten Wegfall des täglichen Erwerbs doppelt verhäng-
nisvoll, setzt die Betroffenen trotz der Mildtätigkeit anderer
Menschen dem bittersten Elend aus. Nie stärker als jetzt fällt
allen verantwortlichen Behörden und Regierungsorganen die
Pflicht ins Herz, alle Volksklassen zum Sparen, zum Sammeln
von Notpfennigen anzuhalten; nie lastete die Verantwortung
grösser auf den Schultern der Regierungen, die wissentlich
oder aus Schwachheit die Sozialversicherung nicht an die
Hand nahmen. Vergessen wir nicht, dass jeder Zeitverlust
auch den Verlust grosser finanzieller Mittel bedeutet und dass
jedes Zuwarten die Zahl der zur Beitragszahlung unfähigen
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35Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
221 Ebenda. Edmund Schulthess (1868–1944) war freisinniger Bun-
desrat und leitete damals das Volkswirtschaftsdepartement. Zu
seinen sozialpolitischen Aktivitäten vgl. auch Sommer 1978,
S. 140 ff.; Maurer 1981, S. 794 ff.
222 Ebenda.
223 Vgl. Hoch 1991, S. 20; siehe auch LILA RE 1922/158: Gutachten
Dr. Renfer, S. 20.
224 LILA RE 1922/158: Begleitschreiben Renfers an die Regierung.
225 LILA RE 1922/158: Gutachten Dr. Renfer, S. 12 f.
226 Ebenda, S. 13.
227 Ebenda, S. 14; zur Komplexität der Risikokalkulation in der
Unfallversicherung siehe Lengwiler 20062, S. 101 ff.
228 Vgl. LILA RE 1922/158: Gutachten Dr. Renfer, S. 14.
229 LILA RE 1922/158: Regierung an Dr. Renfer, 24. November 1922.
230 Vgl. LILA RE 1923/1071: Sozialversicherung, Gutachten Dr. Ren-
fer.
231 Hoch 1991, S. 43.
232 Ebenda, S. 21.
233 Ebenda, S. 43.
234 Vgl. Beck und Gassner 1969, S. 11.
235 LILA RE 1925/2715: Statuten der Liechtensteinischen Kranken-
kasse.
236 Vgl. Hoch 1991, S. 43 f.
237 Vgl. LILA RE 1925/3115: Statuten der Freiwilligen Krankenkasse
Balzers 1925 und Genehmigung; zur Geschichte der freiwilligen
Krankenkasse Balzers vgl. ausführlicher Brunhart 2000.
238 Erst in den 1950er Jahren wurden die Statuten generalüberholt
und auch Frauen und Kinder in die Kasse aufgenommen. Brun-
hart weist jedoch darauf hin, dass bereits in den 30er Jahren zwei
Frauen Ämter im Vereinsvorstand innehatten, Brunhart 2000,
S. 47. Die Vereinsstruktur der Kasse blieb bis heute erhalten. Vgl.
Brunhart 2000, S. 41 ff.
239 Vgl. LILA RE 1926/4899: Christlich-soziale Krankenkasse, Ge-
schäftsausdehnung auf Liechtenstein. Zur CSS vgl. den Artikel
«CSS Versicherung» im Historischen Lexikon der Schweiz (im
Folgenden: HLS).
und übernahm damit eine Nischenfunktion mit der Ver-
sicherung einer zuvor unversicherten gesellschaftlichen
Gruppe.
Eine Ausweitung der Krankenversicherung auf wei-
tere Teile der Bevölkerung gelang erst mit dem Eintritt
zweier schweizerischer Kassen in den erst damit entste-
henden liechtensteinischen Versicherungsmarkt. Bereits
1926 gelangte die «Christlichsoziale Kranken- und Unfall-
kasse der Schweiz» an die Regierung mit dem Ansuchen,
ihre Tätigkeit auch auf das Fürstentum auszudehnen.239
Die Kasse hatte in den letzten Jahren einzelne Mitglieder
in Liechtenstein gewonnen und wollte nun zur Ausdeh-
nung ihres Geschäfts auf das Fürstentum Liechtenstein
eine eigene Sektion gründen. Die Regierung schrieb da-
raufhin die «Liechtensteinische Krankenkasse» in Schaan
an, um von ihrer Seite eine Stellungnahme zu erhalten.
Fast zeitgleich mit dem Auftrag an Dr. Renfer für das
Sozialversicherungsgutachten wurde ebenso eine er-
neute Reform der Gewerbeordnung ins Auge gefasst.
Der Basler Professor Jakob Landmann arbeitete dazu ei-
nen Gesetzesentwurf aus, welcher ein alle Arbeitnehmer
einschliessendes Obligatorium für die Übernahme von
Krankenpflegekosten vorsah. Aber auch dieser Entwurf
wurde angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Um-
stände und weil die politischen Kräfte mit der anderwei-
tigen Neuordnung des Staates gebunden waren, nicht
weiter verfolgt.231 Obwohl sich die regierende Volkspar-
tei sehr für die Förderung der Sozialversicherung enga-
giert hatte, war die Regierung schliesslich gezwungen,
die ehrgeizigen sozialpolitischen Ziele der 1920er Jahre
fast ausnahmslos aufzugeben.232 Das in der Verfassung
verankerte Ziel, die Krankenversicherung zu fördern,
wurde in den folgenden Jahren lediglich durch die Ge-
währung von Landessubventionen wahrgenommen.233
In den 1920er und 1930er Jahren kam es dennoch
zu einigen Veränderungen in der Krankenversicherung
Liechtensteins. Der seit 1894 bestehende «Allgemeine
Kranken-Unterstützungsverein» wurde 1925 zur Liech-
tensteiner Krankenkasse umbenannt und erhielt neue
Statuten. Dennoch blieb die bisherige Vereinsstruktur
bestehen:234 Weiterhin blieben Kinder bis 15 Jahre, sowie
Menschen ab 50 Jahren vom Vereinsbeitritt und damit
auch von der Krankenversicherung ausgeschlossen.235
So stagnierten auch die Mitgliederzahlen des Kranken-
Unterstützungs-Vereins während der 1920er Jahre oder
sie waren sogar leicht rückläufig.236 Allerdings erfolgten
weitere Kassengründungen mit der Einrichtung der
«Freiwilligen Krankenkasse Balzers» in Vereinsform
und der nach Konflikten mit den bestehenden Kassen
erlaubten Niederlassung schweizerischer Krankenversi-
cherungen im Fürstentum Liechtenstein. Die Freiwillige
Krankenkasse Balzers ist dabei als Sonderfall zu betrach-
ten, indem sie die Mitgliedschaft sowohl demo- als auch
geographisch stark einschränkte und nur erwachsene
Männer der Gemeinde Balzers Mitglied des Vereins wer-
den konnten.237 Zugleich genügten die statuarisch fest-
gelegten Leistungen nicht den gesetzlichen Mindestan-
forderungen, wodurch sie einerseits von Landessub-
ventionen ausgeschlossen war und andererseits einen
weiteren Kreis an potenziellen Mitgliedern ausschloss.
Damit wurde sie in erster Linie ein Versicherer für die
laut Gesetz nicht versicherungspflichtigen Bauarbeiter238
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36 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
der Versicherten auf freiwilliger Basis.243 Das Versiche-
rungsobligatorium wurde 1937, 1960 und 1962244 suk-
zessive ausgeweitet und 1971 konnte es mit der Verab-
schiedung des Krankenversicherungsgesetzes245 für die
gesamte Wohnbevölkerung Liechtensteins durchgesetzt
werden. Mit seinem Inkrafttreten per 1. Januar 1972 be-
stand ein Krankenpflegeversicherungsobligatorium für
die gesamte Wohnbevölkerung und ein Krankengeldob-
ligatorium für alle Arbeitnehmer in der Höhe von 80 Pro-
zent des entgangenen Lohns.246 Erst mit dem wirtschaft-
lichen Aufschwung des Landes konnten die Sozialversi-
cherungen – nun umso schneller – ausgebaut werden.247
Bei der Einführung des Gesetzes waren in Liechtenstein
bereits 90 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kran-
kenversicherung, wodurch es kaum mehr Widerstände
gegen das allgemein gültige Versicherungsobligatorium
gab.248
Beschäftigte in der Baumwollspinnerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz, 1893.
Diese hatte aber schon kurz zuvor mitgeteilt, sie sei der
Ansicht, «dass die Krankenversicherung in Liechten-
stein durchgeführt werden könnte, ohne dass man sich
hierzu einem ausländischen Versicherungs-Institut an-
schliesst.»240 Dennoch hiess die Regierung das Vorha-
ben der «Christlichsozialen Kranken- und Unfallskasse
der Schweiz» gut und vermerkte, dass für die Gründung
einer Niederlassung keine Konzession nötig sei. 1932
folgte mit der «Concordia»241 eine zweite schweizerische
Versicherung. Die beiden Schweizer Versicherer hatten
schon bald mehr Mitglieder als die bestehenden Liech-
tensteinischen Krankenkassen.242 Die neu entstandene
Konkurrenzsituation führte in den Folgejahren zu einem
Ausbau der Versicherungsleistungen. Trotzdem ging die
Ausweitung der Krankenversicherung auf weitere Teile
der Bevölkerung nur schleppend voran. Nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs war knapp die Hälfte der Liech-
tensteiner gegen Krankheit versichert, rund zwei Drittel
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37Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
240 RE 1926/4899: Liechtensteinische Krankenkasse an Regierung,
28. November 1926.
241 Vgl. den Artikel «Concordia» im HLS.
242 Hoch 1991, S. 42.
243 Vgl. Brunhart 2000, S. 17.
244 Hoch 1991, S. 44 ff.
245 LGBl. 1971, Nr. 50, Gesetz vom 24. November 1971 über die
Krankenversicherung.
246 Hoch 1991, S. 48 ff.
247 Vgl. Merki 2007, S. 204 f.
248 Ebenda, S. 22 sowie S. 48.
Diskussion der Ergebnisse
und Schlussbemerkungen
Beschäftigte in der Weberei in Triesen, um 1900.
Versucht man die Entwicklung der Krankenversiche-
rung in Liechtenstein für den behandelten Zeitraum zu
überblicken, so zeigt sich einerseits eine sehr spät einset-
zende Entwicklung, andererseits eine ähnliche Abfolge
der Ereignisse, wie sie auch in den Nachbarstaaten ge-
schah. Beginnend mit der Industrialisierung und hierbei
vor allem dem Aufkommen der Textilindustrie, dauerte
es geraume Zeit, bis eine Krankenversicherung auch für
Bevölkerungsteile ausserhalb der Fabriken verfügbar
wurde. Erkennbar ist eine Entwicklung, die von den Be-
triebskrankenkassen über die Ausweitung der Versiche-
rung mittels Hilfsvereinen hin zu verstärkten staatlichen
Gesetzgebungsmassnahmen führte. Das anfangs be-
schränkte Versicherungsobligatorium wurde später auf
weitere Teile der Bevölkerung ausgedehnt. Diese Ent-
wicklungen verliefen teilweise parallel und nicht ohne
Rückschläge. Wie die aufgezeigten Beispiele belegen,
mussten sowohl bei den Betriebskrankenkassen als auch
innerhalb der Krankenversicherungsvereine Leistungs-
kürzungen oder Prämienaufschläge hingenommen wer-
den. Die schnelle Rücknahme der fortschrittlichen Ge-
werbeordnung von 1910 und die verschiedenen in den
1920er Jahren geplanten aber nie realisierten Sozialver-
sicherungsprojekte zeigen ähnliche Rückschläge auch
für die staatliche Seite auf. Eine wesentliche Zäsur in der
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38 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtensteinwwwww
Bau- und Sicherheitsvorschriften oder die Einhaltung
von sanitären Mindeststandards. Nicht alle Beschwerden
von Seiten der Inspektoren verliefen jedoch erfolgreich.
Wo keine eindeutige Rechtsverletzung vorlag, drückten
sich die Unternehmensleitungen des Öfteren um die
Verbesserung der angekreideten Zustände oder verzö-
gerten die Behebung der Probleme.
Die erste Krankenversicherung Liechtensteins wurde
1870 von einem österreichischen Unternehmen gegrün-
det, auch hier wurden wohl Betriebsversicherungen in
Österreich als Vorbild genommen. Eine Ausnahmesitu-
ation findet sich bei der erstmaligen Krankenversiche-
rung für die Arbeiter der Firma Jenny, Spoerry & Cie.
in der Übernahme schweizerischer Statuten. Diese wur-
den ohne grosse Anpassungen genehmigt. Allerdings
führten spätere Statutenänderungen zu Annäherungen,
ebenso wie die 1886 auf Druck des Gewerbeinspektors
durchgesetzte obligatorische Unfallversicherung. Mit der
Gründung einer eigenen liechtensteinischen Betriebs-
kasse für die Arbeiter der Spinnerei in Vaduz 1891 und
der Übernahme der dort geltenden Bestimmungen auch
für das Werk in Triesen 1893 wurde der Annäherungs-
prozess fortgesetzt. In der Folge der neuen gesetzlichen
Minimalstandards aufgrund der Gewerbeordnung von
1910 kam es zu einer weiteren Angleichung der Betriebs-
krankenkassen, nach der sich die drei betrieblichen Kas-
sen zumindest bezüglich der Krankenversicherungen
nur noch in Details unterschieden. Die Arbeiterschaft in
den Fabriken wiederum war zufrieden mit den Verbes-
serungen, wie auch die Auflösung des Krankenversiche-
rungsvereins Triesen belegt. Die Fabrikbesitzer passten
sich ohne grosse Widerstände den neuen Bestimmungen
an. Einerseits geschah dies wohl, weil im benachbarten
Ausland ähnlich strikte Bestimmungen bereits üblich
waren, andererseits wohl, weil auch die neuen Bestim-
mungen problemlos zu verschmerzen blieben. Anders
formuliert, selbst von Seiten der Fabriken war man sich
der Unzulänglichkeiten der bestehenden Kassen be-
wusst, es fehlte nur ein Anstoss zum Handeln.
In der Diskussion um die Gewerbeordnung von 1910
mutet der Widerstand des Gewerbes gegen die Kran-
kenversicherung etwas paradox an. Wenn der Landtag
den ursprünglichen Entwurf 1909 noch einstimmig ge-
nehmigt hatte, so war es wenig später gerade auch die
frisch formierte parlamentarische Opposition, die ent-
schieden gegen das Gesetz politisierte. Dieselbe Grup-
Entwicklung stellt der oftmals als Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts zitierte Erste Weltkrieg dar. Die engen Bin-
dungen an Österreich und die hohe Krisenanfälligkeit
der Textilindustrie wurden mit dem Kriegsausbruch zu
einem gravierenden Problem für Liechtenstein. Grosse
Teile der erreichten Industrialisierung wurden wegge-
fegt, ohne dass das Land selbst dabei direkt in den Krieg
hineingezogen worden wäre.249 Die Weberei Rosenthal
in Vaduz ging 1918 wegen Rohstoffmangels ein,250 beide
Werke der Firma Jenny, Spoerry & Cie. mussten von
1917 bis 1921 schliessen und hatten nach dem Krieg nie
mehr so viele Beschäftigte wie vor Kriegsausbruch.251
Auch in politischer Hinsicht stellt der Erste Weltkrieg
eine wesentliche Zäsur in der Geschichte des Landes dar,
setzte doch mit dem Zusammenbruch des Habsburger-
reichs eine sowohl innen- als auch aussenpolitische Neu-
orientierung ein.
In der Zeit von der Gründung der ersten Krankenver-
sicherung 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs
erfolgte eine weitgehende Übernahme des österreichi-
schen Modells. Bereits im ersten legislativen Rahmen
für die Industrialisierung, das heisst insbesondere in der
Gewerbeordnung von 1865252 zeigt sich die Rezeption
österreichischer Regelungen. Wenngleich die Gewer-
beordnung von 1865 keine Kopie der österreichischen
Gewerbeordnung von 1859 ist, so ist sie dennoch klar
in Anlehnung daran sehr liberal orientiert und verfügt
kaum über Regelungen zum Arbeiterschutz. Der Ar-
beitsvertrag wird einzig als Sache zwischen Arbeitgeber
und -nehmer betrachtet, was den Arbeitnehmer weitest-
gehend schutzlos dastehen liess. Als erste wirkungsvolle
Massnahme zum Arbeiterschutz von staatlicher Seite
kann man durchaus die Einbeziehung der österreichi-
schen Gewerbeinspektoren 1886 betrachten. Es war der
jeweils amtierende Gewerbeinspektor, der den Staat
bezüglich der Genehmigung der Statuten von Betriebs-
kassen oder Hilfsvereinen beriet und diese auch eigen-
händig so abänderte, dass sie den geltenden Regelungen
entsprachen.253 Die Gewerbeinspektoren konnten er-
staunliche Verbesserungen in den Betriebskrankenkas-
sen durchsetzen, wenn man bedenkt, dass sie nur selten,
das heisst zur jährlichen Kontrolle und in Einzelfällen zu
Besprechungen mit der Regierung im Land waren. Aus-
serdem betraf ihr Wirken auch weitere Bereiche des Ar-
beiterschutzes wie die Einhaltung der Gewerbeordnung
im Allgemeinen, Alters- und Arbeitszeitbestimmungen,
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39Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
249 Geiger 2007, S. 170 f.
250 Vgl. Ospelt 1972, S. 270.
251 Ebenda, S. 276.
252 LGBl.1865, Nr. 9: Gewerbeordnung vom 16. Oktober, LR 930.1.
253 Vgl. Hoch 1991, S. 36, der darauf verweist, dass diese Aufgabe
bei der Errichtung der ersten Betriebskrankenkasse 1870 von
der offenbar unsicheren Regierung an den amtierenden Landge-
richtsvorstand delegiert wurde.
254 Ähnliches ist in der Schweiz beim Scheitern der Lex Forrer fest-
stellbar. Siehe dazu eingehend: Degen 1997, S. 148 ff.; Sommer
1978, S. 89 ff.; Maurer 1981, S. 782 ff.
255 Hoch 1991, S. 16.
256 Für eine Zusammenstellung der Beschäftigtenzahlen in der Texti-
lindustrie siehe Ospelt 1972, Anhang 67 auf S. 214.
257 Vgl. Geiger, Geschichte 1970, S. 317.
258 Quaderer 19941, S. 256.
wurden die Gewerbeinspektoren teilweise zu wenig un-
terstützt. Wie jedoch der Beizug von Gewerbeinspektor
Stipperger als Experten für die Ausarbeitung der neuen
Gewerbeordnung von 1910 belegt, waren die Inspek-
toren durchaus als Fachleute geschätzt. Die Zusammen-
arbeit mit den österreichischen Inspektoren endete denn
auch nur angesichts der Kündigung des Zollvertrags mit
Österreich und der damals im Land weit verbreiteten
Ablehnung österreichischer Beamten. Wenn die Regie-
rung auf Berichte der Inspektoren bezüglich Mängeln
oder auf Anfragen teilweise kaum reagierte, so ist dies
vor allem auf eine hohe Arbeitsbelastung des nur kleinen
Verwaltungsstabes und allenfalls auf mangelnde Sensibi-
lisierung bezüglich der sozialen Frage zurückzuführen.
Obwohl die seit den 1860er Jahren bestehenden Tex-
tilfabriken eine beachtliche Anzahl Personen beschäf-
tigten,256 kam es nicht zu einer eigentlichen Arbeiterbe-
wegung. Der Grossteil der Angestellten waren Frauen
und so blieb die Arbeiterschaft noch weitgehend im
Bauerntum verwurzelt.257 Besonders in der Anfangszeit
waren die relativ wenigen Männer, die in der Textilindu-
strie Arbeit fanden, grösstenteils qualifizierte Vorarbeiter
aus dem benachbarten Ausland.
«Die kleinstaatlichen ländlichen Verhältnisse und die sozia-
len Strukturen verhinderten eine Entwurzelung breiter Bevöl-
kerungsschichten. Dazu wirkten traditionsgebundene Kräfte
wie Kirche und Monarchie und die autoritäre Staatsführung
systemerhaltend.»258
Es entwickelte sich in Liechtenstein kein eigentliches
Proletariat als Gesellschaftsschicht und auch eine Politi-
sierung der Arbeiterschaft blieb aus. Erst mit der Grün-
pierung, die sich später als Volkspartei konstituierte und
vehement für die Sozialversicherungen kämpfte, war es
auch, die die Gewerbeordnung von 1910 ohne jeden
Rettungsversuch für den Abschnitt zur Krankenversi-
cherung zu Fall brachte. Das erste Versicherungsobli-
gatorium für die gesamte Arbeitnehmerschaft scheiterte
trotz eines ursprünglichen politischen Konsenses denn
auch an einer heterogenen Allianz mit unterschiedlichen
Beweggründen.254 Mit dem Ersten Weltkrieg begann sich
für Liechtenstein eine Neuorientierung an die Seite der
Schweiz abzuzeichnen. In der noch vor Kriegsausbruch
formierten parlamentarischen Opposition wurde bereits
mehr oder weniger offen gegen Österreich politisiert.
Aus Sicht des Gewerbes entscheidend waren hingegen
die stärkere Reglementierung und die Angst des Gewer-
bes vor stärkeren staatlichen Eingriffen, welche bereits
kurz nach Inkrafttreten der Gewerbeordnung zu mas-
siven Widerständen führte. Auch die einzige damals be-
stehende offen zugängliche Krankenversicherung, der
Allgemeine Kranken-Unterstützungs-Verein zeigte sich
wenig kooperativ. Dabei spielten finanzielle Gründe –
der Verein wollte seine Reserven nicht mit einer grös-
seren Anzahl Neumitglieder teilen – eine Rolle, aber
wohl auch das Selbstverständnis als vom Staat unabhän-
gigem Zusammenschluss freier Bürger, der sich keine
Zwangsmitglieder aufdrängen lassen wollte. Nicht zu
vergessen ist, dass der Vereinsvorstand aus etablierten
Gewerbetreibenden bestand und wohl auch die meisten
Mitglieder sich gegen die stärkere Regulierung in der
Gewerbeordnung wandten. Mit diesen massiven Wider-
ständen konfrontiert, war eine neuerliche Revision der
Gewerbeordnung nicht mehr zu verhindern, obwohl die
Regierung an der Regelung von 1910 festhalten wollte.
Spätestens mit dem Kriegsausbruch und den zu erwar-
tenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten war auch der in
den Debatten nur selten direkt angegriffene Krankenver-
sicherungsartikel mit dem Versicherungsobligatorium
für alle Arbeitnehmer nicht mehr zu halten. Rückbli-
ckend gesehen ist es trotzdem erstaunlich, «wie leichthin
der Landtag mit dieser Gesetzesrevision die Entwicklung
der liechtensteinischen Sozialversicherung um Jahr-
zehnte zurückwarf.»255 Dies erklärt sich nur teilweise vor
dem Hintergrund, dass nur die in der Praxis zumindest
scheinbar undurchführbaren Teile revidiert wurden.
Die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Ge-
werbeinspektorat funktionierte grundsätzlich, doch
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40 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
langfristig denkenden Unternehmerclans hatten dabei
ein Interesse daran, sich eine Stammarbeiterschaft auf-
zubauen und finanzierten durchaus auch soziale Ein-
richtungen zu Gunsten der Arbeiterschaft. Allerdings
soll damit kein romantisches Bild der Industrialisierung
gezeichnet werden: Fabrikarbeit im 19. Jahrhundert war
Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und gesundheitsschä-
digend. Wenn nun die ersten Krankenkassen in Liech-
tenstein noch ohne gesetzliche Verpflichtung auf Initia-
tive der Unternehmer hin errichtet wurden, so geschah
dies nicht allein als grosszügige Unterstützungsleistung,
sondern vielmehr auch um den Betrieben eine gesunde
Stammarbeiterschaft zu gewährleisten. Ausserdem ist zu
berücksichtigen, dass während der industriellen Grün-
dungszeit in Liechtenstein bereits Krankenkassen in Ös-
terreich und der Schweiz existierten. In Österreich gab
es darüber hinaus schon seit der Gewerbeordnung von
1859 eine Verpflichtung zur Kranken- und Unfallversi-
cherung für grosse Industriebetriebe.263 Die Firma Ro-
senthal verfuhr also mit der Gründung einer Kranken-
kasse nicht anders, als sie es auch in Österreich gemacht
hätte.
Der 1894 gegründete Krankenversicherungsverein er-
hielt dabei als einzige grössere liechtensteinische Versi-
cherung für lange Zeit eine herausragende Stellung, die
sich einerseits an den Staatssubventionen zeigt, ande-
rerseits aber auch im vom Krankenversicherungsverein
erfolgreich abgewehrten Versuch, den Krankenversiche-
rungsverein zum Träger der staatlichen Versicherungs-
pflicht umzufunktionieren. Wenn die Gründung eines
zweiten «offenen» Versicherungsvereins, der Freiwilligen
Krankenkasse Balzers, für den neu als Liechtensteinische
Krankenkasse geführten Verein noch keine Bedrohung
darstellte, so verlor er seine Vormachtstellung mit dem
Eintritt der Schweizer Privatversicherer innerhalb weni-
ger Jahre. Sowohl die «Christlich-soziale Kranken- und
Unfallkasse der Schweiz» als auch die «Concordia» hat-
ten aufgrund ihres grösseren Mitgliederstandes deutlich
effektivere Organisationen im Hintergrund als die liech-
tensteinischen Versicherer und konnten innerhalb von
nur wenigen Jahren deren Mitgliederzahlen problemlos
überflügeln.
Die Offenheit der Hilfskassen war auch nur sehr ein-
geschränkt gegeben. Es galten jeweils Altersbeschrän-
kungen, die Kinder und alte Menschen von den Versi-
cherungen ausschlossen. Ausserdem waren Risikogrup-
dung politischer Parteien 1918259 kam es zur Mobilisie-
rung der Arbeiter, zu einzelnen Demonstrationen und
erst 1920 konnte sich ein fortdauernder Arbeitnehmer-
verband in Liechtenstein etablieren.260 Damit fehlte den
Arbeitnehmern lange Zeit eine Lobby, die ihre Interes-
sen vertreten hätte. Während in der Schweiz oder in
Österreich die soziale Frage im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts heftig debattiert wurde, begann sie sich in
Liechtenstein zeitgleich gerade erst zu stellen.
Noch vor Abschluss des Zollvertrags 1924 wurden
zwei grössere Projekte in Anlehnung an die Schweiz
realisiert: die geplante erneute Revision der Gewerbe-
ordnung durch Jakob Landmann und das Sozialversi-
cherungsgutachten von Hermann Renfer. Die Vergabe
dieser Gesetzesentwürfe beziehungsweise Gutachten
an schweizerische Experten zeigt einerseits den wach-
senden Einfluss der Schweiz auf die Ausgestaltung der
Sozialversicherungen in Liechtenstein und andererseits
eine allmählich einsetzende Professionalisierung und
Verwissenschaftlichung. Dem Kleinstaat Liechtenstein
fehlten die personellen Ressourcen oder das nötige Wis-
sen261 und so bedurfte er für den Aufbau eines funktio-
nierenden Krankenversicherungswesens stets der Unter-
stützung von aussen. Dies zeigt sich an der bereits an-
gesprochenen wichtigen Rolle der Gewerbeinspektoren,
aber auch bei den wesentlichen Gesetzesreformen. Schon
der Gesetzesentwurf für die Gewerbeordnung von 1910
basierte auf einer Planung von Gewerbeinspektor Stip-
perger. Die beiden Schweizer Experten, Hermann Ren-
fer als Versicherungsfachmann für die Erstellung eines
Sozialversicherungsgutachtens und Julius Landmann
als Basler Universitätsprofessor bei der Ausarbeitung
einer neuen Gewerbeordnung, führten diese Linie fort.
Zugleich mit dem damit festgestellten Mangel zeigt sich
gleichermassen eine auch in der späteren Zeit immer
wieder wirkungsvoll angewandte Figur, nämlich dass
Liechtenstein Aufgaben, die es selbst nicht bewältigen
konnte, erfolgreich auslagerte.
Wie Jürg Sommer für die Industriegeschichte der
Schweiz feststellt, etablierte sich ab Mitte des 19. Jahr-
hunderts eine patriarchalisch denkende Fabrikantenge-
neration.262 In Liechtenstein waren es eben solche Fabri-
kantendynastien, zum einen die Glarner Unternehmer
Enderlin, Jenny und Spoerry, zum anderen die öster-
reichische Fabrikantenfamilie Rosenthal, welche mass-
geblich die Industrialisierung des Landes trugen. Diese
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41Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
pen wie Menschen mit bereits vorhandenen Gebrechen,
Behinderungen oder chronischen Krankheiten ebenso
von der Krankenversicherung ausgenommen. Wer kei-
nen ausreichenden Lohn hatte, konnte ebenso wenig in
den Genuss von Krankenunterstützung kommen, wie
auch die meisten Familienmitglieder ohne eigenes Ein-
kommen. Somit wird deutlich, «. . .dass für die meisten
Arbeiter bei Löhnen, welche knapp um das Existenzmi-
nimum pendelten, der Beitritt zu einer Krankenkasse
auch bei tiefen Beitragssätzen ein grosses finanzielles
Opfer bedeutete, und ausgerechnet die Ärmsten von den
Kassen fernhielt.»264 Hier blieb der einzige Schutz vor der
Verelendung nach wie vor die Hilfe durch das soziale
Netz der Familie. Zusammenhängend mit der späten
Entwicklung der Hilfsvereine blieb die Quote der Versi-
cherten auch hinter jener der Schweiz zurück, wo bereits
um 1880 rund 1085 Hilfskassen für die Arbeiterschaft
bestanden und jeder 14. Einwohner in einem derartigen
Verein versichert war.265 Für Jürg Sommer stellen die
Betriebskassen mit der Selbstverwaltung durch die
Arbeiterschaft die entscheidende Schwelle von der
Fremd- zur Selbsthilfe dar.266
Dieser Übergang ist zumindest aufgrund einer Ein-
schränkung für Liechtenstein wohl eher auf die Hilfskas-
sen zu legen, denn in der Verwaltung der Fabrikkassen
wurden die Arbeiter erst zu einer Zeit beteiligt, als der
Kranken-Unterstützungs-Verein und die beiden Män-
ner-Krankenkassen in Triesen und Vaduz sich bereits
zu konstituieren begannen. Da es aber für Liechtenstein
keine gesetzliche Verpflichtung zur Mitverwaltung der
Fabrikkassen durch die Arbeiterschaft gab, waren man-
gelnde Transparenz in der Kassenverwaltung und unzu-
reichendes Mitspracherecht auch weiterhin regelmässig
auftauchende Kritikpunkte in den Berichten der Gewer-
beinspektoren. Neben den Kranken-Unterstützungs-
Vereinen konnte sich in Liechtenstein noch eine Reihe
weiterer Hilfsvereine etablieren. Die Form der gegensei-
tigen Hilfe auf Vereinsbasis genoss ein hohes Ansehen,
was wiederum auch als Hintergrund dafür gesehen wer-
den kann, dass die Regierung 1896 der Gründung des
Männerkrankenvereins der Weberei Triesen zustimmte,
obwohl das Unterfangen sowohl von der Betriebsleitung
als auch vom Gewerbeinspektor als unnötig und nicht
zukunftsfähig bezeichnet wurde. Das Hilfsvereinswesen
hatte aber bereits eine gefestigte Rolle in Liechtenstein
erreicht und so konnte die Regierung auch im Hin-
259 Die späte Parteigründung wurde durchaus als positiv betrachtet,
vgl. Vogt 1987, S. 120.
260 Obwohl die Gründung eines katholischen Arbeiterverbandes
scheiterte, kam es auch nicht zur befürchteten politischen Radi-
kalisierung des Liechtensteinischen Arbeiterverbandes. Vgl. Qua-
derer 1995, S. 8 ff.
261 Vgl. Seger 1984, S. 26, der ebenfalls die wichtige Rolle schweize-
rischer Experten in der staatlichen Reorganisation Liechtensteins
in den 1920er Jahren betont.
262 Siehe Sommer 1978, S. 59.
263 Vgl. Hofmeister 1981, S. 504. Allerdings ist dabei einschränkend
zu vermerken, dass die undeutliche Formulierung des Gesetzes
nur bedingt eine Versicherungspflicht ableiten lässt. Eine ein-
deutige Pflicht zur Versicherung der Arbeitnehmer wurde erst
mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1888 eingeführt, dass
eine obligatorische Krankenversicherung bei Betrieben mit min-
destens 100 Beschäftigten vorsah.
264 Sommer 1978, S. 82 f.
265 Vgl. Maurer 1981, S. 763.
266 Siehe Sommer 1978, S. 59.
267 Vgl. Maurer 1981, S. 791.
268 Vgl. Merki 2007, S. 72.
269 Hoch 1991, S: 43 ff.
blick auf bereits erfolgreiche Hilfsvereine die Gründung
gutheissen.
In den 1920er Jahren, nach der erfolgreichen aussen-
und innenpolitischen Reorganisation Liechtensteins,
kam es zu einer ganzen Reihe von Vorstössen in der So-
zialgesetzgebung. Allerdings war die Zwischenkriegszeit
mit einer Vielzahl wirtschaftlicher und verschiedener
politischer Krisen in Liechtenstein denkbar ungünstig
für weitere Sozialversicherungsmassnahmen. Ähnliches
stellt Alfred Maurer auch für die Schweiz fest.267 Erst in
der Kriegskonjunktur des Zweiten Weltkriegs konnte
die Industrie in Liechtenstein wieder so viele Arbeit-
nehmer beschäftigen wie die Textilindustrie noch vor
dem Ersten Weltkrieg.268 Der Aufschwung der privaten
Versicherungen unter Einbezug schweizerischer Versi-
cherungen war auch eine Chance für Liechtenstein. Wo
von staatlicher Seite kaum eine Ausweitung der Kran-
kenversicherung möglich war, konnten die privaten
Versicherungen im neu entbrannten Konkurrenzkampf
eine Vielzahl neuer Mitglieder gewinnen. Dies und
weitere legislative Massnahmen in den 1930er Jahren269
sorgten trotz der Krise für eine Verbesserung des Versi-
cherungsschutzes und auch für eine Ausweitung, wenn-
gleich weite Teile der Bevölkerung auch nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs noch nicht krankenversichert
waren. Trotz vieler Gemeinsamkeiten mit der Entwick-
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42 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Statutenänderung für die Krankenkasse der
Rosenthal’schen Fabrik in Vaduz, 1870
«Unterstützungs-Cassa für erkrankte od. verunglückte Arbeiter
der Mechanischen Weberei Vaduz.
§ 1
Alle in der Weberei angestellten oder angestellt werdenden
Arbeiter u. Aufseher haben ohne Ausnahme dieser Unterstüt-
zungskassa beizutreten.
§ 2
Jedes Mitglied hat aus seinem 4 wöchentlichen Verdienst von
jedem Gulden ein Kreuzer in die Kassa zu vergüten, welches
Betreffnis ihm an jedem Zahltage in Abzug gebracht wird.
§ 3
Um ausserordentlichen Erfordernissen zu begegnen schiesst
die Webereidirektion die Summe von fl 200 in die Unterstüt-
zungskassa ein.
§ 4
Auf Unterstützung aus der Kassa hat nur derjenige Person
Anspruch, welche bei der Aufnahme vollkommen gesund
u. mindestens schon 24 Tage in der Weberei gearbeitet hat.
Erkrankt ein Arbeiter, so soll ihm, nachdem sich seine Krank-
heit durch glaubwürdiges ärztliches Zeugnis erwiesen, vom
Tage der Anzeige an eine Unterstützung von der Hälfte des
täglichen Dienstlohnes zugetheilt werden, u. übernimmt die
Fabrik ausserdem die ärztliche Verpflegung des Erkrankten.
Dauert die Krankheit weniger als sechs Tage, so werden die
zwei ersten Tage nicht vergütet. (Der Rücklohn wird nach dem
Durchschnitt des letzten Vierteljahres berechnet.)
§ 5
Durch Unsittlichkeit, Raufhändel und Trunksucht zugezogene
zeitweilige Arbeitsunfähigkeit wird nicht unterstützt; hingegen
haben Arbeiter welche in der Weberei verunglücken sollten,
auf die Hälfte des täglichen Verdienstes, wie oben in § 4 An-
spruch.
§ 6
Die Unterstützung eines erkrankten od. verunglückten Arbei-
ters soll bis 3 Monate [= durchgestrichen] 6 Wochen, wenn der
Krankheitsumstand von Zeit zu Zeit erhoben vorliegt, stattfin-
den. Eine fernere Unterstützung ist dem Ermessen der Webe-
reidirektion anheim gestellt.
§ 7
Wer des Missbrauches in Bezug auf Unterstützung überwiesen
wird, soll zur Rückerstattung des erhaltenen Betrags verfallen
sein u. darf bei späterer wirklicher Erkrankung 3 Monate lang,
vom Wiedereintritt keinerlei Hülfe aus der Kasse beanspru-
chen.
lung der Krankenversicherung in der Schweiz greift die
Feststellung zu kurz, die liechtensteinische Sozialversi-
cherungsgesetzgebung hätte sich weitgehend parallel
zu jener der Schweiz entwickelt.270 Wie das Beispiel der
Krankenversicherung aufzeigt, übersieht diese Betrach-
tungsweise einerseits die unterschiedlichen bestehenden
Grundlagen in der Krankenversicherung, andererseits
auch weiterhin abweichende Entwicklungen, wie das
bereits 1971 in Liechtenstein erfolgreich durchgeführte
Versicherungsobligatorium für die gesamte Wohnbevöl-
kerung. Mit dem erfolgreichen Wechsel an die Seite der
Schweiz bedurfte es noch einer längeren Zeitdauer und
viel Aufwand, um vom geltenden Versicherungsobliga-
torium für wenige Fabrikarbeiter bis zu einem Obliga-
torium für die gesamte Wohnbevölkerung zu gelangen.
Eine Beschleunigung der Entwicklung fand erst mit dem
wirtschaftlichen Aufschwung des Landes nach Ende des
Zweiten Weltkriegs statt. Und so sollte sich in Bezug auf
die Krankenversicherung in Liechtenstein eine Bemer-
kung bewahrheiten, die Hermann Renfer bereits 1922
in seinem Begleitschreiben an die Regierung angebracht
hatte, auch wenn sie vom Schreiber wohl kaum in einem
derart grossen zeitlichen Rahmen angedacht war:
«Gut Ding will Weile haben und die Durchführung der
Sozialversicherung kostet Geld, viel Geld, das sind die beiden
Hauptgesichtspunkte.»271
Anhang
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43Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
§ 8
Bei eingetretenem Sterbefall eines Mitgliedes wird die Unter-
stützungs-Cassa die gesetzlich mindesten Begräbniskosten tra-
gen. [Dieser Paragraph ist durchgestrichen.]
§ 9/8
Insofern der Kassabestand durch aussergewöhnlich vorkom-
mende Krankheits- und Unglücksfälle bis auf den Betrag von
fl 150 erschöpft werden sollte, so behält sich die Webereidirek-
tion das Recht vor, die vierwochige Auflage auf unbestimmte
Zeit zu erhöhen oder (auch die Auflage des halben Taglohns so
lange zu sistieren, bis der Kassabestand wieder auf 300 Gulden
angewachsen ist, so dass während dieser Zeit nur die ärztliche
Verpflegung von der Krankenkassa zu tragen sein wird.
§ 10/9
Die Rechnungsführung und Verwaltung der Unterstützungs-
kasse besorgt die Weberei-Direktion u. verpflichtet sich über-
dies, jeden zweiten Zahltag über die Einnahmen u. Ausgaben
u. über den Kassabestand einen Ausweis zu verfassen, u. im
Stiegenhaus mittels Anschlag zu veröffentlichen.
§ 11/10
Die Direktion geht ferner die Verpflichtung ein, alle diejenigen
Bussen od. Strafgelder, welche nicht Folgen einer wirklichen
Schädigung des Geschäftes, sondern nur durch Übertretung
u. Missachtung der nothwendigen unerlässlichen allgemeinen
Ordnung herbei geführt sind, zum Besten der Unterstützungs-
kasse abzutreten.
§ 12
Solange die Weberei Arbeiter beschäftigt, soll keine Theilung
der durch dieselben geflossenen oder eine Zurücknahme der
durch die Direktion eingeschossenen Gelder od. eine Auf-
hebung der Unterstützungskasse stattfinden, wohl aber soll,
wenn der Kassabestand die Höhe von fl 600 in Folge günstiger
Gesundheits-Umstände erreichen sollte od. die vierwöchent-
liche Auflage so lange unterbleiben, bis der Fonds wieder auf
den Betrag von fl 500 herabgemindert sein wird.
Sollte die gegenwärtige Firma aufhören zu bestehen oder
Arbeiter zu beschäftigen, würde der von ihr gestiftete Fond
von fl 200 zurückgezogen u. die von den Arbeitern erhobenen
Beträge unter dieselben vertheilt werden.
Vaduz, am 31. Mai 1870
Vorstehende Statuten geprüft u. genehmigt.
Fürstl. L. Regierung
Vaduz den 9. Juli 1870.
Vorstehende Korrekturen in § 6 u. die Streichung des § 8
wurden endlich vorgenommen
F. L. Regierung
Vaduz den 20. Dezemb 1870.»272
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen im Liechtensteinischen Landesarchiv (LILA)
DS 49A: Jahresabschlüsse der Kranken-Unterstützungs-Kasse.
LTA 1904/L1: Tagesordnung für die Landtagssitzung vom
5. Dezember 1904.
LTA 1905/L6: Kabinettsrat In der Maur an den Landtag,
8. Dezember 1905.
LTA 1907/L1: Kommissionsberichte, Tagesordnung für die
Landtagssitzung vom 14. Dezember 1907.
LTA 1907/L6: Petition des Gewerbevereins um Erlass einer
neuen Gewerbeordnung.
LTA 1909/L2: Änderung der Gewerbeordnung.
LTA 1912/SO4/2: Landtagsprotokolle 1912, Sitzung vom
14. Dezember 1912.
LTA 1914/L12: Motion bezüglich einer teilweisen
Abänderung der Gewerbeordnung von 1910.
LTA 1915/L1: Kommissionsberichte und Tagesordnungen für
die Landtagssession 1915.
LTA 1915/L1: Kommissionsbericht zur Abänderung der
Gewerbeordnung von 1910.
LTP 1874: Landtagsprotokolle 1874.
LTP 1904/64: Annahme des Kommissionsantrags bezüglich
Abänderung der Gewerbeordnung.
LTP 1909: Landtagsprotokolle 1909.
LTP 1915: Landtagsprotokolle 1915.
PA 100/24/1–2: Statuten des Vereins für Kranken- und
Wöchnerinnenpflege im Fürstentum Liechtenstein 1913.
PA 100/24/2: Erster Jahresbericht des Vereins für Kranken-
und Wöchnerinnenpflege im Fürstentum Liechtenstein
für das Jahr 1913.
PA 103/34: Krankenversicherung Statuten der verschiedenen
Krankenkassen 1871–1972.
PA Hs 1/216: Protokolle der Männer- Krankenkasse der
Weberei Triesen.
RE 1870/515: Rosenthal, mechanische Weberei –
Genehmigung der Statuten der Unterstützungskasse.
RE 1871/108: Rosenthal’sche Fabrik Statutenänderung.
RE 1887/63: Rosenthal’sche Fabrik Unfallversicherung.
RE 1889/1852: Krankenkassen Errichtung.
270 Vgl. Merki 2007, S. 204 f. Eine stärkere Übereinstimmung ergibt
sich für die Gesetzgebung zur Sozialversicherung nach Ende des
zweiten Weltkriegs; siehe dazu: Hoch 1991, S. 249 f., für einen
kurzen Abriss auch den Artikel «Sozialversicherung» im HLFL.
271 LILA RE 1922/158 Begleitschreiben Dr. Renfers zum Gutachten
an die Regierung, 15. April 1922.
272 LILA RE 1871/108: Statuten der Unterstützungs-Cassa für
erkrankte od. verunglückte Arbeiter der mechanischen Weberei
Vaduz von 1870.
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44 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
SgRV 1885/7: Zuschrift Nr. 40 betreffend Gewerbeinspektion.
SgRV 1887/2: Kundmachung Nr. 159 betreffend
Gewerbeinspektion.
SgRV 1892/1: Kundmachung Nr. 639 betreffend die
Fabrikkrankenkassen.
SF 5 Rosenthal 1911/2722: Rosenthal, neue Satzungen der
Betriebskrankenkasse.
SF 5 Rosenthal 1912/1330: Statuten der Betriebskrankenkasse
für die mech. Weberei in Mühleholz der Firma Gebrüder
Rosenthal Aktien-Gesellschaft für Textil-Industrie mit dem
Sitze in Wien.
SF 5 Spoerry 1889/101: Gewerbeinspektionsberichte 1889,
Schreiben von Inspektor Ernst Rziha an die Regierung.
SF 5 Spoerry 1891/1208: Statuten und Genehmigung der
Krankenkassa der Spinnerei Spoerry Vaduz.
SF 5 Spoerry 1893/42: Statuten der Kranken-Cassa der
Weberei Triesen von Caspar Jenny in Triesen.
SF 5 Spoerry 1894/792: Statutenänderung der Kranken-Cassa
der Weberei Triesen.
SF 5 Spoerry 1896/1359: Statuten des Männerkrankenvereins
der Weberei Triesen.
SF 5 Spoerry 1898/462: Statutenänderung des
Männerkrankenvereins der Weberei Triesen.
SF 5 Spoerry 1901/191: Statuten der Krankenkassa der
Weberei Triesen.
SF 5 Spoerry 1913/2930: Statuten des Männer-Krankenvereins
der Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz, genehmigt
am 6. Oktober 1913.
Zeitungen
«Oberrheinische Nachrichten» (ON), 4. Dezember 1915,
Beilage: Bericht über die Landtagssitzung vom 25. Novem-
ber 1915.
ON, 11. Dezember 1915, Beilage: Bericht über die
Landtagssitzungen vom 25. und 27. November 1915.
«Liechtensteiner Volksblatt» (LVolksblatt), 30. Dezember 1904,
Beilage.
LVolksblatt, 24. Dezember 1909, Beilage.
LVolksblatt, 1. November 1912, Übersicht über die
Fabrikkrankenkassen.
LVolksblatt, 19. Dezember 1914, Beilage zu Nr. 51
des Liechtensteiner Volksblatts.
LVolksblatt, 26. Dezember 1914, Beilage zu Nr. 52
des Liechtensteiner Volksblatts.
LVolksblatt, 17. Dezember 1915, Beilage zu Nr. 51
des Liechtensteiner Volksblatts.
RE 1894/38: Krankenkassenverein Konstituierung.
RE 1894/324: Schaan Krankenverein Statuten.
RE 1896/377: Kranken-Unterstützungs-Verein
Statutenrevision.
RE 1896/593: Rechnungs-Bericht des allgemeinen Kranken
Unterstützungs-Vereins für das Fürstentum Liechtenstein.
RE 1896/742: Kranken-Unterstützungs-Verein
Statutenrevision.
RE 1897/278: Gesuch um Landessubvention des
Krankenunterstützungsvereins.
RE 1899/440: Kranken-Unterstützungs-Verein
Statutenänderung.
RE 1899/1587: Kranken-Unterstützungs-Verein
Statutenrevision.
RE 1904/2612: Gewerbeordnung vom Jahre 1965,
Änderung bzw. Ergänzung.
RE 1905/2192: Landtag Zustimmung zur Gewerbeordnung-
reform, Tagesordnung für die Landtagssitzung am 28. und
30. Dezember 1905.
RE 1906/2352: Antrag um Bewilligung der Gründungsver-
sammlung des Gewerbevereins und Genehmigung.
RE 1907/764: Statuten des Gewerbevereins und
Genehmigung.
RE 1908/598: Gewerbeordnung Änderung.
RE 1910/1769: Basel, internationales Arbeitsamt, Gesuch um
Gewerbeordnung und Austausch bezüglich des Arbeiter-
schutzes.
RE 1911/385: Originalentwurf von H. Stipperger für die neue
Gewerbeordnung, inkl. Honorarnote.
RE 1912/428: Krankenkasse allgemeine Liechtensteinische
Änderung der Statuten.
RE 1912/1195: Rechnungen der Fabrikkassen & Tuberkulose.
RE 1912/1295: Hauskrankenpflegeverein, Gründung.
RE 1912/2724: Krankenkasse der Gewerbegenossenschaft
Gründung.
RE 1913/353: Krankenkasse der Gewerbegenossenschaft
Gründung.
RE 1915/1497: Aufnahme der Krankenkasse der
Gewerbegenossenschaft zum allgemeinen Krankenunter-
stützungsverein.
RE 1922/158: Gutachten Dr. Renfer.
RE 1923/1071: Sozialversicherung Gutachten Dr. Renfer.
RE 1925/2715: Statuten der Liechtensteinischen Krankenkasse.
RE 1925/3115: Statuten der Freiwilligen Krankenkasse,
inklusive Genehmigung.
RE 1925/3115: Statuten des Allgemeinen Kranken-Unter-
stützungs-Vereines für das Fürstentum Liechtenstein 1894.
RE 1925/3115: Statuten der Krankenkassa für die Baumwoll-
Spinnerei von Jenny Spoerry & Cie. in Vaduz, 1910.
RE 1926/4899: Christlich-soziale Krankenkasse,
Geschäftsausdehnung auf Liechtenstein.
Kapitel_1_Vogt.indd 44 26.07.11 13:44
45Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Degen, Bernard: Soziale Sicherheit für Arbeiterschaft oder Ge-
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LR 930.1.
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20. Oktober 1865, LR 640.0.
LGBl. 1869, Nr. 10: Armengesetz vom 20. Oktober 1869,
LR 851.
LGBl. 1874, Nr. 3: Sanitätsgesetz vom 8. Oktober 1874,
LR 811.01.
LGBl. 1910, Nr. 3: Gesetz vom 30. April 1910 betreffend
Erlassung einer neuen Gewerbeordnung, LR 930.1.
LGBl. 1915, Nr. 14: Gesetz vom 13. Dezember 1915 betreffend
die teilweise Abänderung der Gewerbeordnung, LR 930.1.
LGBl. 1923, Nr. 2: Steuergesetz vom 11. Januar 1923, LR 640.0.
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Krankenversicherung, LR 832.10.
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vom 5. Oktober 1921, LR 101.
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die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung.
RGBl. 1883, Nr. 117: Gesetz vom 17. Juni 1883, betreffend
die Bestellung von Gewerbeinspectoren.
RGBl. 1885, Nr. 22: Gesetz vom 8. März 1885 betreffend
die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung.
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Brunhart, Arthur: Die Freiwillige Krankenkasse Balzers
1925–2000. Eine Erfolgsgeschichte (Jubiläumsschrift).
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Degen, Bernard: Von der privaten zur staatlich geregelten
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46 Vogt Wolfgang: Der Aufbau der Krankenversicherung in Liechtenstein
Wille, Herbert: «Rechtspolitischer Hintergrund der vertrag-
lichen Beziehungen Liechtensteins zur Schweiz in den Jahren
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Bildnachweis
Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz
Anschrift des Autors
lic. phil. Wolfgang Vogt, Gartenstrasse 112, CH–4052 Basel
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zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In: JBL Band 72. Vaduz,
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Quaderer, Rupert: «Die soziale Frage ist nicht eine blosse
Magenfrage . . . ». Die Arbeiterbewegung in Liechtenstein
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Quaderer, Rupert: «Der historische Hintergrund der Ver-
fassungsdiskussion von 1921». In: Batliner, Gerard (Hrsg.):
Die Liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staatli-
chen Organisation. Liechtenstein Politische Schriften Band 21.
Vaduz, 1994. (Zitiert als: Quaderer 19942.)
Quaderer, Rupert: Die Gründung des Liechtensteinischen
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Rheinberger, Rudolf: «. . . den ärztlichen Beistand unentgeltlich
zu leisten». Liechtensteiner Ärzte und einige Aspekte der sozia-
len Medizin im 19. Jahrhundert. In: Frommelt, Hansjörg (Hrsg.):
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Schädler, Albert: Die geschichtliche Entwicklung Liechten-
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Seger, Otto: Überblick über die liechtensteinische Geschichte.
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Zeichen seiner Souveränität. Vaduz, 1956, S. 101–112.
Vogt, Paul: 125 Jahre Landtag. Vaduz, 1987.
Vogt, Paul: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeits-
buch zur liechtensteinischen Geschichte. 17.–19. Jahrhundert.
Vaduz, 1990.
Kapitel_1_Vogt.indd 46 26.07.11 13:44
47
Inhalt
48 Liechtensteinische Nobilitierungen
49 Eheallianzen des neuen Adels
51 Familie von Hirsch auf Gereuth
53 Wahlkind der Baronin von Hirsch
57 Jugendzeit des Grafen von Bendern
58 Baron De Forest und die tschechoslowakische
Bodenreform
Der Erbe des Barons von Hirsch:
Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
Das vergessene Schicksal des Grafen von Bendern
Jan Županiã
Der Graf von Bendern blieb als Wohltäter und Kunstmäzen in
Erinnerung. Anlässlich der Feiern zur 150-jährigen Souveränität
im Jahr 1956 machte er eine Spende von 10 000 Franken, welche
die Regierung an bedürftige Menschen verteilte.
Kapitel_2_Zupanic.indd 47 26.07.11 13:45
48 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
Familien und ihrer Verwandtschaft nicht so fest waren,
wie im Falle des alten Adels. In diesem Fall handelt es
sich jedoch um die Anwendung der heutigen Normen
auf die Gesellschaft, die trotz aller verwandten Züge ab-
weichend aussah.
Liechtensteinische Nobilitierungen
Es ist ohne Zweifel, dass die Familie Liechtenstein seit
dem Mittelalter zu den wichtigsten aristokratischen
Dynastien in Europa zählte. Seit dem Ende des 16. Jahr-
hunderts spielte die Familie dank Karl von Liechtenstein
(1569–1627) und seinen Geschwistern eine höchst wich-
tige Rolle im politischen Spektrum der Habsburgischen
Monarchie. Seit 17. Jahrhundert hatte die Familie Liech-
tenstein auch das Vorrecht, die Wappen und Adelstitel zu
erteilen.2 Der Karlslinie wurde dieses Recht mit Urkunde
des Kaisers Rudolf II. vom 30. März 1607 verliehen. Das
Oberhaupt dieser Linie war in der Folge berechtigt, öf-
fentliche Notare zu ernennen, uneheliche Kinder der Un-
adeligen und Adeligen (mit Ausnahme der Fürsten-, Gra-
fen- und Freiherrenbastarde) zu legitimieren, gewählte
Personen aus der Erbuntertänigkeit und Vatersmacht zu
lösen (mündig zu machen), verurteilte Personen zu be-
gnadigen, Urkunden anzufertigen und zu beglaubigen
und Adelsstand, Wappen und Prädikate zu erteilen. Der
bis heute lebenden Linie Gundakars wurden dieselben
Vorrechte durch die Urkunde des Kaisers Ferdinand
II. vom 14. November 1633 verliehen, jedoch ohne das
Recht, Wappen und den Adelsstand zu erteilen. Diese
Vorrechte wurden Gundakar und seinen Nachkommen
erst von Ferdinand III. am 23. Oktober 1654 verliehen.3
Die Familie Liechtenstein nutzte das Recht, das Wap-
pen und den Adelsstand zu erteilen, nicht besonders oft.
Im Falle der älteren Linie Karls sind fünf gesicherte Fälle
bekannt, weitere zwei Nobilitierungen sind wahrschein-
lich, bei der jüngeren Linie Gundakars gab es zehn No-
bilitierungen und zwei Verleihungen eines Wappens.4
Genauso wie im Fall der meisten Adelstitelverleihungen
– das Recht dazu wurde auch Palatinat genannt – be-
schränkten sich die Rechte der Familie Liechtenstein auf
die Verleihung der niedrigsten Adelsstufe.
Der Untergang des Heiligen Römischen Reichs be-
deutet indes das Ende aller solcher Beschränkungen. Die
Liechtensteiner konnten nun ihr Nobilitierungsrecht im
Die Geschichte des sogenannten neuen Adels, der Fami-
lien, die ihre Titel im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts
erwarben, steht in letzter Zeit in der Gunst einer ganzen
Reihe von Historikern. Es handelt sich dabei jedoch um
ein sehr breites Thema, und auch die Menge an Archiv-
material ist im Vergleich mit der älteren Zeit wesentlich
umfangreicher. Im Falle von Österreich und Österreich-
Ungarn wird die ganze Sache noch durch den territo-
rialen Faktor kompliziert. Die nobilitierten Personen
stammten aus verschiedenen Ecken der Monarchie, sie
sprachen verschiedene Sprachen, gehörten zu unter-
schiedlichen Kulturkreisen und oft waren sie auch kon-
fessionsverschieden. Selbst die Suche nach den Grundin-
formationen über die einzelnen Adeligen ist oft höchst
kompliziert, umso mehr die Suche nach ausführlicheren
Berichten über ihr Leben. Und dies gilt auch für Fälle, bei
denen es sich um höchst bedeutende Personen handelte.
Zu ihnen zählt ohne Zweifel auch der Adoptivsohn der
Baronin Clara von Hirsch, Maurice Arnold Freiherr von
Deforest-Bischoffsheim, seit 1932 Bürger des Fürsten-
tums Liechtenstein, der im Jahr 1936 vom Fürsten Franz
I. für seine ausserordentlichen Verdienste um das Land
zum Grafen von Bendern erhoben wurde. Das Ziel der
folgenden Studie ist, die bis jetzt wenig bekannten Mo-
mente seines Lebens aufzudecken und damit zur bes-
seren Kenntnis der Persönlichkeit beizutragen, die be-
deutend in den Gang der europäischen Geschichte der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingriff.1
Obwohl die Erforschung der adeligen und aristokra-
tischen Familien momentan in raschen Schritten voran-
geht, bleibt vieles noch verborgen. Dies wird einerseits
durch den beträchtlichen Umfang von Unterlagen ver-
ursacht, die insbesondere im Falle der Geschichte des
19. und 20. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, ande-
rerseits durch die teilweise Ausserachtlassung einiger
historischer hilfswissenschaftlicher Disziplinen, deren
Anwendung manchen Wissenschaftlern offensichtlich
als überflüssig erscheint. Erstrangig geht es um die Ge-
nealogie. Während man im Falle der aristokratischen und
der alten Adelsfamilien über die Verwandtschaftsverbin-
dungen und die gegenseitigen Verflechtungen sehr gut
informiert ist, mangelt es bis jetzt im Falle des neuen
Adels (und besonders des jüdischen Adels) an solchen
Informationen. Die Frage ist, was die Gründe für diesen
Mangel an Informationen sind. Dies liegt wohl zum Teil
daran, dass die Beziehungen unter den neu geadelten
Kapitel_2_Zupanic.indd 48 26.07.11 13:45
49Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
1 Diese Studie entstand im Rahmen der Unterstützung der Studien-
beihilfebehörde der Tschechischen Republik Nr. 404/08/0259.
2 Fröhlichsthal, Georg Freiherr von: Nobilitierungen im Heili-
gen Römischen Reich. In: Sigismund Freiherr von Elverfeldt-
Ulm (Hrsg.): Adelsrecht. Entstehung – Struktur – Bedeutung in
der Moderne des historischen Adels und seiner Nachkommen.
Limburg an der Lahn, 2001, S. 67–119.
3 Gritzner, Maximilian: Standeserhebungen und Gnaden-Acte
Deutscher Landesfürsten während der letzten drei Jahrhunderte.
Band 2. Görlitz, 1881, S. 563.
4 Mrvik, Vladimír J.: Lichtenštejnské palatináty a erbovní listiny
(Liechtensteiner Palatinate und Wappenurkunden). In: Heraldika
a genealogie, Vol. 40, 1–2/2007, S. 5–30.
5 Vgl. Andrian-Werburg, Klaus Freiherr von: Die Nobilitierung
preussischer Untertanen in Sachsen-Coburg und Gotha. In: Ar-
chivalische Zeitschrift, 75. Band (Heinz Lieberich zum 29. Januar
1980), 1979, S. 1–15.
6 Fürst Johann II. erhob beispielsweise mit dem in Bonn erstatteten
allerhöchten Entschliessung vom 10. Mai 1859 seinen wirklichen
geheimen Rat, Gesandten und bevollmächtigten Minister in der
Deutschen Bundesversammlung Dr. Justin Timotheus Balthasar
von Linde (1797–1870) in den Freiherrenstand. Mit dem aller-
höchten Handschreiben vom 4. September 1866 und der Ur-
kunde vom 23. Mai 1870 – nachstehend nur 4. September 1866
(23. Mai 1870) wurde der Titel vom österreichischen Kaiser Franz
Joseph I. bestätigt. Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemei-
nes Verwaltungsarchiv, Adelsarchiv (nachstehend nur AVA, AA),
Justin Linde, Freiherrenstand 1866–1870. Aus der späteren Zeit
ist die Erteilung des Grafenstands mit Prädikat «von Bendern» an
Moritz (Maurice) Arnold Freiherrn De Forest (1879–1968) durch
den Fürsten Franz I. im Jahr 1936 oder des Erbstands der Frei-
herrn und des Grafenstands ad personam mit dem Prädikat «von
Silum» an Heinrich Georg Stahmer (1892–1978), dem deutschen
Diplomaten und Wirtschaftler bekannt. Geiger, Peter: Krisenzeit.
Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1938, Band 2. Vaduz,
Zürich, 20002, S. 401 und 497.
7 Da die Mischehen im Kaisertum Österreich nicht gestattet waren,
musste ein Partner zum Glauben des anderen Partners übertreten
oder sich zur konfessionslosen Person erklären. Meistens tat dies
der jüdische Partner. In den Jahren 1911 bis 1914 waren die Ehen
zwischen Katholiken und Juden fast zehnmal häufiger als die
Ehen zwischen Katholiken und Protestanten. Goldhammer, Leo:
Die Juden Wiens. Eine statistische Studie. Wien, 1927, S. 17 ff. Vgl.
auch Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser
Franz Josephs. Wien, Köln, Weimar, 1999, S. 111–137.
Bevölkerung mit der Zeit noch zu. Darüber gab es
mehrere Gründe. Einen Grund bildeten zweifellos die
immer häufiger auftretenden Konvertierungen, bei de-
nen Juden zum Christentum übertraten. Diese Konver-
tierungen geschahen infolge des Drangs nach Anpassung
an die Mehrheitsgesellschaft, aber auch infolge einer Ehe-
schliessung mit dem Partner einer anderen Konfession.7
Vor allem in den Reihen der jüdischen Elite verursachten
die Konvertierungen schwere Verluste, und man muss
vermutlich auch einige diskriminierende Anordnungen
vollen Umfang nutzen und auch höhere Titel verleihen.
Zu ihrer Ehre dient, dass sie sich im Unterschied zu etli-
chen anderen deutschen Fürsten nie dazu erniedrigten,
Handel mit den Nobilitierungen zu treiben. Dieser Han-
del brachte einer Reihe von kleineren Herrschern nicht
unbedeutende Einkommen.5 Eine Auflistung aller Liech-
tensteiner Nobilitierungen im 19. und 20. Jahrhundert
steht leider nicht zur Verfügung, und so sind nur ein
paar wenige Fälle bekannt.6 Die bekannteste Einzelper-
sönlichkeit, die vom Herrscher der Familie Liechtenstein
je in den Adelsstand erhoben wurde, ist ohne Zweifel
Maurice Arnold Deforest-Bischoffsheim. Gleichzeitig ist
jedoch beachtenswert, dass man von der Vergangenheit
und Abstammung dieses Mannes bis heute nur ganz
wenig weiss.
Eheallianzen des neuen Adels
Es ist allgemein bekannt, dass Verwandtschaftsbezie-
hungen im Falle des alten Adels auch im 20. Jahrhun-
dert noch eine höchst wichtige Rolle spielten. Solche
Verwandtschaftsbeziehungen ermöglichten manche
Karrieren. Zudem verdeutlichen sie vielfach Hand-
lungen und Zusammenhänge, die sonst nur schwer
verstehbar wären. Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass eine ähnliche Situation auch in der sogenannten
zweiten Gesellschaft herrschte: Bekannt ist zum Beispiel,
dass manche Industrie- und Bankierdynastien Ehe-
bündnisse schlossen, die wirtschaftliche und gesellschaft-
liche Konsequenzen hatten, und dass ähnliche Situationen
in der Bürokratie und Armee herrschten. Familien-
bündnisse sind auch quer durch die einzelnen Gruppen
entstanden, da das verwertbare Kapital nicht nur das
Vermögen, sondern auch die gesellschaftliche Position
repräsentierte.
Solche Bündnisse hatten wahrscheinlich eine noch
stärkere Form bei der jüdischen Elite. Diese Gruppe
war nämlich relativ kompakt und blieb sowohl für die
Personen anderer Konfessionen, aber auch für die
weniger wohlhabenden und weniger angesehenen Israe-
liten verschlossen. Die jüdische Elite wurde auch geprägt
durch das bestimmte Gefühl der Ausschliesslichkeit,
in Verbindung mit der Überzeugung von der Ange-
hörigkeit zum sogenannten auserwählten Volk. Diese
Überzeugung nahm indes bei einem Teil der jüdischen
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50 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
bedeutender Israeliten unter diesem Gesichtspunkt be-
trachten, die solche Schritte verhindern sollten.8
Ein nicht weniger wichtiger Grund war auch der
stärker werdende Antisemitismus, dem der Krach der
Wiener Börse im Jahr 1873 erneuten Auftrieb gab. Als
Folge davon entwickelte sich ein rassistisch begründeter
Antisemitismus, vor dem auch die Konvertierten nicht
sicher waren.9 Humanitäre Engagements von jüdischen
Grossunternehmern gewannen eine politische Bedeu-
tung. Diese Bedeutung wuchs, als viele Juden begannen,
die neu entstehende zionistische Bewegung offen zu un-
terstützen. Diese Unterstützung war auch eine Reaktion
auf den steigenden Antisemitismus.
In dieser Atmosphäre des Misstrauens und des Ras-
senhasses waren innerhalb der jüdischen Elite die Fa-
milienbande genauso stark wie im Falle der ersten Ge-
sellschaft. Diese Familienbande wurden auf alle Lebens-
bereiche, einschliesslich wirtschaftlicher Unternehmen,
übertragen. Bereits das sogenannte Tabakkonsortium,
welches das Tabakmonopol in den Ländern der böh-
mischen Krone und in Österreich im Jahr 1765 von Maria
Theresia mietete, setzte sich aus wechselseitig verwand-
ten Einzelpersonen zusammen. Deren Familien spielten
eine wichtige Rolle in der Wirtschaft der Monarchie, aber
auch noch im 20. Jahrhundert.10
Ähnliche Allianzen bildeten sich am Anfang des
19. Jahrhunderts um die bedeutendsten jüdischen Fa-
milien, diesmal jedoch aus dem Bereich der Bankiers.
In erster Reihe handelte es sich um den «Klan» der Fa-
milien Arnstein und Eskeles,11 dessen Bindungen an die
jüdischen Eliten jedoch infolge der Konvertierung beider
Familien zum Katholizismus im Laufe der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts geschwächt wurden.12 In den 1840er
und 1850er Jahren führte dieser vom französischen Fi-
nanzminister Achille Fould (1800–1867), vom Bankhaus
Fould & Oppenheim und später von der Investitions-
bank Crédit Mobilier unterstützte «Verwandtschaftsklan»
einen Handelskrieg mit der Familie Rothschild, der
jedoch Ende der 1850er Jahre mit seiner Niederlage
endete.13
Die zweite, nicht weniger einflussreiche Gruppie-
rung mit umfangreichen Kundenbeziehungen stellte die
Familie Rothschild dar.14 Diese ursprünglich deutsche
Familie war schon vor ihrer Nobilitierung mit etlichen
einflussreichen jüdischen Familien aus dem Reich ver-
wandtschaftlich verbunden. Als ihre Mitglieder ihren
Wirkungskreis auch auf Österreich ausdehnten, haben
sie Allianzen auch mit den hiesigen jüdischen Eliten an-
geknüpft. Die Familie Rothschild war eindeutig die be-
deutendste Familie aus den Reihen des jüdischen Adels,
und zwar nicht nur in Österreich, sondern europaweit.
Deswegen ist die kosmopolitische Zusammensetzung
ihrer Verwandtschaft und Anhänger, deren Umfang an
die Bindungen bedeutender aristokratischer Häuser er-
innert, nicht überraschend. Zu den Angehörigen des
breiteren Rothschild-Klans können die Familie Bischoffs-
heim, Goldtschmidt (später Goldtschmidt-Rothschild),
Goldschmidt von Libanka, Gutmann, Oppenheim, Schey
von Koromla und andere bezeichnet werden.15 Leider
stehen uns nicht genug Informationen über die Intensi-
tät der gegenseitigen Beziehungen zur Verfügung. Doch
wissen wir, dass es eine ziemlich enge Beziehung zwi-
schen dem Haus Rotschild und Moritz Freiherrn von
Hirsch auf Gereuth (1831–1896) gab.
Wappen Freiherr von Hirsch auf Gereut (1869).
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51Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Hirsch heiratete im Jahr 1828 Katharine Wertheimber.
Ihre älteste Tochter Amalia (*1834) heiratete Henri Bam-
berger (1826–1910), einen Financier, der zusammen mit
Familie von Hirsch auf Gereuth
Die Familie Hirsch stammt aus der jüdischen Gemeinde
der Stadt Würzburg. Am Anfang ihres Aufstiegs stand
Moritzens Grossvater Jacob Hirsch (1764–1841), der
in Königshofen bei Würzburg geboren wurde und
ursprünglich Rabbiner werden sollte. Später entschloss
er sich für eine andere Lebensbahn: Er fing an, sich dem
Geschäft zu widmen, und seit dem Beginn der Kriege mit
dem revolutionären Frankreich war er als Militärliefe-
rant unternehmerisch tätig. Im Jahr 1800 gründete er ein
Bankhaus in Ansbach, und sein Vermögen fing schnell
an zu wachsen. Vom Fürsten zu Loewenstein-Wertheim
wurde er zum Hoffaktor, und vom Grossherzog von
Würzburg sogar zum Hofbankier ernannt. Dieser gestat-
tete ihm überdies, die Adelsdomänen zu kaufen. Nach
dem Erwerb der Rittergüter Gereuth, Trunstadt und
Schenkenau wurde so Jacob Hirsch der erste deutsche
Jude, der über Obrigkeitsrechte verfügte. Während des
Befreiungskriegs der Jahre 1813 und 1814 gegen Na-
poleon organisierte Jacob Hirsch ein ganzes Regiment,
das gut ausgerüstet und bezahlt wurde. Auf dem Höhe-
punkt seines gesellschaftlichen Ansehens verlieh ihm
der bayerische König Maximilian I. Joseph am 13. August
1818 den Adelstitel mit dem Prädikat «von Hirsch auf
Gereuth».16 Drei Jahre später wurde Jacob Hirsch Hof-
bankier des bayerischen Königs. Das gewonnene Geld
investierte er wieder in den Kauf von Gütern. So kaufte
er die Domänen Orberzell, Rodelmeyer, Rumling, Iller-
nichen, Füssen und weitere in Bayern.17
Der zweitgeborene Sohn von Jacob Hirsch war Joseph
(1805–1885), der vom väterlichen Besitz unter anderem
das Rittergut Planegg und das ehemalige Kronlehen Har-
laching mit Hellabrunn und Siebenbrunn erbte. Nach
dem Abschluss seines Studiums begann er, in der Fami-
lienbank zu arbeiten, die er nach dem Tod seines Vaters
übernahm. Sehr früh erkannte er die Perspektiven der
Eisenbahn und wurde zum Chefkonstrukteur der baye-
rischen Ostbahn. Daneben befasste er sich auch mit der
Land- und Forstwirtschaft. Als erstes Mitglied der Fami-
lie wurde er als Wohltäter bekannt, der Hinterbliebene
der Cholera-Epidemie von 1854 sowie mehrere Kran-
kenhäuser grosszügig unterstützte. Er war auch Verwal-
ter etlicher karitativer Institutionen. Am 2. August 1868
wurden er und seine Nachkommen vom bayerischen
König Ludwig II. in den Freiherrenstand erhoben. Joseph
8 Der bedeutende Bankier und Grossgrundbesitzer Jonas Königs-
warter (1807–1871), der als Ritter des Ordens der Eisernen Krone
III. Klasse in den Ritterstand im Jahr 1860 und zehn Jahre da-
nach aufgrund des Erwerbs der II. Klasse desselben Ordens in
den Freiherrenstand erhoben wurde, gab grosse Finanzmittel für
humanitäre Zwecke, insbesondere für die Unterstützung seiner
armen Glaubensgenossen aus, und zählte seinerzeit zu den füh-
renden Angehörigen der jüdischen Elite. Kurz vor seinem Tod
erliess er die Verordnung, nach der ein Mitglied seiner Familie,
das vom jüdischen Glauben abfallen würde, eine Strafe in der
Höhe von 1 Million fl. zugunsten der jüdischen wohltätigen Or-
ganisationen bezahlen müsste. Vgl. Jäger-Sunstenau, Hanns: Die
geadelten Judenfamilien im vormärzlichen Wien. Dissertation zur
Erlangung des Doktorgrades an der Philosophischen Fakultät der
Universität Wien. Wien, 1950, S. 142; Županič, Jan: Nová šlechta
Rakouského císařství (Der neue Adel des Kaisertums Österreich).
Praha, 2006, S. 300–301.
9 Hamannová, Brigitte: Hitlerova Vídeň. Diktátorova učednická
léta (Hitlers Wien. Diktators Lehrjahre). Praha, 1999, S. 374–375.
10 Krauss, Samuel: Joachim Edler von Popper. Ein Zeit- und Lebens-
bild aus der Geschichte der Juden in Böhmen mit 12 Abbildun-
gen auf 10 Tafeln. Wien, 1926, S. 31. Die Nachfolger vieler dieser
jüdischen Mieter wurden in der Zeit vom 18. bis ins 20. Jahrhun-
dert geadelt.
11 Vgl. Krejčik, Tomáš: Moravští nobilitovaní židé v 19. století
(Mährische nobilitierte Juden im 19. Jahrhundert). In: XXVI. mi-
kulovské sympozium 2000 – Moravští židé v Rakousko-uherské
monarchii (1780–1918) – Mährische Juden in der Österreichisch-
ungarischen Monarchie (1780–1918). Brno, 2003, S. 164. Mit der
Familie Arnstein (oder besser mit Pereira-Arnstein) war der öster-
reichische Innenminister Karl Giskra (1820–1879) verschwägert,
und zu den weiteren Verwandten zählten die jüdischen (oder
ursprünglich jüdischen) Familien Boschan, Gomperz oder Wert-
heimer. Vgl. Jäger-Sunstenau, Hanns: Die geadelten Judenfamili-
en, S. 106–107.
12 Županič, Jan: Nová šlechta (Der neue Adel), S. 281–283.
13 Wilson, Derek: Rothschildové. Příběh bohatství a moci (Die Roth-
schilds. Eine Geschichte von Ruhm und Macht). Praha, 1993,
S. 154–163.
14 Zur Familie vgl. Wilson, Derek: Rothschildové, zu ihren Nobi-
litierungen siehe Županič, Jan: Nová šlechta (Der neue Adel),
S. 284–287.
15 Jäger-Sunstenau, Hanns: Die geadelten Judenfamilien, S. 166–167.
16 Weimarer historisch-genealogisches Taschenbuch des gesamten
Adels jehuidäischen Ursprungs (nachstehend nur: Semigotha).
Weimar, 1912, S. 146–147. Ebenso Hirsch auf Gereuth, [online].
c 2009, [zit. 2. Februar 2010]. Zum Herunterladen unter: http://
www.novanobilitas.eu/rod/hirsch-auf-gereuth, hier auch das
Wappen.
17 Bosl, Erika: Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahr-
hundert, Bankiers. In: Treml, Manfred; Weigand. Wolf (Hrsg.):
Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. Veröf-
fentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 18. Mün-
chen, 1988, S. 63–70. Auch für folgende.
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52 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
1883) war seit 1862 belgischer Bankier und Senator. Die
Familie ihrer Mutter Henriette Goldschmidt (1812–1892)
hatte Wurzeln in Frankfurt am Main, wo sie ein grosses
Bankhaus besass. Die Familie Goldschmidt wurde auch
Erbin der Frankfurter Linie der Familie Rothschild, und
seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts trugen ihre Mit-
glieder den Namen Goldschmidt-Rothschild.21 Dank
ihrer Eltern erwarb Clara eine sehr liberale und gute Er-
ziehung. Sie kannte sich in der Wirtschaftswissenschaft
gut aus, beherrschte fliessend Französisch, Deutsch,
Englisch und Italienisch. Nach dem Abschluss ihres Stu-
diums arbeitete sie eine kurze Zeit als Assistentin ihres
Vaters. So gewann sie eine gute Übersicht nicht nur über
seine Geschäfte, sondern auch über seine juristischen
und philanthropischen Tätigkeiten.
Aus der Ehe zwischen Moritz von Hirsch und Clara
Bischoffsheim gingen zwei Kinder hervor. Die Tochter
erreichte nicht das Erwachsenenalter, und der Sohn Lu-
cien (1856–1887) starb im Alter von 31 Jahren bei einem
Unfall. Baron von Hirsch selbst starb im Jahr 1896 in der
Nähe der oberungarischen Stadt Neuhäusl/Érsekújvár
(heute: Nové Zámky in der Slowakei). Nach dem Tod
ihres Mannes führte die Witwe Clara die Wohltätig-
keitsaktivitäten fort. Schrittweise verschenkte sie zehn
Millionen US-Dollar zugunsten verschiedenartiger phi-
lanthropischer Stiftungen. Ihre humanitären Vorhaben
koordinierte sie mit weiteren jüdischen Wohltätern, ins-
besondere mit den Mitgliedern der Familie Rothschild.22
Anlässlich des 50. Thronjubiläums von Kaiser Franz
Joseph I. im Jahr 1898 gründete sie die «Kaiser Franz
Joseph I. Regierungs-Jubiläums-Stiftung» und zeich-
nete zu Gunsten dieser Stiftung 400 000 US-Dollar.
Vom Stiftungsertrag wurden arme Kinder unterstützt.
Zum Verwalter der Stiftung wurde Benjamin Gomperz
(1861–1935) ernannt. Gomperz war ein ausgezeichneter
Arzt und Chirurg, Professor an der Wiener Universität.
Er stammte aus einer bedeutenden jüdischen Unter-
nehmerfamilie.23
Interessant ist, dass Moritz von Hirsch einen we-
sentlichen Teil seines Kapitals in Österreich investierte,
wo er Inhaber etlicher Immobilien wurde. Am 23. Sep-
tember 1881 kaufte er die miteinander verbundenen
Herrschaften Rossitz (Rosice) und Eichhorn (Veveří) in
Mähren. Dieser Grundbesitz in Mähren umfasste eine
Gesamtfläche von 12 699 Hektar, von denen mehr als
10 000 Hektar aus Wäldern, Wiesen und Weiden bestan-
den Familien Goldschmidt und Bischoffsheim im Jahr
1872 die Banque de Paris et des Pays Bas gründete.
Das bekannteste Mitglied der ganzen Familie war
ohne Zweifel Josephs jüngerer Sohn Moritz (1831–1896),
ein berühmter Eisenbahnunternehmer und Financier der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Moritz von Hirsch
war zudem einer der grössten Mäzene aller Zeiten. Sein
besonders durch Investitionen in der Türkei gewon-
nenes Vermögen schenkte er zum grossen Teil diversen
humanitären Stiftungen. Er finanzierte unter anderem
die Entwicklung des Schulwesens in Galizien für jü-
dische und christliche Kinder beiderlei Geschlechtes,
womit er zur Abschaffung der erschütternden Ungebil-
detheit der dortigen jüdischen Mädchen wesentlich bei-
trug, die nicht in kirchliche Schulen aufgenommen wor-
den waren.18 Moritz von Hirsch leistete auch Unterstüt-
zung für etliche zionistische Stiftungen, wodurch er sich
einen unvergänglichen Hass der Autoren des jüdischen
Almanachs, der sogenannten Semigotha zuzog. Für die
russischen jüdischen Flüchtlinge, die sich in den USA
niederliessen, errichtete er die Hirsch-Stiftung (Hirsch
Fund) in der Höhe von 2,5 Millionen Dollar. Im Jahr 1891
gründete Moritz von Hirsch dann die Jewish Colonization
Association, deren Ziele die Unterstützung der jüdischen
Flüchtlinge aus Russland und Rumänien und ihre An-
siedlung in der neuen Heimat in Südamerika bzw. an
einem anderen Ort in der Welt waren. Zugunsten die-
ser Organisationen zeichnete er den grosszügigen Be-
trag von zwei Millionen Pfund. Nach seinem Tod im
Jahr 1896 ging die Verwaltung der Jewish Colonization
Association in neue Hände über: Neuer Verwalter wurde
der jüdische Philanthrop Baron Edmond James de Roth-
schild (1845–1934).19
Die engen Beziehungen zwischen Moritz von Hirsch
und der Familie Rothschild wurden dank der Verwandt-
schaftsbindungen zweifellos erleichtert – dank der Ver-
mählung seiner Schwester Amalia mit Henri Bamberger
und dank seiner im Jahr 1855 geschlossenen Ehe mit
Clara Bischoffsheim (1833–1899). Weder die Familie
Bamberger noch die Familie Bischoffsheim zählte zu
den direkten Verwandten der Familie Rothschild, doch
sie waren mit deren Verwandten verschwägert. In der
Folge beteiligten sie sich an den unternehmerischen Ak-
tivitäten dieses ganzen Familienklans.20 Besonders Clara
stammte aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden
Familie. Ihr Vater Jonathan Raphael Bischoffsheim (1808–
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53Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
den. Verkäuferin dieser Herrschaften war Fürstin Helena
Ypsilanti, die dafür einen Preis von 912 000 Gulden ver-
langte.24 Besonderen Gefallen fand Freiherr Moritz von
Hirsch an der Burg Eichhorn (Veveří), die er mit gros-
sem Aufwand herrichten und modernisieren liess. Auch
wurde eine Telefonverbindung zur Burg eingerichtet.
Auf der Burg Eichhorn (Veveří) veranstaltete Moritz von
Hirsch alljährlich grosse Herbstjagden, besonders Jagden
auf Rebhühner, deren Zucht er selbst grosse Aufmerk-
samkeit widmete. Moritz von Hirsch zeigte jedoch kein
grosses Interesse an der dortigen Bevölkerung, seine Bei-
träge und Schenkungen für diese Region waren relativ
niedrig.25
Wahlkind der Baronin von Hirsch
Nach Moritz von Hirsch’ Tod erbte seine Witwe Clara
dieses Vermögen. Obwohl beide Kinder, die aus ihrer
Ehe hervorgingen, noch vor Moritz starben, wuchsen
noch weitere Erbfolger im Haushalt der Familie Hirsch
auf. Auch diese Erbfolger hatten später rechtliche An-
sprüche auf das genannte Vermögen. Im Jahr 1887, kurz
nach dem Tod ihres einzigen Sohns, adoptierte Clara
nämlich zwei Jungen und ein Mädchen. Nur das Mäd-
chen Irene Premelić (* 1885), Tochter der Pariser Sänge-
rin ungarischer Abstammung Irene Maria Premelić, trug
auch den Namen von Hirsch, weil sie Clara zusammen
mit ihrem Mann adoptiert hatte. Die Jungen Maurice
Arnold (1879–1968) und Raymond Deforest (* 1880) be-
nutzten aber nur Claras Geburtsnamen Bischoffsheim,
weil in ihrem Fall Baron Moritz von Hirsch auf die Ad-
option nicht eingegangen war.
Nach den österreichischen Gesetzen hatten die Ad-
optivkinder Anspruch nur auf den Namen der Adoptiv-
eltern (Premelić-Hirsch, bzw. Deforest-Bischoffsheim),
nicht aber auf ihren Adelsstand, für dessen Übertragung
21 Die Frankfurter Linie der Familie Rothschild wurde von Karl
Mayer (1788–1855), zuerst Chef des Bankhauses in Neapel, spä-
ter Haupt des Frankfurter Unternehmens gegründet. Sie ist mit
seinem Sohn Wilhelm Karl (1828–1901) ausgestorben und das
Unternehmen wurde liquidiert. An die Familientradition knüpfte
der Bankier Maximilian Benedikt Heyum Goldschmidt (1843–
1940) an. Er war der Ehemann von Wilhelm Karls Tochter Minna
Caroline (1857–1903). Am 6. September 1903 wurde er in den
preussischen Adelsstand mit dem Prädikat «von Goldschmidt-
Rothschild» erhoben, und am 22. April 1907 hat ihm der deutsche
Kaiser Wilhelm II. in der Befugnis des preussischen Königs auch
den Freiherrentitel verliehen, der jedoch für den erstgeborenen
Sohn erblich und an den Besitz des Fideikommissguts Wroniawy
in der Provinz Posen gebunden war. Auch trotz dieser Beschrän-
kung wurde Maximilian Benedikt Heyum von Goldschmidt-
Rothschild der erste preussische Baron jüdischen Glaubens.
Sein Sohn Albert Max (1879–1941), deutscher Diplomat, war der
viertreichste Mann in Preussen und im Jahr 1905 wurde er als
erster Jude zum Kammerherrn des preussischen Königs. Semigo-
tha (1912), S. 132 und 352; ebenso: Gothaisches Genealogisches
Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser. Gotha, 1915, S. 312–313.
22 Vgl. zum Beispiel die Nachricht von der Gewährung von 40 000
Francs durch die Freiin von Hirsch für die Bostoner Juden und
die Mitteilung, dass eine bestimmte Summe für dieselben Zwecke
auch die Ehefrau von William (Wilhelm) de Rothschild (wahr-
scheinlich Mathilde von Rothschild) spendete. Vgl. New York
Times, 24. Dezember 1897.
23 Die Familie Gomperz stammte wahrscheinlich aus Frankfurt am
Main. Nach Österreich zog als erster Josua (1782–1857), der sich
als Handelsmann in Brünn niederliess und später Direktor der
Zweigstelle der Österreichischen Bank in Brünn und Vorstand
der Brünner Judengesellschaft wurde. Seine zwei Söhne, Max
(1822–1913) und Julius (1824–1909), bedeutende Unternehmer
dieser Zeit, wurden am 21. Dezember 1877 bzw. am 24. Mai
1879 in den österreichischen Ritterstand erhoben. Mašek, Petr:
Šlechtické rody v Čechách, na Moravě a ve Slezsku od Bílé Hory
do současnosti (Adelsfamilien in Böhmen und Mähren und Schle-
sien nach der Schlacht am Weissen Berge bis zur Gegenwart),
Band I. Praha, 2008, S. 288. AVA, AA, Max Gomperz, Ritterstand
1877 und Julius Gomperz, Ritterstand 1879. S. auch www.no-
vanobilitas.eu.
24 Oharek, Václav: Vlastivěda moravská. Tišnovský okres (Mähri-
sche Landeskunde. Landbezirk Tischnowitz), Musejní spolek.
Brno, 1923, [online]. c 2000, [zit. 20. Oktober 2010]. Zum Her-
unterladen unter: http://www.obecveverskabityska.cz/prameny/
html/d002/d002.html. Nach der Studie von Pavel Dufek hatte der
Grossgrundbesitz vor der ersten Bodenreform eine Gesamtflä-
che von 12344,32 ha, von denen 1957,35 ha Felder und Wiesen
und der Rest Wälder waren. Dufek, Pavel: Zaměstnanci Státního
pozemkového úřadu v «minovém poli» zahraniční politiky a pa-
stích politiky domácí případová studie (Angestellte des Staatli-
chen Grundbuchamts «im Minenfeld» der Aussenpolitik und in
der Falle der Innenpolitik – Fallstudie). In: Rašticová, Blanka
(ed.): Agrární strany ve vládních a samosprávných strukturách
mezi světovými válkami, Studie Slováckého muzea, 13/2008,
S. 161–168 (hier S. 162).
25 Urbánková, Oldřiška: Poslední majitelé hradu Veveří od r. 1802
do r. 1925 (Die letzten Besitzer der Burg Eichhorn seit 1802, bis
1925). Rosice, 2000, S. 30–31. Ich danke Herrn Ing. Tomáš Hájek,
Bürgermeister der Stadt Ostrovačice, für seinen Rat und seine
Unterstützung.
18 Hamannová, Brigitte: Hitlerova Vídeň, S. 374–375.
19 Rothschild, Baron Edmond-James de. In: Encyclopedia of Zio-
nism and Israel, Volume 2. New York, 1971, S. 966; ebenso Hal-
brook, Stephen P.: The Alienation of a Homeland: How Palestine
Became Israel. In: The JournoloILiberronon Sludres, Volume V,
No. 4 (Fall 1981), S. 357–374.
20 Mosse, Werner E.: The German-Jewish economic élite 1820–1935.
Oxford, 2002, S. 167–170.
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54 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
Wappen Freiherr von Deforest-Bischoffsheim (1899), (oben).
Schloss Eichhorn (Veveří), (unten).
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55Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
die Genehmigung des Kaisers erforderlich war.26 Der
Besitz eines Adelstitels war aber auch am Ende des 19.
Jahrhunderts ein zweifelloser Vorteil, der die Türen etli-
cher Empfangsräume öffnete. Es ist deswegen nicht über-
raschend, dass noch vor dem Jahrhundertwende, am 24.
Dezember 1898, die Freiin von Hirsch den österreichi-
schen Kaiser Franz Joseph I. bat, ihre Adoptivkinder in
den Freiherrenstand zu erheben und ihnen das Prädikat
«von Hirsch auf Gereuth» zu erteilen.
Mit Rücksicht darauf, dass Baron von Hirsch nicht alle
Kinder adoptiert hatte, sondern nur die Tochter, gab der
Kaiser ihrem Antrag nicht ganz statt. Mit dem obersten
Beschluss vom 22. Januar 1899 – aus besonderen Gna-
den und mit der Nachsicht der Taxen – erhob der Kaiser
schliesslich doch alle Adoptivkinder zumindest in den
Freiherrenstand, jedoch ohne das ursprünglich bean-
tragte Prädikat «von Hirsch auf Gereuth». Die Jungen
trugen also weiter den Namen «Freiherr von Deforest-
Bischoffsheim», währenddem die Tochter Irene sich
«Freiin von Premeli-Hirsch» nennen durfte. Allen Kin-
dern stand in der Folge das gemeinsame Wappen zu, das
vom Wappen der Familie «von Hirsch auf Gereuth» ab-
geleitet wurde.27 Kurz nach diesem Ereignis, am 1. April
1899, ist Clara in Paris gestorben. Von ihren Kindern ste-
hen uns bis heute keine Nachrichten zur Verfügung, mit
Ausnahme des älteren Sohns Maurice Arnold. Es ist be-
merkenswert, dass gerade auch mit seiner Person meh-
rere, bis jetzt nicht gelöste Fragen verbunden sind.
Es ist vor allem nicht klar, was mit seinen Geschwi-
stern – Bruder Raymond und Stiefschwester Irene – ge-
schah. Nach dem Vermächtnis von Clara von Hirsch,
von dem die Presseagentur Reuters informierte,28 wurde
ihr Vermögen zwischen Maurice Arnold und Raymond
aufgeteilt: Der Erstgenannte erhielt 25 Millionen Francs
in bar und die mährischen Besitztümer Rossitz (Rosice)
und Eichhorn (Veveří); der Zweitgenannte bekam 20
Millionen Francs und das Schloss «Château de Beaure-
gard», das fünf Kilometer von Versailles entfernt liegt.
Dieses Schloss in Frankreich hatte Freiherr Moritz von
Hirsch mit grossem Kostenaufwand umbauen lassen und
zu einer seiner Hauptresidenzen gemacht. Die Baronin
Clara von Hirsch vererbte weitere Kostbarkeiten an ihre
beiden Söhne: ihren ganzen Schmuck, ihre Bildersamm-
lung, Möbel und weitere Wertsachen, die sich in ihrer
Pariser Villa in der Rue de l'Elysée (sogenanntes Hôtel
de Hirch) und in zwei weiteren Häusern in dieser Strasse
26 Zu den Adoptionen in Österreich siehe Županič, Jan: Nová
šlechta (Der neue Adel), S. 110–112.
27 Die Urkunde wurde mit dem Datum 26. Februar 1899 erlassen.
Das Familienwappen war wie folgt: Ein gold-blau geteilter Wap-
penschild. Im oberen Feld sieht man einen Zwölfender im Sprung
in natürlicher Farbe mit roter Zunge. Im unteren Feld sind drei
fünfzackige Silbersterne. Auf dem Schild stehen die Freiherren-
krone und darauf ein gekrönter offener Helm mit blau-goldenen
Helmdecken. Die Helmzier bilden offene, geteilte golden-blaue
Flügel. Als Schildhalter sind zwei auf goldener Arabeske stehende
Hirsche vom Schild. AVA, AA, Deforest, Freiherrnstand 1899.
28 Vgl. Ladie´s Gossip. In: Otago Witness, 2. November 1899, S. 52.
[online], letzte Revision nicht angeführt [zit. 25. September 2010].
Zum Herunterladen unter: http://paperspast.natlib.govt.nz/cgi-
bin/paperspast?a=d&d=OW18991102.2.275.
29 Deforest, der mehrere weitere Residenzen besass, sorgte für das
Schloss nicht besonders gut. Siehe Château du Comte de Bendern
à Beauregard, [online], letzte Revision 29. Dezember 2008 [zit. 24.
September 2010]. Zum Herunterladen unter: http://www.lacelle-
saintcloud.com/pages/bendern/bendern.php.
30 Dieses Datum wird sowohl im Memorandum des Ministerpräsi-
denten Franz Graf Thun-Hohenstein vom 20. Januar 1899 (AVA,
AA, Deforest, Freiherrnstand 1899), als auch von Donat Büchel
im Stichwort «Bendern» des sich in Vorbereitung befindenden
Historischen Lexikons für das Fürstentum Liechtenstein ange-
führt. Für die geleisteten Informationen danke ich Dr. Peter Gei-
ger (Liechtenstein Institut, Bendern), Mag. Rupert Tiefenthaler
(Landesarchiv Liechtenstein) und Donat Büchel.
befanden. Die Söhne sollten die Verfügungsrechte an
diesen Vermögenswerten jedoch erst nach der Vollen-
dung ihres Alters von dreissig Jahren erlangen. Bis zu
diesem Zeitpunkt wurden diese Güter von einem eigens
dazu eingesetzten Verwalter betreut. Da jedoch am An-
fang des 20. Jahrhunderts nur Maurice Arnold als Besit-
zer des Château de Beauregard erwähnt wird, sieht es so
aus, dass Raymond seine Stiefmutter Clara von Hirsch
nicht lange überlebte. In der Folge wurde wohl sein äl-
terer Bruder Maurice Arnold von Deforest-Bischoffsheim
zum Haupterben des Imperiums der Familie Hirsch.29
Seine ungeklärte Abstammung bildet den Schlüssel
zum Verständnis des Schicksals von Maurice Arnold.
Alle Nachrichten stimmen darin überein, dass er am
9. Januar 1879 in Paris geboren wurde.30 Offen ist die
Frage, wer seine Eltern waren. Clara von Hirsch führte
in ihrem Antrag an den Kaiser zur Erteilung des Freiher-
renstands im Dezember 1898 an, dass Maurice Arnold
und sein Bruder Raymond die ehelichen Kinder von
Eduard Deforest und Julia Arnold sein sollten. Sie nannte
keine näheren Einzelheiten, erwähnte nur, dass beide
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56 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
die Kinder unter Obhut des Kindermädchens in Paris
zurück. Nach der Todesurkunde, die vom katholischen
Bischof des Vilâyets Karpuzel im Jahr 1886 ausgefertigt
wurde,31 starben dort Julia und Eduard Deforest im Jahr
1882 an einer Bauchtyphusepidemie, von der dieses
Gebiet betroffen war.32 Kurz nach der offiziellen Bestä-
tigung des Todes der Eltern übernahm Clara von Hirsch
die Waisenfürsorge. Die Gründe für diese Übernahme
der Waisenfürsorge sind unbekannt. Möglicherweise
wuchsen beide Jungen im Waisenhaus auf, das von ih-
rem Mann Moritz von Hirsch finanziert wurde, und
Clara von Hirsch adoptierte die zwei Kinder nach dem
tragischen Tod ihres einzigen Sohn Lucien im Jahr 1887.
Es ist aber höchst interessant, dass die Jungen neben der
Baronin von Hirsch als Stiefmutter noch einen offiziellen
Vormund, Franz Altgraf zu Salm-Reifferscheidt, hatten.33
An dieser Stelle stellt sich die Frage, wieso dieser hoch
erlauchte Aristokrat der Vormund von Waisenkindern
von amerikanischen Zirkusartisten werden konnte.
Nach einer zweiten Quelle, der Ahnentafel der Fa-
milie Goldschmidt, waren beide Knaben die jüngeren
Söhne von Claras jüngerem Bruder Ferdinand Raphael
Bischoffsheim (1837–1909) und Mary Paine (1853–
1900).34 Aus dieser Sicht wäre die Adoption ein kalku-
lierter Schritt gewesen, damit das Familienvermögen
der Familie von Hirsch später auf Claras Verwandtschaft
übergehen könnte. Diese Theorie hat jedoch eine Schwä-
che. Sie erklärt nicht, wie Maurice Arnold und Raymond
zu ihrem Nachnamen Deforest kamen, den sie noch vor
ihrer Adoption tragen mussten.
Eine andere, höchst unwahrscheinliche Spekulation
wurde von Semigotha angestellt. Der Name des Vaters
wird hier zwar nicht erwähnt, aber nach der Mutter
sollten die Jungen aus der altfranzösischen Familie de
Forrestier abstammen. Von diesem Prädikat sollte auch
ihr Nachname (Forest, de Forest, Deforest) abgeleitet
werden.35
Am interessantesten ist die letzte Theorie, die in der
Familie der Grafen von Bendern bis heute überliefert
wird.36 Maurice Arnold (und offensichtlich auch sein
Bruder Raymond) sollten die unehelichen Söhne von
Albert Edward, Prinz von Wales, dem späteren
britischen König Eduard VII.,37 oder aber von einem
österreichischen Erzherzog sein.
Alle oben genannten Informationen über die Ab-
stammung von Maurice Arnold Deforest sind vor allem
Eltern protestantischer Konfession waren und dass
Eduard Deforest US-Bürger war. Nachdem er sein Ver-
mögen in Europa verloren hatte, sollte Deforest nach
New York zurückkehren, wo sich seine Spuren verlieren.
Clara, möglicherweise von der Bemühung geleitet,
die wahre Abstammung der beiden Jungen entweder
zu beschönigen oder zu verheimlichen, teilte aber den
österreichischen Behörden eine ganze Reihe wichtiger
Informationen nicht mit. Vor allem teilte sie nicht mit,
dass Eduard (Edouard) Deforest (1848–1882) und seine
Frau Julia (Juliette), geborene Arnold (1860–1882) Zir-
kusartisten waren. Beide wurden in New York geboren
und nach ihrer Hochzeit liessen sie sich in Paris in einer
Wohnung in der Rue Legendre nieder, wo auch ihre bei-
den Söhne geboren wurden – Maurice Arnold im Jahr
1879 und Raymond ein Jahr später. Zu Anfang der 1880er
Jahre fuhren Julia und Eduard Deforest (wahrscheinlich
auf einer Rundreise) ins Osmanische Reich und liessen
Winston Churchill im Alter von 19 Jahren.
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57Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Die Bindung von Maurice Arnold Deforest-Bischoffs-
heim an England war derart stark, dass er sich entschloss,
sich auf Dauer dort niederzulassen. Am 27. Juli 1900
legte er den Huldigungseid ab. Einen knappen Monat
später erhielt er die Einbürgerungserklärung. Am 25. Au-
gust 1900 wurde er von Königin Viktoria zum Unterleut-
nant des britischen Militärs ernannt, und am 6. Oktober
desselben Jahres bestätigte sie Maurice Arnold De Fo-
rest, wie er sich in England nennen liess,41 das Recht, den
österreichischen Freiherrentitel und das erteilte Wappen
in Grossbritannien zu nutzen. Es handelte sich aber um
keine Anerkennung seines Adelsstandes in Grossbri-
tannien, sondern nur um das Recht, den Auslandstitel
31 Im GeneaNet Word ist sein Name falsch als «Karpoutz» genannt.
Edouard Deforest, [online], letzte Version nicht angeführt, [zit. 25.
September 2010]. Zum Herunterladen unter: http://gw1.genea-
net.org/index.php3?b=garric&lang=en;p=edouard;n=deforest.
32 Ebenda.
33 Der Antrag von Clara Hirsch vom 24. Dezember 1898 und das
Memorandum des Ministerpräsidenten Franz Graf Thun-Ho-
henstein vom 20. Januar 1899. Thun führt über den Altgrafen
Salm-Reifferscheidt leider keine näheren Informationen an, und
deswegen kann er mit Rücksicht auf die häufige Nutzung des Na-
mens Franz in der Familie nicht identifiziert werden. AVA, AA,
Deforest, Freiherrnstand 1899.
34 Goldsmidt-Rothschild, Frédéric de – Elward, Ronald: Descen-
dants of Salomon Benedict Goldschmidt and Reichle Cassel, [on-
line]. c 1999, letzte Revision 31. Oktober 2009 [zit. 28. Februar
2011]. Zum Herunterladen unter: http://www.angelfire.com/in/
heinbruins/Goldschmidt.html.
35 Semigotha, S. 145–146.
36 Vgl. Marianne of ’68, [online], letzte Revision 10. April 2010, [zit.
19. Januar 2010]. Zum herunterladen unter: http://iconicphotos.
wordpress.com/tag/caroline-de-bendern/.
37 Maurice Arnold Deforest-Bischoffsheim, [online], letzte Revision
nicht angeführt [zit. 25. September 2010]. Zum Herunterladen
unter: http://gw1.geneanet.org/index.php3?b=garric&lang=en;
p=maurice+arnold; n=deforest+bischoffsheim.
38 Wrigley, Chris: Winston Churchill. A Biographical Companion.
Santa Barbara, 2002, S. 154.
39 Für seine Verdienste wurde er in den Adelsstand erhoben. Im
Jahr 1919 wurde Smith zum Baron Birkenhead ernannt, 1921
wurde er Viscount Birkenhead, ein Jahr danach wurde ihm der
Titel des Viscount Furneaux und Earl of Birkenhead verliehen.
Vgl. Campbell, John: F. E. Smith: First Earl of Birkenhead. London,
1983.
40 Dufek, Pavel: Zaměstnanci Státního pozemkového úřadu (Ange-
stellte des Staatlichen Grundbuchamts), S. 166.
41 Er hörte bereits kurz nach Claras Tod auf, den Namen Bischoffs-
heim zu benutzen. Vgl. Maurice Arnold Deforest-Bischoffsheim,
[online], letzte Version nicht angeführt, [zit. 25. September 2010].
Zum Herunterladen unter: http://gw1.geneanet.org/index.
php3?b=garric&lang=en; p=maurice+arnold;n=deforest+bischoffs
heim.
Beweise von der Ratlosigkeit der Forscher, die nicht
imstande sind, diese bedeutende Persönlichkeit der
Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen.
Jugendzeit des Grafen von Bendern
Obwohl Maurice Arnold Deforest-Bischoffsheim öster-
reichischer Baron war und ausgedehnte Landgüter in der
Monarchie besass, verbrachte er fast sein ganzes Leben
ausserhalb des Territoriums von Österreich-Ungarn. Seine
Kindheit verbrachte er in Paris, und später war er beson-
ders mit Grossbritannien verbunden. In den Jahren 1892
und 1893 studierte er am Eton College und danach, zwi-
schen 1896 und 1898 an der Universität in Oxford. Seine
Studien schloss er erfolgreich ab. In Grossbritannien fand
er viele Freunde. Einen seiner besten Freunde, den fünf
Jahre älteren Winston Spencer Churchill (1874–1965),
lernte er schon als Junge in den 1880er Jahren in
Paris kennen. Die Burg Eichhorn (Veveří) in Mähren
besuchte er üblicherweise nur einmal im Jahr. Anlass
für diesen Besuch war jeweils die Jagd mit seinen Freun-
den. Mehrmaliger Gast auf der Burg Eichhorn war
auch Winston Spencer Churchill, der dort im Jahr
1908 auf seiner Hochzeitsreise durch Europa Station
machte.38
Ein bedeutender und einflussreicher Freund von Mau-
rice Arnold Deforest-Bischoffsheim war auch Frederick
Edwin Smith (1872–1930), einer der bekanntesten briti-
schen Anwälte der Jahrhundertwende. Frederick Edwin
Smith war auch bedeutender Politiker der Konservativen
Partei, der Tories. Nach dem Ausbruch des Ersten Welt-
kriegs wurde ihm die Verantwortung für das offizielle
Pressebüro der Regierung übertragen und sein Stern be-
gann steil aufwärts zu steigen. Zwischen 1919 und 1928
zählte er zu den einflussreichsten Mitgliedern der bri-
tischen Regierung.39 Smith gehörte zum engsten Mitarbei-
ter- und Freundeskreis von Winston Spencer Churchill.
Smith und Churchill waren wiederholt auf der Burg Eich-
horn (Veveří) zu Gast. Dorthin waren sie zum Beispiel im
Jahr 1907 zur Wachtel- und Hasenjagd eingeladen wor-
den.40 Die engen Beziehungen zwischen diesen drei Män-
nern sind bislang noch nicht hoch genug gewür-
digt worden. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass diese
Freundschaft (zumindest für den Baron Deforest) sehr
bedeutend war.
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58 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
port fürs Parlament zu kandidieren. Der Erfolg kam ein
Jahr später, als er für diese Partei im Wahlbezirk West
Ham North zum Abgeordneten in das Parlament gewählt
wurde. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs trat
er als Freiwilliger in die britische Armee ein. Als Offizier
diente er in der Freiwilligen Reserve der Königlichen
Seestreitkräfte (Royal Naval Reserve) in Frankreich. Von
dort aus wurde er im September 1914 ins Panzerkraftwa-
genkorps der Königlichen Seestreitkräfte (Armoured Car
Section, Royal Naval Air Service) befohlen, das damals
seinem Freund, dem Ersten Lord der Admiralität Win-
ston Spencer Churchill unterstellt war. Baron De Forest
unterstützte seine neue Heimat England aber auch ma-
teriell: Grosse finanzielle Beiträge widmete er britischen
Kriegszwecken. Doch selbst dank dieser Taten war er
nicht geschützt vor Auswüchsen der Kriegshysterie:
Obwohl die Wiener Regierung eine Zwangsverwaltung
über sein Eigentum in Österreich-Ungarn während des
Krieges verhängt hatte,43 wurde er in England der Sym-
pathie für die Mittelmächte beschuldigt. Nur dank der
Unterstützung von Winston Spencer Churchill gelang es
ihm, diese Beschuldigung zu widerlegen.44
Baron De Forest und die
tschechoslowakische Bodenreform
Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte De Forest nicht mehr
nach Mähren zurück. Die erste Bodenreform, veran-
lasst durch die neu gegründete Tschechoslowakische
Republik, hatten sein Verhältnis zu Mähren stark bela-
stet. Der tschechoslowakische Staat hatte auf De Forests
Grossgrundbesitz einen Verwalter eingesetzt. Im Früh-
jahr 1919 wurde in Prag ein Enteignungsgesetz erlassen,
das die genannte erste Bodenreform in der Tschechoslo-
wakei ermöglichte.45 Maurice Arnold De Forest verlor
– wie viele andere Grossgrundbesitzer und ohne Rück-
sicht auf ihre politische Einstellung – den grössten Teil
des Vermögens in der Tschechoslowakei. Als Entschädi-
gung dafür wurde ihm nur ein Bruchteil des eigentlichen
Marktpreises zugebilligt.
De Forest war nicht bereit, sich damit abzufinden. Dies
war der Beginn eines jahrelangen Rechtsstreits. De Forest
argumentierte mit seiner britischen Staatsangehörigkeit
und seinen Kriegsverdiensten. Zudem drang er auf den
Schutz durch die Londoner Regierung. Dabei setzte er
dort zu verwenden. In die tatsächliche britische Nobilität
drang De Forest nie vor.42
Auf den britischen Inseln machte sich Baron De Forest
als Kunstfreund und Fan der modernen Sportarten – Se-
geln und Motorsport – einen Namen. Im Jahr 1900 nahm
er beispielsweise am ersten grossen Automobilrennen
durch England, Irland und Frankreich teil. Seine Freizeit
verbrachte er gern auch auf See. Im Jahr 1906 war Win-
ston Spencer Churchill Gast auf seiner Jacht. Baron De
Forest widmete sich auch der Politik. So versuchte er im
Jahr 1910, als Vertreter der Liberalen Partei in South-
Maurice Arnold Freiherr von De Forest-Bischoffsheim,
der Graf von Bendern.
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59Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
42 Die Abschriften der Urkunden sind archiviert in: AVA, AA, Defo-
rest, Freiherrnstand 1899.
43 Aufgrund der k. k. Verordnung Nr. 245 vom 29. Juli 1916. Dufek,
Pavel: Zaměstnanci Státního pozemkového úřadu (Angestellte
des Staatlichen Grundbuchamts), S. 162 und 167.
44 Muhs, R.: Jews of German Background in British Policy, S. 184;
Wrigley, Chris: Winston Churchill, S. 154.
45 Gesetz Nr. 215/1919 SlG. über die Besitznahmen des Grossgrund-
besitzes (Zákon o zabrání velkého majetku pozemkového; auch
Enteignungsgesetz genannt.
46 Es ist natürlich eine Frage, inwieweit diese Kontakte seine späte-
ren Aktivitäten in Liechtenstein beeinflussten.
47 Vgl. zum Beispiel Skutil, Jan: Z Rájce na Veveří (Aus Rájec auf
Veveří), in: Genealogická a heraldická ročenka 1978, S. 33; Dufek,
Pavel: Zaměstnanci Státního pozemkového úřadu (Angestellte
des Staatlichen Grundbuchamts). Auch für die folgenden.
48 Siehe Bruce Lockhardt, Robert Hamilton: Ústup ze slávy (Rück-
zug vom Ruhm). Praha, 1935, S. 267–268 und 270–271.
tschechoslowakischen Behörden fast zwei Wochen lang,
wobei auch nach dieser Zeit das höchste Angebot von
Voženílek ganze 75 000 Pfund unter dem Minimum
lag. Nach einer Beratung mit dem britischen Botschafter
Clerk beschloss Bruce Lockhardt, Vabanque zu spielen.
In der Folge bat er um ein direktes Treffen mit dem tschechos-
lowakischen Aussenminister Edvard Beneš. Er teilte ihm
wahrheitsgemäss mit, dass De Forest die Verhandlungen
innerhalb von einigen Tagen abschliessen wollte, und sollte
kein Kompromiss erzielt werden, würde die Tschechoslo-
wakei ihre einmalige Gelegenheit verlieren, diesen unange-
nehmen Kritiker loszuwerden. Botschafter Clerk infor-
mierte Beneš auch darüber, dass De Forest im Falle eines
Scheiterns der Verhandlungen die Causa dem Haager Tri-
bunal übergeben wollte. Ein solcher Schritt würde das
internationale Ansehen der Tschechoslowakischen Repu-
blik beschädigen, was wiederum einen Rückgang ihres
Kreditprestiges auf dem Londoner und New-Yorker Geld-
markt zur Folge hätte. Botschafter Clerk teilte Beneš auch
den vom Baron festgelegten Mindestpreis mit. Dabei er-
klärte er, dass der Endbetrag höher sein müsste, damit
De Forest nicht denken würde, die Verhandlungen
mit den tschechoslowakischen Behörden seien bewusst
hingehalten worden.
Beneš besprach den Fall mit seinem Sekretär Jan
Masaryk, dem Sohn des Staatspräsidenten Tomáš Gar-
rigue Masaryk – und zugleich ein Freund von Bruce
Lockhard – und mit Ministerpräsident Antonín Švehla.
Aus dieser Besprechung resultierte der Vorschlag eines
neuen Kaufpreises, der nun um 272 000 Pfund erhöht
wurde. De Forest überlegte sich aber in diesem Augen-
auch auf seine Kontakte mit Winston Spencer Churchill
und Frederick Edwin Smith. Ohne die Hilfe dieser mit
ihm befreundeten Politiker und weiterer Mitglieder der
britischen Elite hätte De Forest diesen Streit wohl nicht
erfolgreich austragen können.46 De Forest wurde auch
unterstützt durch das Foreign Office in London. Für ihn
setzten sich auch Abgeordnete des britischen Unter-
hauses ein. Über De Forests Streitfall verhandelte auch
der britische Botschafter in der Tschechoslowakei, Sir
George Clerk. – Die britisch-tschechoslowakischen Be-
ziehungen wurden ganze sechs Jahre von diesem Rechts-
fall belastet. London wollte zwar seine Beziehungen mit
seinem mitteleuropäischen Verbündeten nicht aufgrund
der Interessen einer Einzelperson komplizieren und übte
deshalb keinen allzu grossen Druck auf Prag aus. Trotz-
dem war die ganze Causa für Prag höchst unangenehm.47
Ein interessantes Zeugnis zum Streit zwischen De Fo-
rest und der Tschechoslowakei hinterliess der britische
Diplomat, Journalist (und zugleich Geheimagent) Robert
Hamilton Bruce Lockhart (1887–1970).48 Seiner Auffas-
sung nach sollten De Forests Landgüter vor 1914 einen
Wert von einer Million britischer Pfund gehabt haben, was
tatsächlich eine grosse Summe war. De Forest wollte sein
Vermögen zurückerhalten und lehnte alle Kompromisse
ab. Über sechs Jahre lang zogen sich die komplizierten
Verhandlungen hin, die meistens an der Ablehnung oder
am übermässigen Zaudern des Barons scheiterten.
Bruce Lockhart, der für einen Fachmann in der tsche-
choslowakischen Problematik in Grossbritannien gehal-
ten wurde, wurde vom britischen Foreign Office im Jahr
1925 als Vermittler für die Verhandlungen mit der Tsche-
choslowakei empfohlen. Der Baron war mit der Wahl
dieses Vermittlers einverstanden. De Forest bat in der
Folge Bruce Lockhart, ihn bei der Prager Regierung zu-
sammen mit zwei weiteren Vermittlern zu vertreten und
einen definitiven Vergleich zu erzielen. Er hatte nämlich
beschlossen, sich seiner tschechoslowakischen Land-
güter zu entledigen, wobei er als dafür geforderte Ent-
schädigungssumme den niedrigsten möglichen Betrag
250 000 Pfund nannte. Die Vermittler sollten ihrerseits
zehn Prozent dieser Summe als Provision bekommen.
Diese Vermittlungstätigkeit war keine leichte Aufgabe.
Während der ersten Verhandlungen im Staatlichen Grund-
buchamt bot dessen Präsident, Dr. Jan Voženílek, als
Maximalkaufpreis einen Betrag an, der um fast 200 000
Pfund niedriger war. Bruce Lockhardt feilschte mit den
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60 Županiã Jan: Der Erbe des Barons von Hirsch: Maurice Arnold Freiherr von Deforest-Bischoffsheim
sitzer in der Tschechoslowakischen Republik» am 7. De-
zember 1938 an die Kabinettkanzlei des Fürsten von und
zu Liechtenstein in Wien sandte, sollte De Forest als Ent-
schädigung für Eichhorn (Veveří) 77 Millionen tschecho-
slowakische Kronen (mehr als 466'000 Pfund) erhalten
haben – ein Betrag, der annähernd dem ursprünglichen
Preis des Grossgrundbesitzes entsprach. Interessant am
Bericht des erwähnten Verbandes ist aber, dass zusätz-
lich zum Fall De Forest auch der Umfang der Bodenre-
form und der geleistete Ersatz auch anderer Personen
aufgelistet werden: So werden Entschädigungszahlungen
für den bayrischen Kronprinzen Ruprecht, den bulga-
rischen König (Zaren) und für den rumänischen König
im genannten Bericht erwähnt. Aus dem Dokument geht
jedoch nicht hervor, wie der Baron in diese exklusive
Gesellschaft geriet. Der Verband der deutschen Gross-
grundbesitzer mag wohl das Memorandum direkt auf
Antrag von Fürst Franz Josef II. von und zu Liechtenstein
erstellt haben, und aus näher nicht geklärten Umständen
hat man die Person von Maurice Arnold De Forest für
genauso bedeutend gehalten wie die Mitglieder europä-
ischer Herrscherhäuser.50
De Forests Causa war höchstwahrscheinlich der ein-
zige Fall, bei dem ein Grossgrundbesitzer bei Entschä-
digungsverhandlungen mit der Tschechoslowakei einen
solchen Erfolg erzielte. Als Quido Graf Thun eine ähn-
liche Unterstützung und Schutz bei der italienischen Re-
gierung anstrebte, antwortete Beneš, dass es sich im Falle
De Forests um eine Ausnahme gehandelt hätte. Beneš
hob ausserdem hervor, dass derjenige, der nach einen
Staatsumsturz die Staatsangehörigkeit eines anderen
Landes wählte, nicht mit einem Menschen verglichen
werden kann, der diese Staatsbürgerschaft mit seiner Ge-
burt erworben hatte. Im Falle De Forests ging es jedoch
um eine pikante Sache, weil er in Paris geboren worden
war, dank Adoption die österreichische Staatsangehörig-
keit bekommen und die britische Staatsbürgerschaft erst
dann im Jahr 1900 erworben hatte. Die Argumente von
Beneš konnten zwar angefochten werden, doch sie wa-
ren plausibel und besonders aus tschechoslowakischer
Sicht gut nachvollziehbar. Beneš befürchtete nämlich,
dass andere enteignete Grossgrundbesitzer ähnliche Ent-
schädigungsforderungen stellen könnten. Gemeint wa-
ren ehemalige Grossgrundbesitzer, die von der Bodenre-
form betroffen waren und eine andere als die tschecho-
slowakische Staatsbürgerschaft besassen. Darunter fiel
blick wieder alles und erklärte, dass der Betrag zu niedrig
wäre. Schliesslich konnte die tschechoslowakische Re-
gierung mit einem entscheidenden Schritt die verfahrene
Situation lösen: Sie liess den Baron wissen, dass es sich
um ihr letztes Angebot handelt, und sollte keine Eini-
gung erzielt werden, werde sie die Vereinbarung platzen
lassen. Nach diesem Ultimatum stimmte De Forest dem
Verkauf zu. Am 11. Juli 1925 wurde der Vertrag über die
Übernahme und den Übernahmepreis des Besitztümer
von Rossitz (Rosice) und Eichhorn (Veveří) zwischen
den Vertretern von Maurice De Forest und dem Staat-
lichen Tschechoslowakischen Grundbuchamt geschlos-
sen. Die Tschechoslowakische Republik bezahlte dem
Freiherrn aufgrund seines Vorschlags den vereinbarten
Preis, dessen Höhe nach Umrechnung satte 45 Millionen
tschechoslowakische Kronen betrug. Neben dem Acker-
boden und anderen Grundstücken erhielt die Tschecho-
slowakische Republik auch die Burg Eichhorn (Veveří),
das Schloss Rositz (Rosice) mit Park und Schlosskapelle,
die Spiritusbrennerei in Ritschka (Říčky) sowie die Zu-
ckerfabrik und Brauerei in Rossitz (Rosice).
Die Preisfrage ist aber nicht vollständig geklärt. Sollte
die Tschechoslowakische Republik dem Baron tatsäch-
lich 272 000 Pfund ausgezahlt haben, wie Bruce Lock-
hard behauptet, ging es umgerechnet um rund 45 Milli-
onen Kronen, also etwa um die Hälfte des Schätzpreises
der Herrschaft vor der Bodenreform.49 Aber laut Infor-
mation, die der «Verband der deutschen Grossgrundbe-
Baron De Forest wurde 1968 in Bendern beigesetzt.
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61Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Bildnachweis
Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz: S. 47
Privatbesitz Peter Geiger, Schaan: S. 58
Privatarchiv Jan Županič: übrige Bilder
Anschrift des Autors
doc. PhDr. Jan Županič, Ph.D.
Ústav světových dějin, Univerzita Karlova v Praze, Filozofická
fakulta nám. Jana Palacha 2, CZ-116 38 Praha 1
die Familie des regierenden Fürsten von und zu Liech-
tenstein, die später ebenfalls Ansprüche auf Entschädi-
gung stellte.51
Seit dem Anfang der 1920er Jahre lebte Maurice
Arnold De Forest dann meistens in Frankreich oder in
der Schweiz. Vermutlich in den späten 1920er Jahren,
möglicherweise aber schon bei seinen Entschädigungs-
verhandlungen mit dem tschechoslowakischen Staat,
kam De Forest in Verbindung mit Fürst Franz I. von
und zu Liechtenstein. Im Jahr 1932 erwarb De Forest
die liechtensteinische Staatsangehörigkeit. Fürst Franz I.
erhob den Baron schliesslich im Jahr 1936 in den Gra-
fenstand mit dem Prädikat «von Bendern».52 Maurice
Arnold De Forest-Bischoffsheim Graf von Bendern starb
am 5. Oktober 1968 im französischen Biarritz und wurde
in Liechtenstein beigesetzt.53
49 Bruce Lockhardt, Robert Hamilton: Ústup ze slávy (Rückzug vom
Ruhm), S. 270ff.; auch Dufek, Pavel: Zaměstnanci Státního pozem-
kového úřadu (Angestellte des Staatlichen Grundbuchamts), S. 162 ff.
50 Bericht des Verbands der deutschen Grossgrundbesitzer in der
Tschechoslowakischen Republik vom 7. Dezember 1938. In:
Liechtensteinisches Landesarchiv, Fond Tschechien, V13/6 (Bo-
denreform in der Tschechoslowakei, Fürstlicher Güterbesitz).
51 Aussenminister Beneš behauptete zum Beispiel, dass der Fürst
kein Souverän und kein neutraler Staatsangehöriger ist. Das Für-
stentum Liechtenstein mag zwar ein souveräner Staat sein, aber
die Mitglieder der Familie Liechtenstein, die ihre Güter in der
Tschechoslowakischen Republik haben, sind Österreicher. Sie-
he Liechtensteinisches Landesarchiv, Fond Tschechien, V 013/13
(Entschädigung liechtensteinischer Interessen in der Tschecho-
slowakei, Bodenreform in der Tschechoslowakei – Vorakten von
1921), Auszug aus dem Bericht der Zentraldirektion in Koloděje
für Franz Prinz von und zu Liechtenstein, 16. April 1921. Vgl.
auch Horčička, Václav: Die Tschechoslowakei und die Enteig-
nungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Fall Liechtenstein. In:
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), 5, S. 413–414.
52 Zu seinem Schicksal in dieser Zeit siehe Geiger, Peter: Krisenzeit,
S. 81, 155, 212 und 425; Geiger, Peter: Kriegszeit. Liechtestein
1939 bis 1945. Vaduz, Zürich, 2010, Band 2, S. 284–292, S. 295–
311 sowie S. 313, ebenso S. 328–337. Allgemein: Büchel, Donat:
Stichwort «Bendern» des sich in Vorbereitung befindenden Hi-
storischen Lexikons für das Fürstentum Liechtenstein (HLFL).
53 Auf dem Friedhof von Bendern fand er seine letzte Ruhestätte.
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Kapitel_2_Zupanic.indd 62 26.07.11 13:45
63
Inhalt
64 Einleitung
65 Hintergrund: Notizen zur Geschichte Tibets
65 Die Frühzeit bis ins Jahr 866 nach Christus
66 Tibetisch-mongolische Beziehungen im
14. und frühen 18. Jahrhundert
66 Tibetisch-mandschurische Beziehungen
von 1720 bis 1913
67 Britische Eingriffe bis zur Tibeter Unabhängig-
keitserklärung von 1913
68 Entwicklung bis zum Einmarsch der chinesischen
«Volksbefreiungsarmee»
69 Widerrechtliche Besetzung 1950
70 Weitere Ereignisse bis zum Volksaufstand
von 1959
71 Sinisierung, ideologischer Terror und
chinesische Repressionen
74 Gründung der «Autonomen Region Tibet» 1965
74 Weitere Unruhen bis 1993
76 Der Weg der tibetischen Flüchtlinge nach Liechtenstein
83 Persönliche Aussagen der Flüchtlinge
84 Integrationszeit in Liechtenstein
84 Ankunftssituation und erste Massnahmen
im Oktober 1993
86 Die rechtliche Situation bis Mai 1994
87 Integrationsbemühungen bis zum ersten
Regierungsentscheid vom November 1994
88 Massnahmen der Behörden bis zum
Regierungsentscheid vom November 1994
90 Die bange Zeit des Wartens bis zum
Asylentscheid der Regierung Ende 1997
90 Die Situation bis zum endgültigen Entscheid
der Verwaltungsbeschwerdeinstanz 1998
94 Folgen für das Land Liechtenstein
94 Die Entstehung des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes
95 Entstehung der Flüchtlingskoordinationsstelle
und eines Aufnahmezentrums
96 Situation der Flüchtlinge nach dem definitiven
Entscheid 1998
96 Familienzusammenführung
97 Zukunftswünsche, -aussichten und Ziele
der 18 Flüchtlinge
98 Schluss
Vertrieben aus der Heimat
Ursachen für die Flucht von 18 Menschen aus Tibet, ihre Ankunft und Anerkennung in Liechtenstein
Nadja Frick / Jeannette Good
Der folgende Beitrag ist eine überarbeitete und leicht gekürzte Fassung einer Ab-
schlussarbeit, die im Jahr 2002 bei der Interstaatlichen Maturitätsschule für Erwach-
sene in Sargans eingereicht wurde.
Eine Bildreportage des Schweizer Fotografen Manuel Bauer ergänzt den Text der
Autorinnen. Manuel Bauer hat Tibet mehrmals bereist und dabei auch die repressive
Verdrängung der tibetischen Kultur durch die chinesischen Machthaber sowie die
Flucht eines Vaters mit seiner Tochter nach Indien in eindrücklichen Bildern fest-
gehalten. Zusätzlich wird der Text mit Bildern der tibetischen Flüchtlinge, die nach
Liechtenstein gelangten, illustriert. Gezeigt wird hier vor allem die Anfangszeit dieser
Menschen in Liechtenstein.
Kapitel_3_Frick_Good.indd 63 26.07.11 13:45
64 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
steiner Volksblatts. Danach setzten wir uns sukzessive
mit den Tibetern in Verbindung und führten mit ih-
nen die entsprechenden Interviews. Darin vermittelten
sie uns einen Einblick in die Beweggründe ihrer Flucht,
gaben uns Auskunft über den Fluchtweg sowie über ihre
Integrationszeit in Liechtenstein.
Aufgrund unseres Gesuchs um Einsicht in die Regie-
rungsakten vom 18. Juli 2001, welches uns mit Schrei-
ben vom 20. August 2001 seitens des Landesarchivs (für
die Jahre 1993 und 1994) und vom 4. September 2001
seitens des Regierungschefs (für die Jahre 1995 bis 1998)
bewilligt wurde, war es uns möglich, sämtliche Regie-
rungsakten zu den tibetischen Flüchtlinge zu sichten.
Dadurch erhielten wir einen chronologischen Überblick
zu den von der Regierung getroffenen Massnahmen.
Dazu ergänzend beschafften wir uns bei der Regierungs-
kanzlei die für unser Thema relevanten «Berichte und
Anträge der Regierung an den Landtag des Fürstentums
Liechtenstein» und die dazu gehörenden Landtagsproto-
kolle beim Landtagssekretariat.
Im Zusammenhang mit der Familienzusammenfüh-
rung wandten wir uns an das Ausländer- und Passamt
in Vaduz, das uns mündlich entsprechende Informati-
onen vermittelte. Detailliertere Angaben unterbreitete
uns das Ausländer- und Passamt mit Schreiben vom
6. November 2001.
Fragestellung
Unsere Maturaarbeit fragt nach den Gründen, wes-
halb die 18 in Liechtenstein aufgenommenen Tibeter aus
ihrem Heimatland fliehen mussten. Wir gehen auch den
Fragen nach, wie sich ihre Flucht aus Tibet gestaltete
und wie die Flüchtlinge in Liechtenstein aufgenommen
wurden. Uns interessierte auch, welche politischen und
finanziellen Folgen sich daraus für das Land Liechten-
stein ergeben haben. Da wir unseren Schwerpunkt auf
geschichtliche Fakten und Entwicklungen ausrichten,
bleiben Bereiche wie die tibetische Kultur und Religion
in dieser Arbeit weitgehend ausgeklammert. Die Ge-
schichte Chinas tangieren wir nur dort, wo sie für den
Verlauf der jüngeren Geschichte Tibets massgebend ist.
Ziel
Wir interessieren uns persönlich für das Schicksal der
18 tibetischen Flüchtlinge, für deren Integration in Liech-
tenstein und die daraus entstandenen politischen Folgen
für das Land Liechtenstein. Um die Hintergründe der
Flucht der 18 Tibeter besser verstehen zu können, be-
fassen wir uns näher mit der Geschichte Tibets und den
persönlichen Erlebnissen dieser 18 Personen.
Methoden
Nach erfolgter Themenwahl setzten wir uns mit Hans-
jörg Quaderer, dem Präsidenten des Vereins «Tibet-
Unterstützung Liechtenstein» in Verbindung, um einen
ersten allgemeinen Überblick zum Thema zu erhalten.
In mehreren Gesprächen informierte er uns kompetent
über die Geschehnisse in Tibet und die Vorkommnisse
in Liechtenstein. Herr Quaderer stellte uns die Jahresbe-
richte des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein»
von 1993 bis 2000 inklusive wichtigem Adressmaterial
zur Verfügung. Auch empfahl er uns einschlägige Litera-
tur zur Geschichte Tibets. Zudem gab er uns hilfreiche
Informationen für den Umgang mit den tibetischen
Flüchtlingen.
Um uns über Reaktionen und Stimmungsbilder
der Bevölkerung einen Eindruck zu verschaffen, durch-
forsteten wir sämtliche Zeitungsausgaben vom 8. Okto-
ber 1993 bis 17. Juli 2001 des Liechtensteiner Volksblatts
nach entsprechenden Artikeln. Die Berichte der Jahre
1993 bis 1995 kopierten wir aus den Sammelbänden der
Liechtensteinischen Landesbibliothek, ab 1996 hatten
wir Zugang auf das elektronische Archiv des Liechten-
Einleitung
Kapitel_3_Frick_Good.indd 64 26.07.11 13:45
65Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
1 Siehe Literaturverzeichnis am Schluss dieser Arbeit.
2 Gemäss Ludwig (2000), S. 21 vor ungefähr 50 000 Jahren.
3 Der nachfolgende Überblick zur Geschichte Tibets stützt sich –
wenn nicht anders vermerkt – auf Mäder (1997), S. 13–21 sowie
auf Ludwig (2000), S. 21–25, S. 34–38, S. 42–43 und S. 171.
4 Gemäss Ludwig (2000), S. 36 mit zwei tibetischen Frauen.
5 Gemäss Ludwig (2000), S. 43 endet hier das tibetische Königtum.
Wen Cheng ein. Aus heutiger chinesischer Sicht hat sich
Tibet durch die Eheschliessung zwischen Songtsen
Gampo und Wen Cheng dem Nachbarn China freiwillig
unterworfen.
Unter König Mangsong Mantsen (649–676) wurde
des tibetische Territorium durch Eroberungen nach
Westen und nach Süden ausgedehnt. König Trisong
Detsen (755–797) eroberte für 15 Tage die Hauptstadt
des damaligen chinesischen Kaiserreiches, Chang’an.
Unter seiner Herrschaft erreichte Tibet die grösste
territoriale Ausdehnung. Der nächste König, Muni
Tsenpo (797–799), wurde durch sein soziales Engage-
ment bekannt. Ihm folgten die beiden Könige Tride
Songtsen (799–816) und Ngadhak Tri Ralpachen (816–
836), deren Ziel es war, dem Buddhismus eine hegemo-
niale Stellung zu verschaffen. Bereits im Jahr 779 war der
Buddhismus zur Staatsreligion Tibets erhoben worden.
Nachdem Tibet unter König Ralpachen einen Sieg
gegen China errungen hatte, unterzeichneten 821 beide
Länder ein Friedens- und Grenzabkommen. Danach
sollten die bestehenden Grenzen Tibets und Chinas er-
halten bleiben und von zukünftigen gegenseitigen Über-
griffen jeglicher Art abgesehen werden. Als Ngadhak Tri
Ralpachen von zwei Anhängern der Bön-Religion – der
traditionellen, vorbuddhistischen Religion – ermordet
worden war, trat sein älterer Halbbruder Lang Darma,
der ein Bön-Anhänger war, seine Nachfolge an. Mit sei-
ner Ermordung (durch einen Anhänger des Buddhis-
mus) endete die Herrschaft der Yarlung-Dynastie.5
Da Tibet nun keine Führung mehr hatte, entbrannte
ein Streit um die Nachfolge. Das tibetische Reich zerfiel
erneut in kleine Fürstentümer. Nachfahren des Herr-
schergeschlechts der Yarlung gründeten 866 das König-
reich Guge, welches zu einem späteren Zeitpunkt unter
die Herrschaft Lhasas fiel.
Um die Beweggründe für die Flucht aus Tibet besser
einordnen zu können, geben wir im Folgenden einen
Überblick zur Geschichte dieses Landes, das über eine
alte staatliche Tradition verfügt. Dabei werden auch die
Beziehungen zwischen Tibet und seinen Nachbarstaaten
– insbesondere China – beleuchtet und auch die Gründe,
weshalb China schliesslich Tibet unterwerfen konnte.
Nicht die eigentliche Oberherrschaft Chinas über Tibet
ist heute der Hauptgrund für eine Flucht aus Tibet, son-
dern vielmehr die chinesische Repression gegenüber
Tibet, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
massiv zugenommen hatte mit dem Ziel, die tibetische
Kultur auszulöschen. Bei der Darstellung zur Geschichte
Tibets stützen wir uns weitgehend auf die Standwerke
von Klemens Ludwig aus dem Jahr 2000 sowie von Hans
Mäder aus dem Jahr 1997.1
Die Frühzeit bis ins Jahr 866 nach Christus
Im Verlauf der Altsteinzeit, vor über 100 000 Jahren,2
begann die Besiedlung Tibets.3 Die ersten Einwanderer
zählt man heute zu den Mongolen. Obwohl später im-
mer wieder andere Völker den Weg nach Tibet fanden,
blieben die Bewohner Tibets ethnisch relativ homogen.
Bevor die Tibeter ungefähr vor 2500 Jahren sesshaft
wurden, zogen sie als Wanderhirten durchs Land.
Im zweiten Jahrhundert vor Christus begannen sich
sodann lokale Fürstentümer und kleine Königreiche zu
bilden. Zu behaupten vermochte sich jedoch nur eine
Dynastie, und zwar die Yarlung-Dynastie. Deren erster
König war Nyatri Tsenpo. Nach 40 weiteren Königen
zerfiel das Land erneut in kleinere Königreiche. Namri
Songtsen – ebenfalls König der Yarlung-Dynastie –
führte diese am Anfang des 7. Jahrhunderts nach Chri-
stus allmählich wieder zusammen. Im Jahr 620 wurde
dessen Sohn, Songtsen Gampo, inthronisiert, welcher als
Gründer des tibetischen Grossreichs sowie der heutigen
Hauptstadt Lhasa gilt.
Aus Angst vor militärischen Übergriffen durch die
mächtige Armee Tibets, gaben ihm (Songtsen Gampo)
der nepalesische König und der chinesische Kaiser je
eine Tochter zur Frau. Im Jahr 637 ging Songtsen Gampo
– bereits mit drei4 tibetischen Frauen verheiratet – so-
mit das eheliche Bündnis mit der nepalesischen Prin-
zessin Bhrikuti und 641 mit der chinesischen Prinzessin
Hintergrund:
Notizen zur Geschichte Tibets
Kapitel_3_Frick_Good.indd 65 26.07.11 13:45
66 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
ihm hörigen Mönch und bemächtigte sich dadurch der
Herrschaft über Tibet. Bis zum Einfall der westmongo-
lischen Dsungaren 1717, welche Lhabtsang Khan ermor-
deten und den von ihm erkorenen Sechsten Dalai Lama
absetzten,11 konnte er seine Herrschaft sogar noch erwei-
tern.
Tibetisch-mandschurische Beziehungen
von 1720 bis 1913
Nachdem die Mandschus – Angehörige eines mongo-
lischstämmigen Volks – 1644 China überwältigt und
dort die Quing-Dynastie etabliert hatten, planten sie
die Eroberung von Tibet.12 Da die Mandschus aber ihr
Ziel nicht durch einen militärischen Übergriff erreichen
wollten, suchten sie nach einer anderen Möglichkeit: Im
Jahr 1720 unternahm der Siebte Dalai Lama eine Reise
von Kumbum in Nordosttibet nach Lhasa; zum Geleit –
die kürzlich eingefallenen Dsungaren hatten es auf den
jungen Siebten Dalai Lama abgesehen – liess ihm der
Mandschu-Kaiser K’Ang-Hsi 4 000 Soldaten zukommen.
Er machte sich durch diese Geste bei den Tibetern sehr
beliebt.
Noch im gleichen Jahr unterzeichneten der Dalai
Lama und der Mandschu-Kaiser einen Vertrag, «dessen
genauer Inhalt heute nicht mehr bekannt ist. Vermutlich
vereinbarten sie eine Oberherrschaft des Mandschu-
Kaisers, deren Bedeutung und Tragweite jedoch be-
schränkt waren. . . . Die aus dem Vertrag von 1720
zwischen dem Siebten Dalai Lama und dem Mandschu-
Kaiser resultierende Beziehung war ihrer tatsächlichen
Natur nach nicht mehr als eine Chö-Yön-Beziehung . . . ,
die formell schon vorher bestanden hatte, aber bisher
bloss ein Ausdruck diplomatischer Höflichkeit und Tra-
dition ohne effektive Bedeutung gewesen war. Mit den
Ereignissen von 1720 erhielt nun die Chö-Yön-Bezie-
hung mit den Mandschus eine praktische Dimension».13
Inzwischen konnten die Tibeter mit ihrer eigens nach
dem Einfall der Dsungaren aufgebauten Armee – und
nicht zuletzt dank der Nachricht von den anrückenden
Mandschu-Soldaten – die Dsungaren aus ihrem Land
vertreiben.
Die Mandschus hatten dadurch «einen Fuss im Tür-
spalt»14 und erreichten somit durch Yung-Cheng (Sohn
und Nachfolger des Mandschu-Kaisers K’Ang-Hsi’s),
Tibetisch-mongolische Beziehungen
im 14. und frühen 18. Jahrhundert
Im frühen 13. Jahrhundert kam es zu immer häufigeren
Kontakten zwischen den Tibetern und den Mongolen.
Nachdem Fürst Dschingis Khan im Jahr 1206 die im
Streit liegenden mongolischen Stämme wieder zusam-
mengeführt und ein ansehnliches Reiterheer aufgebaut
hatte, drangen die Mongolen bereits im folgenden Jahr
in Tibet ein. Die Tibeter unterwarfen sich den Mongolen
daraufhin widerstandslos. Da sich der mongolische Hof
sehr für den Buddhismus interessierte, ersuchte Godan
Khan, ein Enkel des Dschingis Khan, die Tibeter um eine
Einführung in den Buddhismus. Er traf diesbezüglich
1240 mit dem tibetischen Lokalherrscher Kunga Gyalt-
sen eine Abmachung. Durch diese Abmachung standen
die beiden Völker unter einer Chö-Yön-Beziehung, was
man in unserem Sprachgebrauch etwa als «Priester-
Patron-Verhältnis»6 bezeichnen könnte. Diese Chö-Yön-
Beziehung beinhaltete für die eine Partei «die Pflicht zur
religiösen Unterweisung und Beratung des Partners»7
und für die andere Partei «die militärische Beistands-
pflicht».8 Kunga Gyaltsen wurde im Jahr 1249 von
Godan Khan zum Vizekönig von Tibet ernannt. Drögon
Phakpa, ein Neffe von Kunga Gyaltsen, wurde 1253 9 vom
Nachfolger Dschingis Khans, Kublai Khan – ebenfalls ein
Enkel Dschingis Khans – sogar zum Herrscher über ganz
Tibet ernannt. Über 100 Jahre herrschten nun – unter-
stützt durch die Mongolen – buddhistische Priesterkö-
nige, welche die politische und religiöse Herrschaft in-
nehatten. Die tibetisch-mongolische Chö-Yön-Beziehung
endete im Jahr 1350, was für Tibet wieder die vollstän-
dige Unabhängigkeit mit sich brachte.
Da nun die Schirmherrschaft der Mongolen über Ti-
bet beendet war, wurde das Land für drei Jahrhunderte
lang erneut von unabhängigen Königen regiert. In der
Mitte des 17. Jahrhunderts begann schliesslich die Herr-
schaft der Dalai Lamas über Tibet. Der erste in dieser
Reihe war der so genannte Fünfte Dalai Lama. Die ersten
vier Dalai Lamas hatten zwar bereits diesen Titel getra-
gen, jedoch nicht über die politische Macht verfügt.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts tauchten die Mongo-
len nochmals in der Geschichte Tibets auf:10 1706 setzten
die Koshot-Mongolen den zu diesem Zeitpunkt herr-
schenden Sechsten Dalai Lama ab. Der Fürst der Koshot-
Mongolen, Lhabtsang Khan, ersetzte diesen durch einen
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67Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
6 Mäder (1997), S. 21.
7 Ebenda.
8 Ebenda.
9 Gemäss Ludwig (2000) erst im Jahr 1260.
10 Laut Ludwig (2000), S. 52–53 fand bereits im Jahr 1577 ein erneu-
ter Kontakt zwischen Tibetern und Mongolen, und zwar im Zu-
sammenhang mit der Einführung in den Buddhismus (vgl. weiter
oben), statt.
11 Ludwig (2000) erwähnt in diesem Zusammenhang nichts von
einer Ermordung Lhabtsang Khan’s und einer Absetzung des von
ihm ernannten Sechsten Dalai Lamas durch die westmongoli-
schen Dsungaren.
12 Hier und im Folgen nach Mäder (1997), S. 25–29 und S. 32–33.
13 Mäder (1997), S. 26.
14 Ebenda.
15 Ebenda, S. 33.
16 Ebenda, S. 30.
17 Ebenda.
Tibet ein, besiegte die tibetische Armee und stiess bis
nach Lhasa vor. Der Dreizehnte Dalai Lama floh auf-
grund der Ereignisse in die Mongolei.
Bevor die Briten wieder abzogen, zwangen sie die
Tibeter am 7. September 1904 zur Unterzeichnung der
Lhasa-Konvention. Diese Konvention gewährte den
Briten einige Sonderrechte, wie zum Beispiel «die Errich-
tung britischer Handelsvertretungen in Gyantse, Gar-
tok und Yatung».16 Ebenso gewährte diese Konvention
den Briten eine beträchtliche Entschädigungssumme für
die im Krieg gegen die Tibeter entstandenen Unkosten.
Artikel 9 der Konvention hielt zudem fest, dass «ohne
vorgängige Zustimmung Englands keine ausländische
Macht tibetisches Territorium erwerben oder besetzen
oder sich in tibetische Angelegenheiten einmischen
dürfe».17 Die Unterzeichnung der Lhasa-Konvention
durch England kam einer Anerkennung der Autonomie
Tibets gleich.
Nach nicht einmal zwei Jahren unterzeichnete Gross-
britannien am 27. April 1906 ein Abkommen mit der
Mandschu-Regierung, das die im erwähnten Artikel 9
der Lhasa-Konvention anerkannte Autonomie Tibets
wieder aberkannte. In Artikel 2 dieses neuen Abkom-
mens zwischen Grossbritannien und der Mandschu-
Regierung hiess es: «The Government of Great Britain
engages not to annex Tibetan territory or to interfere in
the administration of Tibet. The Government of China
also undertakes not to permit any other foreign state to
interfere with the territory or internal administration of
dass sie zwei Ambane (kaiserliche Repräsentanten) und
eine Anzahl Soldaten in Lhasa aufstellen durften. Bald
aber mischten sich die Mandschus unberechtigt in die
Aussenpolitik Tibets ein.
Als dann 1788 und 1792 hinduistische Ghurkas
(diesen Namen erhielten die Eindringlinge zu einem
späteren Zeitpunkt von den Engländern) aus Nepal in
Tibet einfielen, standen die Mandschus den Tibetern –
wie es die Chö-Yön-Beziehung vorsah – zur Seite, um
die Ghurkas zu verdrängen. Die Mandschus nutzten
diese Situation aber gnadenlos aus, um der tibetischen
Staatsmacht die Anerkennung der «29 Punkte für die
Verwaltung Tibets» im Jahr 1793 aufzuzwingen. Diese
Punkte liessen den Mandschus die alleinige Kompetenz
über die tibetische Aussenpolitik zukommen.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts fielen die Mandschus
schliesslich schwer bewaffnet in Osttibet ein; im Februar
1910 nahmen sie die Hauptstadt Lhasa ein. Der damals
herrschende Dreizehnte Dalai Lama ergriff daraufhin die
Flucht und begab sich nach Darjeeling (Indien). In China
löste am 10. Oktober 1911 ein chinesischer Arzt, Dr. Sun
Yat-sen, einen politischen Umsturz aus; die Tage der
Herrschaft der Quing-Dynastie waren gezählt. Der letzte
Mandschu-Kaiser trat im Februar 1912 zurück.
Etwa zur gleichen Zeit fingen die Tibeter an, sämt-
liche Mandschus und Chinesen aus ihrem Territorium
zu vertreiben. Als der Dreizehnte Dalai Lama im Juni
1912 heimkehrte, legte er dem chinesischen General
Zhong Yin und dem Mandschu-Amban Lian Yu nahe,
Tibet samt ihren Truppen zu verlassen. «Kapitulation,
Entwaffnung und Heimkehr»15 klärten zwei staatliche
Übereinkommen zwischen Tibet und China vom 12.
August 1912 beziehungsweise vom 14. Dezember 1912.
Die Oberhoheit der Mandschus über die Tibeter war
nun zu Ende.
Britische Eingriffe bis zur Tibeter
Unabhängigkeitserklärung von 1913
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte die in Indien
stationierte britische Kolonialmacht ihr Interesse an Ti-
bet. Mit Hilfe speziell ausgebildeter Inder (Pandits), die
sich als fromme Pilger tarnten, war es den Briten mög-
lich, Tibet heimlich zu vermessen. 1903 marschierte ein
britisches Armeekorps unter Francis Younghusband in
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68 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Verpflichtung ein, die territoriale Integrität des Landes
Tibet zu respektieren und sich nicht in die Verwaltung
des «äusseren Tibets» einzumischen. China verpflich-
tete sich ferner, Tibet nicht in eine chinesische Provinz
umzuwandeln, keine chinesischen Kolonien in Tibet ein-
zurichten und keine Truppen in das «äussere Tibet» zu
entsenden. Grossbritannien verpflichtete sich seinerseits,
Tibet weder ganz noch teilweise zu annektieren, keine
Truppen in Tibet zu stationieren und auch keine Kolo-
nien dort einzurichten.23
Am 27. April 1914 unterzeichneten die Vertreter der
drei Vertragsparteien den Vorschlag Grossbritanniens.
Bereits am darauf folgenden Tag jedoch verleugnete die
chinesische Regierung ihren Vertreter Yifan Zhen und
lehnte es ab, den britischen Vorschlag zu akzeptieren. Da
China keine Anstalten mehr machte, den ausgehandel-
ten Kompromissvorschlag doch noch anzuerkennen, un-
terzeichneten der Tibeter Lönchen Ganden Paljor Dorje
Shatra und der Brite Arthur Henry McMahon am 3. Juli
1914 eine bilaterale Erklärung, welche die Einhaltung des
am 27. April 1914 in Simla unterzeichneten Vorschlags
für Tibet und Grossbritannien obligatorisch machte.
China hingegen sollte aufgrund seiner Verweigerungs-
haltung keinerlei Rechte auf tibetisches Gebiet zugespro-
chen werden. Tibet behielt somit seine gesamte Staats-
fläche, seine Unabhängigkeit sowie seine Hoheitsgewalt.
Entscheidend ist, dass Grossbritannien mit Unterzeich-
nung der bilateralen Erklärung vom 3. Juli 1914 einmal
mehr das Selbstbestimmungsrecht Tibets anerkannte.24
In den Jahren 1917/18 griffen chinesische Truppen Ti-
bet erneut an, jedoch ohne das Land erobern zu können.
Der britische Vizekonsul Eric Teichmann vermittelte
zwischen beiden Kriegsparteien. Seine Bemühungen
mündeten in ein Waffenstillstands- und Grenzabkom-
men. Dieses wurde von Tibet und China am 19. August
1918 unterzeichnet und am 10. Oktober 1918 durch ein
Truppenentflechtungsabkommen ergänzt.
Nun folgte für ein paar Jahre eine friedliche Zeit-
spanne für Tibet. Doch als der Dreizehnte Dalai Lama
am 17. Dezember 1933 starb, brach für die Tibeter wie-
derum eine Zeit der Ungewissheit an, denn in seinem
Testament hatte er die kommenden Ereignisse bereits
prophezeit. Das Verhalten der Chinesen lieferte eine
Vorahnung zukünftiger Schwierigkeiten für Tibet: Un-
ter dem Vorwand, ihr Beileid über den Tod des Dalai
Lama bekunden zu wollen, reiste 1934 eine chinesische
Tibet».18 Damit wurde der Eindruck vermittelt, China
habe eine Verfügungsbefugnis über Tibet. Die tibetische
Regierung betrachtete dieses Abkommen jedoch nicht
als bindend.
Am 13. Februar 1913 verkündete der Dreizehnte Dalai
Lama schliesslich – die Oberhoheit der Mandschus über
Tibet war 1912 mit dem Sturz des Kaiserhauses beendet
– die Unabhängigkeitserklärung Tibets. Er ergriff jedoch
keine völkerrechtlichen Massnahmen, um zukünftigen
ausländischen Ansprüchen zu trotzen.
Entwicklung bis zum Einmarsch der
chinesischen «Volksbefreiungsarmee»
Nach der Unabhängigkeitserklärung Tibets herrschte
einerseits Krieg zwischen Tibet und China, und ande-
rerseits plante Grossbritannien ein Ende seiner mili-
tärischen Eingriffe in Tibet. Grossbritannien drängte
jedoch zuerst auf einen Friedensabschluss, da das Land
sonst seine Handelsbeziehungen mit Tibet gefährdet
sah. Auf britische Initiative hin trafen sich Vertreter von
Tibet, Grossbritannien und China im Oktober 1913 zu
einer Konferenz im nordindischen Simla.19 Ziel dieser
Konferenz war ein gemeinsames Abkommen. Alle drei
Länder entsandten hochrangige Beamte zur Konferenz.
Der tibetische Ministerpräsident Lönchen Ganden Paljor
Dorje Shatra ergriff als erster das Wort und stellte klar,
dass Tibet das Abkommen zwischen Grossbritannien
und der Mandschu-Regierung vom 27. April 1906 nicht
anerkenne und er fügte hinzu, dass Tibet in Zukunft
weder chinesische Soldaten noch chinesische Siedler
in seinem Land akzeptiere. Der Vertreter Chinas, Yifan
Zhen, behauptete jedoch, China sei seit 1793 20 im Besitze
der Hoheitsgewalt über Tibet. Zur Beilegung dieses Kon-
flikts schlug Grossbritannien eine Kompromisslösung
vor: «ein relativ breiter Streifen Osttibets»21 soll China
zugewiesen werden, die restliche Staatsfläche hingegen
soll in ein «inneres Tibet», bestehend aus östlichen und
nördöstlichen Landesteilen, und ein «äusseres Tibet», be-
stehend aus Zentral- und Westtibet sowie den Gebieten
von Kham und Amdo geteilt werden.22 Dieser Vorschlag
enthielt stillschweigend die Anerkennung einer Ober-
herrschaft Chinas über grosse Teile Tibets, andererseits
aber auch die Anerkennung der Unabhängigkeit des
«äusseren Tibets». Zudem gingen England und China die
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69Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
18 Ebenda, S. 31.
19 Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 34–38 sowie nach
Ludwig (2000), S. 62.
20 Vgl. Unterkapitel «Tibetisch-mandschurische Beziehungen von
1720 bis 1913», insbesondere die Ausführungen zu «29 Punkte
für die Verwaltung Tibets» (1793).
21 Mäder (1997), S. 34.
22 Ebenda.
23 Ebenda, S. 34–35.
24 Vgl. Unterkapitel «Britische Eingriffe bis zur Tibeter Unabhängig-
keitserklärung von 1913».
25 Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 41–44 sowie nach
Ludwig (2000), S. 71–72.
26 Ludwig, S. 71.
27 Mäder (1997), S. 42–43.
28 Ebenda, S. 43.
Widerrechtliche Besetzung 1950
Aufgrund einer Mitteilung, chinesische Spione seien in
Tibet tätig, forderte die Regierung in Lhasa am 8. Juli
1949 alle seit 1947 in Tibet ansässigen Chinesen auf,
das Land zu verlassen.25 Doch noch im selben Sommer
entsandte die chinesische «Volksbefreiungsarmee» grös-
sere Truppenverbände nach Tibet. Zeigten sie sich zuerst
gegenüber der tibetischen Bevölkerung noch freund-
lich, stachelten sie mit der Zeit die Kinder an, gegen ihre
Eltern zu rebellieren, sich von den tibetischen Traditi-
onen abzukehren und ihre Religion zu verleugnen.
In China kam am 1. Oktober 1949 die kommuni-
stische Partei an die Macht und deren Vorsitzender Mao
Tsetung rief die Volksrepublik China aus. Ihrer Macht-
übernahme war der erzwungene Rücktritt der Kuomin-
tang-Regierung vorausgegangen. Die «Heimkehr Tibets
ins chinesische Mutterland»26 war eines der wichtigsten
Ziele der neuen chinesischen Führung unter Mao Tse-
tung.
Bereits ein Jahr später, am 7. Oktober 1950, griff ein
von Osten her kommendes zirka 40 000 Mann starkes
Heer der chinesischen «Volksbefreiungsarmee» Tibet
an sechs bis acht Stellen gleichzeitig an.»27 Da die tibe-
tische Armee über keine moderne Kriegsausrüstung ver-
fügte, konnten die Chinesen schon am 19. Oktober 1950
die strategisch wichtige Provinzhauptstadt von Kham,28
Chamdo, erobern und den Gouverneur und Militärkom-
mandanten von Kham gefangen nehmen. Zwei Wochen
nach Kriegsbeginn – 4 000 tibetische Soldaten und Offi-
ziere hatten inzwischen den Tod gefunden – kapitulierte
Delegation nach Lhasa, um eine Gesandtschaft in Tibet
zu errichten.
Im zweiten Weltkrieg beharrte Tibet darauf, neu-
tral zu bleiben, und weigerte sich, als Transitland für
Waffentransporte von Indien nach China zu fungieren.
Diplomatische und internationale Beziehungen wurden
hingegen ausgebaut: Anfangs 1940 begann die tibetische
Regierung mit der Einrichtung eines Amtes für Auswär-
tige Angelegenheiten in Lhasa.
Kurz nach Kriegsende, im Frühjahr 1946, reiste eine
tibetische Delegation nach Nanjing (China), um den
Chinesen zum Sieg, den die Alliierten über Japan er-
rungen hatten, zu gratulieren. Infolge Ausbruchs einer
Krankheit mussten die tibetischen Delegierten ihren
Aufenthalt in Nanjing verlängern. Nachdem sie diese
Zeit genutzt hatten, um verschiedene Provinzen Chinas
zu besuchen, kehrten sie wieder in Nanjing ein. Kurz
vor ihrem Eintreffen hatte die Kuomintang-Regierung
unter Chiang Kai-shek die verfassunggebende Natio-
nalversammlung Chinas eröffnet. Die tibetischen Dele-
gierten nahmen – nach Rückkehr von ihrer Rundreise
– an dieser Nationalversammlung teil; aufgrund wider-
sprüchlicher Quellen ist nicht klar, ob diese Teilnahme
auf freiwilliger oder erzwungener Basis geschah. Da
aber die chinesischen Vertreter den Standpunkt vertra-
ten, Tibet unterwerfe sich durch seine Teilnahme an der
Nationalversammlung der Kuomintang-Regierung,
traten die tibetischen Vertreter unverzüglich ihre Rück-
reise nach Tibet an. Trotzdem gelang es China, dafür zu
sorgen, dass einzelne Tibeter dennoch an der National-
versammlung teilnahmen. Die chinesische Regierung
nutzte diesen Umstand, um zu erklären, Tibet sei ein
Bestandteil Chinas.
Als eine tibetische Delegation im März 1947 an
der «Asian Relations Conference» im indischen Dehli
teilnahm, zweifelte niemand an Tibets Staatlichkeit und
Unabhängigkeit. Bei Besuchen einer tibetischen Handels-
delegation in Indien, China, Grossbritannien, Frankreich,
den USA, Italien und der Schweiz in den Jahren 1947/48
wurden die Reisepässe, welche die tibetische Regierung
ausgestellt hatte, überall anerkannt. Bereits 1947 hatte
Tibet sämtliche in Lhasa wohnhaften chinesischen Beam-
ten aufgefordert, das Land zu verlassen.
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70 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
China die Herrschergewalt über Tibet besass. In den
folgenden Jahren verschlechterte sich die Situation in
Tibet immer mehr. 1956 brach deshalb im Osten des
Landes ein Guerillakrieg aus. Dies führte nach anfäng-
lichen Erfolgen der Guerillas dazu, dass China 1957 die
Präsenz der Soldaten noch verstärkte.32
Am 1. März 1959 suchten zwei chinesische Offiziere
den Dalai Lama auf, um ihn zum Besuch einer Theate-
raufführung im Hauptquartier der chinesischen «Volks-
befreiungsarmee» in Lhasa zu gewinnen. Auf Wunsch
des Dalai Lama sollte diese Aufführung am 10. März 1959
stattfinden. Ein chinesischer Brigadier befahl darauf, der
Dalai Lama solle «ohne seine übliche Begleitung, ohne
Leibwache und unter strengster Geheimhaltung»33 zur
Theateraufführung kommen. Zudem erlaubte er keinem
– bis auf einen oder zwei unbewaffnete – Tibeter, dem
Dalai Lama zur Theateraufführung zu folgen. Diese selt-
same Vorgehensweise beunruhigte die tibetische Bevöl-
kerung. Diese befürchtete, dass die Chinesen den Dalai
Lama entführen wollten. Um dies zu verhindern, ver-
suchten sie, den Dalai Lama von der Teilnahme an der
Theateraufführung abzuhalten. Frühmorgens belagerten
deshalb Tausende von Tibetern die Sommerresidenz des
Dalai Lama. Dies geschah jedoch nicht nur zum Schutz
des Dalai Lama, sondern auch im Zeichen eines aufkei-
menden Widerstandes gegen die chinesische Besatzung.
Die tibetische Regierung gab darauf bekannt, dass sie die
Gültigkeit des «17-Punkte-Abkommens» von 1951 nicht
anerkenne. Zudem legte sie den Chinesen nun nahe, Ti-
bet zu verlassen. Als am 17. März 1959 chinesische Sol-
daten zwei Granaten abschossen, beschloss der Dalai
Lama, nach Indien zu fliehen.
In der Folge brach ein grausamer Krieg zwischen den
Tibetern und den Chinesen aus, welcher sich in jeder
Hinsicht zuungusten der Tibeter auswirkte. Nachdem
die Chinesen die Regierung Tibets am 28. März 1959 for-
mell aufgelöst hatten, gründete der Dalai Lama, noch auf
seiner Flucht nach Indien, eine tibetische Exilregierung.
Gleichzeitig dementierte er zum zweiten Mal die Gültig-
keit des «17-Punkte-Abkommens».
die tibetische Armee. Am 7. November 1950 erfolgte
schliesslich ein Hilferuf seitens der Tibeter an die UNO.
Diese hatte jedoch alle Hände voll mit dem Korea-Krieg
zu tun und entschied deshalb, in der Angelegenheit
Tibets vorerst nichts zu unternehmen.
Angesichts der prekären Lage übertrugen die tibe-
tische Nationalversammlung und die tibetische Regie-
rung dem fünfzehnjährigen Vierzehnten Dalai Lama am
17. November 1950 die religiöse und politische Macht.
Rund einen Monat später floh er aus Lhasa, auf Anra-
ten des Staatsorakels und auf Wunsch des Ministerrates,
welche beide eine Flucht aufgrund der derzeitigen Situa-
tion für angezeigt hielten.
In der Absicht, Friedensgespräche zu führen, begab
sich im Februar 1951 eine tibetische Delegation in die
chinesische Hauptstadt. Sie hatte jedoch keine Befug-
nis, Verträge abzuschliessen. In Peking aber warteten
ihr die Chinesen bereits mit einem vorgefertigten Ab-
kommen, dem «17-Punkte-Abkommen», auf. In diesem
Abkommen wird Tibet einerseits als Teil Chinas behan-
delt, anderseits wird Tibet – paradoxerweise – in in-
nenpolitischen Bereichen das Selbstbestimmungsrecht
zugestanden. Nachdem die Chinesen den tibetischen
Abgeordneten gedroht hatten, die chinesische «Volksbe-
freiungsarmee» würde Lhasa zur bedingungslosen Kapi-
tulation zwingen,29 falls sie das «17-Punkte-Abkommen»
nicht anerkannten, unterzeichneten die Tibeter jenes
am 23. Mai 1951. Für die Chinesen war und ist dieses
Abkommen der Nachweis ihres angeblichen Anspruchs
auf Tibet.
Weitere Ereignisse bis zum Volksaufstand
von 1959
Am 9. September 1951, kurz nach der Heimkehr des
Vierzehnten Dalai Lama, hielten 3 000 Soldaten der
chinesischen «Volksbefreiungsarmee» Einzug in Lhasa;
im Dezember wurden bereits über 20 000 chinesische
Soldaten gezählt.30 Diese machten sich bei der tibe-
tischen Bevölkerung rasch unbeliebt, denn u.a. erleich-
terten sie die Tibeter um grössere Mengen Gerste, was zu
einer Versorgungskrise in der tibetischen Bevölkerung
führte.31
Im Frühjahr 1954 schlossen China und Indien einen
Freundschaftsvertrag ab. Darin akzeptierte Indien, dass
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71Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
jedoch erhebliche Mängel auf. Hinzu kommt, dass die
neu erbauten Wohnungen für die meisten Tibeter viel zu
teuer sind; dies führt dazu, dass viele in unzureichenden
Behausungen ausserhalb der Stadt Lhasa wohnen.
Weitere Modernisierungen sah das Projekt «Lhasa
2000» vor. Laut diesem Projekt sollte Lhasa eine
«moderne sozialistische Stadt mit nationalen Charakteri-
stika»37 werden. Tatsächlich wurde dieses Projekt weitge-
hend realisiert. Gemäss einer Untersuchung des «Centre
on Housing Rights and Eviction» von 1994 bestehen in
Lhasa gerade noch zwei Prozent der Wohnviertel aus
traditionellen tibetischen Gebäuden. Auch wirtschaftlich
sind die Tibeter im eigenen Land von den Chinesen ins
Abseits gedrängt worden. Die Zahl der von Tibetern ge-
führten Betriebe in und um Lhasa nimmt weiter ab.38
Wirtschaftlich beutete China Tibet weiter aus, in-
dem Tausende von Bäumen abgeholzt und nach China
transportiert wurden. In der Zeit zwischen dem Ein-
marsch der chinesischen «Volksbefreiungsarmee» 1950
bis ins Jahr 1992 reduzierte sich die Waldfläche Tibets
um 106 000 km2. Das entsprach einer zweieinhalb Mal
so grossen Fläche wie die Schweiz. In der Folge begann
der Boden zu erodieren. Strassen, die entlang von Steil-
hängen gebaut worden waren, beschleunigten diese
Erosion noch zusätzlich. Unter den Folgen der Abhol-
zung hat aber nicht nur Tibet, sondern ganz Asien zu
leiden: Da das Hochland Tibets der Ursprung aller be-
deutenden asiatischen Flüsse ist und die nunmehr abge-
holzten Böschungen die enormen Wassermengen wäh-
rend der Monsunzeit nicht mehr zurückhalten können,
kommt es infolge Verschlammung der Flüsse zu weitflä-
chigen Überschwemmungen.
Sinisierung, ideologischer Terror
und chinesische Repressionen
Sinisierung
Der Begriff Sinisierung umschreibt nicht nur die An-
siedlung von Chinesen in tibetischem Territorium und
die ökologische Ausbeutung Tibets durch die Chinesen,
sondern auch den Abriss tibetischer Wohnquartiere, die
durch chinesische Neubauten ersetzt wurden, sowie die
Ausbeutung und Verdrängung der Tibeter durch die
Chinesen auf wirtschaftlicher Ebene.34
Um den Bevölkerungsdruck in China zu vermindern,
hat die chinesische Regierung verschiedene Anreize
geschaffen, die den Chinesen eine Ansiedlung in Tibet
schmackhaft machen sollen. So erhalten sie zum Beispiel
beträchtliche Verbilligungen auf wirtschaftlicher Ebene
oder sie werden bei der Arbeitssuche den Tibetern vor-
gezogen. Tatsache ist: Im ursprünglichen Tibet leben
etwa zehn Millionen – gemäss Berichten von Exiltibe-
tern sogar elf bis zwölf Millionen – Chinesen; die Zahl
der Tibeter beläuft sich hingegen laut einer chinesischen
Volkszählung von 1990 nur auf 4,59 Millionen.
Das tibetische Agrarland ist heute vielerorts nicht
mehr brauchbar. Dies kam, weil die Chinesen die Tibe-
ter zwangen, Weizen35 statt Gerste anzupflanzen und sie
anwiesen – um die Ernteerträge in die Höhe zu treiben
– massenweise Düngemittel und Pestizide anzuwen-
den. Was die Viehweiden betrifft, so wurden auch diese
übernutzt und sind deshalb weitgehend abgegrast.
Weil die chinesische Propaganda verkündete, dass
Tiere in Tibet «dem chinesischen Volk Platz und Nah-
rung wegnehmen und deshalb keine Existenzberechti-
gung haben»,36 schossen die chinesischen Besatzer diese
Tiere wahllos nieder. Viele für Tibet charakteristische
Tierarten sind deshalb ausgestorben oder stark dezi-
miert. Auch keine Skrupel zeigte China bei der Lagerung
radioaktiver Abfälle, die auf tibetischem Gebiet erfolgte.
Diese Abfälle stammen teilweise aus China selbst, aber
auch aus westlichen Staaten, welche dafür bezahlen, dass
China ihre radioaktiven Abfälle entsorgt.
Ohne Miteinbezug der tibetischen Bevölkerung
erstellten die chinesischen Behörden in den Jahren
1980/1984 den «Lhasa Development Plan». Dieser sah
vor, tibetische Wohnquartiere abzureissen und an deren
Stelle Neubauten nach chinesischem Muster zu errich-
ten. Gemäss diesem Plan errichtete Neubauten weisen
29 Ebenda, S. 44.
30 Ebenda, S. 45.
31 Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 45–50 sowie nach
Ludwig (2000), S. 73–74 und S. 76.
32 Mäder, S. 47.
33 Ebenda, S. 48.
34 Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 46, S. 50, S. 54–55,
S. 60, S. 64–65, S. 142–143 sowie nach Ludwig (2000), S. 10,
S. 78–80, S. 85–86 sowie S. 94–97.
35 Dieses Getreide ist jedoch viel zu anspruchsvoll für den tibeti-
schen Hochlandboden.
36 Mäder (1997), S. 60.
37 Ludwig (2000), S. 97.
38 Mäder (1997), S. 65.
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72 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Auf dem Marktplatz von Bayi 1995. Bayi im Dreiländer-Eck China / Burma / Indien entwickelte sich aus einem Militärlager. In dieser Satellitenstadt
leben 30 000 Menschen, zu 99 Prozent Chinesen. Bayi sollte als neue Hauptstadt Tibets Lhasa ablösen (oben).
Lhasa 1995. Tibetische Pilger folgen zubetonierten Spuren ihrer spirituellen Vergangenheit, streng beobachtet vom chinesischen Militär (unten).
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73Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
39 Mäder (1997), S. 46.
40 Vgl. Unterkapitel «Weitere Ereignisse bis zum Volksaufstand von
1959».
hat man nie wieder gesehen. Nur wenige kehrten nach
jahrelanger Gehirnwäsche und Indoktrination nach
Tibet zurück».39
Auf den Volksaufstand von 1959 40 – an welchem sich
die Tibeter ja nur gegen die ungerechtfertigte Beset-
zung durch China wehrten – reagierte die chinesische
Staatsmacht, indem sie zahlreiche tibetische Männer
in Zwangsarbeitslager verbannten oder ins Gefängnis
steckten. Chinesische Wachen löschten ganze Familien
Ferner scheuten die Chinesen nicht davor zurück, sich
der tibetischen Bodenschätze zu bemächtigen. Gold, Sil-
ber, Uranerz, Lithium, Borax, Eisen, Kupfer usw. tragen
sie im Tagebau ab, ohne sich der Folgen für die Umwelt
bewusst zu sein. In der Nähe solcher Abtragungsstätten
ist es deshalb zu Krankheiten wie zum Beispiel Haut-
ausschlag oder Durchfall gekommen, mit welchen die
Tibeter zuvor noch nie konfrontiert worden sind. Diese
führen zum Teil sogar zum Tod.
Ideologischer Terror und chinesische Repressionen
Mit dem Ziel, sie in China zu Kommunisten umzu-
erziehen, entführten die Chinesen zahlreiche tibetische
Kinder und Jugendliche. «Die meisten dieser Kinder
Der zerstörte Shide Tratsang-Tempel in Lhasa 1997. Aus dem 14. Jahrhundert stammend, ist dies einer der sechs Tempel, welche den Jokhang –
Tibets wichtigstes Heiligtum – umgeben.
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74 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Gründung der «Autonomen Region Tibet» 1965
Nicht einmal zwei Jahrzehnte nach der illegalen Beset-
zung durch China sollte das tibetische Territorium nicht
mehr das sein, was es einmal war.44 Am 9. September
1965 schuf China die «Autonome Region Tibet». Von
nun an bestand Tibet nicht mehr aus den drei Provin-
zen Ü-Tsang, Kham und Amdo, sondern nur noch aus
Ü-Tsang und dem westlichen Teil von Kham, der neu
geschaffenen «Autonomen Region Tibet». Dies hatte zur
Folge, dass Tibet ungefähr auf die Hälfte seines ehema-
ligen Territoriums zusammenschrumpfte. Der östliche
Teil von Kham gehörte von nun an zu den chinesischen
Provinzen Sichuan und Yünnan. Was die Provinz Amdo
betraf, so benannten die Chinesen einen Teil in Qing-
hai um, den anderen fügten sie ihren Provinzen Gansu
und Sichuan hinzu. Aus Sicht der Chinesen besteht Tibet
heute nur noch aus der «Autonomen Region Tibet».
Weitere Unruhen bis 1993
Die tibetische Widerstandsorganisation Chushi Gang-
drug, welche sich in der Region Mustang (Nepal) an der
Grenze zu Tibet aufhielt, überfiel jahrelang Militärbasen
und Geleitzüge der Chinesen.45 Hierbei wurde Chushi
Gangdrug über Jahre hinweg von den USA unterstützt.
Nachdem sich aber die US-Amerikaner immer mehr
den Chinesen angenähert hatten, zog sich die USA aus
ihrer Hilfestellung zurück. Die Chinesen forderten nun
den Dalai Lama immer wieder auf, dafür zu sorgen, dass
Chushi Gangdrug aufgab. Um ihrer Forderung Nach-
druck zu verleihen, liessen sie sogar, zwecks Unterbin-
dung des Nachschubs aus Nepal, die Grenze zu Mustang
sperren. Darauf gab der Dalai Lama Chushi Gangdrug
schliesslich den Befehl, die Waffen schweigen zu lassen.
1974 händigte sodann der Grossteil der Widerstands-
kämpfer seine Waffen dem nepalesischen Militär aus. In
der Folge wurden viele von ihnen von den Nepalesen
erschossen oder nahmen sich selbst das Leben. Trotz-
dem blieb Chushi Gangdrug noch ein paar Jahre darüber
hinaus aktiv.
Im Zusammenhang mit der anhaltenden chinesischen
Besetzung und einer Vorsprache des Dalai Lama beim
amerikanischen Kongress, worüber die chinesische Re-
gierung sehr entrüstet war, kam es Ende September 1987
aus, wenn sie bei Hausdurchsuchungen auf Waffen
stiessen. Buddhistische Mönche nötigten sie zu harter in-
humaner Arbeit, Nonnen deportieren sie in chinesische
Militärbordelle. Jeden Tag wurden Hunderte von Tibe-
tern in der Öffentlichkeit ausgepeitscht. Klöster, Tempel
und Kultstätten wurden zerstört, religiöse Gegenstände
zu besitzen war ein schweres Vergehen. Doch auch die
Bewegungsfreiheit der Tibeter in ihrem eigenen Land
wurde praktisch aufgehoben.
Als Abschluss eines harten Arbeitstages hatten Ti-
beter abends noch an den von den Chinesen ins Leben
gerufenen «Thamzings» teilzunehmen. Dort mussten sie
gegen ihren Willen die eigenen Eltern, Verwandten und
sogar Freunde beschimpfen und schlagen. Dies führte bei
vielen zu irreparablen Schädigungen der Sinnesorgane.41
Im Verlaufe der «Grossen Proletarischen Kulturrevo-
lution»42 führten die Chinesen sowohl in China als auch
in Tibet «einen fanatischen Kreuzzug gegen alles Tradi-
tionelle und Religiöse».43 Tibeter, die ihre Fensterbank
mit Blumen verzierten oder Haustiere hielten, wurden
für spiessbürgerlich gehalten. Tibeter, die es wagten, ihre
Haare und ihre Kleider nach tibetischer Tradition zu tra-
gen oder ihr Haus anlässlich des Neujahrsfestes zu kal-
ken, machten sich eines schweren Vergehens schuldig.
Infolge Kollektivwirtschaft, welche die chinesischen Be-
satzernach dem Volksaufstand von 1959 eingeführt hat-
ten und die nun weiter vorangetrieben wurde, mussten
tibetische Bauern und Nomaden ihre gewohnte Lebens-
weise aufgeben. Fast alle Klöster und Tempel, welche die
Chinesen nicht bereits zerstört hatten, wurden im Zuge
der Kulturrevolution dem Erdboden gleichgemacht.
Angeblich um die Tibeter vor den Problemen einer
stark anwachsenden Bevölkerung zu schützen, versu-
chen die Chinesen – mit illegalen Mitteln – auch heute,
den tibetischen Nachwuchs einzudämmen. Zu diesem
Zweck führen sogenannte mobile Geburtenkontroll-
teams Schwangerschaftsabbrüche durch oder machen
zahlreiche Frauen, die sich im gebärfähigen Alter be-
finden, unfruchtbar. Dabei ist es egal, in welchem ge-
sundheitlichen Zustand sich die Frauen befinden oder
wie viele Kinder sie bereits auf die Welt gebracht haben.
Meist geschieht dies sogar, ohne dass die Frauen etwas
davon wissen. Frauen, die sich einem Schwangerschafts-
abbruch unterziehen müssen, tragen oftmals seelische
Schäden davon, denn ein Lebewesen zu töten ist ein
Verbrechen für die Tibeter.
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75Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
41 Ludwig (2000), S. 79.
42 Die Kulturrevolution wurde von Mao Tse-tung im August 1966
angeheizt.
43 Ludwig (2000), S. 79.
44 Hier und im Folgenden nach Mäder (1997), S. 58–59 sowie nach
Ludwig (2000), S. 79.
45 Vgl. Mäder (1997), S. 61–62, S. 69–71 sowie Ludwig (2000),
S. 89–91.
46 Mäder (1997), S. 70.
47 Nach Angaben bei Ludwig (2000), S. 90 war dieser Mönch bereits
tot und dessen Tod der Grund für die Kundgebung.
48 Mäder (1997), S. 71.
49 Basler Zeitung vom 4. Juni 1991.
vere Art und Weise an. Die Agenten hatten sich gerade
noch in Sicherheit gebracht, als die Chinesen ziellos auf
die Menge der Demonstranten feuerten. Insgesamt ka-
men dabei über 450 Tibeter ums Leben, mehr als 1 000
Menschen kamen ins Gefängnis. Nachdem China am
7. März 1989 das Kriegsrecht über Lhasa und Umgebung
verhängt hatte, wurden nochmals über 200 Tibeter er-
schossen oder zu Tode geprügelt; die Menschenrechts-
organisation Amnesty International berichtete rück-
blickend im Jahr 1991 von über 1 000 Verhaftungen.49
Reisegruppen war auf Weisung Chinas der Zutritt nach
Lhasa während dieser Zeit verwehrt. Das Kriegsrecht
wurde im Mai 1990 wieder aufgehoben.
Rund vier Jahre später, am 24./25. Mai 1993, erfolgte
wieder eine grössere Kundgebung. Ein Kind im Alter von
zwölf Jahren sowie ein Erwachsener wurden während
dieser Kundgebung durch chinesische Sicherheitskräfte
umgebracht; zusätzlich wurden mehr als 200 Tibeter ins
Gefängnis geworfen, 88 Menschen trugen schwere Ver-
letzungen davon. Urlaubern aus dem Westen, welche
Bilder dieser schrecklichen Ereignisse gemacht hatten,
nahmen sie mit roher Gewalt die Filme ab und büssten
sie mit einer beträchtlichen Geldstrafe; 15 davon verhaf-
teten sie für kurze Zeit. Danach sorgten sie dafür, dass
alle Feriengäste ins Hotel zurückbefördert wurden, mit
der Auflage, nicht mehr ausgehen zu dürfen.
erneut zu Unruhen in Tibet. Der Grund dafür war, dass
die Chinesen zwei zu Unrecht des Mordes angeklagte
Tibeter erschossen. Dies geschah zudem in aller Öffent-
lichkeit vor den Augen ungefähr 15 000 weiterer Lands-
leute. Darauf wurde ein Protest unter den Tibetern laut.
Chinesische Polizisten verhafteten die Kundgebungs-
teilnehmer für kurze Zeit. Die Ereignisse vom Septem-
ber 1987 waren schliesslich der Auftakt zu weiteren
Demonstrationen.
Als kurz darauf am 1. Oktober 1987 – am chinesischen
Nationalfeiertag – eine Gruppe von Tibetern beim
Jokhang-Tempel in Lhasa an einer Kundgebung teil-
nahm, verhafteten chinesische Polizisten zahlreiche
Demonstranten, schlugen sie und hängten sie an den
Handgelenken, die sie ihnen auf dem Rücken zusam-
mengebunden hatten, auf. Aus Protest gegen solche Me-
thoden und gegen weitere Verhaftungen verübten die
Tibeter einen Anschlag auf den dort befindlichen chine-
sischen Polizeiposten. Ein paar ihrer Landsleute konnten
sie dadurch befreien. Bald aber zeigte sich die Überlegen-
heit der Chinesen den Tibetern gegenüber; währenddem
die tibetische Seite mehrere Toten, viele Schwerverletzte
und Verhaftete zu beklagen hatte, gab es auf chinesischer
Seite nur wenige Verletzte. Nach einem erfolglosen
Hilfsappell tibetischer Mönche an die UNO sowie der
Exilregierung an «alle freien und demokratischen Staa-
ten»46 nahmen die Chinesen am 6. Oktober erneut rund
60 Demonstranten fest, misshandelten diese und fügten
ihnen teils schwere Verletzungen zu.
Bei einer Kundgebung forderten Tibeter am 5. März
1988 die Freilassung eines sich in Haft befindenden sehr
beliebten Mönchs.47 Daraufhin fand in Lhasa wiederholt
ein ungleicher Kampf zwischen Tibetern und chine-
sischen Polizisten statt. Bei einem erneuten Anschlag auf
einen chinesischen Polizeiposten und auf mobile chine-
sische Fernsehstationen gab es weitere Auseinanderset-
zungen, bei denen die waffenlosen Tibeter den bestens
ausgerüsteten chinesischen Polizisten nichts entgegen-
zusetzen hatten. Zahlreiche Tibeter fielen diesen Ereig-
nissen zum Opfer.
Anfang März 1989 – 30 Jahre nach dem Volksauf-
stand – fand erneut eine Kundgebung im Kampf um die
Unabhängigkeit Tibets beim Jokhang-Tempel in Lhasa
statt. Da beschloss die chinesische Parteileitung «ein Ex-
empel zu statuieren».48 Als Tibeter verkleidet, stifteten
300 chinesische Polizeiagenten die Kundgebung auf cle-
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76 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Der Weg der tibetischen Flüchtlinge
nach Liechtenstein
betisches Mädchen den enormen körperlichen und see-
lischen Strapazen der Flucht. In Nepal angekommen be-
gaben sich diese Flüchtlinge ebenfalls nach Hong Kong.
Gemeinsam bestiegen nun alle 18 tibetischen Flücht-
linge ein Flugzeug und verliessen dieses, nach zweima-
liger Zwischenlandung, an einem unbekannten Ort; un-
bekannt deshalb, weil ihnen zum einen unsere Schrift-
zeichen unbekannt waren und zum anderen, weil ihnen
die Helfer keine genauen Auskünfte über den Verlauf
des Fluchtwegs erteilten. Von diesem unbekannten Ort
wurden sie, zuerst mit dem Zug, dann mit einem Bus,
auf einen Berg gefahren. Dort kümmerte sich ein älterer
Mann fürsorglich um die 18 tibetischen Flüchtlinge. Un-
gefähr einen Monat später, wurden sie über Nacht mit
einem Bus nach Liechtenstein gefahren.
Mit der Hilfe von Europäern flohen die 18 Tibeter im Som-
mer 1993 aus ihrer Heimat. Diese Flucht erfolgte spon-
tan, ohne lange Vorplanung.50 Ihre Familien konnten sie
über ihre Flucht nicht informieren, weil diese sonst durch
ihr Mitwissen in Schwierigkeiten gekommen wären. Es
fiel ihnen sehr schwer, ihre Familien einfach so zurückzu-
lassen. Die zur Flucht nötigen Papiere und zum Teil auch
die finanziellen Mittel erhielten sie von ihren Helfern.
Gemäss den Aussagen der Tibeter und den Aus-
führungen in den liechtensteinischen Regierungsakten
lassen sich grob zwei Fluchtwege unterscheiden: Wäh-
rend die einen von Tibet über Chengdu (China) in die
damalige britische Kronkolonie Hong Kong gelangten,
nahmen die anderen den Weg über das Himalayagebirge
auf sich, der sie nach Nepal führte. Dabei erlag ein ti-
Auf dem Fluchtweg kurz vor Tingri in Tibet. Der Lastwagen mit Vater und Tochter fährt in die Nacht hinein.
Ausgestellte Pilger-Pässe versprachen ein unbehelligtes Reisen.
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77Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
50 Hier und im Folgenden nach Interviews mit den tibetischen
Flüchtlingen, nach Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober
2001 durch Jeannette Good und Nadja Frick, nach Akteneinsicht
Landesarchiv vom 8. Oktober 2001 durch Jeannette Good, nach
Liechtensteiner Volksblatt vom 20. November 1993 sowie nach
Gespräch mit Markus Diethelm, Ausländer- und Passamt, Vaduz,
vom 2. November 2001.
Auf die Frage, warum sie denn eigentlich gerade Liech-
tenstein als Emigrationsziel ausgewählt hatten, stellte
sich heraus, dass keiner von ihnen je von Liechtenstein
gehört hatte. Sie haben sich in dieser Hinsicht voll und
ganz auf ihre Helfer verlassen.
Bilder von der Flucht der 18 Tibeter nach Liechten-
stein existieren keine. Die nachfolgend abgebildeten
Fotos von Manuel Bauer (aus Tibet, Nepal und Indien)
geben aber einen Eindruck, unter welch schwierigen
Umständen eine solche Flucht stattfand. Diese Bilder
dokumentieren die Flucht einse tibetischen Vaters
mit seiner sechsjährigen Tochter im Frühjahr 1995.
Der Fluchtweg dieser Menschen führte von Lhasa über
das Himalaya-Gebirge und Nepal ins nordindische
Dharamsala.
Vater und Tochter durchqueren die vereiste Ebene nach Tingri. Im Hintergrund sind die Berge des Himalaya zu erkennen.
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78 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Unterwegs im Himalaya-Gebirge. Die Flüchtlinge, angetrieben vom guten Wetter und der Angst entdeckt
zu werden, essen sehr wenig und gönnen sich kaum eine Pause (oben).
Die Erschöpfung zwingt die Flüchtlinge dann doch zu einzelnen Marschpausen (unten).
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79Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Vater und Tochter erreichen das mit Gebetsfahnen geschmückte Passheiligtum auf dem Nangpa La, dem auf 5 716 Meter über Meereshöhe
gelegenen Grenzpass zwischen Tibet und Nepal (oben).
Die Flüchtlinge beim Wasser Trinken, während einer Rast beim Abstieg vom Grenzpass (unten).
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80 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Gesichtstücher schützen vor Kälte und Eis. Trotz Einbruch der Dunkelheit versuchen die Flüchtlinge die Siedlung Lunag zu erreichen.
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81Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Gut zwei Wochen nach Fluchtbeginn erreichen Vater und Tochter (nach dreitägiger Busfahrt) die indische
Hauptstadt Delhi.
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82 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Auf dem Weg ins Reception Center in Delhi (oben).
Nach der Ankunft in Dharamsala: Der Dalai Lama legt die von ihm gesegnete Katha um die Schultern des Mädchens. Der Dalai Lama empfängt
regelmässig tibetische Flüchtlinge in seiner Residenz in Dharamsala (unten).
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83Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Dies vermochte Herrn D jedoch nicht zu beeindrucken;
zu Hause bei einem Freund schrieb er kurz darauf neue
Plakate. Als erneut chinesische Polizisten in der Schule
auftauchten, wurden Herr D und zwei seiner Schul-
freunde verhaftet; dort wurden sie unter Folterungen
und Drohungen immer wieder nach dem Drahtzieher
der Plakataktionen befragt. Trotz ihrem eisernen Schwei-
gen durften sie – mit der Auflage, solche Plakataktionen
zu unterlassen – das Gefängnis nach einer Woche wieder
verlassen. Dennoch plakatierten Herr D und seine Schul-
freunde weiter. Nachdem sie von einem chinesischen
Jungen, der oberhalb der Schule wohnte, verraten wor-
den waren, sperrten chinesische Sicherheitskräfte Herrn
D für drei Wochen ins Gefängnis. Bevor sie ihn danach
wieder frei liessen, machten sie ihm unmissverständlich
klar, dass er bei einem erneuten Versuch, Plakate aufzu-
hängen, mit dem Tod oder lebenslanger Gefängnisstrafe
rechnen müsse. Eine Woche später stellte er fest, dass
seine Papiere, inklusive Schulpass, und sein ganzes Hab
und Gut verschwunden waren. Kurz darauf wurden ihm
und einem seiner Schulfreunde die Kleider in die Hände
gedrückt und sie mussten die Schule verlassen. Im Mai
1993 fertigte Herr D erneut Plakate an; zudem ging er
mit der «verbotenen»53 tibetischen Flagge auf die Strasse.
Im Juli 1993 legte ihm ein Schulfreund nahe, dass es bes-
ser wäre, wenn sie beide Tibet verlassen würden, denn
die chinesische Polizei besässe Fotos von ihnen, wie sie
1987 und 1993 an Kundgebungen teilgenommen hatten.
Diese Information hatte der Schulfreund von seinem Va-
ter, der für die chinesische Polizei tätig war, erhalten.
Auf die persönlichen Gründe für ihre Flucht angespro-
chen, nannten die tibetischen Flüchtlinge die damalige
– bereits seit 1949/50 andauernde – politische Situation
in Tibet und deren Folgeerscheinungen.51
Herr A zum Beispiel beteiligte sich am 1. Oktober
1987, am 5. März 1988, am 5. März 1989 sowie am 23.
Mai 1993 an Kundgebungen für die Befreiung Tibets. An-
lässlich der Kundgebung vom 5. März 1988 wurde Herr
A inhaftiert; dank verwandtschaftlicher Beziehung
konnte er das Gefängnis nach zwei Monaten wieder
verlassen. Ausserdem schmuggelte er zusammen mit
anderen Tibetern Briefe, in welchen die chinesische Be-
setzung Tibets kritisiert wurde, von Tibet nach Indien.
Nachdem einer dieser Briefschmuggler im Juli 1993 ver-
haftet worden war, riet dessen Frau Herrn A zur Flucht
aus Tibet. Der Grund dafür war, dass der Verhaftete sei-
nen Namen unter den Folterungen – die in tibetischen
Gefängnissen unter chinesischer Aufsicht an der Tages-
ordnung sind – hätte preisgeben können. Weiter nennt
Herr A als Fluchtgründe auch den Verlust der tibetischen
Kultur, den Raub von Holz und Bodenschätzen, die
ständige Ansiedlung von Chinesen sowie die Geburten-
kontrolle unter der chinesischen Oberherrschaft. Herr
A hoffte, dass er durch seine Flucht der Welt über die
Geschehnisse in Tibet berichten und dadurch seinem
Heimatland zur Freiheit verhelfen könne.
Herr B hatte sich in den Jahren 1987, 1988 und 1992 52
an Kundgebungen beteiligt. Während diesen Kundge-
bungen wurde er mehrmals von chinesischen Polizisten
fotografiert. Da die chinesische Polizei ihn aufgrund die-
ser Fotos suchte, entschloss er sich, aus Tibet zu fliehen.
Frau C hatte Schwierigkeiten mit den chinesischen
Behörden bekommen, weil sie mehrmals Tibetern half,
über die nepalesische Grenze zu fliehen; sie war deswe-
gen sogar drei Tage lang im Gefängnis. Zudem sagte sie,
dass die Tibeter bereits Probleme bekämen, wenn sie
schlecht über die Chinesen redeten.
Herr D engagierte sich für die Befreiung seines
Heimatlandes, indem er sich an verschiedenen Kund-
gebungen beteiligte und nachts mit vier Schulfreunden
Plakate mit der Aufschrift «Freiheit für Tibet» aufhängte.
Das war im Jahr 1987. Ein paar Tage, nachdem sie die
Plakate aufgehängt hatten, erschienen chinesische Po-
lizisten in der Schule, die Herr D besuchte. Die chine-
sischen Polizisten waren gekommen, um die Schrift jedes
Schülers mit derjenigen auf den Plakaten zu vergleichen.
Persönliche Aussagen der Flüchtlinge
51 Hier und im Folgenden nach Interviews mit den tibetischen
Flüchtlingen sowie nach Akteneinsicht Regierung vom 9. Okto-
ber 2001 durch Jeannette Good.
52 Gemäss der Liste vom 14. Januar 1994 «Reported Demonstrations
1987–1993», beiliegend bei den Regierungsakten, fanden in die-
sen Jahren mehrere Demonstrationen statt.
53 Mäder (1997), S. 89.
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84 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
der Flüchtlinge. Auch karitative Organisationen in Liech-
tenstein halfen mit. Zum Beispiel stand das Liechtenstei-
nische Hilfswerk ebenfalls mit Kleidern zur Seite.
Irmi Schreiber erteilte jeden Nachmittag Deutschun-
terricht und begleitete die Flüchtlinge in allen weiteren
nötigen Belangen wie Botengänge, Einkäufe, Arztbe-
suche, Amtsgänge usw. Für die gegenseitige Verständi-
gung stand eine tibetische Dolmetscherin, die auch Vor-
standsmitglied des Vereins «Tibet-Unterstützung Liech-
tenstein» war, zur Verfügung. Infolge der Ungewissheit,
ob die 18 Flüchtlinge in Liechtenstein bleiben konnten
oder nicht, waren ihre Lernerfolge immer wieder von
Rückschlägen geprägt. Natürlich trug auch das individu-
elle Lernverhalten zu unterschiedlichen Fortschritten bei.
Die weitere Integration ging schrittweise voran. Die
Flüchtlinge übernahmen mit Freude kleinere Aufgaben
in Haus und Garten von Privathaushalten. Ebenfalls fer-
tigten die Flüchtlinge kunsthandwerkliche Gegenstände
für den Vaduzer Weihnachtsmarkt an. Die Tibeter
erhielten mit diesem öffentlichen Auftritt mehrfach posi-
tive Resonanz aus der liechtensteinischen Bevölkerung.
Nach Weihnachten 1993 organisierte der Verein «Tibet-
Unterstützung Liechtenstein» für alle 18 Flüchtlinge
ein Jahresabonnement für den öffentlichen Verkehr in
Liechtenstein, was die Bewegungsfreiheit der Tibete-
rinnen und Tibeter steigerte.
Darüber hinaus knüpften die tibetischen Flüchtlinge
in Liechtenstein enge Kontakte zu ihren in der Schweiz
lebenden Landsleuten. In der Schweiz besteht die euro-
paweit grösste tibetische Gemeinschaft, sie zählt rund
2 000 Personen. Dieser rege kulturelle und unterstüt-
zende Austausch zwischen den Tibetern in der Schweiz
und denjenigen in Liechtenstein ist gerade für die hier
gestrandeten Flüchtlinge sehr wichtig.
Am 19. Februar 1994 feierten sie zum ersten Mal in
Liechtenstein ihr «Losarfest», das in der tibetischen Kul-
tur bedeutungsvolle Neujahrsfest. Organisiert wurde die-
Ankunftssituation und erste Massnahmen
im Oktober 1993
Am Freitag, den 8. Oktober 1993 überquerten die 18
tibetischen Flüchtlinge (acht Männer, fünf Frauen und
fünf Kinder) die liechtensteinische Landesgrenze.54 Ihre
Helfer teilten ihnen mit, dass sie sich direkt an den Für-
sten von Liechtenstein auf Schloss Vaduz wenden sollen,
um ihm persönlich ihren Asylantrag zu übergeben. Der
Brief, datiert vom 3. Oktober 1993, war von den Helfern
in englischer Sprache abgefasst worden und richtete sich
an die Regierung Liechtensteins.55
Der damalige Leiter des Amtes für Soziale Dien-
ste, Richard Biedermann, nahm sich der 18 tibetischen
Flüchtlinge an und brachte sie vorerst provisorisch im
Pfadfinderheim in Schaan unter.56 Die Flüchtlinge ver-
brachten dort die ersten zwei Nächte. Richard Bie-
dermann nahm mit dem Verein «Tibet-Unterstützung
Liechtenstein» Kontakt auf und bat ihn, sich um diese
Personen zu kümmern.
Der Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein»
übernahm diese Aufgabe vollumfänglich. Namentlich
die Vereinsmitglieder Emmi und Katrin Sprenger, Irmi
Schreiber und Hansjörg Quaderer betreuten in der Folge
die 18 Flüchtlinge aus Tibet. Bereits Mitte Oktober 1993
konnten die Flüchtlinge provisorisch im Bildungshaus
Gutenberg in Balzers untergebracht werden. Grosszü-
gigerweise wurde dann den Flüchtlingen von privater
Seite in Balzers eine unbewohnte 3½-Zimmer-Wohnung
angeboten. Man stelle sich das vor: 18 Personen auf ein
paar Quadratmetern zusammengepfercht. Doch die Be-
wohner schickten sich demütig in diese Situation hinein.
Von privater Seite engagierten sich in Balzers vor allem
der mittlerweile verstorbene Balzner Gemeinderat Ni-
kolaus Nipp sowie Theres Büchel. Sie waren anfänglich
dafür besorgt, dass die elementarsten Bedürfnisse der
Flüchtlinge abgedeckt wurden. Balznerinnen und Balz-
ner schenkten den Tibetern manchmal Esswaren wie
Gemüse und Brot, aber auch Kleidungsstücke, Bettwä-
sche, Geschirr und sogar Möbelstücke. Nikolaus Nipp
arrangierte mit Bäckern und Lebensmittelhändlern, dass
das abends Übriggebliebene günstig an ihn abgegeben
wurde.
Der Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» er-
hielt von verschiedenen Seiten der Bevölkerung auch
finanzielle Beiträge, zweckbestimmt für die Versorgung
Integrationszeit in Liechtenstein
54 Hier und im Folgenden nach den Jahresberichten des Vereins
«Tibet-Unterstützung Liechtenstein» 1993 bis 1999 sowie nach
einem Interview mit Rita Nipp aus Balzers vom 15. September
2001.
55 VBI Entscheid Nr. 1998/3 vom 21. September 1998, S. 2 und Re-
gierungsentscheid RA 94/4420 vom 30. No-vember 1994, S. 2.
56 Regierungsentscheid RA 94/4420 vom 30. November 1994, S. 2.
Akteneinsicht durch Jeannette Good am 9. Oktober 2001.
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85Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Tibetische Flüchtlinge in einer 3½-Zimmer-Wohnung, die für zirka fünf Monate von Theres Büchel in Balzers unentgeltlich zur Verfügung
gestellt wurde, 1993 (oben links); Stand der Tibeter am Weihnachtsmarkt in Vaduz (oben rechts); Gruppenbild der Flüchtlinge (auf dem Bild
fehlt Tashi Norbu) mit ihren Betreuern aus Liechtenstein im Alten Pfarrhaus in Balzers, 1994, ganz rechts im Bild Nikolaus und Rita Nipp aus
Balzers (unten).
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86 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstel-
lung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention),
dem ergänzenden Protokoll über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, der Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom
4. November 1950 sowie der Europäischen Menschen-
rechtskonvention beigetreten.58 Eine innerstaatliche Aus-
führungsgesetzgebung dazu fehlte jedoch.
Bei den 18 tibetischen Flüchtlingen ging es primär
um die Frage, welchen Status sie gemäss Genfer Flücht-
lingskonvention genossen, ob sie politische Flüchtlinge
gemäss dieser Konvention waren oder nicht. Gemäss
Artikel 1 «. . . sind Flüchtlinge Personen, welche sich aus
begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse,
Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Überzeugung ausserhalb ihres Heimatlandes befinden
und dessen Schutz nicht beanspruchen können oder we-
gen dieser Befürchtungen nicht beanspruchen wollen.»59
Weiters wird unter Artikel 33 ausgeführt, dass «[kein
Staat einen Flüchtling] in irgendeiner Form in das Gebiet
eines Landes ausweisen oder zurückstellen [darf], wo
sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Reli-
gion, Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen An-
schauungen gefährdet wäre.»60
Mit Abgabe des Asylantrags vom 3. Oktober 1993 auf
Schloss Vaduz kam der Rechtsapparat Liechtensteins
schliesslich in Bewegung. Kurz nach Ankunft der 18 ti-
betischen Flüchtlinge fand am 12. Oktober 1993 eine kol-
lektive Einvernahme der 13 erwachsenen Asylbewerber
durch die Landespolizei statt. Weitere Verhöre erfolgten
am 14. Oktober 1993 sowie am 6. Dezember 1993.61
Da sich der Verein «Tibet-Unterstützung Liechten-
stein» von Anfang an sehr für diese Flüchtlinge einsetzte,
fand er sich befugt, der liechtensteinischen Regierung
eine Stellungnahme zu deren Aufnahme abzugeben. In
seinem Schreiben vom 19. Dezember 1993 an die Regie-
rung vermittelte er einen kurzen historischen Überblick
über Tibet von 1949 bis Dezember 1993, informierte über
den Stand der bisherigen Integrationsarbeiten, äusserte
den Wunsch, die Regierung wolle durch die Aufnahme
der Flüchtlinge ein Zeichen der Humanität setzen, und
ersuchte die Regierung, den Tibetern Residenz und
Arbeit zu gewähren. In der Folge kam es am 10. März
1994 zu einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des
ses Fest vom Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein»
in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft «Schweizerisch-
Tibetische Freundschaft». Rund 250 Tibeter und Tibet-
Freunde feierten mit. Dies war wiederum ein Schritt zur
Annäherung an die liechtensteinische Bevölkerung.57
Die Gemeinde Balzers ermöglichte im März 1994 den
tibetischen Flüchtlingen den provisorischen Einzug in
das alte Balzner Pfarrhaus. Dieses historische Gebäude,
das über eine grössere Anzahl Räume verfügt, gewährte
den Flüchtlingen etwas mehr Raum und mehr Privat-
sphäre.
Als wichtiges Integrationsziel bemühte sich der Verein
«Tibet-Unterstützung Liechtenstein» darum, den Asylbe-
werbern ein gewisses Mindestmass an Ausbildung zu er-
möglichen, sei es in Form von Vor- und Anlehren für die
Erwachsenen oder der regulären Schulbildung für die
Kinder und Jugendlichen. Die Primar- beziehungsweise
Realschule Balzers nahm die Kinder und Jugendlichen
im Mai 1994 vorläufig als Gastschüler bei sich auf. Dem
Deutschunterricht wurde spezielle Aufmerksamkeit ge-
widmet, weil sich mit dem Stand der Deutschkenntnisse
die Aussichten auf eine gute Ausbildungsmöglichkeit er-
höhten.
Die rechtliche Situation bis Mai 1994
Bis ins Jahr 1994 verfügte Liechtenstein über kein Asyl-
beziehungsweise Flüchtlingsgesetz. Liechtenstein war
Gesprächsrunde mit Dolmetscherin Dechen Kaning.
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87Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
57 Liechtensteiner Volksblatt vom 2. März 1994.
58 Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag Nr. 145/1996
vom 26. November 1996, S. 5 und S. 8.
59 Regierungsentscheid RA 94/4420 vom 30. November 1994, S. 10.
60 Ebenda, S. 10.
61 Ebenda, S. 3 und S. 5.
62 Regierungsentscheid RA 94/4420 vom 30. November 1994, S. 6;
Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober 2001 durch Nadja Frick.
63 Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober durch Nadja Frick.
64 Landtagsprotokoll vom 20. April 1994, S. 355.
65 Landtagsprotokoll vom 21. April 1994, S. 517.
66 VBI Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995, S. 5.
67 VBI Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995, S. 11.
März 1994 nicht in der Lage «... verlässliche Aussagen
über die Glaubwürdigkeit und die Schutzbedürftigkeit
einzelner Beschwerdeführer zu machen.»67
Integrationsbemühungen bis zum ersten
Regierungsentscheid vom November 1994
Unter der Leitung von Hansjörg Quaderer führten die
Tibeter einen Möbelrenovierungsauftrag aus, welcher
längere Zeit in Anspruch nahm und zur Zufriedenheit
aller erledigt werden konnte. Später wurde eine Gruppe
der tibetischen Männer für eine gewisse Zeit auf einer
privaten Baustelle eingesetzt.
Sehr wichtig war auch die Integration der Tibeter
im liechtensteinischen Versicherungswesen. Dank den
Bemühungen des Vereins «Tibet-Unterstützung Liech-
tenstein» war es möglich, die Flüchtlinge gegen Unfall
und Krankheit zu versichern. Leider gerieten einige
der Flüchtlinge – als Folge des lang ausbleibenden Re-
gierungsentscheids – unter psychischen Druck, was sich
langsam in physischen Leiden bemerkbar machte. Daher
mussten sie immer wieder einen Arzt konsultieren.
Im September 1994 nahmen die tibetischen Lands-
leute mit einem Flüchtlingsstand an der LIGHA (Liech-
tensteinische Industrie-, Gewerbe- und Handelsausstel-
lung) teil. Dadurch kamen sie in verstärkten Kontakt mit
der liechtensteinischen Bevölkerung. Auch am Jahrestag
ihrer Ankunft, dem 8. Oktober 1994, wurde die Bevöl-
kerung mit Zeitungsberichten über die Situation der
Tibeter in Liechtenstein informiert. Am 15. Oktober 1994
konnten sie mit einem «Tag der offenen Tür» zusätzliche
Sympathien bei der Bevölkerung gewinnen.
Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein», Hansjörg
Quaderer, und der Regierung, jedoch ohne sich in den
wesentlichen Aspekten anzunähern.
Im März 1994 vernahm die Landespolizei die Asyl-
bewerber einzeln und unterbreitete der Regierung
am 26. März 1994 einen Schlussbericht, der festhielt,
dass durch die Einzelverhöre mehrere Ungereimt-
heiten zu Tage gekommen waren.62 Es sei auffallend
gewesen, wie detailliert die Flüchtlinge Angaben über
frühere Demonstrationen erteilt hätten. Wenn sie
jedoch zur Flucht beziehungsweise zum Fluchtweg be-
fragt wurden, seien die Antworten sehr dürftig ausge-
fallen. Auch das von der Regierung hinzugezogene
schweizerische Bundesamt für Flüchtlingswesen war
der Meinung, dass die geschilderten Fluchtwege sowie
das Vorgehen an den Grenzübergängen eher unglaub-
würdig seien.63
Zwischendurch befasste sich auch das liechtenstei-
nische Parlament, der Landtag, mit dieser Angelegenheit.
Der Landtagsabgeordnete Xaver Hoch stellte am 20.
April 1994 die folgende kleine Anfrage an die Regierung:
«Wie ist der Stand der Dinge und wie soll es weiter-
gehen?»64 Die Regierung antwortete darauf am 21. April
1994 wie folgt: «Die Befragung der tibetanischen Flücht-
linge gestaltet sich auf Grund von sprachlichen Problemen
sehr schwierig. Die Einzelbefragungen konnten jedoch
vor kurzem dennoch abgeschlossen werden. Auf Grund
der nunmehr vorliegenden Befragungsergebnisse ist
allerdings noch nicht klar, ob es sich bei den nach Liech-
tenstein geflüchteten Personen tatsächlich um Flücht-
linge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention handelt,
da einige Aussagen materiell überprüft werden müssen.
Die Regierung hat in der Sitzung vom 19. April 1994
beschlossen, zur näheren Überprüfung der Resultate
der Befragung mit dem Bundesamt für Flüchtlingswe-
sen Kontakt aufzunehmen, um die offenen Fragen zu
klären.»65
In einem Gespräch zwischen der liechtensteinischen
Landespolizei und dem schweizerischen Bundesamt für
Flüchtlingswesen vom 11. Mai 1994 in Zürich kam zum
Ausdruck, dass das Bundesamt verschiedene Punkte als
überprüfenswert erachtete, so zum Beispiel Aspekte wie:
«Individuelles Vorbringen», «Ausweise», «Reiseweg» so-
wie «weitere Abklärungsmöglichkeiten».66 Zudem sah
sich das schweizerische Bundesamt für Flüchtlingswesen
aufgrund des Schlussberichts der Landespolizei vom 26.
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88 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
1. Seriös abzuklären, ob diese Personen als politische
Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonven-
tion erachtet werden können oder nicht. Der Ver-
ein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» vertrat die
Meinung, dass dem Regierungschef hier in eine ge-
wisse Auslegungsfreiheit oblag. Der Regierungschef
wies darauf hin, dass ein solches Abklärungsverfah-
ren auch in der Schweiz zwischen einem halben und
einem Jahr dauere.
2. Der Umstand, ob eine Rückführung nach Tibet
möglich wäre oder nicht. Dies wurde seitens des
Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein»,
aufgrund verschiedener Unterredungen zwischen
Vertretern der tibetischen Exilregierung und dem
Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein», mit
einem klaren Nein unterstrichen. Zudem wäre dies
weltweit die erste Rückschiebung tibetischer Flücht-
linge in ihr Heimatland.
3. Der aktuelle Verfahrensstand: Die Regierung teilte
mit, dass bezüglich des Fluchtwegs unterschiedliche
Aussagen vorhanden seien und deshalb das schwei-
zerische Bundesamt für Flüchtlingswesen hinzugezo-
gen worden sei, welches einen Bericht erstellt habe.
Das Recht auf Einsicht in diesen Bericht würde den
Tibetern erst nach dem Asylentscheid gewährt wer-
den. Die Möglichkeit eines Rekurses stünde ihnen da-
nach offen.
4. Die Regierung wolle verhindern, ein Präjudiz zu ma-
nifestieren, um später nicht von vielen Flüchtlingen
überschwemmt zu werden.
5. Der Wunsch des Vereins «Tibet-Unterstützung Liech-
tenstein», nach neun Monaten endlich eine Entschei-
dung seitens der Regierung in dieser Angelegenheit
zu erhalten.
Mit Ressortantrag vom 30. Juni 1994 an die Regierung
nahm die Landespolizei, nach Absprache mit der Frem-
denpolizei, Stellung zu den Asylgesuchen. Sie beantragte,
die Asylgesuche abzulehnen und eine Ausreisefrist von
sechs Monaten anzusetzen. Die Regierung sprach sich je-
doch gegen diesen Antrag aus.69
In ihrer Sitzung vom 2. August 1994 beschloss die
Regierung, dass infolge der in den Einzelverhören her-
vorgetretenen Ungereimtheiten kein Asyl gewährt wer-
den könne und die Tibeter zur besseren Kooperation
beziehungsweise zur Bekanntgabe weiterer, genauerer
Zahlreiche prominente hochgestellte Persönlichkeiten
besuchten die Tibeter im Jahr 1994, so zum Beispiel
die Schwester des Vierzehnten Dalai Lama, Landesfürst
Hans-Adam II. und Fürstin Marie, verschiedene Mini-
ster der tibetischen Exilregierung, Professor Heinrich
Harrer sowie das Schweizer Fernsehen. Dies widerspie-
gelte einerseits die Aufmerksamkeit, mit der das bri-
sante Thema der liechtensteinischen Flüchtlingspolitik
in der Öffentlichkeit mitverfolgt wurde, andererseits das
Interesse gegenüber der tibetischen Kultur sowie der
Situation in Tibet.
Massnahmen der Behörden bis zum
Regierungsentscheid vom November 1994
Am 9. Juni 1994 fand ein zweites Gespräch zwischen
dem Vorstand des Vereins «Tibet-Unterstützung Liech-
tenstein», vertreten durch Hansjörg Quaderer, Emmi
Sprenger und Irmi Schreiber, und Regierungschef Mario
Frick, statt. Den Gesprächsinhalt bildeten vor allem die
nachfolgend aufgeführten Punkte: 68
Tibeter Familie mit Betreuerin Irmi Schreiber.
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89Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
68 Vgl. Jahresberichte des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechten-
stein» 1993 bis 1999.
69 Akteneinsicht Landesarchiv vom 8. Oktober 2001 durch Jeannet-
te Good.
70 Hier und im Folgenden nach Regierungsentscheid RA 94/4420
vom 30. November 1994.
71 Ebenda, S. 8.
72 Ebenda, S. 2.
Aufgrund der obengenannten Ausführungen, beson-
ders aber wegen der in den Verhören hervorgetretenen
Ungereimtheiten und der teilweise zweifelhaften Dar-
stellungen über den Hergang der Flucht, war für die
Regierung nicht ersichtlich, ob es sich bei den um Asyl
ansuchenden Personen um politische Flüchtlinge im
Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention handelte. Eine
Ausweisung der 18 Tibeter konnte hingegen nicht vor-
genommen werden, weil nicht mit absoluter Sicherheit
gewährleistet war, dass sie in ihrer Heimat nicht an Leib
und Leben gefährdet sein würden. Deshalb entschied
die Regierung in ihrer Sitzung vom 29. November 1994
kollektiv für alle 18 Tibeter wie folgt:
«1. Es wird festgestellt, dass von den 18 Flüchtlingen
der Nachweis nicht erbracht werden konnte, dass
sie Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 sind.
Das Gesuch um Gewährung von Asyl vom 3. Oktober
1993 wird deshalb abgelehnt.
2. . . . aufgrund der unklaren Situation in Tibet [ist eine
Ausschaffung] derzeit nicht möglich . . . , [die Regie-
rung verfügt] die vorläufige Aufnahme der 18 tibeta-
nischen Flüchtlinge. . .
3. Die vorläufige Aufnahme der 18 Gesuchsteller gilt bis
zum 1. Januar 1996.
4. Den Gesuchstellern wird die Aufnahme einer Er-
werbstätigkeit bewilligt.
5. Die Regierung sichert den Gesuchstellern eine Neu-
überprüfung des Asylgesuches zu, sofern neue wich-
tige Gründe vorgebracht werden können, welche
eine neuerliche Beurteilung dieser Asylsache durch
die Regierung rechtfertigen. . .».72
Gegen diesen Regierungsentscheid legte Ursula Wachter
fristgerecht Rekurs ein.
Informationen angehalten werden sollten. Ansonsten
könnten sich die noch ungeklärten Fragen zum Nachteil
der Flüchtlinge auswirken.70 Nebenbei veranlasste die
Regierung die liechtensteinische Botschaft in Bern, beim
UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR abzuklären,
ob über tibetische Asylanträge bereits in anderen Staa-
ten negativ entschieden worden war oder ob es möglich
wäre, die Tibeter an Staaten mit bereits vorhandener
«Tibeter-Kolonie» weiterzuvermitteln.
Zur einwandfreien rechtlichen Abklärung der Situa-
tion rund um die 18 tibetischen Flüchtlinge beauftragte
der Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» die
Juristin Ursula Wachter. Sie übernahm als Rechtsanwältin
das Mandat für die 18 tibetischen Flüchtlinge. Mit Schrei-
ben vom 25. August 1994 unterrichtete Ursula Wachter
die Regierung über die Mandatsübernahme. Daraufhin
erhielt sie Akteneinsicht und war bei den weiteren Ver-
hören anwesend.
Ursula Wachter wandte sich am 12. Oktober 1994
an das Tibet Office in Zürich (Vertretung der tibe-
tischen Exilregierung in der Schweiz) mit der Bitte, eine
Stellungnahme zur vorherrschenden Menschenrechts-
situation in Tibet und zur Herkunft der 18 tibetischen
Flüchtlinge in Liechtenstein abzugeben. Mit Brief vom
20. Oktober 1994 teilte ihr das Tibet Office mit, dass es
sich bei den asylansuchenden Personen um «ethnische
Tibeter»71 handle. Zudem gab das Tibet Office auch eine
Stellungnahme zur Menschenrechtssituation in Tibet ab.
Diese neu dazu gekommenen Unterlagen reichte Ursula
Wachter am 24. Oktober 1994 der Regierung in Vaduz
nach. Mit diesen weiteren Dokumenten sei nun offen-
sichtlich, dass es sich bei diesen Leuten um Flüchtlinge
im Sinne der Genfer Flüchtlingskommission handle.
Am 25. Oktober 1994 behandelte die Regierung in
ihrer Sitzung den Bericht des Botschafters in Bern,
welcher die Antworten seitens des UNHCR auf die auf-
geworfenen Fragen beinhaltete. Das UNHCR war der
Meinung, dass eine Rückschaffung aufgrund der derzeit
in Tibet herrschenden Umstände nicht möglich sei. Im
Weiteren sei dem UNHCR nicht bekannt, dass in ande-
ren Ländern «Tibeter-Kolonien» vorkämen, da die Tibe-
ter in Statistiken entweder unter Diverse oder als Chi-
nesen erfasst würden. Eine Vermittlung der Tibeter an
ein anderes Land durch das UNHCR komme nicht in Frage.
Zusätzlich informierte das UNHCR, dass 1993 europa-
weit nur 37 Tibeter um politisches Asyl angesucht hätten.
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90 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
eine Anlaufstelle und zentrale Unterkunft für Flüchtlinge
wünschenswert wäre. Der Verein «Tibet-Unterstützung
Liechtenstein» forderte auch eine klare gesetzliche Aus-
führungsbestimmung in Sachen Flüchtlingsgesetz, worin
erste Vorkehrungen in karitativer und rechtlicher Hin-
sicht sowie bezüglich der Verfahrensdauer festgelegt sein
sollten, damit es nicht mehr zu einer so langwierigen
Verfahrenszeit wie bei den Tibetern kommen könne.
Die Situation bis zum endgültigen Entscheid
der Verwaltungsbeschwerdeinstanz 1998
Ursula Wachter focht den ersten Regierungsentscheid
über die Asylgesuche vom 29. November 1994 mit
Beschwerde vom 10. Januar 1995 an. Sie begründete
ihren Rekurs an die Regierung vor allem damit, dass
der Entscheid gesetzeswidrig sei, weil keine Parteienan-
hörung stattgefunden hatte, das Verfahren wesentliche
Mängel aufweise und ein Widerspruch darin bestehe,
dass die Tibeter zwar nicht als Flüchtlinge anerkannt
wurden, aber eine Rückschaffung aufgrund der Situation
in Tibet ebenfalls nicht möglich sei.75
Im Weiteren beantragte sie, den Tibetern den Flücht-
lingsstatus anzuerkennen und eine Jahresaufenthalts-
bewilligung zu genehmigen oder, falls die Beschwerde
an die nächste Instanz weitergeleitet würde, die Rechts-
angelegenheit zur nochmaligen Behandlung und zur
Urteilsfindung an die untere Instanz zurückzuleiten.
Die Regierung ihrerseits trat auf die Vorstellung, die
Beschwerdeführer als Flüchtlinge im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention anzuerkennen und eine Jahres-
aufenthaltsbewilligung zu erteilen, nicht ein und leitete
die Beschwerde am 24. Januar 1995 an die Verwaltungs-
beschwerdeinstanz (VBI) des Fürstentums Liechtenstein
weiter.
In der Zwischenzeit neigten sich die vom Verein
«Tibet-Unterstützung Liechtenstein» für die Rechts-
vertretung zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel
dem Ende zu. Auch die Tibeter waren, da sie nur einer
Aushilfstätigkeit mit geringem Erwerb nachgingen, nicht
in der Lage, die Kosten für dieses Verfahren selbst zu
tragen. Dies veranlasste Ursula Wachter dazu, am 9. Mai
1995 bei der Regierung einen Antrag auf Gewährung des
Armenrechts für die Tibeter zu stellen. Dies beinhaltete
insbesondere die Befreiung von sämtlichen Kosten im
Die bange Zeit des Wartens bis zum
Asylentscheid der Regierung Ende 1997
Gemäss obigem Regierungsentscheid war es den Tibe-
tern nun offiziell erlaubt, einer Erwerbstätigkeit nachzu-
gehen.73 Dank dem unermüdlichen Einsatz von Nikolaus
Nipp sowie von verschiedenen Vorstandsmitgliedern
des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» konnte
allen erwachsenen Tibeter eine Arbeitsstelle vermittelt
werden. Dadurch kamen sie ihrer wirtschaftlichen Selb-
ständigkeit immer näher. Die tibetischen Kinder und Ju-
gendlichen wurden in den entsprechenden Schulen defi-
nitiv aufgenommen.
Später, Ende September 1996, erlaubte die Regierung
den Jugendlichen, Schnupperlehren zu absolvieren. Dies
allerdings mit dem Vermerk, dass sich daraus weder
ein Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung noch auf
einen Abschluss einer Berufslehre ableiten lasse. Lehr-
jahre selbst wären aber bis zum Asylentscheid zugelas-
sen.74
Nach dem ersten Entscheid der Regierung über die
Asylgesuche vom 29. November 1994, welcher in Bezug
auf den Flüchtlingsstatus negativ, auf eine vorläufige
Aufnahme bis 1. Januar 1996 jedoch positiv ausgefallen
war, steigerte sich für die Tibeter die psychische Bela-
stung. Es brach für sie eine Zeit des Bangens und Hof-
fens an. Mit dem Entschluss, diesen Regierungsentscheid
anzufechten, begann für die Tibeter ein Wechselbad der
Gefühle, da sie nun einen Teil des rechtlichen Prozedere
noch einmal durchlaufen mussten. – Dann in der Hektik
der ganzen Geschichte geschah etwas Wunderbares: Am
21. Mai 1995 erblickte ein tibetisches Mädchen in Vaduz
das Licht der Welt.
Das Jahr 1995 war, wie auch die folgenden Jahre, ge-
prägt durch verschiedene Vorträge, die zur Sensibilisie-
rung der liechtensteinischen Bevölkerung in Bezug auf
die Menschenrechtssituation in Tibet beitragen sollten.
Neben all den Integrationsbemühungen diskutierte der
Verein «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» in dieser
Zeit rege mit anderen Institutionen und Fachleuten über
Perspektiven und Standpunkte innerhalb der Flücht-
lingsarbeit. Betont wurde zum Beispiel die Ansicht, dass
es wichtig sei, Flüchtlinge so rasch wie möglich zu be-
schäftigen, damit sie nicht in eine Passivität verfallen.
Denn das Recht auf Arbeit trage einen wesentlichen Teil
zur Integration bei. Ebenso kam zum Ausdruck, dass
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91Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
73 Hier und im folgenden vgl. Jahresberichte des Vereins «Tibet-
Unterstützung Liechtenstein» 1993 bis 1999.
74 Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober 2001 durch Jeannette
Good.
75 Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober 2001 durch Nadja Frick,
und VBI-Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995, S. 3.
76 VBI-Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995, S. 2.
77 Hier und im Folgenden nach Akteneinsicht Regierung vom
9. Oktober 2001 durch Nadja Frick.
78 Ebenda.
79 Ebenda.
Am 30. November 1995 und am 1. Dezember 1995 er-
folgten die Einzelverhöre der 13 erwachsenen Tibe-
ter durch Beamte des schweizerischen Bundesamts für
Flüchtlingswesen. Anwesend waren auch jeweils liechten-
steinische Amtspersonen, Dolmetscher und die Anwäl-
tin. Gesamthaft dauerten die Vernehmungen 18 Stunden.
Der Bericht des Bundesamts für Flüchtlingswesen zu
den Einzelverhören und deren Schlussfolgerungen, ob
die Flüchtlingseigenschaft erfüllt sei oder nicht, datiert
vom 17. Juni 1996. In einem Fall kam das Bundesamt für
Flüchtlingswesen zur Ansicht, dass die Flüchtlingseigen-
schaft gegeben war, in allen anderen Fällen nicht. Aus-
serdem führten sie ihrer Stellungnahme die nachstehen-
den wesentlichen Bemerkungen an:
– Nach Ansicht des schweizerischen Bundesamts für
Flüchtlingswesen waren die ersten Verhöre nicht
nach Standard der Protokolle kantonaler Behörden
geführt worden. Deshalb sei nun ein Vergleich zwi-
schen den ersten und zweiten Verhören schwierig.
– Die 13 Verhöre in zwei Tagen zu absolvieren, sei sehr
zeitintensiv und gedrängt gewesen. Dadurch hätten
vertiefte Abklärungen nicht durchgeführt werden
können.
– Die Dolmetscher seien unterschiedlich kompetent
gewesen. Vor allem aber sei die notwendige emotio-
nale Distanz nicht gewahrt worden. Zum Teil seien
Übersetzungen zusammengefasst worden, wo ihrer
Meinung nach eine Wort-für-Wort Übersetzung an-
gebracht gewesen wäre. Deshalb entsprächen die Pro-
tokolle nicht immer den notwendigen Qualitätsanfor-
derungen.
– Die Protokolle seien für eine Beurteilung der Glaub-
würdigkeit jedoch ausreichend und würden dafür
eine hinreichend verlässliche Grundlage bilden.79
Zusammenhang mit den laufenden Verfahren. Erst am
5. Dezember 1995 entschied die Regierung, den 18 tibe-
tischen Flüchtlingen die Verfahrenshilfe, das heisst das
Armenrecht im Asylverfahren, zu gewähren.
Die von der Regierung an die VBI weitergeleitete
Beschwerde vom 10. Januar 1995 behandelte die VBI
in ihrer Sitzung vom 10. Mai 1995 und entschied wie
folgt:
«1. Der Beschwerde vom 10. Januar 1995 wird insoweit
stattgegeben, als die Entscheidung der Regierung
vom 29./30. November 1994 (RA 94/4420) wegen
wesentlicher Mängel im Verfahren aufgehoben und
die Sache an die Regierung zur Beseitigung derselben
und zu allfällig neuerlicher Entscheidung zurückge-
leitet wird. . .».76
Dieser erste Teilerfolg war ein Meilenstein in Bezug
auf die Rechtsangelegenheit der Tibeter. Leider musste
aber dadurch das Ganze wieder neu aufgerollt werden.
Denn es wurde ja vor allem angemahnt, dass die Be-
schwerdeführer keine Parteienanhörung erhalten hatten,
dass in Anwesenheit der Parteien allfällige Zeugen und
Sachverständige hätten gehört werden müssen. Ebenso
hätte die Entscheidung über den Flüchtlingsstatus
einzeln gefällt werden sollen und nicht pauschal, d.h.
der Sachverhalt für jede Person hätte individuell fest-
gestellt werden müssen. Die liechtensteinische Regie-
rung sah es aufgrund der vorherrschenden Situation
als Vorteil an, sich auf die Erfahrung des schweizerischen
Bundesamts für Flüchtlingswesen abzustützen und
deren Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dazu nahm die
Regierung im Juli/August 1995 Kontakt mit dem Bun-
desamt für Flüchtlingswesen auf. Dieses erklärte sich
bereit, die liechtensteinische Regierung in der Angele-
genheit der Tibeter zu unterstützen.77
Dazu kam hinzu, dass gemäss erstem Regierungs-
entscheid vom 29. November 1994 die vorläufige Auf-
nahme, welche damals bis zum 1. Januar 1996 gewährt
worden war, langsam ablief. Am 14. November 1995
beantragte Ursula Wachter in ihrem Schreiben eine «...
vorläufige Aufnahme der Gesuchsteller bis zum rechts-
kräftigen Abschluss des Asylverfahrens.»78 Diesem An-
trag wurde mit Regierungsentscheid vom 21. November
1995 stattgegeben. Die vorläufige Aufnahme wurde bis
31. Dezember 1996 verlängert, längstens jedoch bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens.
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92 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Übersetzungskosten übernehmen und die Frist für die
Stellungnahme bis Ende Januar 1997 verlängern. Beidem
stimmte die Regierung zu. Die einzelnen Stellungnah-
men seitens der Tibeter zum Bericht des Bundesamts für
Flüchtlingswesen gingen bis Ende Januar 1997 bei der
Regierung ein.
Da die Flüchtlinge höchstwahrscheinlich über die
österreichische Grenze nach Liechtenstein gelangten,
klärte die liechtensteinische Fremdenpolizei im Juni
1997 beim Österreichischen Bundesministerium für In-
neres, Wien, ab, ob die tibetischen Flüchtlinge bereits
in Österreich Asyl beantragt hatten und ob sie allenfalls
fremdenpolizeilich vermerkt waren. Die Antwort des
Bundesministeriums ergab, dass sie nicht im österreichi-
schen Asylregister aufschienen. Eine Abklärung, ob die
Tibeter fremdenpolizeilich vermerkt waren, wäre viel zu
umfangreich gewesen, da in Österreich die Erfassung de-
zentral erfolgte.
Daraufhin traf die Regierung am 30. September 1997
folgende Entscheidungen: Einen Asylantrag nahmen sie,
wie schon im Bericht des Bundesamts für Flüchtlingsfra-
gen vorgeschlagen, an. Diese Personen anerkannte die
Regierung als Flüchtlinge und erteilte ihnen die Jahres-
aufenthaltsbewilligung. Drei Anträge lehnte die Regie-
rung ab. Der Entscheid lautete jeweils wie folgt (Kurzfas-
sung):
1. Das politische Asyl wird abgewiesen.
2. Die Jahresaufenthaltsbewilligung wird nicht erteilt.
3. Über die Wegweisung wird gesondert entschieden.81
Im Zusammenhang mit diesen drei abgelehnten Asylan-
trägen erging aber gleichzeitig der Auftrag an die Frem-
denpolizei, «die notwendigen Massnahmen für eine
Wegweisung vorzubereiten und der Regierung einen
entsprechenden Antrag zu unterbreiten.»82 Zudem wur-
den «. . . die abgewiesenen Asylbewerber aufgefordert,
gültige Ausweispapiere der Volksrepublik China vorzu-
legen, und zwar bis zum 1. November 1997. . .».83
Auf der Titelseite des Liechtensteiner Volksblatts
stand am 1. Oktober 1997 in grossen Lettern: «Tibeter
müssen gehen. Regierung hat erste Entscheidungen
getroffen – Jede Person wird einzeln beurteilt». Und so
erfuhren die Tibeter von ihrem Schicksal über die Zei-
tung und das Radio. Dies war eine verheerende Infor-
mationspolitik seitens der Regierung und die entspre-
chende Antwort der Öffentlichkeit, allen voran die des
Die Regierung übermittelte die Stellungnahme des
schweizerischen Bundesamts für Flüchtlingswesen an
Ursula Wachter, mit der Aufforderung, sich innert einer
Frist von 60 Tagen dazu zu äussern. Mit Schreiben vom
17. Oktober 1996 nahmen die Tibeter kollektiv Stellung
zum Bericht des Bundesamts für Flüchtlingswesen. Sie
waren tief bewegt über die darin enthaltene Ansicht,
dass ihre Aussagen für unglaubwürdig oder sogar für
imaginär gehalten wurden. In ihrem Brief hielten die
Tibeter fest, dass sie ihr Land nicht aus wirtschaftli-
chen, sondern aus politischen Gründen verlassen hät-
ten. Im Übrigen seien die Verhältnisse in Tibet hinläng-
lich bekannt. Sie gaben zum Ausdruck, dass sie auf
eine gerechte Entscheidung in dieser Angelegenheit
hofften.80
Die Regierung forderte nun aber aufgrund der Ein-
zelverhöre und den diesbezüglichen Bericht des Bun-
desamts für Flüchtlingswesen auch einzelne Stellung-
nahmen seitens der Tibeter. Die kollektive Äusserung
könne nicht akzeptiert werden. Falls die Regierung diese
nicht erhalten würde, käme dem Bericht des Bundesamts
für Flüchtlingswesen eine ausserordentliche Bedeutung
zu. Die Tibeter begründeten ihre gemeinsame Stellung-
nahme damit, dass nach wie vor Verständigungsschwie-
rigkeiten herrschten und auch die finanziellen Mittel
für eine Übersetzung nicht hätten aufgebracht werden
können. In der Folge stellte Ursula Wachter bei der Re-
gierung den Antrag, das Land Liechtenstein wolle die
Deutschunterricht im Alten Pfarrhaus in Balzers.
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93Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
80 Schreiben der tibetischen Flüchtlinge an die Regierung vom
17. Oktober 1996.
81 Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober 2001 durch Nadja Frick.
82 Landtagsprotokoll vom 20. November 1997, S. 2191.
83 Ebenda.
84 Akteneinsicht Regierung vom 9. Oktober 2001 durch Jeannette
Good.
85 Schreiben des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» vom
22. Oktober 1997, mit Petition.
86 Akteneinsicht Regierung vom 10. Oktober 2001 durch Nadja
Frick.
87 Landtagsprotokoll vom 20. November 1997, S. 2203 ff.
88 Akteneinsicht Regierung vom 10. Oktober 2001 durch Nadja
Frick.
89 Hier und im Folgenden nach VBI-Entscheid Nr. 1998/3 vom
21. September 1998.
90 Gemäss Flüchtlingsgesetz Artikel 5 Absatz 1, lit. a dieses Gesetzes.
chen, aber angeblich gar noch nicht entschieden worden
war.87 In dieser Landtagssitzung vertrat die Regierung
den Standpunkt, dass über eine Wegweisung separat zu
entscheiden sei. Vorläufig sei seitens der Regierung zum
Punkt Flüchtlingsstatus entschieden worden. Die Mög-
lichkeit einer allfälligen Rückschaffung müsse aber auf
jeden Fall zuerst seriös überprüft werden. Eine Ableh-
nung des Flüchtlingsstatus ziehe nicht automatisch eine
Wegweisung mit sich. – Auch die restlichen vier Asyl-
anträge lehnte die Regierung in ihren Sitzungen vom
9. Dezember 1997 und vom 5. Mai 1998 ab.88
Ursula Wachter reichte gegen jeden Regierungs-
entscheid fristgerecht eine Beschwerde ein. Insgesamt
reichte sie zwölf Beschwerden ein. Die Regierung ging
nicht darauf ein und leitete alle diese Rekurse jeweils an
die VBI weiter.
Allen Beschwerden hat die VBI schliesslich in ihren
Sitzungen vom 8. und 9. Juli 1998 (je eine Beschwerde)
sowie vom 19. August 1998 (übrige zehn Beschwerden)
stattgegeben. Damit anerkannte sie den Tibetern einen
Flüchtlingsstatus zu und erteilte ihnen die Jahresauf-
enthaltsbewilligungen. Die VBI stützte sich in ihren
Entscheidungen vor allem auf das zwischenzeitlich in
Kraft getretene Flüchtlingsgesetz, welches gemäss der
Übergangsbestimmung in Artikel 94, Absetz 2 auch für
laufende Verfahren Gültigkeit hatte.89 Sie anerkannte die
Beschwerdeführer als Flüchtlinge,90 da sie den Schutz
ihres Heimatlandes nicht beanspruchen wollten, weil
sie wegen ihrer politischen Überzeugung begründete
Furcht vor Verfolgung hatten. Ob sich diese politische
Überzeugung erst nach der Flucht ergab, war für die VBI
Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein», blieb nicht
aus. Die Realschule Balzers schrieb in ihrer Stellung-
nahme, publiziert im Liechtensteiner Volksblatt vom
4. Oktober 1997 (Seite 5): «Sie gehören zu uns», und plä-
dierten lautstark für einen Verbleib ihrer Mitschüler in
Liechtenstein. Die Lehrerschaft der Realschule Balzers
richtete sich mit einem Schreiben direkt an die Regie-
rung. In diesen Tagen erschienen in den beiden Landes-
zeitungen zahlreiche Leserbriefe, deren Autoren sich alle
für die inzwischen liebgewonnen Tibeter einsetzten.
Mit Schreiben vom 6. Oktober 1997 an die Tibeter
entschuldigte sich die Regierung für ihr Missgeschick
und erhellte darin ihren Standpunkt zur Wegweisung:
Wenn der Flüchtlingsstatus nicht anerkannt werde, er-
gehe an die Fremdenpolizei der Auftrag, abzuklären, un-
ter welchen Konditionen eine Rückkehr der betroffenen
Personen möglich sei. Danach entscheide die Regierung
über eine allfällige Wegschaffung. Bis dahin würden aber
keine entsprechenden Massnahmen zur Rückschaffung
eingeleitet.84 Dies war eine abgeschwächte Form des ur-
sprünglichen, oben angeführten Auftrages an die Frem-
denpolizei.
Zwischenzeitlich sammelte der Verein «Tibet-Unter-
stützung Liechtenstein» Unterschriften für eine Petition
gegen die Ausschaffung der tibetischen Flüchtlinge aus
Liechtenstein und bat darin den Landtag, die Regierung
aufzufordern, auf ihren Entscheid zurückzukommen.
Stolz überreichte der Verein dem Landtagspräsidenten
am 22. Oktober 1997 insgesamt 1715 Unterschriften.
Mit der Unterzeichnung dieser Petition zeigten sich viele
Bewohnerinnen und Bewohner Liechtensteins gegen-
über den Tibetern solidarisch und sprachen sich unmiss-
verständlich gegen die am 30. September 1997 erfolgten
Regierungsentscheide aus.85
Am 28. Oktober 1997 lehnte die Regierung zwei
und am 18. November 1997 drei weitere Asylanträge
ab.86 Hier verzichtete die Regierung aber darauf, eine
Ausweisung durch die Fremdenpolizei vorbereiten zu
lassen.
In der Landtagssitzung vom 20. November 1997 schei-
terte die vom Verein «Tibet-Unterstützung Liechten-
stein» eingereichte Petition mit 10 zu 15 Stimmen, denn
es war mittlerweile nicht mehr klar, auf welchen Ent-
scheid die Regierung zurückkommen sollte: Eigentlich
auf die Wegweisung, welche aber im Zusammenhang
mit den ersten drei Asylentscheidungen wohl angespro-
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94 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Entstehung des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes
Wie bereits erwähnt, gab es zu der Genfer Flüchtlings-
konvention von 1951, dem ergänzenden Protokoll über
die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 sowie der
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grund-
freiheiten von 1950 der EMRK in Liechtenstein keine in-
nerstaatliche Ausführungsgesetzgebung. Zur praktischen
Rechtsausübung lehnte man sich unter anderem an das
in Liechtenstein, aufgrund einer gegenseitigen Verein-
barung, anwendbare schweizerische Bundesgesetz vom
1. Januar 1934 über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer (ANAG).93 Dieses Gesetz konnte jedoch den
Ansprüchen der Flüchtlingspolitik nicht gerecht werden.
Dadurch bestand immer wieder eine «. . .grosse Rechts-
unsicherheit, unter welchen Voraussetzungen Flücht-
linge und Asylsuchende in . . . [Liechtenstein] Aufent-
haltsmöglichkeiten und sonstige Rechte haben.»94
Aus diesem Grund reichten mehrere Landtagsabge-
ordnete am 13. Juni 1994 ein Postulat an den Landtag
zwecks Erlass eines Asyl- und Flüchtlingsgesetzes ein.95
In seiner Sitzung vom 15. September 1994 beschloss der
Landtag, das Postulat zur Erarbeitung eines Asyl- und
Flüchtlingsgesetzes an die Regierung weiterzuleiten. Da-
raufhin bestellte die Regierung am 27. September 1994
eine Arbeitsgruppe, welche sich diesbezüglich mit ver-
schiedenen auf diesem Gebiet national und internatio-
nal wichtigen Gruppierungen und Personen in Verbin-
dung setzte.96 Die Arbeitsgruppe beschloss, sich nach der
schweizerischen Gesetzgebung zu richten. Sie trug den
europäischen Koordinationsbemühungen fast vollstän-
dig Rechnung. Bevor der Entwurf für ein «Gesetz über
die Aufnahme von Asylsuchenden und Schutzbedürfti-
gen (Flüchtlingsgesetz)» mit Bericht und Antrag der Re-
gierung vom 26. November 1996 dem Landtag vorgelegt
wurde, ging dieser in der Vernehmlassung an diverse
öffentlichrechtliche Körperschaften, Dachverbände, Ver-
eine und internationale Organisationen. Diese äusserten
sich durchwegs positiv über die Schaffung eines Flücht-
lingsgesetzes in Liechtenstein sowie über den Inhalt des
Gesetzesentwurfes. Auch der Verein «Tibet-Unterstüt-
zung Liechtenstein» gab dazu am 8. Mai 1996 eine Stel-
lungnahme ab.
In seiner Sitzung vom 15. Mai 1997 nahm der Landtag
die erste Lesung des Berichts und Antrags der Regierung
über die Schaffung eines Flüchtlingsgesetzes vor.97 Es er-
nicht massgebend, denn sie berief sich auf die Geltend-
machung subjektiver Nachfluchtgründe,91 wonach diese
«. . . ausnahmslos zur Anerkennung der Flüchtlingseigen-
schaft [führen] . . . ».92 Gemäss Artikel 43 des liechtenstei-
nischen Flüchtlingsgesetzes ist anerkannten Flüchtlingen
aber kein Asyl zu gewähren, wenn nur subjektive Nach-
fluchtgründe geltend gemacht werden können.
Nach Bekanntgabe dieses Teilentscheides der VBI,
nämlich die Anerkennung des Flüchtlingsstatus und
die Erteilung der Jahresaufenthaltsbewilligung, zogen
die Beschwerdeführer ihren Antrag auf Asylgewährung
zurück. Dadurch sah sich die VBI nicht mehr verpflich-
tet, zu überprüfen, ob die Beschwerdeführer die Flücht-
lingseigenschaft schon beim Eintreffen in Liechtenstein
erfüllten hatten.
Im Weiteren sprach die VBI den Beschwerdeführern
dieselben Rechte zu wie einem Flüchtling, dem Asyl ge-
währt wurde. Dies betraf insbesondere die Erwerbsbe-
willigung ausserhalb der Begrenzungsvorschriften für
ausländische Arbeitskräfte, die Gleichbehandlung hin-
sichtlich der Sozialversicherungen und den Anspruch
auf Familiennachzug. Aufgrund der erteilten Jahresauf-
enthaltsbewilligung stand eine Wegweisung nicht mehr
zur Diskussion. Ausserdem hätte diese aufgrund der
vorherrschenden Situation in Tibet sowieso nicht vollzo-
gen werden können.
Damit gewannen die Tibeter den langjährigen Kampf
von Oktober 1993 bis Juli beziehungsweise August 1998
in Bezug auf ihren Status und den Verbleib im Fürsten-
tum Liechtenstein.
Folgen für das Land Liechtenstein
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95Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
91 Darunter versteht man, wenn jemand erst im Nachhinein Gründe
für einen Flüchtlingsstatus schafft, indem er sich beispielswei-
se öffentlich negativ über seinen Herkunftsstaat äussert. (Bericht
und Antrag der Regierung an den Landtag Nr. 101/1198 vom 24.
September 1998.)
92 VBI-Entscheid Nr. 1998/3 vom 21. September 1998, S. 9. – Vgl.
Emark 1995/7 S. 68.
93 VBI-Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995, S. 8.
94 Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag Nr. 145/1996
vom 26. November 1996, S. 2.
95 Landtagsprotokoll vom 15. September 1994.
96 Hier und im Folgenden nach Bericht und Antrag der Regierung
an den Landtag Nr. 145/1996 vom 26. No-vember 1996.
97 Landtagsprotokoll vom 15. Mai 1997.
98 LGBl. 1998/Nr. 107: Gesetz vom 2. April 1998 über die Aufnahme
von Asylsuchenden und Schutzbedürftigen (Flüchtlingsgesetz).
99 Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag Nr. 145/1996
vom 26. November 1996, S. 6.
100 Ebenda, S. 6–7.
101 Ebenda, S. 82.
102 Ebenda, S. 81
103 Liechtensteiner Volksblatt vom 7. Juli 1998, S. 3.
104 Hier und im Folgenden nach Telefongespräch mit Herrn Lam-
pert, «Verein für Flüchtlingshilfe» vom 17. Oktober 2001.
Schaltstelle zwischen dem Land und dem «Verein für
Flüchtlingshilfe». Zum heutigen Zeitpunkt unterhält der
Verein dreieinhalb Arbeitsstellen.
gaben sich einzelne Änderungswünsche und Fragen zu
gewissen Gesetzesartikeln, welche die Regierung über-
arbeiten und abklären musste. Mit Stellungnahme der
Regierung an den Landtag Nr. 7/1998 vom 10. Februar
1998 unterbreitete die Regierung die redigierte Gesetzes-
vorlage. Am 1. und am 2. April 1998 erfolgte im Landtag
die zweite Lesung; das Gesetz wurde verabschiedet und
trat per 1. Juli 1998 in Kraft.98
Der Regierung hatte das Gesetz im Bericht und An-
trag an den Landtag wie folgt charakterisiert: «Mit die-
sem neuen Gesetz . . . [ist] nicht nur eine Rechtsgrundlage
für die Aufnahme von Flüchtlingen und Schutzbedürf-
tigen geschaffen [worden], sondern . . . auch [für] die Auf-
nahmeeinrichtungen für Flüchtlinge . . . ».99 Im Weiteren
enthalte das Gesetz «. . . detaillierte Bestimmungen in
bezug auf die Durchführung des Asylverfahrens, die
Asylgewährung, die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
die finanzielle Unterstützung der Asylsuchenden und
Schutzbedürftigen, die Sozialhilfe und die internationale
Zusammenarbeit.»100
Entstehung einer Flüchtlingskoordinations-
stelle und eines Aufnahmezentrums
Schon vor Inkrafttreten des Flüchtlingsgesetzes war sich
die Regierung im Klaren, dass für Asylsuchende und
Flüchtlinge der gesamte Verfahrensablauf inskünftig
koordiniert und ein Aufnahmezentrum geschaffen wer-
den musste. Deswegen verpflichtete die Regierung am
1. November 1996, vorerst für eine Zeit von drei Jahren,
einen Flüchtlingskoordinator, welcher der Fremdenpoli-
zei unterstand.101 Ebenso bewilligte der Landtag den Bau
eines Aufnahmezentrums, welches südlich des Polizei-
gebäudes in Vaduz erstellt werden sollte.102 Dieses Ge-
bäude, das sich im Besitz des Landes Liechtenstein befin-
det, konnte Mitte Juli 1998 bezogen werden.103
Das Aufnahmezentrum wird vom «Verein für Flücht-
lingshilfe» geleitet.104 Die Trägerschaft des Vereins setzt
sich zusammen aus der «Caritas», dem «Verein für eine
offene Kirche» sowie der «Justitia et Pax». Der «Verein
für Flüchtlingshilfe» unterhält mit dem Land Liechten-
stein eine Leistungsvereinbarung und ist nicht im staat-
lichen administrativen System eingebunden. Der oben
erwähnte Flüchtlingskoordinator, welcher heute beim
Ausländer- und Passamt, Abteilung Asyl, tätig ist, ist
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96 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Familienzusammenführung
Aufgrund der VBI-Entscheide von 1997 und 1998 war es
den Tibetern ab diesem Zeitpunkt möglich, ihre Fami-
lienmitglieder nachkommen zu lassen. Das Ausländer-
und Passamt in Vaduz befürchtete damals, von Anträgen
überflutet zu werden. Dem war aber nicht so.
Die Person, über deren Asylgesuch die Regierung be-
reits am 30. September 1997 positiv entschieden hatte,
beantragte als erste im Dezember 1998 den Nachzug
für seine Ehefrau und die beiden Kinder. Anhand von
öffentlichen Urkunden, wie Familienbüchlein, Geburts-
schein, Eheschein oder ähnliches, mussten sie zuerst
ihre Familienzugehörigkeit nachweisen. Nach Erhalt und
Überprüfung dieser Unterlagen beantragte das Auslän-
der- und Passamt aufgrund mehrerer Unstimmigkeiten
eine DNA-Analyse, welche mit Hilfe der Schweizer Bot-
schaft in Peking veranlasst wurde. Die entsprechenden
Auswertungen fanden in Zürich statt. Dabei kam zum
Vorschein, dass ein Kind nicht von der antragsstellenden
Person abstammte.
Ursula Wachter wurde über diesen Befund informiert
und um eine Stellungnahme gebeten. Da die Eheleute
vorher schon längere Zeit in Tibet miteinander gelebt
und das Kind gemeinsam aufgezogen hatten, plädierte
sie auf Ehelichkeitsvermutung. Nach kurzem Unter-
bruch wurde das Verfahren im April 1999 wieder auf-
genommen. Am 15. April 1999 bewilligte das Ausländer-
Die Tibeter sind heute sehr gut in Liechtenstein inte-
griert. Sie gehen alle einer geregelten Arbeit nach und
bestreiten ihren Lebensunterhalt selbst. Die meisten
von ihnen haben für sich und ihre Familien eine eigene
Wohnung gefunden und verfügen heute über einen an-
gemessenen Lebensstandard. Die tibetischen Kinder sind
bestens im Schulprozess eingegliedert, sind in der Lehre
oder haben bereits eine absolviert, und können sich sehr
gut in der hiesigen Sprache verständigen.
Bei den erwachsenen Tibetern ist das Niveau der
deutschen Sprache sehr unterschiedlich, denn zu Hause
sprechen sie hauptsächlich ihre Landessprache. Sie ach-
ten sehr darauf, dass ihre Kinder die tibetische Spra-
che und Kultur verstehen und auch pflegen. Zu diesem
Zweck haben die Tibeter regen Kontakt untereinander
sowie zu ihren Landsleuten in der Schweiz und veran-
stalten immer wieder tibetische Kulturabende.
Trotzdem stellen die Erwachsenen bei ihren Kindern
einen gewissen Kulturschwund fest. Dies vor allem bei
der jüngeren Generation, weil diese durch den Besuch
der Schule einen lebhaften Kontakt zu den liechtenstei-
nischen Kindern pflegen. Dadurch vermischen sich die
beiden Kulturen, was dazu führt, dass in diesen Kindern
die tibetische Kultur nicht mehr so stark verankert ist
wie bei den älteren Jugendlichen. Die erwachsenen Ti-
beter sind jedoch bemüht, ihren Kindern die tibetische
Kultur täglich vorzuleben, um den Verlust möglich ge-
ring zu halten.
Situation der Flüchtlinge nach dem
definitiven Entscheid 1998
Mit Hansjörg Quaderer auf dem Fussballplatz in Balzers.Deutschunterricht im Alten Pfarrhaus in Balzers.
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97Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
105 Hier und im Folgenden nach den Interviews mit den ehemaligen
tibetischen Flüchtlingen.
Einige Tibeterinnen und Tibeter haben klare Vorstel-
lungen, was sie in Tibet verbessern möchten. Positive
Aspekte, die sie hier in Liechtenstein kennengelernt ha-
ben, würden sie gerne dort einfliessen lassen. So sollte
zum Beispiel das ganze medizinische Netz durch den
Bau von Spitälern und durch die Einführung eines Kran-
kenkassensystems verbessert werden. Ebenso streben sie
eine Gleichwertigkeit unter den Tibetern an. Schliesslich
möchten sie die Tibeter auch dazu anhalten, ihre Arbeit
genau auszuführen.
und Passamt den Familiennachzug. Die in Tibet befind-
lichen Personen mussten sich nun bei den zuständigen
Behörden gültige Reisepapiere beschaffen. Das Auslän-
der- und Passamt registrierte die Familienangehörige am
7. Mai 1999 als zugezogen.
Gemäss Auskunft des Ausländer- und Passamtes habe
es bei den weiteren Gesuchen keine grösseren Kompli-
kationen mehr gegeben. Mit Schreiben vom 6. Novem-
ber 2001 teilte uns das Ausländer- und Passamt mit, dass
bei vier Personen alle Familienangehörige, für die ein
Gesuch gestellt worden war, eingereist sind. Insgesamt
handelte es sich hierbei um zwölf Personen. Bei drei
Familien war der Nachzug unvollständig, da nur für ei-
nen Teil der Familienangehörigen ein Gesuch beantragt
wurde. Fünf Personen haben bis heute keinen Gebrauch
vom Nachzugsrecht gemacht. Gemäss den vom Auslän-
der- und Passamt vorliegenden Unterlagen ist hier die
Rede von insgesamt 14 Personen. In einem Fall gab es
schliesslich keinen Familiennachzug, da diese Person
alleinstehend ist.
Zum heutigen Zeitpunkt bestehen beim Ausländer-
und Passamt in Vaduz keine pendenten Gesuche in Be-
zug auf die tibetische Familienzusammenführung.
Zukunftswünsche, -aussichten und Ziele
der 18 Flüchtlinge
In ihren Gedanken und mit ihrem Herzen sind die ehe-
maligen Flüchtlinge stets in Tibet. Alle 18 Tibeter wün-
schen sich ein freies Tibet, und zwar für das ursprüng-
liche Staatsgebiet sowie die Rückkehr des Dalai Lama
nach Lhasa.105 Sobald dies geschehen wird, wollen die er-
wachsenen Tibeter in ihr Heimatland zurückkehren. Ihre
Kinder würden aber zum gegebenen Zeitpunkt selber
entscheiden müssen, wo sie leben möchten. Bis dahin
engagieren sie sich für ihr Tibet und setzen alles daran,
dass viele Menschen von der vorherrschenden Situation
in ihrem Vaterland in Kenntnis gesetzt werden.
Weiter geben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass
China bald ein demokratisches Rechtssystem erlangen
und dass dies positive Auswirkungen haben werde,
damit Tibet wieder ein freier Staat werde. Gleichzeitig
wünschen sie sich, dass die grossen Nationen dieser Welt
zusammenstehen und sich für ein freies und menschen-
würdiges Tibet einsetzen.
Kapitel_3_Frick_Good.indd 97 26.07.11 13:45
98 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
stelle und das Land Liechtenstein erstellte ein Aufnah-
mezentrum für Flüchtlinge in Vaduz.
Persönliche Ansichten
Von den geschichtlichen Ereignissen in Tibet sind wir
sehr erschüttert. Wir können uns auch jetzt noch kaum
vorstellen, was die Tibeter in ihrer Heimat erlebt haben
und zum Teil wohl auch heute noch erleben. Die persön-
lichen Erfahrungen der Tibeter, welche sie uns in ihren
Interviews preisgaben, gingen uns sehr nahe.
Die Behandlung der Asylgesuche der 18 Tibeter hatte
zum einen eine menschliche, zum anderen eine recht-
liche Komponente. Menschlich gesehen war die lange
Verfahrenszeit für die Tibeter mit Höhen und Tiefen
verbunden. Die in dieser Zeitspanne erlebte Ungewiss-
heit, ob sie bleiben durften oder nicht, zehrte an ihren
physischen wie psychischen Kräften. Aus dieser Sicht
ist verständlich, dass es wünschenswert gewesen wäre,
dass das Verfahren innert kürzerer Zeit abgeschlossen
worden wäre. Auf der anderen Seite können wir auch
den Standpunkt der Regierung verstehen, dass aus recht-
licher Sicht seriöse Abklärungen vorgenommen werden
mussten. Die in den Aussagen der Tibeter aufgetretenen
Widersprüche konnte die Regierung nicht einfach ausser
Acht lassen. Aber wir sind trotzdem der Meinung, dass
bis zum ersten Regierungsentscheid vom 29. November
1994 zuviel Zeit verstrichen war.
Rückblickend fragen wir uns, ob es für die Tibeter
nicht besser gewesen wäre, den ersten Regierungsent-
scheid zu akzeptieren. Dadurch hätten sie sich vielleicht
viel Leid ersparen können. Sie wären zwar nicht als
Flüchtlinge anerkannt gewesen, aber sie hätten eine Be-
willigung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und die
vorläufige Aufnahme in Liechtenstein erhalten. Leider
wäre es dann den Tibetern verwehrt gewesen, ihre Fami-
lienangehörigen nachzuholen. Wir sind überzeugt, dass
die Tibeter eine Rückschaffung nicht zu befürchten ge-
habt hätten, weil die Regierung aufgrund der damaligen
Situation in Tibet diese nicht hätte vornehmen können.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Nach eigenen Aussagen sind die Tibeterinnen und Tibe-
ter aus politischen Gründen geflohen. Für die Regierung
waren die protokollierten Aussagen über die Flucht-
gründe für die Anerkennung als politische Flüchtlinge
jedoch ungenügend. Die VBI anerkannte hingegen die
Tibeter als Flüchtlinge und erteilte ihnen die Jahresauf-
enthaltsbewilligung. Daraufhin zogen die Tibeter ihr
Asylgesuch zurück. Trotzdem sprach die VBI den Tibe-
tern dieselben Rechte zu wie Flüchtlingen, denen Asyl
gewährt wurde. Bei diesen Rechten handelte es sich um
die Bewilligung einer Erwerbstätigkeit ausserhalb der
Begrenzungsvorschriften für ausländische Arbeitskräfte,
die Gleichstellung bei den Sozialversicherungen und das
Recht auf Familiennachzug. Aus Sicht der Regierung war
diese Vorgehensweise widersprüchlich; die VBI hätte
entscheiden müssen, ob den Flüchtlingen aufgrund der
vorliegenden Akten Asyl hätte gewährt werden können
oder nicht. Danach hätte die Regierung infolge der Situ-
ation in Tibet eine vorläufige Aufnahme verfügt und den
Tibetern den Ausweis F ausgestellt. Dies hätte aber zur
Folge gehabt, dass die Tibeter kein Anrecht auf Familien-
nachzug gehabt hätten.
Die Frage nach dem Fluchtweg der 18 tibetischen
Flüchtlinge konnte nicht eindeutig geklärt werden. Zum
einen erschienen uns die Schilderungen, die uns die in-
terviewten Tibetern gegeben hatten, glaubwürdig, zum
anderen konnten wir aus den Regierungsakten entneh-
men, dass sich bei den Verhören in Bezug auf die Aus-
sagen des Fluchtweges Widersprüche und Ungereimt-
heiten ergeben hatten.
Verschiedene Gespräche mit betroffenen Flüchtlin-
gen, aber auch mit weiteren involvierten Personen wie
Betreuerinnen und Betreuer haben aufgezeigt, dass sich
die Tibeter gut in Liechtenstein eingelebt haben. Das
Ausmass der Integration ist hoch, zum Teil hängt der
Grad der Integration von der Qualität der Deutschkennt-
nisse der ehemaligen Flüchtlinge ab. Speziell jüngeren
Personen fiel es leicht, Deutsch zu lernen und in Liech-
tenstein heimisch zu werden.
Auf politischer Ebene bestanden die Auswirkungen
im Fall der tibetischen Flüchtlinge darin, dass die liech-
tensteinische Regierung sich dazu veranlasst sah, ein –
längst fälliges – Flüchtlingsgesetz auszuarbeiten. Zudem
entstand in dieser Zeit eine Flüchtlingskoordinations-
Schluss
Kapitel_3_Frick_Good.indd 98 26.07.11 13:45
99Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
in Liechtenstein beitrug. Ihre persönlichen Erlebnisse
gaben uns wertvollen Aufschluss über die erste Zeit des
Aufenthalts der Flüchtlinge in Liechtenstein.
Ebenso danken wir Altregierungschef Otmar Hasler
und Landesarchivar Paul Vogt für die gewährte Einsicht
in die Regierungs- beziehungsweise Archivakten. Ein
Dank gebührt auch Markus Diethelm und Hildegard
Nutt vom Ausländer- und Passamt für das interessante
Gespräch in Bezug auf die Familienzusammenführung.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Für-
stentums Liechtenstein zur Schaffung eines Gesetzes über die
Aufnahme von Asylsuchenden und Schutzbedürftigen (Flücht-
lingsgesetz) Nr. 145/1996 vom 26. November 1996.
Interview mit Rita Nipp, Hausfrau und Gattin von Nikolaus
Nipp, Balzers, 15. September 2001.
Interviews mit tibetischen Flüchtlingen: Die Angaben zu den
von uns interviewten tibetischen Personen unterliegen dem
Personen- und Datenschutz. Deshalb führen wir lediglich die
Interviewdaten auf: 16. August 2001, 17. August 2001, 23. Au-
gust 2001, 30. August 2001, 7. September 2001.
Jahresberichte 1993 bis 1999 des Vereins «Tibet-Unterstützung
Liechtenstein».
Landtagsprotokoll, Kleine Anfragen, vom 20. April 1994, S. 355.
Landtagsprotokoll, Beantwortung der Anfragen, vom 21. April
1994, S. 517.
Landtagsprotokoll, Behandlung des Postulats vom 13. Juni
1994 betreffend den Erlass eines Asyl- und Flüchtlingsgesetzes,
15. September 1994.
Landtagsprotokoll, Gesetz über die Aufnahme von Asylsuchen-
den und Schutzbedürftigen (Flüchtlingsgesetz) (Nr. 145/1996),
erste Lesung, vom 15. Mai 1997.
Landtagsprotokoll, Behandlung der Petition gegen die Aus-
schaffung tibetischer Flüchtlinge, S. 2191, S. 2203 ff. 20. Novem-
ber 1997.
Landtagsprotokoll, Gesetz über die Aufnahme von Asylsuchen-
den und Schutzbedürftigen (Flüchtlingsgesetz); Nr. 145/1996,
Nr. 7/1998, zweite Lesung, 1. April 1998.
Ausblick
In den Jahren seit der chinesischen Besetzung Tibets
sind in vielen Ländern Resolutionen gegen China er-
lassen worden. Diese wurden jedoch nicht eingehalten,
weil China daraufhin mit wirtschaftlichen Sanktionen
drohte und dies für diese Länder nicht erstrebenswert
war, weil sie China als potentiellen Wirtschaftspartner
betrachteten beziehungsweise betrachten. Da anzu-
nehmen ist, dass deswegen auch in Zukunft nicht mit
Massnahmen gegen China gerechnet werden kann und
sich dadurch wahrscheinlich die Situation in Tibet nicht
verbessern wird, ist es möglich, dass weitere tibetische
Flüchtlinge nach Liechtenstein gelangen werden. Dank
dem Flüchtlingsgesetz, das seit dem 1. Juli 1998 in Kraft
getretenen ist, werden diese Asylgesuche dann in einem
für die Flüchtlinge angemesseneren Zeitraum behandelt
werden.
Wir nehmen an, dass die 18 tibetischen Flüchtlinge
weiterhin in Liechtenstein bleiben werden, da sich die
Situation in Tibet gemäss den obigen Ausführungen in
naher Zukunft nicht ändern wird.
Dank
Unser Dank gebührt allen Personen und Institutionen,
die uns beim Entstehen dieser Arbeit begleitet und un-
terstützt haben. Allen voran danken wir Hansjörg Qua-
derer, dem Präsidenten des Vereins «Tibet-Unterstüt-
zung Liechtenstein». Er hat uns wertvolle Kontakte ver-
mittelt und uns alle Vereinsberichte von 1993 bis 1999
zur Verfügung gestellt. Auch gab er uns Empfehlungen
zur Literatur, welche die Grundlage für den Teil der Ar-
beit zur Geschichte Tibets bildet. Von uns aufgeworfene
Fragen konnte er stets kompetent beantworten.
Ein herzliches Vergelt’s Gott gilt allen tibetischen
Flüchtlingen, die sich für ein Interview zur Verfügung
gestellt haben. Mit ihren persönlichen Aussagen ermög-
lichten sie uns einen Einblick in ihre Lebensgeschichte,
ihre Welt und ihre Kultur.
Im Weiteren bedanken wir uns besonders auch bei
Irmi Schreiber, Vorstandsmitglied des Vereins «Tibet-
Unterstützung Liechtenstein» und bei Rita Nipp aus Bal-
zers. Beide Frauen leisteten einen enormen Einsatz, der
zu einer guten Integration der tibetischen Flüchtlinge
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100 Frick Nadja /Good Jeannette: Vertrieben aus der Heimat
Stellungnahme der Regierung an den Landtag des Fürstentums
Liechtenstein zu den anlässlich der ersten Lesung der Vorlage
zur Schaffung eines Gesetzes über die Aufnahme von Asylsu-
chenden und Schutzbedürftigen (Flüchtlingsgesetz) aufgewor-
fenen Fragen Nr. 7/1998 vom 10. Februar 1998.
VBI-Entscheid Nr. 1995/9 vom 11. Mai 1995 betreffend Sitzung
vom 10. Mai 1995.
VBI-Entscheid Nr. 1998/3 vom 21. September 1998 betreffend
Sitzung vom 9. Juli 1998.
Literatur
Ludwig, Klemens: Tibet. Originalausgabe – dritte, überarbei-
tete und erweiterte Auflage. München, 2000.
Mäder, Hans: Tibet – Land mit Vergangenheit und Zukunft.
Erste deutschsprachige Auflage. Zürich, 1997.
Bildnachweis
Manuel Bauer, Winterthur: S. 72, 73, 76–82
© Manuel Bauer
Bildarchiv Hansjörg Quaderer, Schaan:
alle weiteren Aufnahmen
Anschrift der Autorinnen
Nadja Frick, Heiligwies 16, FL-9496 Balzers
Jeannette Good, Rappensteinweg 7, CH-9000 St. Gallen
Landtagsprotokoll, Gesetz über die Aufnahme von Asylsuchen-
den und Schutzbedürftigen (Flüchtlingsgesetz) (Nr. 145/1996,
Nr. 7/1998), 2. Lesung, Fortsetzung, 2. April 1998.
Liechtensteiner Volksblatt, «Was geschieht mit den 18 in Liech-
tenstein wartenden Tibetanern?», 20. November 1993, S. 1.
Liechtensteiner Volksblatt, «Tibetisches Neujahrsfest in Schaan
gefeiert», 2. März 1994, S. 4.
Liechtensteiner Volksblatt, «Tibeter müssen gehen»,
1. Oktober 1997, S. 1.
Liechtensteiner Volksblatt, «Sie gehören zu uns»,
4. Oktober 1997, S. 5.
Liechtensteiner Volksblatt, «Neues Aufnahmezentrum»,
7. Juli 1998, S. 3.
Notiz über Telefongespräch mit Herrn Lampert, Verein für
Flüchtlingshilfe betreffend der heutigen Situation beim Auf-
nahmezentrum Vaduz, 17. Oktober 2001.
Notizen zu Akteneinsicht Landesarchiv, 8. Oktober 2001,
Jeannette Good.
Notizen zu Akteneinsicht Regierung, 9. Oktober 2001,
Jeannette Good.
Notizen zu Akteneinsicht Regierung, 9. Oktober 2001,
Nadja Frick.
Notizen zu Akteneinsicht Regierung, 10. Oktober 2001,
Nadja Frick.
Protokoll über Gespräch mit Markus Diethelm, Rechtsdienst,
Ausländer- und Passamt, Vaduz, und mit Hildegard Nutt, Sach-
bearbeiterin der Gesuche für Familiennachzug, Ausländer- und
Passamt, Vaduz, 2. November 2001.
Regierungsentscheid RA 94/4420 vom 30. November 1994.
«Reported Demonstration 1987–1993, Partial list of Demons-
trations in Tibet from September 1987 to July 1993», Eingangs-
datum bei der liechtensteinischen Fremdenpolizei 14. Januar
1994.
Schreiben der Tibeter an die Regierung, 17. Oktober 1996.
Schreiben des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein»
vom 22. Oktober 1997 an den Landtagspräsidenten Dr. Peter
Wolff betreffend Überreichung der Petitionsbögen gegen die
Ausschaffung tibetischer Flüchtlinge, samt Petitionsantrag im
Anhang.
Schreiben des Ausländer- und Passamtes, Vaduz, vom
6. November 2001 betreffend Familiennachzug der Tibeter.
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101
Rezensionen
Inhalt
102 Zwischen Fürst und Führer
Werner Hagmann
121 Mit Liechtensteiner Pass davongekommen
– Lebensgeschichte eines Neubürgers
Peter Geiger
Peter Geiger:
Kriegszeit – Liechtenstein
1939 bis 1945
Historischer Verein für das Für-
stentum Liechtenstein, Vaduz;
Chronos Verlag, Zürich, 2010
2 Bände, 1328 Seiten, 225 Ab-
bildungen, Leinen gebunden,
beide Bände zus. CHF 98.–
ISBN 978-3-906393-49-0
(Historischer Verein)
ISBN 978-3-0340-1047-4
(Chronos)
Erika Schwarz:
«. . . zu Lasten meines Contos»
Siegfried Bieber – Jude, Bankier,
Gutsbesitzer, Emigrant
Hentrich & Hentrich Verlag,
Berlin, 2011, 176 Seiten
CHF 49.90 / Eur 29.90
ISBN 978-3-942271-27-1
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102 Rezensionen
Ende November 2010 ist das monumentale Werk «Kriegs-
zeit» von Peter Geiger in Schaan der Öffentlichkeit vor-
gestellt worden. Die zwei mehr als 1300 Seiten umfas-
senden Bände beleuchten eingehend die Geschichte
des Fürstentums Liechtenstein in den bewegten Jahren
des Zweiten Weltkriegs. Die Publikation ist das Resul-
tat eines gross angelegten, 1987 gestarteten, im Laufe
der Jahre mehrmals unterbrochenen Forschungsprojekts
am Liechtenstein-Institut in Bendern über den Zeitraum
1928–1945. Die Bände zur Krisenzeit der Dreissigerjahre
sind 1997 erschienen.
Ein Autor mit Aussensicht
Peter Geiger, Jahrgang 1942, ist gebürtiger Schweizer,
aber in Liechtenstein aufgewachsen und auch heute
noch dort wohnhaft – er ist also mit den Verhältnissen
im Land gut vertraut. Zugleich bringt er als Schweizer-
bürger den Blick von aussen mit und bietet Gewähr
für eine gewisse Unabhängigkeit und kritische Distanz.
Neben seiner Tätigkeit als Forschungsbeauftragter am
Liechtenstein-Institut war der habilitierte Historiker als
Mittelschullehrer und als Dozent an der Pädagogischen
Hochschule in St. Gallen sowie als Privatdozent an der
Universität Fribourg tätig. Der Autor hat schon eine
grosse Zahl von Publikationen zu einzelnen Aspekten
der Liechtensteiner Zeitgeschichte vorgelegt. Als Präsi-
dent der «Unabhängigen Historikerkommission Liech-
tenstein Zweiter Weltkrieg» zeichnete er für deren 2005
erschienenen Schlussbericht verantwortlich.
Verdrängtes offenlegen
Ziel des Forschungsvorhabens war die Aufarbeitung
und erste Gesamtdarstellung der für die liechtenstei-
nische Zeitgeschichte zentralen, aber lange Zeit weit-
gehend tabuisierten Phase von 1939 bis 1945, die
von Furcht, Existenzangst und Bedrohung durch den
Nationalsozialismus geprägt war. Als Folge der langen
Verdrängung stützte sich die Überlieferung oft nur auf
vage Gerüchte, die sich durch Wiederholung zu «Ge-
schichtsbildern» verdichteten, den Quellen aber häufig
nicht Stand halten. Umso mehr ist es Peter Geiger ein
zentrales Anliegen, einerseits die Fakten gestützt auf
Übersicht
102 Ein Autor mit Aussensicht
102 Verdrängtes offenlegen
103 Forschungsstand und Quellenbasis
103 Gliederung und Schwerpunkte
103 Erstaunlich breite Akzeptanz
105 Kriegsgeschehen und Bedrohungslage
107 Im Schatten der NS-Verbrechen
108 Politische Befriedung im Innern
108 «Volksdeutsche Bewegung» als «Fünfte Kolonne»
110 Der Umbruch – ein antisemitisches Nazi-Hetzblatt
übelster Art
112 Extrem hohe Quote an Kriegsfreiwilligen
112 Breiter Widerstand gegen die braune Bedrohung
113 Verhallter Ruf nach «Säuberung» bei Kriegsende
113 Aussenpolitik: Lavieren zwischen der Schweiz
und dem Reich
115 Vaterländische Union, Volksdeutsche Bewegung
und das «Dritte Reich»
117 Fürst Franz Josef II. – Staatsoberhaupt, Symbolfi-
gur und hochadliger Grossgrundbesitzer
119 Ein Meilenstein der Liechtensteiner
Zeitgeschichtsschreibung
120 Aussicht auf weitere Forschungsergebnisse
Zwischen Fürst und Führer
«Kriegszeit» – Peter Geigers Monumentalwerk über
Liechtenstein in den Jahren 1939 bis 1945
Werner Hagmann
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103Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Gliederung und Schwerpunkte
Der Aufbau des Werks folgt weitgehend dem chronolo-
gischen Ablauf. Geiger reiht die Fülle an Informationen
aus verschiedenen Bereichen aber nicht einfach chro-
nikalisch aneinander, sondern gliedert den Stoff nach
inhaltlichen Schwerpunkten. Es sind dies im Wesent-
lichen das eigentliche Kriegsgeschehen und die damit
verbundene Bedrohungslage, die Innenpolitik im Banne
einer aggressiven nationalsozialistischen Bewegung im
Lande, die zwischen der Schweiz und dem Dritten Reich
lavierende Aussenpolitik sowie die Rolle des Fürsten.
Allerdings lassen sich die einzelnen Bereiche nicht
scharf voneinander trennen: «Alles griff ineinander, Krieg,
Aussen- und Innenpolitik, Wirtschaft, Parteien, Ideologien,
persönliche Erwartungen.» (Band 1, S. 312) Was der Autor
bezogen auf 1940 konstatiert, gilt grundsätzlich für den
gesamten Zeitraum. Überschneidungen und Wiederho-
lungen lassen sich folglich nicht ganz vermeiden.
Eine Besonderheit der Liechtensteiner Geschichte be-
steht darin, dass sich – in weit stärkerem Mass als etwa
im benachbarten St. Galler Bezirk Werdenberg – lokale
Landesgeschichte und grenzübergreifende, internatio-
nale Geschichte stets verschränken, ganz besonders in
Krisen- und Kriegszeiten.
Erstaunlich breite Akzeptanz
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis-
mus prägte und spaltete nach Geigers Einschätzung die
liechtensteinische Gesellschaft so stark, wie es nur die
Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert vermocht hatte.
Dieser krasse Vergleich lässt erahnen, mit wie starken
Emotionen das lange tabuisierte Thema bis in die Gegen-
wart verbunden ist. Vor diesem Hintergrund würde es
nicht überraschen, wenn Peter Geigers Forschungsvor-
haben auf Widerstände und Ablehnung gestossen wäre.
Umso erstaunlicher ist es, dass dies insgesamt – nach ei-
genem Bekunden – keineswegs der Fall war. Dem Autor
wurden von keiner Seite inhaltliche Auflagen gemacht,
die er – wie er betont – auch nicht akzeptiert hätte. Der
Zugang zu den Quellen war ungehindert möglich. Keiner
der angefragten Zeitzeugen versagte ein Interview, bot
ein solches doch auch die Chance, die eigene Sicht der
Dinge darzulegen. Im Vorfeld des Forschungsprojekts
nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewertete Quel-
len vorbehaltlos offenzulegen, anderseits Vermutungen,
offene Fragen sowie seine stets differenzierten Beurtei-
lungen klar als solche zu deklarieren. Indem er die Na-
men der handelnden Personen nennt, vermeidet der Au-
tor Spekulationen und Verwechslungen, wird den dama-
ligen Akteuren gerecht und bricht die Magie von Tabus.
Forschungsstand und Quellenbasis
Eine gründliche und umfassende Aufarbeitung der Ge-
schichte Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg fehlte
bisher. Bis in die 1980er Jahre wurde die Kriegszeit –
wenn überhaupt – höchstens oberflächlich thematisiert.
Heikle Details blieben ausgespart, mitunter wurde auch
beschönigt und verharmlost. Seither sind verschiedene,
meist kleinere, auf Einzelaspekte ausgerichtete Studien
erschienen, deren Mehrzahl von Peter Geiger selbst
stammt. In jüngster Zeit sind noch die Untersuchungen
der ebenfalls von Geiger geleiteten «Unabhängigen
Historikerkommission» hinzu gekommen.
Peter Geigers Werk stützt sich auf eine breite Quel-
lenbasis. Ausgewertet wurden primär Unterlagen aus
Archiven, namentlich aus dem Liechtensteinischen Lan-
desarchiv und dem Hausarchiv des Fürsten, verschie-
denen weiteren öffentlichen Archiven in der Schweiz
und im Ausland sowie aus zahlreichen privaten Ar-
chivbeständen. Daneben setzt der Autor aber auch auf
mündliche Quellen: Über einen Zeitraum von mehr als
zwei Jahrzehnten hat er rund 50 Zeitzeugen befragt, da-
runter verschiedene bedeutende, inzwischen grössten-
teils verstorbene Akteure jener Zeit. Beigezogen hat
Geiger auch zahlreiche gedruckte Quellen wie amtliche
Publikationen, Presseorgane, Quelleneditionen und Er-
innerungsliteratur.
Geiger betont, dass das was damals öffentlich wahr-
genommen wurde und das was erst im Nachhinein be-
kannt wurde, nicht deckungsgleich ist: «In der Rückschau
sind auch die seinerzeit öffentlich sichtbaren Vorgänge von
den geheimen, damals den Zeitgenossen verborgenen Ak-
tionen zu unterscheiden.» (Band 1, S. 242) Das bedeutet
zweierlei: Einerseits ist dies im Hinblick auf das Denken
und Handeln der Damaligen stets im Auge zu behalten,
anderseits relativieren sich dadurch die rückblickenden
Äusserungen von Zeitzeugen.
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104 Rezensionen
Notlandung eines US-Jagd-Flugzeuges im Rhein zwischen Buchs und Schaan am 22. Februar 1945 (oben).
Perspektive vom Festungsgebiet Sargans auf Liechtenstein (unten).
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105Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Kriegsgeschehen und Bedrohungslage
Standen in der Krisenzeit wirtschaftliche Belange im
Vordergrund, ging es seit dem «Anschluss» Österreichs
um das politische Überleben des Landes. Ab 30. August
1939 war die Grenze Schweiz–Liechtenstein militärisch
besetzt, dann vorübergehend fast gänzlich geschlos-
sen – Liechtenstein ein «Niemandsländchen zwischen
der Schweizer Armee und der deutschen Wehrmacht». Am
2. September 1939 erteilte der Landtag ausserordentliche
Vollmachten an die Regierung zur Anordnung kriegs-
wirtschaftlicher Massnahmen.
Liechtenstein – von Deutschland als Anhängsel der
Schweiz betrachtet – war bedroht, wenn die Schweiz be-
gab es zwar teils Befürchtungen, es könnten «alte Wun-
den» aufgerissen werden. Vereinzelte negative Reakti-
onen von Angehörigen betroffener politischer Akteure
blieben – auch nach der Buchpublikation – die grosse
Ausnahme und hatten keinen Einfluss auf das Projekt.
Insgesamt überwiegen deutlich die durchwegs sehr
positiven Stellungnahmen. Die beiden Bände stossen auf
ein enormes Interesse, wie schon der Grossaufmarsch
anlässlich der Buchvorstellung erahnen liess. Peter Gei-
ger ist es offensichtlich gelungen, potentielle Kritiker mit
seiner streng wissenschaftlichen, sachbezogenen Vorge-
hensweise zu überzeugen.
Andrang an der österreichisch-liechtensteinischen Grenze in Schaanwald-Tisis, Anfang Mai 1945.
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106 Rezensionen
Befreite KZ-Häftlinge in Schaanwald, Anfang Mai 1945 (oben).
Regierungschef Josef Hoop bei einer Tischrede, März 1939 (unten links).
Alfons Goop, 1940–1943 Landesleiter der «Volksdeutschen Bewegung», in Waffen-SS-Uniform, 1943 (unten Mitte).
Martin Hilti – der zweite Mann in der Führung der «Volkdeutschen Bewegung», fanatischer Nationalsozialist und erfolgreicher Unternehmer (unten rechts).
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107Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
deutsche Truppen die Kampfhandlungen ins Land
hinein tragen sollten. Das Schreiben wurde in Buchs
einem französischen Offizier übergeben.
Gegen den zu erwartenden Ansturm von Flücht-
lingen wurde die Grenze zu Deutschland in den
letzten Kriegsmonaten mittels Stacheldrahtverhau
gesichert, Hilfspolizei und Schweizer Grenzwacht
verstärkt und alle Grenzübergänge ausser Scha-
anwald geschlossen, wo bis am 3. Mai rund 10 000
Personen verschiedener Nationalitäten die Grenze
überquerten, darunter entlassene Kriegsgefangene,
ehemalige Zwangsarbeiter und befreite KZ-Insas-
sen, die nach kurzer Verpflegung Richtung Buchs
weitergeleitet wurden. Kollaborateure, Deserteure
und NS-Funktionäre wurden von den Schweizer
Grenzorganen – sofern erkannt – abgewiesen, darunter
Pierre Laval, der später hingerichtete Ministerpräsident
von Vichy-Frankreich.
Nach der kampflosen Einnahme Feldkirchs erreichten
die Franzosen am 4. Mai 1945 die Landesgrenze, womit
der Krieg für Liechtenstein zu Ende war.
Im Schatten der NS-Verbrechen
Untrennbar verbunden mit dem Zweiten Weltkrieg ist
die von den Nationalsozialisten systematisch betriebene
Vernichtung der europäischen Juden. Obwohl auch in
Liechtenstein ein latenter Antisemitismus verbreitet
war, fanden während der NS-Zeit insgesamt rund 400
jüdische Flüchtlinge vorübergehend oder dauerhaft Auf-
nahme im Land. Ab Ende 1941 begann die Landespresse
über den sich anbahnenden Massenmord zu berichten,
allerdings weniger explizit als der benachbarte «Werden-
berger & Obertoggenburger».
Im Februar 1942 erfolgte eine geheime Intervention des
SS-«Judenreferats» gegen Liechtenstein wegen dessen an-
geblich judenfreundlichem Verhalten, worin verlangt wur-
de, «diese unhaltbaren Zustände in dem kleinen Land zu besei-
tigen».Der deutsche Generalkonsul Hermann Voigt in
Zürich beschwichtigte, worauf dieser forsche Versuch,
das Land in den Vernichtungsprozess einzubeziehen,
versandete.
1943 wurde Valeska von Hoffmann, eine in Meran
lebende eingebürgerte Liechtensteinerin, als gebürtige
Jüdin deportiert. Sie überlebte, wohl auch weil sie Liech-
droht war. Auch die Gründe für die Kriegsverschonung
waren die gleichen wie für die Schweiz. Im Falle eines
Angriffs hätte die Schweiz Liechtenstein nicht verteidigt,
ausser wenn der Angriff zugleich der Schweiz gegolten
hätte. Das Fürstentum lag direkt im Schussfeld der Fe-
stung Sargans, dem östlichen Réduit-Bollwerk, profitierte
zugleich aber auch von deren Abschreckungswirkung.
Seit dem «Anschluss» Österreichs war Liechten-
stein nie mehr ungefährdet, die tatsächliche Bedrohung
stimmte aber nicht immer mit der damals empfundenen
überein. Im Mai 1940, in einer von Besorgnis bis hin zu
Angst und Panik geprägten Stimmung, wurde eine Eva-
kuierung der Bevölkerung vorbereitet. Die gefährlichste
Situation jedoch bestand nach dem Waffenstillstand mit
Frankreich vom 22. Juni 1940, wenn man auch damals
die unmittelbarste Gefahr schon für gebannt hielt. Gene-
rell war die Gefährdung im Winter höher, wenn an den
Fronten keine Grossoperationen im Gange waren.
Auf deutsches Drängen ordnete die Regierung ab 1940
bis 1944 wie in der Schweiz die Verdunkelung an,
um alliierten Bombern die Orientierung zu erschwe-
ren. Gegenüber der Bevölkerung wurde dies jedoch als
Schutzvorkehrung «verkauft», gerade für Grenzregionen
bedeutete sie aber eher eine Gefährdung.
Als zur Schweiz hin durchlässiges Grenzgebiet
vor den Toren der Festung Sargans stand Liechten-
stein im Visier nachrichtendienstlicher Aktivitäten. Ne-
ben militärischer Spionage von Seiten der deutschen
«Abwehr» gab es auch von Gestapo und Sicherheits-
dienst (SD) der SS betriebenen politischen und wirt-
schaftlichen Nachrichtendienst. Insgesamt sind 113
Personen aktenkundig, welche nachrichtendienstlich
tätig waren. Wegen militärischer Spionage gegen die
Schweiz wurden drei Liechtensteiner zum Tode verurteilt
und einer davon hingerichtet. Als Informanten der
Gestapo in Feldkirch und des SD in Stuttgart betäti-
gten sich neben Liechtensteiner Nationalsozialisten
wie Martin Hilti auch prominente Vertreter der Vaterlän-
dischen Union wie alt Regierungschef Gustav Schädler
und der stellvertretende Regierungschef Alois Vogt.
Mit dem nahenden Kriegsende stieg die Gefahr
des Übergreifens der Kampfhandlungen auf Liechten-
steiner Gebiet. Am 2. Mai 1945 richtete Regierungschef
Hoop – ungeachtet des Neutralitätsbekenntnisses – ein
schriftliches Gesuch an den zuständigen französischen
General Béthouart, Liechtenstein Hilfe zu leisten, falls
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108 Rezensionen
steiner Vaterland» abgelöst. Der Parteienstreit war vorerst
gebannt. Aussenpolitisch übte die Presse als Aushänge-
schild des Landes Zurückhaltung bis zur Gesinnungs-
neutralität – im Vergleich dazu bot der «Werdenberger
& Obertoggenburger» mehr Orientierung. Ab Juni 1940
wurden jedoch sehr unterschiedliche, die Haltung der Par-
teiführungen widerspiegelnde Einstellungen zur neuen
Kriegslage erkennbar: Während sich das «Volksblatt» ge-
gen die nationalsozialistische «Volksdeutsche Bewegung»
und Anpassungstendenzen in der VU – ohne deren
explizite Nennung – wandte und für Liechtenstein die
Parole «Durchhalten» ausgab, bewunderte das «Vater-
land» unverhohlen den deutschen Sieg, bediente sich
des NS-Vokabulars und richtete sich mit der Parole
«Einordnen» in Hitlers neues Europa auf Anpassung aus.
Zwar sprachen sich beide Zeitungen für die Weiterexi-
stenz Liechtensteins als Staat aus, unterschieden sich
aber deutlich in ihrer Haltung bezüglich Anpassung.
«Volksdeutsche Bewegung»
als «Fünfte Kolonne»
Im Gefolge des «Anschlusses» von Österreich und als
Reaktion auf Parteienbefriedung wurde im März 1938
die nationalsozialistische «Volksdeutsche Bewegung in
Liechtenstein» (VDBL) gegründet. Sie trat für den «An-
schluss» an Deutschland ein und rekrutierte sich vor
allem aus den Reihen ehemaliger Heimatdienst-Leute.
Am 24. März 1939 scheiterte ein «Anschluss»-Putsch
der Liechtensteiner Nationalsozialisten an der ausblei-
benden Unterstützung aus dem Reich und am ener-
gischen Widerstand im Innern. Nach Flucht und Verhaf-
tung der Anführer aus der VDBL-Spitze stand die Bewe-
gung geschwächt und führerlos da. Der Hochverratspro-
zess gegen die Verantwortlichen wurde jedoch aus aus-
senpolitischen Rücksichten sistiert und die inhaftierten
Putschisten ins Reich abgeschoben.
Unter dem Eindruck der deutschen Siege und der
weiterhin desolaten wirtschaftlichen Lage erhielt die
VDBL ab Frühsommer 1940 unter neuer Führung wie-
der starken Auftrieb. Sekundarlehrer Alfons Goop aus
Eschen ersetzte den nach Deutschland geflüchteten
Theodor Schädler als Landesleiter, bevor er sich im
März 1943 selbst als Kriegsfreiwilliger nach Deutschland
absetzte.
tensteinerin war und man sich sogleich – vorerst zwar
erfolglos – auf diplomatischem Weg für sie einsetzte.
1944/45 wurden ungarische Juden auf fürstlichen Gütern
bei Wien zur Zwangsarbeit eingesetzt, was ihnen – im
Gegensatz zu ihren direkt nach Auschwitz deportierten
Leidensgenossen – das Leben rettete.
Dem NS-Euthanasiemord fielen höchst wahrscheinlich
auch einzelne Geisteskranke aus Liechtenstein zum Opfer.
Da das Land nicht über eine eigene Anstalt verfügte, wurden
diese oft in Vorarlberg untergebracht. Im Wissen um die
drohende Gefahr versuchten Angehörige und Gemein-
den die Betroffenen nach Liechtenstein zurückzuholen.
Politische Befriedung im Innern
Ende März 1938 – kurz nach dem «Anschluss» Österrei-
chs – nahm die Fortschrittliche Bürgerpartei (FBP) die
oppositionelle Vaterländische Union (VU) in eine Koali-
tionsregierung auf, um angesichts der äusseren Gefahr
eine innenpolitische Befriedung zu bewirken und die Ge-
fahr eines Abgleitens der VU ins Lager der «Anschluss»-
Freunde abzuwenden. Die VU war 1936 aus der Fusion von
Christlich-sozialer Volkspartei und der deutschfreund-
lichen Erneuerungsbewegung «Liechtensteiner Heimat-
dienst» entstanden, wobei die Heimatdienstler in der
Führung dominierten. Die Regierung bestand aus zwei
Vertretern der FBP (Regierungschef Josef Hoop und Pfar-
rer Anton Frommelt, zugleich Landtagspräsident und
konsequenter NS-Gegner) und zwei Exponenten der VU,
darunter Regierungschef-Stellvertreter und Wirtschafts-
minister Alois Vogt. Als ehemaliges Führungsmitglied des
Heimatdienstes hegte er unverhohlene Sympathien für
Deutschland und nahm eine ambivalente Haltung ein.
Anfang 1939 wurde das Proporzwahlrecht eingeführt.
Im Frühjahr 1939 einigten sich die Parteien auf eine stille
Landtagswahl: Die FBP erhielt acht Mandate, die VU sieben.
Auch im Kanton St. Gallen wurden 1939 für den Kantons-
rat und den Nationalrat stille Wahlen erwogen, scheiterten
aber an der Uneinigkeit der Parteien. Die 1943 anstehende
nächste reguläre Landtagswahl wurde per Notrecht bis
April 1945 verschoben, letztere änderte an der Sitzver-
teilung nichts.
Im Zuge der innenpolitischen Befriedung wurden im
Frühjahr 1939 die streitbaren Redaktoren des FBP-Organs
«Liechtensteiner Volksblatt» und des VU-Blattes «Liechten-
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109Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Der zweite Mann in der VDBL-Führung war der bereits
im «Heimatdienst» politisch aktive Ingenieur Martin
Hilti aus Schaan. Im Sommer 1941 absolvierte er eine
Waffen-SS-Ausbildung in Prag, entzog sich aber einem
Fronteinsatz. Bei einer tätlichen Auseinandersetzung in
der Nacht vom 16./17. Februar 1942 in Vaduz rief Hilti
aus: «Umbringen werde ich euch nicht, aber erziehen!» – die-
ses offenbar auch bei anderer Gelegenheit wiederholte
«geflügelte Hilti-Wort» implizierte die Androhung einer
gewaltsamen Umerziehung, aber auch die Macht, die
Gegner umzubringen. Ende 1941 gründete er die Ma-
schinenbau Hilti oHG als Zulieferbetrieb für deutsche
Rüstungsfirmen und baute sie nach dem Krieg zum
weltweit tätigen Konzern aus.
Tierarzt Sepp Ritter aus Schaan, Lehrer Ernst Schädler
aus Vaduz sowie der Arzt Hermann Walser aus Schaan
gehörten ebenfalls zur Landesleitung. Letzterer, verhei-
ratet mit einer Frau jüdischer Herkunft, schied im Okto-
ber 1941 aus der VDBL-Führung aus. Die neue Führung
war nicht in den Putschversuch von 1939 verwickelt,
akademisch gebildet, beruflich tüchtig, materiell gesi-
chert, in gesellschaftlich angesehenen Positionen: «Als
jugendliche Heisssporne konnten sie nicht mehr gelten.»
Die von der neuen Führung erlassenen Statuten
dienten lediglich als «Legalitäts-Kulisse», indem nur jene
Ziele genannt wurden, die öffentlich vertreten werden
konnten. Als einzige konkrete Forderung fand sich darin
der «Wirtschaftsanschluss an Deutschland».
«Der Umbruch» – Titelseite mit Zeitungskopf des an 5. Oktober 1940 erstmals erschienenen Nazi-Hetzblattes.
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110 Rezensionen
Da bis Kriegsende keine landesweiten Wahlen stattfan-
den, lässt sich die Stärke der VDBL nur indirekt ermit-
teln. Auf dem Höhepunkt 1940 dürfte die Bewegung
rund 300 Mitglieder (etwa zehn Prozent der Stimmbe-
rechtigten) umfasst haben. Hinzu kam ein Kreis von
Sympathisanten. Gefährlich war die Bewegung weniger
aufgrund ihrer zahlenmässigen Stärke, sondern wegen
ihrer Radikalität.
Die VDBL-Führung pflegte verschiedene Kontaktli-
nien ins Reich, insbesondere zur «Volksdeutschen Mit-
telstelle», zum «Volksbund für das Deutschtum im Aus-
land» (beide in Berlin), zu SD-Funktionären in Stuttgart,
zu Gestapo-Stellen in Vorarlberg und Tirol, zu Agenten
der deutschen Auslandspionage. Zahlreiche VDBL-
Mitglieder dienten dem Reich als Informanten, Denunzi-
anten, Spione und Waffen-SS-Freiwillige.
Die Bewegung verfolgte ein Doppelziel: die Einfüh-
rung des Nationalsozialismus im Innern und den «An-
schluss» an das Dritte Reich. Die Mehrheit der VDBL-
Führung strebte nicht «nur» den Wirtschaftsanschluss
– wie öffentlich gefordert und im Nachhinein behauptet
– an, sondern letztlich den Totalanschluss und verhielt
sich damit hochverräterisch.
Das Schüren von Hass und die Einschüchterung
politischer Gegner dienten der VDBL als Mittel zur
Erreichung ihrer Ziele. Im Juni 1940 wurde ein Bomben-
anschlag auf das Haus eines prominenten FBP-Politikers
verübt. Am 20. Juli 1940 erliess die Regierung ein Ver-
sammlungsverbot für politische Organisationen, womit
der VDBL die Bühne für Propagandaveranstaltungen
entzogen war. Das zunehmend provokative Auftreten
der Volksdeutschen (zum Beispiel durch das Aufma-
len und Abbrennen von Hakenkreuzen oder die Schaf-
fung der «Sportabteilung» SA als «Sicherheitsdienst» der
Bewegung) führte ab Sommer 1940 zu gewaltsamen
Zusammenstössen mit NS-Gegnern.
«Der Umbruch» – ein antisemitisches
Nazi-Hetzblatt übelster Art
Am 5. Oktober 1940 erschien erstmals «Der Umbruch»,
das «Kampfblatt der VDBL». Als Schriftleiter zeichnete
bis Ende 1942 Martin Hilti. Dieser propagandistische
Überraschungscoup verschärfte die innenpolitische
Auseinandersetzung und führte – verstärkt durch die
ambivalente Haltung der VU – zu einer eigentlichen
«Oktoberkrise». Das von blankem Hass geprägte Hetz-
blatt bediente sich einer schreienden, dramatisierenden
Aufmachung mit übergrossen Schlagzeilen und einer
emotionalen, aufstachelnden Sprache und bekannte
sich vorbehaltlos zu Deutschland und zum National-
sozialismus. Das Abstossendste war die menschen-
verachtende Hetze gegen die Juden mit dem Ziel eines
«judenreinen» Liechtenstein. Noch im Mai 1943 for-
derte der «Umbruch» «die Ausmerzung des Judentums als
Volk und Rasse», was nichts anderes war als «ein Aufruf
zur Beihilfe am Mord». Im Innern zielten die Angriffe vor
allem auf die FBP und die Pfadfinder. Der Fürst hingegen
– als Staatsoberhaupt Symbolfigur für die Selbständigkeit
des Landes – wurde ignoriert. Geigers Urteil lässt keine
Zweifel: Der «Umbruch» sei ein «fürchterliches Hetzblatt»,
ein «erschütterndes Dokument ideologischer Verranntheit, Bos-
heit und Menschenverachtung».
Ausgelöst durch wiederholte Angriffe auf die Schweiz
wurde das Hetzblatt im Juli 1943 verboten – damit war
der VDBL ihre Stimme und Bühne entzogen und das
Ende der seit Frühjahr 1940 die Innenpolitik beherr-
schenden «Umbruch»-Zeit in Liechtenstein eingeläutet.
Mit dem Erscheinen des «Umbruch» und dem immer
aggressiveren Auftreten der Volksdeutschen nahm
die Gewaltbereitschaft in der politischen Auseinander-
setzung zu. Zusätzlich angeheizt durch Putschgerüchte,
kam es im März 1941 fast täglich zu Gewaltakten.
Bei einem Tumult in Schaan am 24. März trug Mar-
tin Hilti eine geladene Pistole, mit der er den Geg-
nern drohte: «Platz, oder es wird scharf geschossen!» Am
26. März erreichte die Eskalation den Höhepunkt:
Der Volksdeutsche Hugo Meier gab in Mauren zwei
Schüsse auf Gegner ab, ohne sie zu treffen. Hätte es Tote
gegeben, wäre eine weitere Eskalation bis hin zu einem
deutschen Eingreifen möglicherweise nicht mehr zu
stoppen gewesen. Eine Verordnung der Regierung
vom 29. März verbot politische Provokationen in
der Presse und in der Öffentlichkeit. Damit war die
Gewalteskalation gestoppt, wozu auch eingeleitete
Gerichtsverfahren beitrugen. Noch länger wirkte die
antisemitische Hetze im «Umbruch» nach, kam es
doch immer wieder zu Anpöbelungen und Beschimp-
fungen von Juden im Alltag, 1942 sogar zu drei Spreng-
stoffanschlägen, bei denen glücklicherweise keine Men-
schen Schaden erlitten.
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111Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Deutsche Gefallene an der russischen Front im Januar 1942, darunter der Liechtensteiner Waffen-SS-Freiwillige Alwin Müssner (oben).
Landtagspräsident und Regierungsrat Pfarrer Anton Frommelt um 1940 – der entschiedenste Gegner des Nationalsozialismus in der Regierung (unten
links). Pfadfinder bilden an Rheindamm den Schriftzug «Liechtenstein», 1939 (unten rechts).
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112 Rezensionen
Gegenbewegung zur VDBL gegründet. Dem Putschver-
such vom März 1939 trat sie mit einer Unterschriften-
sammlung entgegen, worin sich eine erdrückende Mehr-
heit von 95,4 Prozent der Stimmberechtigten für die
Erhaltung der Selbständigkeit des Landes aussprach –
darunter allerdings auch einzelne NS-Anhänger. Unter
dem Eindruck der zunehmenden VDBL-Agitation er-
folgte im Sommer 1940 eine Reaktivierung. Die Bewe-
gung wollte keine Partei sein, sondern möglichst viele
«heimattreue» Liechtensteiner über die Parteien hin-
weg unter dem Motto «Für Gott, Fürst und Vaterland!»
einigen. Der angestrebte Brückenschlag zwischen den
politischen Kräften scheiterte: Die VU-Führung sah in der
Bewegung eine politische Konkurrenz und distanzierte
sich brüsk, da sie den Zusammenhalt der Partei mit ihren
zwei gegensätzlichen Flügeln gefährdet sah.
Im August 1942 nahm die sich hauptsächlich aus
Schweizern rekrutierende Geistlichkeit (Liechten-
stein war Teil des Bistums Chur) in einem Protest-
brief an die Regierung geschlossen Stellung gegen
den «Umbruch» und forderte ein schärferes Vorge-
hen. Die den Nationalsozialismus ablehnende Haltung
der gesamten Priesterschaft – deren Einfluss als
Respektspersonen damals noch ungleich grösser war als
heute – hatte zweifellos eine bedeutende Ausstrahlung
in der Bevölkerung. Die VDBL versuchte, Geistliche
aus politischen Ämtern zu drängen und mundtot zu
machen. Als dezidierter NS-Gegner wurde insbesondere
Regierungsrat Pfarrer Anton Frommelt angefeindet.
Auch das damals noch eng mit der katholischen Geist-
lichkeit verbundene Schulwesen erwies sich weitgehend
immun gegen die braune Versuchung, zumal auch die
Lehrerschaft mit ihrem noch hohen Gewicht als mora-
lische Autorität grösstenteils gegen den Nationalsozialis-
mus eingestellt war.
Die über 600 Mitglieder umfassende Pfadfinderschaft
bezeichnet Geiger als «eigentliche Jugendgarde gegen die
Nationalsozialisten», deren Hauptziel die Verteidigung
der Freiheit und Selbständigkeit Liechtensteins wurde.
Auch wenn parteipolitisch neutral, war sie stärker in
der FBP als in der VU verankert und wurde zeitweise
vom «Vaterland» heftig unter Beschuss genommen. Ob-
wohl äusserlich der Hitlerjugend ähnlich, war sie ideo-
logisch doch völlig konträr ausgerichtet. Eine Gruppe
von Rovern (älteren Pfadfindern) war zum bewaffneten
Widerstand im Falle eines «Anschlusses» beziehungs-
Extrem hohe Quote an Kriegsfreiwilligen
Ein jahrzehntelang tabuisiertes Kapitel sind die min-
destens 100 Liechtensteiner, von wenigen Ausnahmen
abgesehen überzeugte Nationalsozialisten aus dem
Umfeld der VDBL, die sich als Kriegsfreiwillige nach
Deutschland meldeten, wovon 70 in die Waffen-SS,
vereinzelte in die Wehrmacht. Dies sind rund fünf
Prozent der wehrfähigen Liechtensteiner, eine im Ver-
gleich zur Schweiz sehr hohe Quote. Den Hauptgrund
dafür sieht Geiger in der «Mobilisierungsdynamik»
der VDBL, hin zur Selbstisolation und Desintegration
ihrer Gefolgschaft. Geiger charakterisiert das Handeln
der Hitlerfreiwilligen, von denen mindestens acht
gefallen sind, als «Mitwirken am grossen Unrecht», das
nicht verharmlost werden dürfe. Insofern wäre die be-
sonders von den Betroffenen vertretene Sichtweise, die
Waffen-SS habe rein nichts mit der übrigen, verbreche-
rischen SS zu tun, vor dem Hintergrund neuerer For-
schungen auch zur Rolle der Wehrmacht kritisch zu
hinterfragen. Rückkehrer wurden in Liechtenstein straf-
rechtlich nicht belangt, etliche erhielten – kaum zufällig
– im von Martin Hilti geführten Unternehmen Arbeit.
Breiter Widerstand gegen
die braune Bedrohung
Der staatliche Selbstbehauptungswille Liechtensteins
gegen «Anschluss»-Tendenzen manifestierte sich sym-
bolhaft in verschiedenen identitätsstiftenden, patrio-
tischen Anlässen und Gemeinschaftshandlungen, welche
stark um den Fürsten als Symbol für den Selbständig-
keitswillen kreisten. Anlässlich der Huldigungsfeier vom
19. Mai 1939 wurde der Unabhängigkeitswille bekräftigt.
Die Muttergottesweihe vom 25. März 1940 bei der Wall-
fahrtskapelle Dux in Schaan benutzte der Monarch, um
den Schutz der Muttergottes für das Land zu erbitten.
Der 15. August, Mariä Himmelfahrt und zugleich Vor-
abend des Fürstengeburtstags, wurde 1940 per Regie-
rungsbeschluss zum Staatsfeiertag erhoben und als pa-
triotische Einigkeitskundgebung begangen. Festlicher
Höhepunkt war die Fürstenhochzeit vom 7. März 1943
in Vaduz.
Anfang 1939 wurde die «Heimattreue Vereinigung
Liechtenstein» (ab 1940 «Nationale Bewegung») als
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113Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
weise einer NS-Machtübernahme entschlossen, insbe-
sondere auch zur Beseitigung einzelner NS-Exponenten
im Lande. Der 1942 offenbar auf äusseren Druck hin er-
folgte Ausschluss bzw. die Nichtaufnahme jüdischer Mit-
glieder trübt das hehre Bild allerdings etwas.
Verhallter Ruf nach «Säuberung»
bei Kriegsende
Mit dem Kriegsende war die Zeit der «Säuberung», der
Abrechnung mit den NS-Anhängern gekommen. Spreng-
stoffanschläge auf Häuser von bekannten Nationalso-
zialisten Anfang Mai 1945 verursachten Sachschäden.
Ein «Aktionskomitee heimattreuer Liechtensteiner» ver-
langte Mitte Mai die Bestrafung der als «Landesverrä-
ter» bezeichneten Liechtensteiner Nazis und löste damit
eine Pressekontroverse aus: Das «Volksblatt» warf dem
«Vaterland» vor, in den Kriegsjahren zu den einheimi-
schen NS-Umtrieben geschwiegen zu haben. Am Schaa-
ner Lindenplatz wurden von NS-Gegnern ein symbo-
lischer Galgen und Plakate mit Vorwürfen und Forde-
rungen nach «Säuberung» aufgestellt. Im Juni 1945 stellte
die Regierung Grundsätze zur Säuberungsfrage vor:
Bei strafbaren Handlungen sollte mit rechtlichen Mitteln
vorgegangen werden, gegen Ausländer – bei Missbrauch
des Gastrechts – zusätzlich auch fremdenpolizeilich.
Insgesamt wurden 26 deutsche Nationalsozialisten aus-
gewiesen.
Der 1946 wiederaufgenommene Putschprozess
endete mit der Verurteilung von sechs Hauptangeklag-
ten zu Kerkerstrafen. Von der 1940 eingesetzten VDBL-
Führung wurde einzig Landesleiter Alfons Goop, der
die gesamte Verantwortung auf sich nahm, gerichtlich
zur Rechenschaft gezogen und zu einer Zuchthaus-
strafe von zweieinhalb Jahren verurteilt – dies «stiess
auf Kritik und Unverständnis, damals wie auch später».
Die VU-Politiker alt Regierungschef Gustav Schädler
und Ludwig Hasler wurden wegen Spionage zu Ge-
fängnisstrafen verurteilt, während Alois Vogt, der
zweite Mann in der Regierung, nur knapp einer Mini-
steranklage entging. Im Interesse eines friedlichen Zu-
sammenlebens in der kleinräumigen, vielfach verfloch-
tenen liechtensteinischen Gesellschaft und weil letztlich
«nichts» passiert war, verzichtete man aber auf eine
grosse Abrechnung.
Aussenpolitik: Lavieren zwischen
der Schweiz und dem Reich
Die Aussenpolitik war durch die besondere geopolitische
Lage zwischen der neutralen, demokratischen Schweiz
und dem kriegführenden, totalitären Grossdeutschland
bestimmt. Hauptziele waren, das Land neutral aus dem
Krieg heraushalten und die Selbständigkeit bewahren,
die Bevölkerung schützen und ernähren, die Wirtschaft
in Gang halten sowie liechtensteinische und fürstliche
Interessen im Ausland schützen. Die Beziehungen zu
andern Staaten liefen meist über die Schweiz, welche
das Land diplomatisch vertrat und auch die Liechten-
steiner Bürger im Ausland betreute. Am 30. August 1939
gab Liechtenstein eine Neutralitätserklärung für den
Kriegsfall ab.
Die Schweiz beobachtete Liechtenstein während der
Kriegszeit mit Misstrauen, versuchte aber zu vermeiden,
das Land durch Erschwernisse in die Hände des Reiches
zu treiben und die deutschen Behörden zu provozieren.
Mit der Kontrolle des Grenzverkehrs sollte verhindert
werden, dass eine für die deutsche Spionage geeignete
Lücke entstand. Das Misstrauen richtete sich vor allem
gegen die in Liechtenstein lebenden Drittausländer, für
welche 1940 faktisch ein polizeilich-militärisches Vi-
sumsverfahren eingeführt wurde.
Die Einbindung in die Schweizer Kriegswirtschaft
bestimmte den Grossteil der bilateralen Aktivitäten. Als
Teil des Schweizer Wirtschaftsraums war das Land in den
Wirtschaftsabkommen, welche die Schweiz mit Dritt-
staaten aushandelte, mit eingeschlossen. Liechtenstein
strebte vor allem eine wirtschaftliche Besserstellung ge-
genüber der Schweiz an. Ein Fremdenpolizeiabkommen,
welches den Liechtensteinern die freie Arbeitsaufnahme
in der Schweiz zusicherte, kam aber erst Anfang 1941
zustande, nachdem Liechtenstein eine von der Schweiz
geforderte Loyalitätserklärung abgegeben hatte. Das Ab-
kommen entzog den Liechtensteiner «Anschluss»-Befür-
wortern ein wichtiges Argument und diente der Schweiz
zur engeren Anbindung des Landes.
Die direkten Beziehungen zum Reich bewegten sich
auf der Ebene kleinerer, aber nicht unwesentlicher Be-
lange, weil durch jede zwischenstaatliche Vereinba-
rung unausgesprochen Liechtenstein als eigenständiges
Staatswesen anerkannt wurde. Der engste amtliche Ver-
kehr lief über das deutsche Konsulat in Zürich, das auch
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114 Rezensionen
Höflichkeitsbesuch von Fürst Franz Josef II. und Mitgliedern der Landesregierung in Berlin vom 2. März 1939 (oben links).
Regierungschef-Stellvertreter Alois Vogt – von deutscher Seite als «Mann Berlins» in der Landesregierung betrachtet (oben rechts).
Sommerlager der «Reichsdeutschen Jugend der Schweiz» im liechtensteinischen Steg, 1941 (unten).
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115Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
zwischen 1938 und 1945 auf Hitler vereidigte reichsdeut-
sche Richter an der Rechtsprechung im Lande mitbetei-
ligt waren. Wieweit dies die liechtensteinische Gerichts-
praxis zu beeinflussen vermochte, wird gegenwärtig im
Rahmen einer Dissertation untersucht.
Vaterländische Union, Volksdeutsche
Bewegung und das «Dritte Reich»
Vor dem Hintergrund der fortdauernden Wirtschafts-
krise und der immer noch ausstehenden Öffnung des
Schweizer Arbeitsmarktes für Liechtensteiner machte
der stellvertretende Regierungschef Alois Vogt Ende Juli
1940 an einem Vortrag in Schaan die ominöse Andeu-
tung, «dass man daran denken müsste, sie [die wirtschaftli-
chen Sorgen] eines Tages abzulegen.» Damit konnte nur ein
«Anschluss» an den deutschen Wirtschaftsraum gemeint
sein.
Im Herbst 1940 unternahm Vogt, von deutscher Seite
als «Mann Berlins» in der Liechtensteiner Regierung
betrachtet, hinter dem Rücken von Landtag, Regierung
und Fürst eine geheime Sondierung im Reich. Es ging
um die Frage eines «Anschlusses», wobei ihm das Aus-
wärtige Amt signalisierte, dass zurzeit kein Interesse da-
ran bestünde. Die Haltung Vogts danach ist vom Wissen
um die deutsche Absage bestimmt. Aus der Rückschau
stellte er sein Vorgehen als patriotische Taktik dar. Die
wahren Absichten Vogts bleiben aufgrund der Quellen-
lage aber im Dunkeln.
Bestrebungen für ein Zusammengehen von VDBL
und VU, welche von deutscher Seite beide als deutsch-
orientiert eingestuft wurden, gipfelten am 13. und
14. März 1943 in einer Geheimkonferenz in Friedrichs-
hafen mit Vertretern deutscher SS-Amtsstellen und
den Spitzen von VDBL und VU. Angesichts der zu
ungunsten Deutschlands veränderten Kriegslage
stellte sich die VU jedoch gegen eine enge politische
Kooperation oder gar eine Fusion mit der VDBL und be-
schränkte sich auf eine bloss noch taktische Kooperati-
onsbereitschaft, hielt sich – für alle Fälle – aber weiterhin
«nach der nationalsozialistischen Seite hin den Weg offen».
Jedoch ist allein die Tatsache einer Teilnahme der VU-
Spitze am heimlichen, von deutscher Seite organisierten
Treffen auf Reichsboden, um mit SS-Funktionären und
Liechtensteiner Nazis hinter dem Rücken von Fürst,
für Liechtenstein zuständig war. Grundlegende kriegs-
wirtschaftliche Verhandlungen und Verträge erfolgten
hingegen über die Schweiz.
Hauptziel gegenüber Deutschland war die Respektie-
rung des Status quo durch eine Strategie der Konfliktver-
meidung. Anfang März 1939 stattete der Fürst in Beglei-
tung von Regierungschef Hoop und dessen Stellvertreter
Vogt bei Hitler und weiteren Vertretern des NS-Regimes
in Berlin einen Höflichkeitsbesuch ab. In Liechtenstein
wurde dies als Anerkennung der Eigenstaatlichkeit
gedeutet, schürte in der Schweiz aber Misstrauen.
Mit verschiedenen Freundlichkeitsgesten zwischen
diplomatischer Höflichkeit und Anbiederung bemühte
sich Liechtenstein, das Reich bei Laune zu halten. Im
Dezember 1940 hielt Regierungschef Hoop eine Rede
in Stuttgart – eine Verbeugung gegenüber NS-Deutsch-
land bei gleichzeitiger Betonung der Eigenständigkeit
des Landes. Als aussenpolitische Freundlichkeit gedacht
war auch ein im Sommer 1941 mit Billigung der Re-
gierung durchgeführtes, militärisch straff organisiertes
Sommerlager der «Reichsdeutschen Jugend Schweiz» im
Saminatal in Steg.
Auch mit Deutschland bestand eine enge wirtschaft-
liche Verflechtung: Einerseits produzierte die ab Ende
1941 aufkommende Metallindustrie (Maschinenbau
Hilti, Schaan; Press- und Stanzwerk AG Presta, Eschen;
Präzisions-Apparatebau PAV, Vaduz) primär für den
deutschen Kriegsbedarf. Anderseits arbeiteten rund 400
Grenzgänger in Vorarlberg – eine Grenzübertrittsbewil-
ligung erhielt aber nur, wer den deutschen Behörden
genehm war, wobei offenbar auch die Volksdeutsche Be-
wegung die Hände im Spiel hatte.
In Liechtenstein lebten rund 1400 Reichsdeutsche,
wobei sich die örtliche «NSDAP Ortsgruppe Liechten-
stein» ruhig hielt und kaum mit den einheimischen Nazis
zusammenarbeitete. Mindestens 108 Deutsche wurden
in die Wehrmacht eingezogen, wovon 16 gefallen sind
und 10 verschollen blieben. 30 Weitere weigerten sich
einzurücken (Refraktäre) oder kehrten aus dem Urlaub
nicht zur Truppe zurück (Deserteure).
Die enge Verflechtung mit den Nachbarstaaten be-
schränkte sich nicht auf politische und wirtschaftliche
Belange, sondern tangierte auch die Justiz: Da Liech-
tenstein zu wenig eigenes Personal aufbringen konnte,
sassen auch Richter aus der Schweiz und aus Österreich
in den Gerichten. Dies führte zur heiklen Situation, dass
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116 Rezensionen
Ein Bild von der Fürstenhochzeit vom 7. März 1943 in Vaduz schmückt die Titelseite der
italienischsprachigen «Illustrazione ticinese» aus der Schweiz.
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117Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Der Fürst verfolgte namentlich drei Ziele: Die Sicherung
des liechtensteinischen Staats und Throns, die Sicherung
des verstreuten Besitzes des Fürstenhauses, der haupt-
sächlich im deutschen Machtbereich lag, sowie Schutz
und Kontrolle der weitverzweigten Verwandtschaft als
Familienoberhaupt der Fürstenfamilie. Aufgrund dieser
weit auseinander liegenden Interessensfelder war der
Fürst, obwohl Wohnsitz in Vaduz, während des Krieges
– von der Öffentlichkeit kaum bemerkt – etwa die Hälfte
der Zeit landesabwesend.
Politisch hielt sich der Fürst seit seinem Regierungs-
antritt zurück und unterzeichnete alle von der Regie-
rung eingebrachten und vom Landtag verabschiedeten
Gesetze. Aussenpolitisch ging es ihm einerseits um die
Fortführung und Vertiefung der Partnerschaft mit der
Schweiz, anderseits um die Betonung der freundnach-
barlichen Beziehungen mit Deutschland, unter Vermei-
dung des Anscheins der «Deutschfreundlichkeit».
Die Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938/39 er-
öffnete die Perspektive, Teile der durch die tschechische
Bodenreform verloren gegangenen fürstlichen Güter zu-
rückzuerhalten – entsprechende Bemühungen sind bis
mindestens 1941 nachweisbar. Ob der Fürst damit (vor-
läufigen) Erfolg hatte, ist noch ungeklärt. 1945 wurden
mit den Benesch-Dekreten alle fürstlichen Güter in der
Tschechoslowakei endgültig enteignet.
Von 1938 bis 1945 pflegte der Fürst einen Glück-
wunsch-Telegramm-Austausch mit Hitler. Wiederkeh-
rende Anlässe waren Jahreswechsel sowie Führer- und
Fürstengeburtstag, spezielle Anlässe die Münchner
Konferenz 1938, der Berlin-Besuch 1939, die Hitler-At-
tentate 1939 und 1944 sowie die Fürstenhochzeit 1943.
Neben dem Fürstenbesuch 1939 waren dies die einzigen
direkten Kontakte mit Hitler. Sie dienten der Respekt-
pflege auf höchster Ebene, gingen oft über diplomatische
Höflichkeitsfloskeln hinaus und enthielten teils sehr
anpasserische Formulierungen, waren somit «opportu-
nistische Gesten gegenüber Hitler», die den Kriegsverlauf
widerspiegeln. Die Telegramme wurden immer beant-
wortet, was einer jeweils aktuellen Anerkennung Liech-
tensteins gleichkam.
Am 15. Juli 1943 wurde der Fürst zu einer inoffizi-
ellen, aber keineswegs ganz «unpolitischen» Vorsprache
im Auswärtigen Amt in Berlin empfangen. Insgesamt
ging es bei diesem gegenüber der Öffentlichkeit geheim
gehaltenen Besuch um eine höfliche diplomatische Plau-
Regierung, Landtag, FBP und Volk über Liechtenstein-
Belange und eine Zusammenarbeit zu verhandeln,
«skandalös und zugleich naiv» und beinhaltet Elemente
der Kollaboration. Die Absicht war offenbar, gegen-
über der deutschen Seite die VU als führende Kraft
der Deutschfreundlichen zu profilieren und die VDBL
zu verdrängen.
Deutsche Regierungs- und Parteistellen mischten
sich wie selbstverständlich in die liechtensteinische
Innenpolitik ein. Die VU erlag zeitweise der Versuchung,
zusammen mit der VDBL im Lande und gegenüber dem
Reich einen Bedeutungszuwachs zu erlangen. Wäre das
Ganze zum Tragen gekommen, hätte dies weitreichende
Konsequenzen haben können. Dass es nicht dazu kam,
hing insbesondere mit der sich abzeichnenden Wende
in der Kriegsentwicklung zusammen.
Während die VDBL – ungeachtet zeitweiser tak-
tischer Abweichungen – durchgehend auf «Anschluss»
ausgerichtet war und damit hochverräterisch handelte,
betrieb die VU-Führung eine auf den ersten Blick wider-
sprüchliche «Opportunitätspolitik, der jeweiligen Situation
angepasst». Vogts Sondierungen in Deutschland signali-
sierten 1940/41 eine «Bereitschaft zur Kollaboration». Ab
1942 hingegen setzte er wieder auf die Erhaltung der
staatlichen Eigenständigkeit. Seine Haltung ist ambiva-
lent und zugleich konsequent, was seinen Opportunis-
mus betrifft. Er hatte verschiedene Gesichter: Anschluss-
politiker, Anpasser, Taktierer und Patriot – «er passte sich
der in der Kriegszeit fliessenden Situation wendig an». Der
einflussreiche zweite Mann in der Regierung dürfte –
gerade wegen seiner unberechenbaren Art und seinem
verdeckten Vorgehen – der gefährlichste Akteur in der
Liechtensteiner Politik während des Krieges gewesen
sein, noch mehr als die politisch weitgehend isolierten
VDBL-Führer, über deren wahre Absichten keinerlei
Zweifel bestehen konnte.
Fürst Franz Josef II. – Staatsoberhaupt, Sym-
bolfigur und hochadliger Grossgrundbesitzer
Der seit 1938 regierende Monarch und das Land waren
in der Kriegszeit existenziell miteinander verbunden:
Franz Josef II. konnte nur Fürst bleiben, solange Liech-
tenstein als Staat bestand, und für das Land wiederum
war er «Garant und Symbol der staatlichen Selbständigkeit».
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118 Rezensionen
Von NS-Gegnern aufgestellte Protestplakate mit einem symbolischen Galgen am Lindenplatz in Schaan,
21. Mai 1945.
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119Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
rei produzierte u.a. Kriegskarten und Propagandama-
terial für die Ostgebiete und wurde zunächst noch als
«kriegswichtig» eingestuft, im Frühjahr 1944, als immer
mehr Ressourcen in die Rüstung abgezogen wurden, je-
doch «stillgelegt».
Ein Meilenstein der Liechtensteiner
Zeitgeschichtsschreibung
Das eindrückliche Werk von Peter Geiger zu Liechten-
stein in den Kriegsjahren ist fraglos ein überragender
Meilenstein in der Zeitgeschichtsschreibung des Für-
stentums, auf den das Land stolz sein darf. Wer sich
künftig mit jener Zeit auseinandersetzt, wird nicht an
diesem Standardwerk vorbeikommen. Es ist das grosse
Verdienst des Autors, dass er dieses «heisse Eisen» ange-
packt und das Projekt beharrlich durchgezogen hat, auch
wenn er nicht im Voraus wissen konnte, dass sein Vor-
haben insgesamt eine derart grosse Akzeptanz finden
würde. Angesichts der Brisanz einzelner Forschungs-
ergebnisse ist diese fast durchwegs positive Aufnahme
nicht selbstverständlich. Geiger weiss, wieso er beinahe
beschwörend vor einer Instrumentalisierung für aktuelle
politische Zwecke warnt, sind doch seine Erkenntnisse
gerade auch für eine der beiden Regierungsparteien
nicht sehr schmeichelhaft. Mit der bedingungslosen Of-
fenlegung dieses dunklen Kapitels der Liechtensteiner
Zeitgeschichte hat der Autor allen nachträglichen Ver-
suchen zeitgenössischer Akteure, ihre damalige Rolle zu
beschönigen, wie dies etwa Martin Hilti in der Festschrift
zu seinem 80. Geburtstag versucht hat, definitiv den Bo-
den entzogen.
Die Auswertung der umfangreichen Quellen betreibt
Geiger mit grosser Sorgfalt, stets geleitet von einem kri-
tisch-wissenschaftlichen Blick. Als Schlüsseldokumente
identifizierte Quellen werden umfassend vorgestellt,
akribisch analysiert und in den zeitgeschichtlichen Kon-
text eingeordnet. Vereinzelt – etwa im Zusammenhang
mit der Eröffnung der Gesandtschaft in Bern – mag dies
den Handlungsfluss etwas bremsen.
Der Umfang des Werkes kann einem im ersten Mo-
ment durchaus Respekt einflössen. Dank der ausgezeich-
neten Lesbarkeit, der auch für den interessierten Laien
sehr guten Verständlichkeit sowie nicht zuletzt aufgrund
des äusserst spannenden Inhalts zerstreuen sich allfällige
derei und ein gegenseitiges Abtasten, ohne dass der
Fürst ein konkretes Anliegen vorbrachte. Angesichts des
sich ändernden Kriegsverlaufs suchte der Fürst ab 1942
auch Kontakte zu britischen und US-Diplomaten, insbe-
sondere mit Blick auf die fürstlichen Besitzungen und
Vermögenswerte im Ausland.
Ende 1944 eröffnete der Fürst die 1933 aufgeho-
bene liechtensteinische Gesandtschaft in Bern wieder
– Hauptziel war auch dabei die Rettung des fürstlichen
Besitzes in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dadurch
sollte die Souveränität des Landes international sichtbar
gemacht und dem Fürsten mehr Einfluss auf die Aus-
senpolitik verschafft werden. Innenpolitisch führte dies
zu einem Eklat («Dezemberkrise»), da Franz Josef II.
die Regierung vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.
Als Spätfolge dieses Zerwürfnisses erfolgte im Mai 1945
der Rücktritt von Regierungschef Hoop. Der Fürst wollte
ohnehin die Nachkriegszeit und die Beziehungen zu
den Alliierten und der Schweiz nicht durch die alte Re-
gierung belastet sehen.
Mit dem Näherrücken der Kriegsfronten intensivierte
der Monarch seine Bemühungen, eine Bergung der
Fürstlichen Sammlungen von Österreich nach Liechten-
stein zu erwirken. Vorbehalte der Reichsbehörden ver-
hinderten jedoch lange eine Ausfuhr. Ab Herbst 1943
schmuggelte der Fürst deshalb in seinem Auto zahlreiche
kleinere Gemälde nach Vaduz, da er dank Diplomaten-
pass nicht kontrolliert wurde. Bis April 1945 gelang doch
noch die Überführung des grössten Teils der Sammlung
nach Liechtenstein, teils mittels Täuschung der deut-
schen Behörden.
Die Mitglieder des Fürstenhauses lebten grösstenteils
in deutschbeherrschten Gebieten, einzelne hatten die
doppelte Staatsbürgerschaft (Liechtenstein und Deutsch-
land). Ende 1944 / Anfang 1945 organisierte das Fürsten-
haus die Evakuation von 31 Angehörigen vor der anrü-
ckenden Roten Armee aus Wien nach Westen, Richtung
Liechtenstein, mit einem Omnibus und einem Lastwa-
gen. Mitte März trafen sie an der Liechtensteiner Grenze
ein und wurden in Liechtenstein und den angrenzenden
Gebieten untergebracht.
Zum fürstlichen Besitz gehörten auch Industrieunter-
nehmen. Das bedeutendste war der Elbemühl-Konzern
mit Sitz in Wien, der ab 1938 einige «arisierte» Fabriken
hinzu kaufte, teils offenbar unter zusätzlichen Zahlungen
an die ehemaligen jüdischen Besitzer. Die Grossdrucke-
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120 Rezensionen
Aussicht auf weitere Forschungsergebnisse
Obwohl ursprünglich offenbar so konzipiert, handelt
es sich beim Werk von Peter Geiger nicht um eine alle
Aspekte umfassende «Gesamtdarstellung» der Kriegszeit.
So wird die Wirtschaft, die in den «Krisenzeit»-Bänden
und den Publikationen der «Unabhängigen Historiker-
kommission» breiten Raum einnimmt, nur am Rande
thematisiert. Auch die Alltagsgeschichte scheint ledig-
lich in chronikalisch abgefassten Passagen – etwa zu
den Tagen um den Kriegsausbruch – schlaglichtartig auf.
Nicht oder nur knapp behandelt wurden vom Verfasser
bereits früher bearbeitete Themen wie der Grenzüber-
tritt von Resten der «1. Russischen National-Armee der
Deutschen Wehrmacht» bei Kriegsende. Um den Um-
fang der Publikation in vertretbarem Rahmen zu hal-
ten, war der Autor gezwungen, eine Auswahl aus der
immensen Materialfülle zu treffen, die er in jahrelanger
Arbeit zusammengetragen hatte. Verloren sind diese
jetzt nicht verwendeten Forschungsunterlagen aber kei-
neswegs: Geiger stellt weitere Einzelpublikationen in
Aussicht, namentlich zu den Themenbereichen Spionage
und Kriegsteilnehmer aus Liechtenstein (Freiwillige und
deutsche Wehrpflichtige), ebenso zu Aspekten der Wirt-
schaftsgeschichte. Noch unerforscht sind auch die liech-
tensteinisch-sudetendeutschen Absprachen 1938 und
die Bemühungen um Rückgewinnung der verlorenen
tschechischen Besitzungen – hierzu dürfte die von Gei-
ger präsidierte liechtensteinisch-tschechische Historiker-
kommission neue Erkenntnisse bringen.
Anlässlich der Buchvorstellung wurde betont, Gei-
gers «Kriegszeit» verdiene es, zur Pflichtlektüre für die
Lehrkräfte zu werden. Damit dieses absolut berechtigte
Anliegen aber nicht am Umfang des Werkes scheitert,
wäre die Erarbeitung einer Kurzfassung für die Schule
und den Alltagsgebrauch ein grosser Gewinn.
Bildnachweis
Alle Abbildungen entstammen den zwei Bänden «Kriegszeit –
Liechtenstein 1939 bis 1945» von Peter Geiger
Anschrift des Autors
Dr. phil. Werner Hagmann, ETH Zürich,
Archiv für Zeitgeschichte, Hirschengraben 62, CH-8092 Zürich
Bedenken jedoch rasch. Ein Namensregister erleichtert
zusammen mit dem detaillierten Inhaltsverzeichnis die
Orientierung wesentlich und macht den Verzicht auf
eine Zusammenfassung weitgehend wett. Im Bestreben
um Kontextualisierung findet mitunter auch historisches
Allgemeinwissen zum Zweiten Weltkrieg Eingang. Für
Schweizer Leser gewöhnungsbedürftig ist die sich of-
fenbar an österreichische Gepflogenheiten anlehnende
Erwähnung akademischer Titel vor jeder, auch wieder-
holten Namensnennung.
Ein sehr gutes Urteil verdient das sorgfältige Lekto-
rat und Korrektorat. Im umfangreichen Werk finden sich
kaum offensichtliche Fehler. Eine der raren Ausnahmen
ist die irrtümliche Datierung des Fürstenbesuchs im Aus-
wärtigen Amt in Berlin auf den 15. Juli 1944 anstatt 1943
und dessen zeitliche Verknüpfung mit einem Besuch bei
Aussenminister Marcel Pilet-Golaz in Bern im Sommer
1944 (Band 2, S. 303).
Die zahlreichen, mehrheitlich sehr aussagekräftigen
Abbildungen bereichern die Bände und animieren zum
Blättern. Durch die meist blockweise Zusammenfassung
bleiben die Bilder aber weitgehend losgelöst vom schrift-
lichen Kontext. Erstaunlich ist, dass sich – vielleicht als
Folge des Versammlungsverbots – keinerlei Fotos zu
den politischen Aktivitäten sowohl der einheimischen
NS-Anhänger wie auch der beiden Regierungsparteien
finden. Mehrere Abbildungen betreffen allgemein den
Nationalsozialismus und seinen führenden Exponenten
sowie das Kriegsgeschehen, ohne unmittelbaren Bezug
zu Liechtenstein. Die Wiedergabequalität ist – teilweise
wohl auch durch die zur Verfügung stehenden Vorlagen
bedingt – nicht bei allen Bildern gleich gut.
Der Leser aus dem angrenzenden St. Galler Rheintal
weiss es besonders zu schätzen, dass Geiger den Blick
immer wieder über die Rheingrenze hinaus richtet, etwa
indem er zum Vergleich wiederholt den in Buchs er-
scheinenden «Werdenberger & Obertoggenburger» als
Quelle beizieht. Nicht thematisiert sind die Beziehungen
zwischen der Volksdeutschen Bewegung und den ideo-
logisch verwandten Schweizer Frontisten wie dem Az-
mooser Pfarrer Werner Wirth sowie zwischen der Deut-
schen Kolonie in Liechtenstein und jener im Werden-
berg, welche der Buchser Privatchauffeur John Frey in
seinem 1945 publizierten Erlebnisbericht «Aus dem Ta-
gebuch eines Fernfahrers» andeutet. Möglicherweise ist
dies in Liechtenstein gar nicht aktenkundig geworden.
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121Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
schen Kyjov bei Brünn stammende Josephine Postolka,
geboren 1874, katholisch. Beide starben in New York,
1960 Siegfried Bieber 87-jährig, 1970 Josephine, 96-jäh-
rig, ohne Nachkommen.
Siegfried Biebers Eltern waren jüdisch, der Vater
war im Lederhandel tätig. Die kleinbürgerliche Familie
lebte im damals preussischen, heute polnischen Csersk.
Siegfried hatte fünf jüngere Geschwister, die ihrerseits
Familien gründeten und Kinder zeugten. Die weitere
Verwandtschaft war verzweigt. Siegfried ging in Danzig
zur Schule, danach absolvierte er eine kaufmännische
Lehre in Berlin und Hamburg bis 1895. Fortan war er im
Bankfach tätig, fähig und aufsteigend. Von 1896 bis 1900
wirkte er in London bei der Bank «Crédit Lyonnais» und
bei der «Disconto Gesellschaft». Von 1900 bis 1911 leitete
Bieber in New York die Abteilung Devisengeschäfte im
«Bankhaus Goldman Sachs & Co.»
Erster Weltkrieg, Aufstieg in Berlin
1911 kam das Ehepaar Bieber zurück nach London, Bie-
ber führte hier die Filiale der mächtigen «Banca Commer-
ciale Italiana». Doch der Erste Weltkrieg änderte vieles.
1915 wurde Bieber von den britischen Behörden in ein
Internierungslager gesteckt, er galt wie einige zehntau-
send weitere deutsche Zivilisten in England als Feind-
staatsangehöriger. Im Jahr darauf konnte Bieber 1916 im
Rahmen eines Personenaustauschs nach Deutschland
ausreisen. Hier stellte sich der nun 43-Jährige dem deut-
schen Kriegsdienst zur Verfügung. Man setzte den Bank-
fachmann von 1917 bis zum Oktober 1918 im deutsch
besetzten Belgien in Brüssel als «Zwangsverwalter» und
«kaiserlicher Bankkommissar» ein.
Nach dem Krieg musste sich Bieber neu orientieren.
Er blieb im Bankensektor, seine Beziehungen nützend.
Gleich 1919 wurde er in den Vorstand der «Berliner
Handels-Gesellschaft» (BHG), eine bedeutende, von
Carl Fürstenberg geführte private Handelsbank, berufen.
Bieber zählte 1919 bis 1934 zu den Geschäftsinhabern.
Zugleich vertrat er die Bank in Aufsichtsräten anderer
Gesellschaften.
Das Ehepaar Bieber pflegte den grossbürgerlichen Le-
bensstil der Reichshauptstadt. Bieber liess 1923 in Berlin-
Dahlem an der Nikischstrasse 4 eine herrschaftliche Villa
bauen. Von dort liess er sich täglich zum Büro chauf-
Die deutsche Historikerin Erika Schwarz setzt im Titel
ihres im Sommer 2011 vorgelegten Buches zu «Siegfried
Bieber» die Charakteristika «Jude, Bankier, Gutsbesitzer,
Emigrant». Sie hätte beifügen können, «Liechtensteiner».
Denn dies waren Siegfried Bieber und seine Frau Jose-
phine ein Jahrzehnt lang, von 1938 bis 1948. Zwar widmet
Erika Schwarz von ihren 176 Seiten nur deren vier dem
Unterkapitel «Die liechtensteinische Staatsbürgerschaft –
eine Lebensversicherung», doch aus dem letzteren Begriff
ergeht die für Bieber und Frau existenzielle Bedeutung.
In Liechtenstein Eingebürgerte waren in den 1930er
und 1940er Jahren im Lande selbst kaum präsent oder
gar wohnhaft. Von auswärts wurden die Einbürge-
rungstaxen entrichtet und in Vaduz wurde rasch der
Staatsbürgereid abgelegt. Vom früheren Leben der Neu-
bürger kannte man wenig, ebenso von deren Aufenthalt
während des Krieges und von späteren Lebensorten.
Die meisten erwarben alsbald wieder eine andere Staats-
bürgerschaft und die Spuren verloren sich ganz. Indem
nun Erika Schwarz exemplarisch das Woher und Wo-
hin eines liechtensteinischen Neubürgerpaars schildert,
füllt sie, auch wenn es ihr nicht um diesen Aspekt geht,
auch eine Lücke in der liechtensteinischen Geschichts-
forschung. Die Autorin zeichnet akribisch und zugleich
spannend lesbar den Lebensweg von Siegfried Bieber
(1873–1960) und seiner Familienangehörigen nach, vom
ausgehenden 19. Jahrhundert bis an die Schwelle der Ge-
genwart. Konkret anschaulich werden dabei die übersee-
isch vernetzte Banken- und Handelswelt, deren Verwer-
fungen im Ersten Weltkrieg, der Aufschwung der 1920er
Jahre, ab 1933 die Entrechtung und Enteignung der Ju-
den in Hitlerdeutschland und ihre Vernichtung während
des Zweiten Weltkrieges, Flucht- und Rettungsstrategien
– unter anderem erfolgreich mittels liechtensteinischem
Pass – und Hilfebemühungen für Verwandte im Reich.
Von Cserk über Vaduz nach New York
Der Lebensweg von Siegfried Bieber führte von der
preussischen Provinz über Danzig nach Berlin und Ham-
burg, darauf nach London und New York, wieder zurück
nach London, Brüssel, Berlin, dann nach Amsterdam,
Maroggia im Tessin – mit Stippvisite nach Vaduz – und
schliesslich über Quito/Ecuador nach New York. Gehei-
ratet hatte Bieber 1897 die aus dem damals österreichi-
Mit Liechtensteiner Pass
davongekommen
Lebensgeschichte eines Neubürgers
Peter Geiger
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122 Rezensionen
Die Berliner Villa in Dahlem verkaufte Bieber 1937 um
315 000 Reichsmark. Er konnte den überwiegenden Teil
seines finanziellen Vermögens, auch aus dem Hausver-
kauf, zwischen 1935 und 1937 noch ins Ausland trans-
ferieren, mit Genehmigung der deutschen Devisen-
behörde. Auch ein Teil der Villen-Einrichtung durfte
noch in die Schweiz ausgeführt werden, als Eigentum
der «Arierin» Josephine Bieber. Von Maroggia aus liess
Bieber aus dem in Deutschland verbliebenen Vermögen
über Vertrauenspersonen immer wieder Geldbeträge
an jüdische Hilfs- und Auswanderungsstellen anweisen,
ebenso an jüdische Verwandte, erst an deren Wohn-
orten, dann auch noch an ihre Ghettoisierungsorte in
Polen.
Liechtensteinische Einbürgerung 1938
Die Biebers waren weiterhin deutsche Staatsangehörige.
Die Aussichten, Schweizer Bürger zu werden, waren ge-
ring. Da bot sich die Möglichkeit, sich wie manche andere
vermögende Ausländer im Fürstentum Liechtenstein,
das eng mit der Schweiz verbunden war, einbürgern zu
lassen. Siegfried Bieber reichte am 15. Dezember 1937
sein Einbürgerungsgesuch über die Anwaltskanzlei Dr.
Ludwig Marxer an die Regierung in Vaduz und zugleich
an die Gemeinde Schellenberg ein, samt Vermögens-
nachweis der Schweizerischen Kreditanstalt Zürich und
drei Referenzadressen. Ihn empfahlen Nestlé-Präsident
Edouard Muller, Vevey, dazu Armand Dreyfus, Vize-
präsident des Schweizerischen Bankvereins, Zürich, und
Carl Brumann, ehemaliger Kreditanstalt-Filialdirektor.
Die Schellenberger Gemeindeversammlung, der
Landtag und Fürst Franz I. erteilten im Dezember 1937
innert Tagen die Zustimmung zur Einbürgerung – Land
und Gemeinde waren in der Krisenzeit um das Geld
froh. Siegfried und Josephine Bieber zahlten zusam-
men 68‘500 Franken, nämlich 25 000 Franken an die
Gemeinde Schellenberg, 12 500 Franken an das Land, 1
000 Franken Verwaltungsgebühr sowie 30 000 Franken
Kaution an die Landesbank. Darauf erhielten sie am 10.
Januar 1938 die liechtensteinischen Reisepässe. Diese
liechtensteinische Staatsbürgerschaft war, wie Erika
Schwarz zu Recht sagt, «eine Lebensversicherung von
besonderer Art» und alsbald ein «Schlüssel» für den Zu-
gang nach Übersee.
fieren, im exklusiven Auto des Typs «NAG Torpedo
Doppelphaeton K 5». Standesgemäss sammelten die
Biebers auch Kunst. Beim Berliner Galeristen Paul Cas-
sirer und in München erwarben sie wertvolle Bilder.
1929 kaufte Bieber in Brandenburg in der Nähe des Städt-
chens Fürstenberg das weitläufige Landwirtschafts- und
Jagdgut «Dahmshöhe», er liess dort ein neues Schloss
errichten, gedacht als Land- und Alterssitz. Ein Verwalter
mit Angestellten betrieb die ausgedehnte Landwirtschaft.
Hier verbrachte das Paar jährlich einige Monate.
Rückzug und Fluchtstationen
Mit dem Machtantritt Hitlers 1933 wurde alles anders,
auch für den nun 60-jährigen jüdischen Bankier Siegfried
Bieber und seine 59-jährige Frau Josephine und ebenso
für die beiderseitig verzweigten Verwandtschaften.
Schritt für Schritt gab Bieber seine geschäftliche Tätigkeit
auf und setzte sich aus dem Dritten Reich ab, um Leben
und Gut zu retten. 1934 trat er als Geschäftsmitinhaber,
1935 auch als Verwaltungsrat der Berliner Handels-Ge-
sellschaft zurück. Bis 1938 waren dann alle «Nichtarier»
aus der Bank ausgeschieden.
Schon 1935 zogen Bieber und seine Frau nach
Amsterdam. Nun galten sie den Reichsbehörden als
Emigranten. Biebers geschätztes Vermögen in Deutsch-
land betrug 1935 rund 2,7 Millionen Reichsmark. Davon
hatte er an das Reich 25 Prozent (672 000 Reichsmark)
als «Reichsfluchtsteuer» zu entrichten. Als «Devisenaus-
länder» konnte das Ehepaar Bieber indes auch über das
in Deutschland zurückgelassene Eigentum, darunter das
Haus in Berlin-Dahlem und das Gut Dahmshöhe, nicht
mehr frei verfügen. Kontos und Depots wurden in «Aus-
wanderer-Kontos» und «Auswanderer-Depots» umge-
wandelt, jede Bewegung darauf unterlag der Bewilligung
der Devisenbehörde. Doch verfügte Bieber auch über
Vermögen im Ausland.
Auch das niederländische Amsterdam erschien Bieber
zu unsicher. Schon nach einem Jahr verlegte das Ehepaar
1936 den Wohnort in die Schweiz, zuerst nach Lugano,
dann ins Dorf Maroggia am Ostufer des Luganersees, wo
Bieber eine Villa mit Seeanstoss erwarb. Die Biebers rei-
sten öfter, so im Sommer 1936 ins tschechoslowakische
Karlsbad, im Herbst des gleichen Jahres über Genua
nach New York und zurück.
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123Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Käufer erschienen, in die Staatskasse floss ein Erlös von
23 814 Reichsmark. Am 28. August 1942 teilte dann das
Blatt «Deutscher Reichsanzeiger und Preussischer Staats-
anzeiger» öffentlich mit, dass gestützt auf «den Erlass des
Führers und Reichskanzlers über die Verwertung des
eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden» das Ver-
mögen des «Juden Siegfried Bieber» und seiner Ehefrau
Josephine «zugunsten des Deutschen Reiches eingezo-
gen» worden war.
US-Bürger, Rückgabe der liechtensteinischen
Pässe 1948
Die beiden Liechtensteiner Bürger Siegfried und Jose-
phine Bieber hatten gleich 1941 nach ihrer Ankunft in
den USA um die amerikanische Staatsbürgerschaft ange-
«Dahmshöhe» als Geschenk an
die Eidgenossenschaft?
Im Frühjahr 1938 wurde Österreich ans Hitlerreich an-
geschlossen, im Herbst annektierte das Reich nach dem
Münchener Abkommen die tschechischen Randgebiete,
am 9. November 1938 verbreiteten die Reichskristall-
nacht-Pogrome Schrecken und Tod unter den Juden im
Reich. Die definitive Enteignung jüdischen Besitzes im
Reichsgebiet zeichnete sich ab. Am 9. November 1938
bot Siegfried Bieber durch ein Schreiben an Bundesrat
Motta das Gut Dahmshöhe, das 234 Hektaren umfasste,
samt Schloss und Zubehör der Eidgenossenschaft zum
Geschenk an, als Landsitz. Der Bundesrat nahm das di-
plomatisch problematische Geschenk nicht an. Bieber
verkaufte 1940 Dahmshöhe unter Wert an einen Berliner
Privatmann, ihm wurde der Erlös von 125 000 Reichs-
mark noch auf sein Auswanderer-Sperrkonto überwie-
sen, auf welches er allerdings keinen Zugriff mehr hatte,
ausser dass er von dort aus noch kleinere Hilfsbeträge an
Verwandte im Reich überweisen lassen konnte.
Über Quito in die USA
Als der Krieg 1939 ausbrach, Deutschland 1940 nach
Norden und Westen ausgriff und Italien ebenfalls an
Hitlers Seite trat, wurde es dem Ehepaar Bieber auch in
der von der Achse umschlossenen Schweiz zu unsicher.
Möglichst weit fort, hiess die Devise. Das Ziel war Ame-
rika, aber ein US-Visum erhielten sie von der Schweiz
aus noch nicht. Doch konnten sie mit dem liechtenstei-
nischen Pass vorerst ein Visum von Ecuador, das liberale
Einreisebedingungen kannte, erlangen. Im September
1940 bestiegen sie in Genua das Schiff nach Südamerika.
Nach Aufenthalt in der Hauptstadt Quito, wo sie ein Vi-
sum der Vereinigten Staaten erhielten, und nach einer
Reise durch südamerikanische Staaten stachen sie in Bu-
enos Aires wieder in See. Sie erreichten New York am 5.
Mai 1941.
Auch in jenem Mai 1941 bereitete in Berlin die Ge-
stapo die Ausbürgerung von Siegfried Bieber und Ehe-
frau und den Einzug ihrer restlichen Vermögenswerte in
Deutschland vor. Das bewegliche Vermögen der Biebers
wurde am 30. Oktober 1941 in Berlin-Dahlem öffentlich
versteigert, Mobiliar, Bilder und andere Kunst, fünfzig
Siegfried und Josephine Bieber bei einem Spaziergang im Tessin.
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124 Rezensionen
lager des KZ Ravensbrück bei Fürstenberg. Auf Dahms-
höhe verrichteten von 1943 bis 1945 rund hundert
männliche Häftlinge des KZ Ravensbrück Zwangsarbeit
für eine Waffen-SS-Einheit, sie hausten in Baracken hin-
ter Stacheldraht, die SS-Leute wohnten im Schloss.
Nach Kriegsende 1945 wurde das in der Sowjetischen
Besatzungszone liegende Anwesen zu einem «Umsied-
lerlager» für deutsche Geflüchtete und Vertriebene aus
Ostpreussen, Polen und den tschechoslowakischen Su-
detengebieten. Ab 1948 war das Land Brandenburg Be-
sitzer von Dahmshöhe, es stellte das Gehöft dem «Freien
Deutschen Gewerkschaftsbund» zur Verfügung. Wäh-
rend Jahrzehnten wurde es als «Kinderkurheim Dahms-
höhe» geführt, nach der sogenannten Wende wurde
daraus eine bis heute bestehende Bildungs- und Begeg-
nungsstätte für Menschen mit geistigen Behinderungen.
Entschädigungsverfahren nach dem Krieg
Einige Jahre nach dem Kriegsende meldete Siegfried
Bieber seinen Anspruch auf das durch die NS-Reichsbe-
hörden enteignete Vermögen an. Es betraf vorab das Gut
«Dahmshöhe» in Brandenburg, das Berliner Mobiliar,
das Sperrkonto und die Reichsfluchtsteuer. 1962 leistete
die Bundesrepublik ein Zehntel des Werts als Ersatz.
Da war Siegfried Bieber allerdings schon zwei Jahre tot,
während die Witwe noch lebte. Sie hatten noch im März
1960, ein halbes Jahr vor Siegfrieds Tod, eine Stiftung für
wohltätige und kulturelle Zwecke gegründet, die «Sieg-
fried and Josephine Bieber Foundation», die aus einem
Teil des Erbes alimentiert werden sollte.
Quellen-Puzzle
Die Historikerin Erika Schwarz war im Zug ihrer For-
schungstätigkeit zum KZ Ravensbrück – in welchem üb-
rigens 1944 die liechtensteinische Bürgerin Valeska von
Hoffmann eingeliefert wurde – auf das KZ-Aussenlager
Dahmshöhe aufmerksam geworden. Als sie nach dem Er-
bauer des Schlosses fragte, stiess sie auf Siegfried Bieber.
Darauf ist sie dessen Lebensweg an vielen Orten, in über
dreissig Archiven und durch Anfragen bei Ämtern und
Zeitgenossen nachgegangen, und aus den vielen Fährten
und Quellen-Puzzleteilen ist ein Buch geworden. Trotz
sucht. Sie erhielten sie schliesslich nach dem Krieg im
November 1947. Da nach den US-Gesetzen eine dop-
pelte Staatsbürgerschaft nicht gestattet war, sandten die
Biebers ihre liechtensteinischen Pässe an die liechten-
steinische Regierung zurück, dankten nochmals und er-
suchten um Löschung aus der Bürgerliste. Die Regierung
in Vaduz verlangte noch einen Nachweis für die Erwer-
bung des US-Bürgerrechts, die Rückgabe des Heimat-
scheins der Gemeinde Schellenberg sowie eine formelle
Verzichterklärung auf die liechtensteinische Staatsbür-
gerschaft. Danach gab die Regierung in Vaduz im Früh-
jahr 1948 die Einbürgerungskaution von 30 000 Franken
frei und entliess Siegfried und Josephine Bieber aus der
liechtensteinischen Staatsbürgerschaft – sie war ihnen
ein Jahrzehnt lang lebenswichtig gewesen. Ihr Wohnsitz
blieb fortan New York. Zwar reisten sie wiederholt nach
Europa, insbesondere ins Tessin nach Maroggia – ob
auch einmal wieder in ihre zeitweiliges Passheimatland
Liechtenstein, ist nicht bekannt.
Schicksale der Familien
Den Verwandten des Ehepaars Bieber erging es in der
NS-Zeit unterschiedlich. Erika Schwarz hat auch deren
in vielen Fällen schlimme Schicksalswege verfolgt. Die
Verwandten von Josephine geb. Postalka wurden 1918
Tschechoslowaken und durchlebten von 1939 bis 1945
die deutsche Besetzungszeit im «Protektorat Böhmen
und Mähren». Aus der jüdischen Bieber-Verwandtschaft
gab es Personen, welche noch rechtzeitig an sichere Orte
emigrieren konnten: So nach den USA ein Bruder so-
wie zwei Söhne der Schwester Therese, diese selber mit
Tochter und Cousine nach London. Dagegen wurden,
trotz auch von Seiten Siegfried Biebers von der Schweiz
aus versuchten Fluchtanstrengungen, eine grössere An-
zahl von engeren und entfernteren Angehörigen in Ber-
lin, Danzig und andern deutschen Ortschaften schritt-
weise enteignet, ghettoisiert, nach Polen deportiert, er-
mordet.
KZ-Aussenlager «Dahmshöhe»
Das Gut Dahmshöhe wurde in den Kriegsjahren zu
einem der immer zahlreicheren, schliesslich 40 Aussen-
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125Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
dichter Quellenbelege ist es leicht lesbar. Dass die 1950
in Hainrode im ostdeutschen Thüringen geborene Au-
torin fast durchwegs den Begriff «faschistisch» für «na-
tionalsozialistisch» verwendet, dürfte auf ihre frühere
DDR-Sprachprägung zurückzuführen sein, dem Wert
ihres Buches tut dies keinen Abbruch.
Bildnachweis
Erika Schwarz: «. . . zu Lasten meines Conto‘s» Siegfried
Bieber – Jude, Bankier, Gutsbesitzer, Emigrant, Seite 145
Anschrift des Autors
PD Dr. Peter Geiger, Historiker, Im obera Gamander 18,
FL–9494 Schaan, pg@liechtenstein-institut.li
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Dr. Dr. Arno Ruoff, 1930 bis 2010
Hubert Klausmann
127
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128 Klausmann Hubert: Dr. Dr. Arno Ruoff, 1930–2010
von mehr als 40 Stunden verfügen. Darüber hinaus enga-
gierte sich Arno Ruoff mehrere Jahre lang beim VALTS
als Gutachter für Liechtenstein. Dass der VALTS abge-
schlossen werden konnte, ist auch sein Verdienst.
Im Jahr 1973 – also nach 20 Jahren Sprachaufnahme –
gründete Arno Ruoff die Reihe «Idiomatica», und um alle
folgenden Arbeiten methodisch zu entlasten, verfasste
er selbst den ersten Band. «Grundlagen und Methoden
der Untersuchung gesprochener Sprache» – so der Ti-
tel – wurde zu einem Standardwerk. In den folgenden
Jahrzehnten sollten diesem ersten Idiomatica-Band noch
weitere 16 folgen.
Arno Ruoff hatte eine enorme Energie – und er be-
nötigte diese auch. Da war zum Beispiel das Organisie-
ren und die Durchführung von Aufnahmen zu bewäl-
tigen, was nicht nur wegen des Wetters und Geländes
gerade im Winter häufig abenteuerlich war. Arno Ruoff
aber war zäh. Wenn er sich eine Aufnahme in den Kopf
gesetzt hatte, dann wollte er sie auch durchführen, und
er nahm sich dafür auch die nötige Zeit. Schliesslich
muss der Sprachforscher aber auch das Geschick ha-
ben, die Leute zum Erzählen zu bringen. Da Arno Ruoff
dieses Talent in reichlichem Masse zur Verfügung stand,
finden wir auf den von ihm hergestellten Kassetten und
CDs Geschichten, die auf die Vielseitigkeit des mensch-
lichen Lebens aufmerksam machen. Gerade dies zeichnet
die Ruoffschen Aufnahmen aus: Sie sind einerseits die
Grundlage für sprachwissenschaftliche Fragestellungen,
andererseits sind sie aber auch von ihrem Inhalt her
hochinteressant, denn hier wird der Alltag der kleinen
wie auch der grossen Leute erzählt. Geradezu typisch
ist für ihn daher auch der bereits oben genannte Titel
seines letzten Werkes: Tal und Berg – Volk und Fürst.
Die Ruoffschen Aufnahmen geben letztendlich einen
umfassenden und lebendigen Einblick in die Kulturge-
schichte des Alltags in Baden-Württemberg, Vorarlberg
und Liechtenstein. Da manche seiner Gewährspersonen
noch im 19. Jahrhundert geboren waren, umfasst die er-
zählte Zeit ein ganzes Jahrhundert.
Im Jahr 1999 erhielt Arno Ruoff aus den Händen
von Herzog Carl von Württemberg in Anerkennung
seiner Verdienste um die schwäbische Mundart den
Ludwig-Uhland-Preis. Für seine Untersuchung der frän-
kisch-alemannischen Sprachgrenze mit einer Gruppe
von Studenten erhielt er zusammen mit diesen den
Johann-Andreas-Schmeller-Preis, und im Jahr 2001
Im Sommer 2010 verstarb im Alter von 80 Jahren der
Tübinger Sprach- und Kulturwissenschaftler Arno Ruoff.
Schon von der Krankheit gezeichnet, konnte er noch im
Herbst 2009 sein Liechtensteiner Tonporträt «Tal und
Berg – Volk und Fürst – Liechtenstein in 50 Gesprächen»
zum Abschluss bringen.
Der Anfang seiner Beschäftigung mit den Mund-
arten des südwestdeutschen Raumes ist für Arno Ruoff
untrennbar mit dem Namen Eberhard Zwirner verbun-
den. Als dieser Anfang der 1950er Jahre daran ging, die
deutschen Mundarten und die deutsche Umgangsspra-
che auf Tonbänder aufzunehmen, war Arno Ruoff so-
gleich dabei. Aus diesen Anfängen heraus entstand dann
später die von Arno Ruoff gegründete und geleitete
«Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutsch-
land». Aus diesem Hause sind im Laufe der Jahre über
120 Publika-tionen hervorgegangen. Allein diese Zahl
mag schon darauf hinweisen, welche Bedeutung die
«Tübinger Schule» unter Arno Ruoff für die Mundart-
forschung erlangte.
Ruoffs Absicht war es, einerseits die traditionelle
Dialektologie um den sprachsoziologischen Aspekt zu
bereichern, andererseits sollten auch die syntaktischen
und stilistischen Fakten der gesprochenen Sprache er-
fasst werden. Gerade in diesem Forschungsansatz zeigt
sich, wie wichtig Arno Ruoff für die Erforschung gespro-
chener Sprache war, denn die seit den 1950er Jahren im
ganzen alemannischen Raum entstehenden Sprachatlan-
ten – wie bei uns der «Vorarlberger Sprachatlas mit Ein-
schluss des Fürstentums Liechtensteins, Westtirols und
des Allgäus» (VALTS) – mussten ihre Forschungen auf
bestimmte Phänomene der Sprache einschränken, wenn
sie überhaupt innerhalb eines Forscherlebens zum Ab-
schluss kommen sollten. Da Arno Ruoff nicht in einem
solchen Sprachatlasunternehmen gefangen war, konnte
er mit seinen Arbeiten und den Arbeiten seiner Schüler
das Faszinierende unserer lebenden Dialekte in ganz an-
deren Bereichen aufzeigen.
Arno Ruoff war von seinem Forschungsgegenstand,
der gesprochenen Sprache, zeit seines Lebens fasziniert.
Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, bei der Er-
forschung der alemannischen Mundarten nicht an den
Staatsgrenzen anzuhalten, sondern sie zu überschreiten.
Daher besuchte er schon 1964 zum ersten Mal Liechten-
stein, weitere Besuche folgten, so dass wir heute über
86 Liechtensteiner Sprachaufnahmen mit einer Dauer
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129Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
schliesslich wurde ihm von der Universität Bayreuth die
Ehrendoktorwürde verliehen.
Bei der Präsentation seiner Liechtensteiner Tonport-
räts Anfang Oktober 2009 in Vaduz konnten wir noch
einmal Arno Ruoffs kräftige Stimme vernehmen. Leben-
dig bleibt er für uns heute aber nicht nur in der Erinne-
rung, sondern auch auf den vielen Tonaufnahmen, die
er in über 50 Jahren durchgeführt hat und wo er immer
wieder zu Wort kommt. «Tal und Berg – Volk und Fürst»
ist daher auch aus diesem Grund ein ganz besonderes
Werk.
Bildnachweis
Privatarchiv Hubert Klausmann
Anschrift des Autors
Prof. Dr. Hubert Klausmann, Peutinger Strasse 15,
D-73479 Ellwangen
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131
Inhalt
132 Tätigkeitsbericht des Vereins pro 2010
138 Bilanz 2010
139 Erfolgsrechnung 2010
141 Liechtensteinisches Urkundenbuch
Tätigkeitsbericht 2010
143 Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein
Tätigkeitsbericht 2010
145 Einbürgerungsnormen und Einbürgerungs praxis
in Liechtenstein vom 19. bis ins 21. Jahr hundert
Tätigkeitsbericht 2010
Jahresbericht des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein 2010
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132 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Die Kassierin Irene Lingg-Beck stellte das Budget 2010
vor, das von der Versammlung einstimmig genehmigt
wurde.
Ausblick und freie Aussprache
Die Vereinsvorsitzende Eva Pepić wies auf geplante
Anlässe hin, so auf die Exkursion ins Federseemoor bei
Bad Buchau im Mai 2010, auf die Präsentation des Jahr-
buches Band 109 im Juli 2010, auf eine Tagung des Ar-
beitskreises für Interregionale Geschichte zum Thema
Rätoromanische Kultur und Sprache im November 2010
und auf die Buchpräsentation des zweibändigen Werks
von Dr. Peter Geiger, «Kriegszeit, Liechtenstein 1939–
1945», ebenfalls im November 2010.
Die freie Aussprache wurde von den anwesenden Ver-
einsmitgliedern vor allem für Fragen und Anmerkungen
zur geplanten Gründung der Stiftung für Denkmalschutz
genutzt.
Öffentlicher Vortrag
Nach einem kleinen Imbiss folgte Peter Albertins öf-
fentlicher Vortrag «Mit Überhääs und Stirnlampe» zum
Thema Bauarchäologie. Eigens zum Vortrag hatten sich
nochmals einige Zuhörerinnen und Zuhörer im Vaduzer
Rathaussaal eingefunden.
Vorstand und Geschäftsstelle
Der Vereinsvorstand erledigte im Berichtsjahr 2010 seine
statutarischen Geschäfte in neun ordentlichen Sitzungen
und einer ausserordentlichen Sitzung. Die Vereinsvorsit-
zende Eva Pepić vertrat den Historischen Verein bei öf-
fentlichen Anlässen und in verschiedenen Arbeitsgrup-
pen, so unter anderem in der Gesprächsrunde des Ressorts
Kultur, im Organisationskomitee zum Jubiläum 300 Jahre
Liechtensteiner Oberland und im Arbeitskreis für Inter-
regionale Geschichte des mittleren Alpenraums.
Tauschschriftenbibliothek
Ruth Allgäuer war bis Ende 2010 mit einem 20 Pro-
zent-Pensum für den Historischen Verein tätig. Zusam-
men mit Eva Pepić nahm sie sich der Aktualisierung un-
serer Tauschschriftenbibliothek an. Etliche Tauschpart-
nerschaften wurden aufgelöst, Abonnemente und Mit-
gliedschaften überprüft und aktualisiert. Schriftenreihen,
Tätigkeitsbericht des Vereins pro 2010
Jahresversammlung 2010
Geschäftssitzung
Die 109. ordentliche Jahresversammlung fand am
27. März 2010 im Rathaussaal Vaduz statt. Die Vereinsvor-
sitzende Eva Pepić begrüsste die rund 45 Anwesenden.
Nach der Wahl der Stimmenzähler und der Genehmi-
gung der Traktandenliste durch die Mitgliederversamm-
lung verlas die Aktuarin Brigitte Haas das Protokoll der
Jahresversammlung vom 4. April 2009 in Gamprin. Es
wurde einstimmig genehmigt. Der Jahresbericht 2009
war den Mitgliedern bereits vorgängig zugestellt wor-
den, so dass die Vereinsvorsitzende Eva Pepić lediglich
einzelne Schwerpunkte der vorjährigen Vereinstätigkeit
hervorhob. Speziell ging sie auf die geplante Gründung
einer Stiftung für Denkmalschutz (Arbeitstitel) ein und
stellte den Statutenentwurf und ein mögliches Organi-
gramm vor. Daraufhin wurde der Jahresbericht 2009 ein-
stimmig verabschiedet. Der stellvertretende Vereinsvorsit-
zende Fabian Frommelt begrüsste Marco Schädler als
neuen Geschäftsführer. Die Kassierin Irene Lingg-Beck
erläuterte die Jahresrechnung 2009. Das Vorstandsmit-
glied Aldina Sievers verlas den Revisionsbericht von
Georg Kieber. Die Jahresrechnung wurde angenommen
und der Vorstand somit entlastet.
Auf Antrag des Vereinsvorstands beschloss die Ver-
sammlung einstimmig, die Jahresbeiträge in der bisheri-
gen Höhe zu belassen.
Peter Albertin, Referent an der Jahresversammlung 2010.
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133Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
die sich mit Themen von ausgegliederten Projekten des
Vereins – zum Beispiel mit der Archäologie – befassen,
wurden aussortiert und den damit befassten Instituti-
onen als Schenkung angeboten. Derzeit suchen wir nach
einer Lösung, die Tauschschriften einer breiten Öffent-
lichkeit zugänglich zu machen.
Archivablage
Dank der Unterstützung des Landesarchivs verfügt
der Historische Verein seit dem Berichtsjahr über einen
aktualisierten und verbindlichen, professionellen Akten-
plan. Diesem folgend haben Ruth Allgäuer und die Ver-
einsvorsitzende die Akten und Geschäftspapiere der letz-
ten fünfzehn Jahre sortiert, geordnet und in die Aktenab-
lage integriert, die ihrerseits ebenfalls aktualisiert wurde.
Ortsnamenbuch im Geodatenportal
Für die Geodateninfrastruktur der Landesverwaltung
hat der Historische Verein auf Anfrage dem Tiefbauamt
die Daten des Ortsnamenbuches zur Verfügung gestellt.
Als eine der Dienstleistungen im Geodatenportal wur-
den in der Folge sämtliche Flur- und Ortsnamen mit der
geographisch-topographischen Karte verknüpft. Auf
Wunsch des Vorstands und in Zusammenarbeit mit der
Werkstatt Hilbe wurden vom Tiefbauamt auch die wis-
senschaftliche Bearbeitungen und der Lexikonteil des
Ortsnamenbuchs in die digitalen Flurnamenkarten inte-
griert. Zugänglich ist das digitale Ortsnamenbuch unter
http://geodaten.llv.li/geoportal/flurnamenkarte.html.
Jahrbuch digital
eLiechtensteinensia ist ein Projekt der Liechtensteini-
schen Landesbibliothek, bei dem liechtensteinische Lite-
ratur im Volltextformat der breiten Öffentlichkeit digital
zur Verfügung gestellt wird. Als erste Reihe wurden von
der Landesbibliothek mit Einwilligung des Vorstands die
Jahrbücher des Historischen Vereins digitalisiert und im
Berichtsjahr im Internet aufgeschaltet (www.eliechten-
steinensia.li). Die Jahrbücher 1 bis 104 können im Volltext
aufgerufen werden. Die Jahrbücher 105 bis 109 scheinen
jeweils mit ihrem Inhaltsverzeichnis auf. Sie unterliegen
einer Freigabefrist von fünf Jahren, die der Vorstand fest-
gelegt hat. Sämtliche Jahrbücher können mit einer Voll-
textsuche durchforscht werden, die den reichen Schatz
erforschter Geschichte in den Jahrbüchern des Histori-
schen Vereins schnell und umfassend zugänglich macht.
Homepage
Im Sommer konnte die neue Homepage online ge-
schaltet werden. Ziel war es, unter www.historischerver-
ein.li eine möglichst klar und übersichtlich gestaltete
Website zu haben, welche sich einfach bedienen lässt und
es dem Administrator ermöglicht, sie ohne grosse Um-
stände aktuell zu halten. So wurde durch die Werkstatt
Hilbe eine Lösung entwickelt, die im Hinblick auf die
Handhabung keine Wünsche offen lässt.
Erscheinungsbild
Als Auftrag der Vereinsmitglieder aus der Open
Space-Veranstaltung im Jahr 2006 befasste sich der Vor-
stand im Berichtsjahr mit einem neuen Erscheinungsbild
für den Historischen Verein und lud sechs Grafikateliers
zur Offertstellung ein. Zur Ausschreibung kamen sowohl
das Gesamterscheinungsbild der Geschäftspapiere, das
Corporate Design, als auch die Neugestaltung des Jahr-
buches. Letzteres soll handlicher und leichter werden
und ebenfalls in einem neuen Gewand erscheinen. Nach
Auswertung der Offerten und Vorschläge durch den Vor-
stand erhielt Silvia Ruppen den Auftrag zur Ausarbeitung
des neuen Erscheinungsbildes.
Stiftung Baukultur Liechtenstein
Wie schon in den beiden letzten Jahren berichtet, trat
S. D. Prinz Emmeram von Liechtenstein bereits 2006 mit
der Initiative zur Gründung einer privaten Stiftung Denk-
malschutz in Liechtenstein an den Historischen Verein
heran. Durch einen finanziellen Gönnerbeitrag ermög-
lichte es Prinz Emmeram schliesslich, dass der Histori-
sche Verein die Organisation und Vorbereitung zur
Gründung einer solchen Stiftung an die Hand nehmen
konnte.
Die Aufgabe, Personen zu finden, die bereit für ein
Stiftungsratsmandat sind, erwies sich als schwieriger als
vermutet. Der Vorstand befasste sich deshalb nochmals
mit den Statuten, dem Organigramm und dem Finanzie-
rungsplan der geplanten Stiftung. Ziele und Strategien
wurden den Aktualitäten angepasst. Als Name wurde
«Stiftung Baukultur Liechtenstein» festgelegt. 2011 wird
die Anfrage an geeignete Stiftungsrätinnen und -räte wei-
tergeführt, so dass die Gründung baldmöglichst vorge-
nommen werden kann.
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134 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
torischem Rezept wurde auf offener Feuerstelle im Ton-
topf gekocht.
Auch die zusätzlich angebotene Sonderausstellung
«Mord im Moor?» beeindruckte Jung und Alt.
Exkursion nach Ravensburg, Weingarten und Tettnang
Rund 40 Personen folgten am 16. Oktober 2010 trotz
widriger Witterung der Einladung des Historischen Ver-
eins zur Exkursion nach Süddeutschland. Nach informa-
tiven Führungen durch die Basilika in Weingarten, die zu
den grössten Barockbauten nördlich der Alpen gehört,
und durch die historisch kompakte Altstadt von Ravens-
burg führte die Exkursion zum Neuen Schloss Tettnang.
Das Wahrzeichen Tettnangs gehört zu den schönsten
Veranstaltungen
Exkursion nach Bad Buchau
Am 29. Mai 2010 führte der Historische Verein eine
Exkursion unter dem Motto «Für die ganze Familie»
durch. 27 Mitglieder und Freunde des Historischen Ver-
eins durften im Federseemuseum eine Reise in die Ver-
gangenheit antreten. Auf rund 45 Quadratkilometern
rund um den Federsee befinden sich Jagdlager, Moor-
siedlungen und Pfahlbauten aus vorgeschichtlicher Zeit.
Neben dem Besuch des Museum mit angeschlossenem
Freilichtpark, konnten sich vor allem die jungen Exkursi-
onsteilnehmerinnen und -teilnehmer im Einbaumfahren
und Speerschleudern üben. Das Mittagessen nach prähis-
Oben: Exkursion nach Bad Buchau: Speerschleudern und Kochen auf prähistorische Art.
Unten: Exkursion nach Oberschwaben: Gruppenbild in Weingarten.
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135Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Buchpräsentationen
Jahrbuch Band 109
Rund 50 Interessierte fanden sich am 1. Juli 2010 im
Landgerichtsgebäude Vaduz zur Präsentation des 109.
Bandes des Jahrbuchs des Historischen Vereins ein. Der
Hauptbeitrag des Autors Alois Ospelt befasst sich mit
dem Laienrichtertum in Liechtenstein. An der Buchprä-
sentation sprach der Autor über dieses Thema. Der Ge-
richtssaal als Vortragsort verlieh dem Referat eine beson-
dere Note.
Kriegszeit, Liechtenstein 1939 bis 1945
Im Verlag des Historischen Vereins und im Chronos
Verlag Zürich erschien 2010 das lange erwartete Opus
Magnum von Peter Geiger. In zwei Bänden dokumentiert
der Autor die Situation in Liechtenstein kurz vor, wäh-
rend und kurz nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges.
Erstmals werden diese gefährlichsten Jahre der liechten-
steinischen Zeitgeschichte als Ganzes geschildert, einge-
bettet in den Kontext des Kriegsgeschehens.
Äusserst erfolgreich konnte am 27. November 2010
Peter Geigers Werk im Saal am Lindenplatz Schaan prä-
sentiert werden. Der Saal war bis auf den letzten Platz ge-
füllt. Rund 400 Besucher durften eine gelungene Buch-
präsentation miterleben. Nach der Begrüssung durch die
Schlössern Oberschwabens und gibt in seiner barocken
Gestaltung einen anschaulichen Eindruck vom fürstli-
chen Lebensstil seiner Erbauer, der Grafen von Montfort.
Führung durch das Stiftsarchiv St. Gallen
Am 13. November 2010 nahmen rund zehn Personen
das Angebot des Historischen Vereins zu einem Ausflug
ins Stiftsarchiv St. Gallen wahr. Der stellvertretende Stifts-
archivar Jakob Kuratli führte durch die Ausstellung «Bü-
cher des Lebens – Lebendige Bücher», wobei er einen
Schwerpunkt auf das «Eschner Jahrzeitbuch» legte.
Tagung «Einst sprach man hier Romanisch»
Der Arbeitskreis für Interregionale Geschichte des
mittleren Alpenraums, dem 15 landeskundliche Einrich-
tungen aus Vorarlberg, Liechtenstein, Graubünden und
der Ostschweiz angehören, führte am 20. November 2010
seine jährliche Tagung durch. Sechs Referentinnen und
Referenten beleuchteten das Thema «Einst sprach man
hier Romanisch. Geschichte und Gegenwart des Rätoro-
ma nischen in Graubünden und im Rheintal» aus verschie-
denen zeitlichen und regionalen Blickpunkten. Der An-
lass wurde vor Ort vom Historischen Verein organisiert.
80 überaus interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer aus
Vorarlberg, der Schweiz und Liechtenstein fanden sich
am Veranstaltungsort, im Pfarreizentrum in Schaan, ein.
Der Historische Verein präsentierte im Berichtsjahr das Jahrbuch
Band 109. Von links: Autor Heinz Gabathuler, Redaktor Klaus Bieder-
mann, die Vereinsvorsitzende Eva Pepić, Autor Alois Ospelt und die
Buchgestalterin Silvia Ruppen.
Exkursion nach Oberschwaben: Führung in Ravensburg mit
Dr. Alfred Lutz.
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136 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Anlässlich der Präsentation des Buches «Kriegszeit» in Schaan (links).
Verleger Hans-Rudolf Wiedmer vom Chronos Verlag, Rupert Quaderer,
Eva Pepić, Peter Geiger sowie Regierungsrat Hugo Quaderer (von links).
Buchautor Peter Geiger vermittelt Einblicke in sein Werk (rechts).
Blick in den voll besetzten Saal (unten).
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137Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Wissenschaftliche Projekte
Im Berichtsjahr hatte der Historische Verein die Träger-
schaft der Projekte «Liechtensteinisches Urkundenbuch»,
«Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein» sowie
«Einbürgerungsnormen und Einbürgerungspraxis in
Liechtenstein vom 19. bis ins 21. Jahrhundert» inne.
Wie bereits letztes Jahr berichtet, konnte 2009 die Wei-
terführung des Projekts «Liechtensteinisches Urkunden-
buch» durch einen Ergänzungskredit des Landtages für
die Jahre 2010 bis 2016 gesichert werden. Infolge dessen
trat am 1. Juli 2010 die mit der Regierung neu geschlos-
sene Leistungsvereinbarung in Kraft. Auch ist der Pro-
jektleiter Claudius Gurt seit 1. Juli nicht mehr wie bisher
als Mitarbeiter bei der Landesverwaltung, sondern direkt
beim Historischen Verein angestellt.
Über die Tätigkeiten aller Vereinsprojekte im Jahr
2010 informieren separate Berichte im Anschluss an die
Jahresrechnung und an den Prüfungsbericht der Revisi-
onsstelle.
Schaan, 3. Februar 2011
lic. phil. Eva Pepić , Vorsitzende des Historischen Vereins
Marco Schädler, Geschäftsführer des Historischen Vereins
Bildnachweis
Paul Trummer, Liechtensteiner Volksblatt: S. 132
Eva Pepić , Triesen, Ruth Allgäuer, Schaan: S. 134
Ruth Allgäuer, Schaan, Elma Korac, Liechtensteiner
Vaterland: S. 135
Elma Korac, Liechtensteiner Vaterland: S. 136
Anschrift
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Gamanderhof, Plankner Strasse 39, FL-9494 Schaan
Telefon 00423 / 392 17 47
info@historischerverein.li, www.historischerverein.li
Vereinsvorsitzende Eva Pepić beleuchteten Regierungsrat
Hugo Quaderer, Forschungskollege Dr. Rupert Quaderer
und Verleger Hans Rudolf Wiedmer die Entstehung
eines derartigen Werkes aus den Blickwinkeln «Bilden»,
«Forschen» und «Verlegen», bevor der Autor spannende
Einblicke in sein Werk gab.
Um dem Anlass den richtigen emotionalen Rahmen
zu verleihen, sang Peter Geigers Tochter Merilen, am Flü-
gel begleitet von Marco Schädler, zwei Schlager aus der
Kriegszeit und zum Aperitif wurden Most, Brot, Käse,
Äpfel und Frank Aroma Kaffee-Ersatz serviert.
Mitglieder
Im Berichtsjahr 2010 sind 17 neue Mitglieder dem Histo-
rischen Verein beigetreten:
– Joachim Batliner, Triesen
– Martin Batliner, Eschen
– Anton Büchel, Ruggell
– Marco Bühler, Schaan
– Ute und Bernd Hammermann, Vaduz
– Peter Mate v. Bakk und Dosa, Feldkirch
– Walburga Matt, Mauren
– Christoph Merki, Triesen
– Timothy G. Nutt, Fayetteville, Arkansas USA
– Doris und Emil Roeckle, Vaduz
– Egon Rothenberger, Ruggell
– Patricia Schiess, Zürich
– Andreas Walch, Triesen
– Cornelia Wolf und Rainer Tschütscher, Schaan
Im Berichtsjahr 2010 sind folgende Vereinsmitglieder ver-
storben:
– Gerold Matt, Mauren
– Paul Matt, Mauren
– Arno Scalet, Schaan
Dreizehn Mitglieder sind aus dem Historischen Verein
ausgetreten.
Per Ende 2010 zählte der Historische Verein 764 Mit-
glieder.
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138 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Aktiven
Flüssige Mittel
und Wertschriften
Forderungen
Anlagevermögen
Total Aktiven
Passiven
Fremdkapital kurzfristig
Eigenkapital
Total Passiven
* Vereinsvermögen ohne Einbürgerung, Denkmalschutz, Urkundenbuch 764 734.40
** Verlust ohne Einbürgerung, Denkmalschutz, Urkundenbuch –21 479.01
in CHF in CHF
Kasse 750.90
Kasse EUR (197.50 ) 246.96
PostFinance 1 580.08
Liechtensteinische Landesbank, D-Konto 636 730.20
LLB, Fond Forschung + Publikationen 201 645.00
LLB «Einbürgerungen» 60 371.40
LLB «Denkmalschutz» EUR (44 448.20 �) 55 580.25
LLB «Denkmalschutz» CHF –42.80
LLB «Urkundenbuch» 13 808.90 970 670.89
Debitoren 1 525.00
Forderungen Kopienabrechnung 629.35
Forderungen Sonstige 37 937.20 40 091.55
Bibliothek 1.00
Büromaschinen 1.00
Datenverarbeitungsanlagen 1.00
Mobiliar/Einrichtungen 1.00
Untere Burg Schellenberg 1.00
Obere Burg Schellenberg 1.00 6.00
1 010 768.44
in CHF in CHF
Verbindlichkeiten aus Lieferungen und
Leistungen (Kreditoren) 123 715.60
Vorausbezahlte Mitgliederbeiträge 250.00
Verbindlichkeiten AHV, ALV, PK, NBU, Lohnsteuer 11 652.00
Noch nicht bezahlte Aufwendungen
(transitorische Passiven) 2 177.70 137 795.30
Vereinsvermögen * 931 912.60
Verlust ** –58 939.46
1 010 768.44
Bilanz 2010
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
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139Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Ausgaben
Aufwand Material, Projekte
Personalaufwand
Sonstiger Aufwand
Total Ausgaben
Einnahmen in CHF in CHF
Mitgliederbeiträge 53 145.00
Private Einzelspenden 585.00
Gönnerbeiträge 10 850.00
Landesbeitrag Historischer Verein 180 000.00
Verkäufe Jahrbuch und div. Publikationen 59 092.22
Verkauf Urheberanteile (Kriegszeit) 237.75
Verkauf Personennamenbuch 636.35
«Kriegszeit» Beitrag Kulturstiftung Publikation 55 000.00
«Einbürgerungen» Landesbeitrag 147 500.00
«Kunstdenkmäler» Rückvergütung 5 000.00
«Urkundenbuch» Landesbeitrag 50 000.00
Portokosten Rückerstattung 0.00
Rückerstattung Exkursionen 5 945.00
Kopienabrechnung 629.35
Zinsen Bankguthaben 5 086.82
Debitorenverluste (Ertragsminderung) –79.69
Total Einnahmen 573 627.80
in CHF in CHF
Anschaffungen Bibliothek, Fachliteratur 1 168.60
Mitgliedschaften / Abonnemente 1 681.90
Kosten Jahrbuch + Sonderdrucke 92 457.40
Aufwendungen «Kriegszeit» 126 959.45
Aufwendungen «Kunstdenkmäler» 5 055.20
Veranstaltungen, Geschenke, Exkursionen 8 869.05 236 191.60
Bruttolöhne HV 87 560.00
Bruttolöhne «Einbürgerungen» 163 528.30
Bruttolöhne «Urkundenbuch» 35 750.00
AG Sozialbeiträge HV 13 833.35
AG Sozialbeiträge «Einbürgerungen» 23 977.30
AG Sozialbeiträge «Urkundenbuch» 6 481.85 331 130.80
Mietkosten Bücherlager 8 910.00
Unterhalt, Reparaturen, Ersatz Geräte 146.10
Büromaterial, Drucksachen, Druckkosten 7 883.15
Telefon, Fax, EDV, Internet 7 744.41
Porti, Versandkosten 9 031.65
Spenden, Vergabungen 532.10
Buchführungs- und Beratungsaufwand 3 754.50
Übriger Büroaufwand 4 684.45
Neues Erscheinungsbild HVFL 2 000.00
Spesen (Jahresversammlung, Buchpräsentationen) 4 152.31
Spesen, Sachaufwand «Einbürgerungen» 5 223.00
Bankspesen 653.99
Kursverluste 10 529.20 65 244.86
632 567.26
Verlust ** 58 939.46
Erfolgsrechnung 2010
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
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140 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Bericht des Revisors
An die Mitgliederversammlung des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein
Als Revisor habe ich die Buchführung und die Jahres-
rechnung (Vermögensrechnung, Rechnung über die Ein-
nahmen und Ausgaben) des Historischen Vereins für
das Fürstentum Liechtenstein für das am 31. Dezember
2010 abgeschlossene Vereinsjahr geprüft (Artikel 14 der
Statuten).
Für die Jahresrechnung ist der Vorstand verantwort-
lich, während meine Aufgabe darin besteht, diese zu prü-
fen und zu beurteilen.
Meine Prüfung erfolgte nach den Grundsätzen des
liechtensteinischen Berufsstandes, wonach eine Prüfung
so zu planen und durchzuführen ist, dass wesentliche
Fehlaussagen in der Jahresrechnung mit angemessener
Sicherheit erkannt werden. Ich prüfte die Posten und An-
gaben in der Jahresrechnung auf der Basis von Stichpro-
ben. Ferner beurteilte ich die Anwendung der massge-
benden Rechnungslegungsgrundsätze, die wesentlichen
Bewertungsentscheide sowie die Darstellung der Jahres-
rechnung als Ganzes. Ich bin der Auffassung, dass meine
Prüfung eine ausreichende Grundlage für mein Urteil
bildet.
Gemäss meiner Beurteilung entsprechen die Buchfüh-
rung und die Jahresrechnung dem liechtensteinischen
Gesetz und den Statuten.
Ich empfehle, die vorliegende Jahresrechnung zu ge-
nehmigen.
Vaduz, 7. Februar 2011
gez. Georg Kieber, Revisor
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141Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
LUB II digital
Die Arbeiten an dem im Internet zur Verfügung gestell-
ten digitalen Urkundenbuch sind naturgemäss mit einem
nicht unerheblichen Arbeitsaufwand verbunden. Gilt es
doch, die fertig bearbeiteten Urkunden mit Editionstext
und Abbildung dem interessierten Benutzer so schnell
als möglich im Netz zur Verfügung zu stellen. Das Perso-
nen-, Orts- und Sachregister konnte à jour gehalten wer-
den, sodass eine angemessene Erschlies sung der im bear-
beiteten Urkundenbestand überlieferten Informationen
gewährleistet wird. Anhand von zur Zeit insgesamt 395
Orts- und 869 Personennamen sowie 1691 Sachwörtern
und deren zahlreichen Belegstellen kann der Besucher
der online Version des LUB diese Informationsfülle abfra-
gen. Damit stellt LUB digital zweifellos ein wichtiges In-
strument der historischen Forschung zur Verfügung, was
den damit ver bundenen zeitlichen Aufwand nach An-
sicht des Bearbeiters auch künftig rechtfertigt, um die be-
arbeiteten Urkunden so schnell als möglich einsehen zu
können.
Arbeitsstand
Nach Abschluss der Editionsarbeiten für die noch zur Be-
arbeitung verbliebenen 22 Urkunden von dem für die
Aufnahme ins LUB ausgewählten 35 Urkunden zählen-
den Urkundenbestand aus dem Stadtarchiv Maienfeld
konnte ein Teil der Urkundeneditio nen noch anhand in-
zwischen aufgefundener Druckorte in den «Rechtsquel-
len des Kan tons Graubünden, 2. Teil: Der Zehngerichten-
bund, Bd. 2, 1. und 2. Hälfte: Landes herrschaft und Bun-
desrecht, bearbeitet von Elisabeth Meyer-Marthaler†
unter Mitarbeit von Martin Salzmann, Basel 2008», über-
prüft werden. Bis zum Ende des Berichtsjahrs konnten
sodann auch die betreffenden Arbeiten für diese Urkun-
den für die Publikation im LUB II digital fertig gestellt,
das heisst insbesondere die zeitaufwändigen Regis-
terarbeiten erledigt werden. Des Weiteren wurde bei
einem ersten Besuch im Stadt archiv (Ortsbürgerge-
meinde) St. Gallen die in Frage kommenden Bestände
nach für Liech tenstein relevanten Quellen durchgesehen.
Dabei galt es vor allem den umfangreichen Missiven-Be-
stand aus dem 15. Jahrhundert auf die Vogtamts-Tätigkeit
der Brandiser Landes herren in Feldkirch durchzuarbei-
Liechtensteinisches Urkundenbuch
Tätigkeitsbericht 2010
Allgemeines
Mit dem vom Landtag auf Antrag der Regierung am
23. Oktober 2009 gemäss Bericht und Antrag Nr. 75/2009
genehmigten Ergänzungskredit zur Fortführung des
Liechten steinischen Urkundenbuchs (LUB) wurde eine
kontinuierliche Weiterarbeit an diesem für die Ge-
schichtsforschung wichtigen Quellenwerk bis zum Juni
2016 gesichert und die weitere Bearbeitung der in auslän-
dischen Archiven liegenden für Liechtenstein relevanten
Schriftzeugnisse für das LUB ermöglicht.
Die Arbeiten an diesem für die Erforschung der mit-
telalterlichen Landesgeschichte grundlegenden Quellen-
werk wurde mit einem 50-Prozent betragenden Pensum
fort geführt. Der in Bearbeitung stehende erste Band des
zweiten Teils des Liechten steinischen Urkundenbuchs
[LUB II/1] wird die Schriftzeugnisse für die Herrschafts-
zeit der Freiherren von Brandis (1417–1510) umfassen.
Im Berichtsjahr konzentrierten sich die Arbeiten am
LUB auf die Fortsetzung der Editionsarbeiten des um-
fangreichen Urkundenbestandes im Stadtarchiv Maien-
feld, der vor allem im Hinblick auf die seit 1437 über die
Herrschaft Maienfeld sich erstreckende Familienherr-
schaft der Freiherren von Brandis auch für die liechten-
steinische Landes geschichte von grosser Bedeutung ist.
Die insgesamt 35 für die Aufnahme ins LUB ausgewähl-
ten Urkunden wurden editionsmässig fertig bearbeitet
sowie die Arbeiten für die Internet-Version des LUB II di-
gital für diese Urkunden abgeschlossen. Da es sich beim
überwiegenden Teil dieses Urkundenbestandes um sehr
umfangreiche Dokumente handelt, war deren Bearbei-
tung mit einem erheblich grösseren Zeitaufwand, vor
allem auch für die Registerarbeiten und insbesondere für
das Sachregister, verbunden. Es muss daher an dieser
Stelle einmal mehr festgehalten werden, dass eine eini-
germassen verlässliche Abschätzung des Zeitaufwandes
für die Urkundenbearbeitung ein äusserst schwieriges
Unterfangen bleibt.
Schliesslich konnte der Bearbeiter im Stadtarchiv
(Orts bürgergemeinde) St. Gallen die Archivbestände
nach für Liechtenstein relevanten Quellen durchsehen.
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142 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Ausblick
Im kommenden Jahr müssen zunächst noch die schon
früher bearbeiteten Urkunden aus dem Gemeindearchiv
Fläsch anhand des erwähnten Bündner Rechtsquellen-
bandes, so weit diese dort ediert sind, überprüft werden.
Anschliessend sollen die bereits aufgefun denen Urkun-
den aus dem Stadtarchiv (Ortsbürgergemeinde) St. Gal-
len transkribiert und bei einem weiteren Archivbesuch
an den Originalen überprüft und die oben erwähnten
Abklärungen vorgenommen werden. Anschliessend ist
die bereits früher angekündigte Sichtung und Aufnahme
der Schriftzeugnisse in den Churer Archiven (Stadtarchiv,
Staatsarchiv Graubünden und Bischöfliches Archiv) ge-
plant. Zugleich sollen die je weils fertig bearbeiteten Ur-
kunden auch für das LUB II digital bearbeitet und unver-
züglich online zur Verfügung gestellt werden. Schliesslich
steht immer noch die Über prüfung zweier einheimischer
Urkunden im Gemeindearchiv Schellenberg aus, die der
Bearbeiter zuversichtlich hofft, endlich erledigen zu kön-
nen.
Dank
Als Bearbeiter des LUB II möchte ich der Trägerschaft
des Urkundenbuch-Projekts, dem Historischen Verein
und seinem Vorstand, insbesondere der Vorsitzende
lic. phil. Eva Pepić -Helferich, dem Geschäftsführer
Marco Schädler und der Mitarbeiterin Ruth Allgäuer
sowie dem langjährigen Redaktor des Jahrbuchs des
Historischen Vereins, lic. phil. Klaus Biedermann, für
das entgegengebrachte Vertrauen und die Unterstüt-
zung danken. Dank gebührt auch dem Liechtenstei-
nischen Landesarchiv, wo das LUB eine Heimstätte
gefunden hat, namentlich dem Staatsarchivar lic. phil.
Paul Vogt, seinem Stellvertreter Mag. phil. Rupert
Tiefenthaler, der wissenschaftlichen Archivarin Frau
Dr. Dorothee Platz und den Archivbetreuerinnen
Nicole Hanselmann, Marianne Kauf mann, lic. iur. Isa-
bella Marxer, lic. phil. Ildikó Szacsvay und Rita Tobler,
von denen ich stets die bestmögliche Hilfe erfahren
durfte. Schliesslich möchte ich mich bei allen Kolleginnen
und Kollegen bedanken, die durch ihre Quellen- und Li-
teraturhinweise zur Materialfülle des LUB II beigetragen
haben.
ten und die in der betreffenden Sekundärliteratur (vor
allem Placid Bütler, Die Freiherren von Brandis, in:
Jahrbuch für Schweizer Geschichte 36 [1911], S. 1–151)
leider meist ohne genaue Quellenangabe zitierten
Dokumente aufzu finden. Wenn hier auch ein schöner Teil
der aus der Literatur bekannten Quellen eruiert werden
konnte, gilt es doch noch, eine eingehendere Abklärung
des Archiv-bestandes im Hinblick auf die Zeit des sogenann-
ten Alten Zürichkrieges (1439–1450) und des Schwaben-
beziehungsweise Schweizerkrieges 1499 vorzunehmen.
Schliesslich mussten die während der Arbeit gewon-
nenen neuen Erkenntnisse in die verschiedenen Daten-
banken und Verzeichnisse (Quellen- und Registerdaten-
bank, Re gesten-, Quellen- und Literaturverzeichnis) ein-
gearbeitet werden, sodass diese à jour gehalten werden
konnten.
Trotz des bedeutenden Mehraufwandes für die Erar-
beitung des LUB II digital darf ge nerell festgehalten wer-
den, dass die Arbeiten am LUB II/1 – soweit überblickbar
– planmässig vorangehen. Es ist allerdings an dieser
Stelle erneut an die im Jahresbericht 2000 gemachten
grundsätzlichen Überlegungen zu erinnern, wonach eine
exakte Ter minplanung bei der Erarbeitung eines Urkun-
denbuchs auf erhebliche Schwierigkeiten stösst. Insbe-
sondere im Fall des LUB II, wo der schliesslich zu edie-
rende Quellen bestand erst nach Abschluss der Quellen-
sammlung endgültig feststehen wird.
Sonstige Tätigkeiten
Im Umfang eines 50-Prozent betragenden Arbeitspen-
sums steht neben der Kernaufgabe wenig Zeit für andere
Tätigkeiten zur Verfügung. Zudem nötigen die vielfälti-
gen Begleitarbeiten, nicht zuletzt auch der notwendige
administrative Auf wand, zur Sparsamkeit im Umgang mit
der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit und zur sorgfäl-
tigen Verwendung derselben auf das wirklich Notwen-
dige. So durfte der Bearbeiter im Rahmen der «Mittwoch
Feierabend Spezial-Führungen im Liechtensteini schen
Landesmuseum» am 7. Juli 2010 einen Vortrag mit Muse-
umsführung unter dem Titel «Brandis, Sulz, Hohenems.
Die wechselvolle Zeit vor dem Fürstentum» halten.
Schliesslich konnten verschiedene Anfragen an das LUB
beantwortet sowie Arbeiten mit Quellen- und Literatur-
hinweisen unterstützt werden.
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143Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Kunstdenkmäler des
Fürstentums Liechtenstein
Tätigkeitsbericht 2010
Personelles
Die Arbeiten an dem auf zwei Bände ausgelegten Buch-
projekt «Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechten-
stein» wurden im Berichtsjahr von der Kunsthistorikerin
Dr. Cornelia Herrmann mit letzten Forschungen zum
Band «Unterland» fortge setzt. Unter dem Vorsitz von lic.
phil. Eva Pepić traf sich die zur wissenschaftli chen Beglei-
tung der Kunstdenkmälerbände und zur Beratung der
Autorin einge setzte Fachkommission zur 12. und 13. Sit-
zung im Februar und im August 2010. Die personelle Zu-
sammensetzung der Fachkommission mit Wissenschaft-
lern aus dem Fürstentum Liechtenstein blieb wie im Jahr
zuvor unverändert. Gutachter Dr. Daniel Studer und Pro-
jektleiterin der Kunstdenkmälerbände Dr. Nina Mek-
acher waren weiterhin als Berater und Koordinatoren der
Gesellschaft für Schweizeri sche Kunstgeschichte in Bern
(GSK) tätig.
Band Unterland
Den Hauptanteil der Arbeit der Autorin bildeten im Be-
richtsjahr 2010 die Recher chen zu den Kunstdenkmälern
in den Gemeinden Schellenberg und Gamprin. Neben
gemeindebezogenen Akten im Liechtensteinischen Lan-
desarchiv waren vor allem die Bestände der Gemeindear-
chive und des Pfarrarchivs Bendern mit Standort im
Liechtensteinischen Landesarchiv relevant. In Schellen-
berg ergab sich für das, mit Ausnahme der Klosterka-
pelle, nicht zugängliche Frauenkloster der Schwestern
vom Kostbaren Blut eine besondere Arbeitssituation. Die
Frau Mutter, Schwester Maria Ulrika Walser, gab auf An-
frage wertvolle schriftliche Informationen. Die Gemeinde
Gamprin stellte mit dem Kirchhügel Bendern eine wei-
tere Herausforderung dar. Die baugeschichtliche Erfor-
schung der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Bendern ist
noch nicht abgeschlossen. Auf der Grundlage des vorlie-
genden Materials älterer Forschungen wurde eine vorerst
gültige Zu sammenfassung formuliert. Ein besonderer
Dank gilt der Landesarchäologie für die Begleitung des
schwierigen Themas. Bei der Inventarisation unterstützte
Angelo Steccanella aus Thal die Arbeiten am Kunstdenk-
mälerband in den Bereichen «Liturgisches Gerät» und
«Paramente». Insbesondere für die Feldkircher Gold-
schmiede vom 15. bis ins 20. Jahrhundert sowie für die
Vaduz, im Januar 2011
Liechtensteinisches Urkundenbuch, Claudius Gurt
Anschrift
Liechtensteinisches Urkundenbuch, c/o Liechtensteinisches
Landesarchiv, Postfach 684, FL-9490 Vaduz
claudius.gurt@la.llv.li, www.lub.li
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144 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Gold schmiede des 19. Jahrhunderts im Kanton St. Gallen
gilt Steccanella als ausgewiesener Spezialist.
Des Weiteren wurde von der Autorin die Überarbei-
tung des 2001 verfassten Manuskriptes zur Gemeinde
Eschen mit der Ergänzung neuer Bauforschungen u.a.
fortgesetzt. Aufgrund der ab 2003 erfolgten Neu struktu-
rierung des Gemeindear chivs Eschen mit einer Neuver-
gabe von Signaturen musste im Manuskript «Eschen»
eine aufwendige Aktualisierung der alten Archiv sig na-
turen vorgenommen werden. Einen weiteren Arbeits-
schwerpunkt bildete die Einsicht nahme von Vi sita tions-
pro tokollen des 17. bis 19. Jahrhunderts im Bischöfl ichen
Archiv in Chur. Kontakte zum Staatsarchiv St. Gallen
wurden in Hinblick auf die Liechten stein relevanten Kar-
ten geknüpft und ein Arbeitsbesuch für Anfang 2011 ter-
mi niert.
Im Jahr 2010 galt es den Blick vorausschauend auf die
zeitlich enge redaktionelle Phase im Jahr 2011 zu richten.
Aufträge für Fotoaufnahmen in den Gemeinden und
Scanaufträge für Dokumente in den Archiven wurden
von der Autorin koordi niert und vergeben. Hierbei
konnte auf die altbewährte Zusammenarbeit mit dem Fo-
tografen Sven Beham aus Ruggell zurückgegriffen wer-
den. Neu im Team ist Paul Trummer, Mauren. Eine grosse
Zahl an Objekten aus den Gemeinden befindet sich im
Liechtensteinischen Landesmuseum. Sie wurden für den
Kunstdenkmälerband im Fotoatelier des Landemuseums
neu aufgenommen. Zusätzliche Fotorecherchen führten
die Autorin zu den Fotosammlungen der Landesarchäo-
logie, der Landesdenkmalpflege, des Landesarchivs und
der Gemeinden. Weitere Unterstützung leistete Baufor-
scher Peter Albertin, Winterthur, mit Abbildungsmaterial
aus seinem Archiv.
Zum Inhalt der Kunstdenkmälerbände gehören aktu-
elle Grundrisspläne, teils auch Ansichten und Schnitte
von Kirchen und Kapellen. Hierzu forschte die Auto rin
nach geeigneten originalen Planvorlagen bei Gemeinde-
bauverwaltungen und in Architektenbüros. Auf der
Grundlage dieser Pläne erfolgte eine digitale Weiterbe-
arbeitung und Anpassung an die Standards der Kunst-
denkmälerbände durch GMRitter, Architekturdienste in
Chur. Ein besonderer Dank gilt der Abtei lung Denkmal-
pflege des Hochbauamtes, die mit der Übernahme der
Produktions kosten das Sachkostenbudget des Kunst-
denkmälerprojekts entlastete. Denkmal pfleger Patrik Bir-
rer begleitete die Planproduktion mit konstruktiven Rat-
schlägen. Die Abteilung Denkmalpflege stellte der Auto-
rin zudem wie in den Jahren zuvor einen Arbeitsplatz
zur Verfügung, damit das Aktenmaterial der Denkmal-
pflege vor Ort gesichtet werden konnte. GMRitter über-
nahm auch die Erstellung der Baupe riodenpläne der
Pfarrkirche St. Peter und Paul in Mauren sowie der Pfarr-
kirche St. Martin mit den benachbarten Pfrundbauten in
Eschen. Ein besonderer Dank ergeht an Ulrike Mayr und
Hansjörg Frommelt von der Landesarchäologie, die die
Planvorgaben lieferten und die zahl reichen Arbeitspha-
sen der Planerstellung fachlich begleiteten.
Weitere Tätigkeiten der Autorin
Im Frühjahr 2010 kam die Autorin dem Wunsch der Ge-
meinde Eschen nach, das für den Kunstdenkmälerband
recherchierte Material über die Eschner Pfrund bauten für
ein breites Publikum aufzubereiten, sozialgeschichtlich
zu erweitern und in neuem Gewand als Teilgebiet einer
Publikation zu präsentieren. Die Broschüre erschien im
Mai 2010 unter dem Titel «Kulturplatz Eschen. Die
Pfrund bauten. Zur Baugeschichte und zum Ausstellungs-
betrieb seit 1976». Für den Sub skriptionsprospekt der
Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte erarbei-
tete die Autorin im November 2010 einen Text über das
«Unterland im Fürstentum Liechtenstein» und lieferte
eine Auswahl an Fotos für die Gestaltung. Der Prospekt
wird ab Januar 2011 Verbreitung finden.
Ausblick
Das Gesamtmanuskript «Unterland» mit mehr als einer
Million Zeichen und voraus sichtlich 450 Abbildungen
wird einen Kunstdenkmälerband mit einem Umfang von
rund 420 Druckseiten ergeben. Ein Vergleich mit den ins-
gesamt 60 das Unterland betreffenden Druckseiten in
dem 1950 von Erwin Poeschel erarbeiteten Vorgänger-
band macht deutlich, dass es sich um mehr als eine Neu-
bearbeitung alter Sachgebiete handelt.
Die Redaktionskommission wird ihre Beurteilung des
Manuskriptes «Unterland» an ihrer Sitzung am 12. April
2011 abgeben. Der weitere enge Zeitplan sieht eine re-
daktionelle Arbeitsphase mit einer Zusammenarbeit zwi-
schen Autorin, Lektorin und Graphiker bis Ende Novem-
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145Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Allgemeines
Das Jahr 2010 stand für das Projekt «Einbürgerungsnor-
men und Einbürgerungspraxis in Liechtenstein vom 19.
bis ins 21. Jahrhundert» ganz im Zeichen der Nieder-
schrift der Forschungsergebnisse aus den drei Teilprojek-
ten. Die gegenseitige Lektüre von Probekapiteln führte
im Team und im Wissenschaftlichen Beirat zu konstrukti-
ven Diskussionen. Das Manuskript zum Teilprojekt I
konnte in einer ersten Version fertiggestellt werden. Der
Abschluss der Manuskripte zu den Teilprojekten II und
III verzögerte sich aufgrund umfangreicher Quellenbe-
stände um rund zwei Monate. Die dadurch notwendig
gewordenen Anpassungen der individuellen Zeit- und
Arbeitspläne liegen weiterhin im Rahmen der vorgesehe-
nen Gesamtarbeitszeit. Bestehende wissenschaftliche
Kontakte konnten vertieft werden. Im zweiten Halbjahr
wurde mit der Planung der Drucklegung der Monogra-
phien begonnen.
Personelles
Im Jahr 2010 ist die Zusammensetzung des Projektteams
unverändert geblieben. Das Projekt wird von den For-
schungsbeauftragten lic. phil. Klaus Biedermann, lic. phil.
Nicole Schwalbach und lic. phil. Veronika Marxer durch-
geführt. Die Projektleitung liegt bei Dr. Regula Argast.
Auch im Wissenschaftlichen Beirat hat es keine personel-
len Wechsel gegeben. Die Mitglieder des Beirats sind: lic.
phil. Fabian Frommelt, Mauren, Dr. Wilfried Marxer, Trie-
sen, Prof. Dr. Brigitte Mazohl, Innsbruck, Dr. Alois Os-
pelt, Vaduz, Dr. Regula Argast, Zürich.
Tätigkeiten und Stand der Arbeit
Gesamtkonzept
Während des Projektjahrs 2010 trafen sich die For-
schungsbeauftragten und die Projektleiterin zu fünf
Teamworkshops, um inhaltliche und organisatorische
Fragen zu diskutieren sowie die einzelnen Teilprojekte
aufeinander abzustimmen. Nachdem zu Beginn des Jah-
res die Zwischenberichte gemeinsam mit dem Wissen-
schaftlichen Beirat diskutiert und vom HVFL genehmigt
worden waren, stand während des ganzen Jahres 2010
ber 2011 vor. So Gott will und wenn alle gesund bleiben,
wird der neu angestrebte Termin der Herausgabe des
Kunstdenkmäler bandes früher als bisher geplant im De-
zember 2011 liegen.
Schaan / Triesen, 27. Januar 2011
Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein,
Dr. Cornelia Herrmann
Anschrift
Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein
c/o Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Gamanderhof, Plankner Strasse 39, FL-9494 Schaan
Telefon 00423 / 236 75 38, Telefax 00423 / 236 75 48
cherrmann@historischerverein.li
Einbürgerungsnormen und
Einbürgerungspraxis in Liechtenstein
vom 19. bis ins 21. Jahrhundert
Tätigkeitsbericht 2010
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146 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Gemeinde- und Staatsbürgerrecht von Frauen durch Hei-
rat, aber auch Aufnahmen von im öffentlichen Dienst tä-
tigen Personen (Beamte, Lehrer, Politiker, Geistliche und
Militärdienstleistende) sowie Aufnahmen von privatwirt-
schaftlich tätigen Personen (Landwirte, Handwerker und
Gewerbetreibende). Ein spezielles Augenmerk ist der
Einbürgerung von Personen mit einem besonderen
Bezug zum Fürstenhaus gewidmet.
Nach Abschluss der ersten Fassung des Gesamtmanu-
skripts erfolgte die Vorbereitung der Interviews. Ein ers-
tes, ausführliches Gespräch konnte anfangs Januar 2011
durchgeführt werden. Die Ergebnisse der Interviews wer-
den in die Überarbeitung des Gesamtmanuskripts, die
im ersten Halbjahr 2011 erfolgen wird, einfliessen.
Teilprojekt II: Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein
1919 bis 1955
Nach der Erstellung des Zwischenberichts zum Teil-
projekt «Finanzeinbürgerungen» konnte mit der Nieder-
schrift der Kapitel zu den Einzelfallstudien aus dem Un-
tersuchungszeitraum 1919 bis 1959 begonnen werden.
Daneben wurden die Landtagsprotokolle des Zeitraums
1914 bis 1959 gesichtet und ausgewertet. Die Verschriftli-
chung der daraus resultierenden Ergebnisse ist noch bis
Ende Februar 2011 in Arbeit. Der Fokus richtet sich hier
auf die Entwicklung und den Wandel sowohl der Krite-
rien zur Erteilung einer Finanzeinbürgerung als auch der
praktischen Anwendung dieser Kriterien auf die einzel-
nen Bewerber.
Des Weiteren wurde seit September 2010 der Archiv-
bestand der Regierungsakten des Fürstentums Liechten-
stein für besagten Zeitraum von rund vier Jahrzehnten
systematisch eingesehen. Von besonderem Interesse
waren hier Einbürgerungsansuchen an die Regierung,
die nicht zu einer Einbürgerung führten. In den meisten
dieser Fälle konnten oder wollten die Ansuchenden die
enormen Taxen, die für eine Einbürgerung gefordert
wurden, nicht aufbringen und das Gesuch wurde dem-
entsprechend zurückgezogen beziehungsweise von Re-
gierung und Landtag nicht weiter bearbeitet. Eine erste
Fassung des Manuskripts wird voraussichtlich Ende März
2011 vorliegen.
das Abfassen der Manuskripte im Zentrum der Arbeiten.
Erste Probekapitel wurden fortlaufend im Team disku-
tiert. Ebenso erhielten die Forschungsbeauftragten von
den Beiratsmitgliedern individuelle Feedbacks zu je
einem Kapitel aus ihren Manuskripten (vgl. unten). Die
Planung der Drucklegung der im Entstehen begriffenen
Monographien wurde in einer ersten Sitzung mit der
Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden
des HVFL besprochen. Darüber hinaus bereiteten sich
die Forschungsbeauftragten auf die Präsentation ihrer Er-
gebnisse im Rahmen von zwei wissenschaftlichen Veran-
staltungen in Innsbruck und Liechtenstein zu Beginn des
Jahres 2011 vor (vgl. unten).
Projektleitung
Die Projektleiterin organisierte und leitete die Work-
shops und Beiratssitzungen, begleitete die Erarbeitung
der Zwischenberichte, verfasste individuelle Feedbacks
zu den vorliegenden Kapitel der Forschungsbeauftragten,
besprach mit ihnen Anpassungen bei den individuellen
Zeitplänen und verfasste Berichte zu Handen des HVFL
und der Regierung. Ausserdem unterbreitete sie den For-
schungsbeauftragten einen Konzeptvorschlag für den
Schlussbericht.
Teilprojekt I: Einbürgerungsnormen und Einbürgerungs-
praxis in Liechtenstein im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Auf der Basis des vorliegenden Detailkonzeptes erar-
beitete Klaus Biedermann im Berichtsjahr 2010 die erste
Fassung des Gesamtmanuskripts. Parallel dazu erfolgten
laufend gezielte Nachrecherchen im Liechtensteinischen
Landesarchiv in Vaduz und – mit Einschränkungen – im
Gemeindearchiv Triesenberg. Während der Niederschrift
der ersten Manuskriptfassung zeigte es sich, dass der ur-
sprünglich geplante Aufbau der Monographie angepasst
werden musste.
Die erste, im Spätherbst 2010 vorgelegte Fassung des
Gesamtmanuskripts schliesst ein umfangreiches Kapitel
zum Themenbereich «Armut, Nicht-Sesshaftigkeit und
Bürgerrecht» mit ein, welches den zumeist langen Weg
zur Einbürgerung von vormals heimatlosen und fahren-
den Familien darstellt. Einen Gesamtüberblick, mit Dar-
stellung markanter Einzelbeispiele, zu den Einbürge-
rungsfällen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, bietet das
Kapitel «Aufnahmen in das Staats- und in das Gemeinde-
bürgerrecht, 1809 bis 1918». Es umfasst Einkäufe in das
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147Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Wissenschaftliche Kontakte
Das Projektteam pflegte auch im Jahr 2010 wissenschaft-
liche Kontakte mit Forscherinnen und Forschern, die sich
mit verwandten Themenbereichen auseinandersetzen.
Bereits bestehende Kontakte konnten vertieft werden. So
planten die Forschungsbeauftragten auf Einladung von
Prof. Dr. Brigitte Mazohl die Präsentation ihrer Projekte
an der Universität Innsbruck: Am 20. Januar 2011 haben
sie Gelegenheit, ihre Ergebnisse im universitären Rah-
men des Graduiertenkollegs «Politische Kommunika-
tion» zu diskutieren. Wiederum nahm lic. phil. Martina
Sochin (Liechtenstein-Institut) regelmässig an den Team-
workshops teil und erweiterte den Projektfokus um
wichtige migrationshistorische Fragen. Auf Anregung von
Martina Sochin entstand auch eine fünfteilige Vortrags-
reihe, die gemeinsam vom Liechtenstein-Institut und
dem HVFL getragen wird und vom 1. Februar bis zum
1. März 2011 wöchentlich im Gemeindesaal in Gamprin
stattfindet. Unter dem Titel «Wer gehört dazu? Liechten-
steins Umgang mit Fremden im 19. und 20. Jahrhundert»
stellen lic. phil. Klaus Biedermann, lic. phil. Veronika
Marxer, lic. phil. Nicole Schwalbach, lic. phil. Martina So-
chin und Dr. Regula Argast ihre Forschungsergebnisse
einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion.
Zeitplan und Ausblick
Für das Jahr 2011 sind folgende Arbeitsschritte geplant:
Die Niederschrift der Manuskripte zu den Teilprojekten
II und III werden bis Ende März in einer ersten Fassung
abgeschlossen und – nach den Feedbacks der Projektlei-
tung und des Wissenschaftlichen Beirats – bis Ende Juni
überarbeitet. Auch das in einer ersten Fassung bereits
vorliegende Manuskript zum Teilprojekt I wird bis Ende
Juni überarbeitet sein. Nachrecherchen in den relevanten
Archiven sowie ergänzende Zeitzeugeninterviews wer-
den parallel zur Überarbeitung der Manuskripte durch-
geführt. Zur Diskussion und Koordination der Teilpro-
jekte sowie zur Planung der Drucklegung werden weiter-
hin Teamworkshops durchgeführt. Der Schlussbericht
von Regula Argast soll bis Ende Oktober 2011 in einer
ersten Fassung vorliegen. Die Drucklegung der Monogra-
phien sowie des Schlussberichts erfolgt Anfang 2012.
Teilprojekt III: Einbürgerung unter dem Aspekt der
Integration 1945 bis 2008
Im vergangenen Jahr stand die Verschriftlichung der
Ergebnisse im Vordergrund. Die tabellarisch erfassten
Einbürgerungsfälle der Jahre 1945 bis 1974 wurden zum
Teil als Einzelfälle, zum Teil in Gruppen textlich darge-
stellt, was einen vertieften Einblick in die damalige Ein-
bürgerungspraxis ermöglicht. Die Entwicklung der Ein-
bürgerungsgesetzgebung wurde anhand der Landtags-
protokolle bis ins Jahr 2008 verfolgt. Insgesamt kommen
acht Landtagsdebatten zur Darstellung. Sie reichen von
einem bereits im Jahr 1950 gemachten Versuch, die Ein-
bürgerung für eingesessene Ausländerinnen und Auslän-
der zu erleichtern, über die Erfüllung des Postulats
«Liechtensteinerin bleiben» im Jahr 1974 bis zur Einfor-
derung von Integrationsleistungen wie Deutsch- und
Staatskundekenntnissen im Jahr 2008. Die Analyse der
Debatten erfolgte nach einem einheitlichen Raster. So
ging es darum, die im Landtag vorgebrachten Anträge
und Postulate in den zeitlichen Kontext zu stellen, die
Pro- und Contraargumente aufzuzeigen sowie auf Argu-
mentationslinien aufmerksam zu machen, die über den
zeitlichen Horizont der einzelnen Debatte hinausweisen
und damit umfassendere Argumentationsmuster erken-
nen lassen. Als die zentralen bürgerrechtlichen Themen
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwiesen sich
die Überwindung der Finanzeinbürgerung, die Gleich-
stellung von Frau und Mann sowie die Integration der
seit Jahrzehnten oder bereits in zweiter und dritter Gene-
ration in Liechtenstein ansässigen Ausländerinnen und
Ausländer in den Staatsverband.
Wissenschaftlicher Beirat
Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats trafen sich
gemeinsam mit den Forschungsbeauftragten zu zwei Sit-
zungen. An der Sitzung vom 8. Februar 2010 diskutierte
der Beirat die Zwischenberichte der Forschungsbeauf-
tragten, an der Sitzung vom 18. Oktober 2010 standen
Probekapitel zu den einzelnen Teilprojekten zur Diskus-
sion. Das konstruktive Feedback des Wissenschaftlichen
Beirats hat den Teilprojekten viele positive Impulse ver-
liehen. Die Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats im
Mai 2011 wird der Diskussion der Manuskripte aus den
drei Teilprojekten gewidmet sein.
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148 Jahresbericht des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 2010
Dank
Das Projektteam möchte auch in diesem Jahr vielen Men-
schen für ihre freundliche Unterstützung danken, so dem
Vorstand des Historischen Vereins, insbesondere der Vor-
sitzenden lic. phil. Eva Pepić , dem Geschäftsführer Marco
Schädler, den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats
lic. phil. Fabian Frommelt, Dr. Wilfried Marxer, Prof. Dr.
Brigitte Mazohl sowie Dr. Alois Ospelt, dem Liechtenstei-
nischen Landesarchiv in der Person von lic. phil. Paul
Vogt, Mag. phil. Rupert Tiefenthaler und den Archivmit-
arbeiterinnen, der Schaaner Gemeindearchivarin Gina
Jehle sowie dem für Triesenberg zuständigen Archivar
Jürgen Schindler. Ein Dank gilt auch Alexander Sele aus
Triesenberg für seine hilfreichen Informationen zu ein-
zelnen Familien aus seiner Gemeinde. Für die gute Zu-
sammenarbeit und den wissenschaftlichen Austausch
danken wir ebenso Prof. Dr. Brigitte Mazohl und lic. phil.
Martina Sochin.
Schaan, 18. Januar 2011
Projekt «Einbürgerungsnormen und Einbürgerungs-
praxis in Liechtenstein vom 19. bis ins 21. Jahrhundert»,
Regula Argast / Klaus Biedermann / Veronika Marxer /
Nicole Schwalbach
Anschrift
Projekt «Einbürgerungen»
c/o Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Gamanderhof, Plankner Strasse 39, FL-9494 Schaan
argast@fsw.uzh.ch
klaus.biedermann@historischerverein.li
veronika.marxer@historischerverein.li
nicole.schwalbach@historischerverein.li
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149
Liechtensteinisches Landesmuseum 2010
Inhalt
150 Tätigkeitsbericht
150 Sonderausstellungen
153 Veranstaltungen
154 Sammlungen
155 Schenkungen
157 Ankäufe
157 Stiftungsrat
157 Fachbeirat
157 Personen
159 Dank
159 Besucherstatistik
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150 Liechtensteinisches Landesmuseum: Tätigkeitsbericht 2010
sitten sowie das Ende der keltischen Eigenständigkeit.
Als Prunkstücke der Ausstellung sind wertvolle Kultge-
genstände wie etwa die Votivfiguren Balzers, das Eber-
figürchen von Altenburg, Teile des Hortfundes von Bad
Buchau-Kappel und der Silberschatz von Lauterach zu
sehen. Kontakte zum aufstrebenden römischen Reich
werden durch Importfunde aus dem Mittelmeerraum,
wie Weinamphoren, Griffel aus Elfenbein sowie blaue
Schminke bezeugt.
Die kürzlich entdeckten Funde aus dem Gebiet des Sep-
timerpasses im heutigen Kanton Graubünden, die zwei-
fellos vom Alpenfeldzug um 16/15 vor Christus unter
Drusus und Tiberius, den Stiefsöhnen Kaiser Augustus,
stammen, veranschaulichen das Ende der eisenzeitlichen
Epoche im Bodenseeraum.
In Zusammenarbeit mit der Landesarchäologie des
Fürstentums Liechtenstein wird die Ausstellung im
Landesmuseum durch ein sogenanntes Liechtenstein-
Fenster bereichert. In dieser kleinen Sonderschau wird
ein Querschnitt von Objekten aus der gesamten Eisen-
zeit in unserem Land präsentiert. Es wird dabei die Gele-
genheit genutzt, neue Fundorte dieser Epoche erstmalig
der Öffentlichkeit vorzustellen: u. a. Balzers-Rietle und
Triesen-Meierhof. Ebenso wird in Kooperation mit dem
Schulamt des Fürstentums Liechtenstein der Ausstellung
ein eigener museumspädagogischer Bereich angeglie-
dert, in dem ein neues Lehrmittel für die Primarschule
vorgestellt wird.» (vgl. Homepage des Landesmuseums)
Eine Herzensangelegenheit des Stiftungsrates war die
Ausstellung «DIE RHEINREISE von den Quellen bis zur
Mündung» von Louis Bleuler (1792–1850). Sie wurde am
26. März 2010 eröffnet und dauert bis 16. Januar 2011.
Die Ansichten stammen aus der Sammlung Goop, die
Adulf Peter Goop im Jahr 2010 dem Land Liechtenstein
geschenkt hat.
«1827 begann Johann Ludwig (Louis) Bleuler mit
seinem künstlerischen Hauptwerk ‹Les vues les plus
pittoresques des Bords du Rhin› – Der Rhein von den
Quellen bis zur Mündung. Die Gesamtausgabe dieses
imposanten Werks mit insgesamt achtzig Ansichten
(Gouachen und Aquatinta Blättern) entstand in den Jah-
ren 1827 bis 1842/43.
Louis Bleuler nimmt den Betrachter mit auf eine Reise
entlang des Rheins von den Quellen des Vorder- und
Hinterrheins durch Graubünden, Liechtenstein, das
Das Jahr 2010 war für das Liechtensteinische Landes-
museum ein besonderes Ausstellungsjahr. Über ein Drit-
tel mehr begeisterte Gäste haben das Museum besucht.
Eine sehr erfreuliche Bilanz und ein Kompliment für die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Ein neues Gesetz für
das Liechtensteinische Landesmuseum brachte mehr
Selbständigkeit für die Stiftung und mehr Verantwortung
und Aufgaben für den Stiftungsrat. Des Weiteren musste
nach der Rücktrittsankündigung des ausscheidenden
Direktors lic. phil. Norbert W. Hasler die zukünftige Aus-
richtung des Landesmuseums geplant werden.
Sonderausstellungen
Am 18. April 2010 ging die hervorragende und sehr gut
besuchte Sonderausstellung «Welt der Wiegendrucke» zu
Ende. Über den Inhalt der am 29. Oktober 2009 eröff-
neten Sonderausstellung wurde bereits im Jahresbericht
des Vorjahres ausführlich berichtet.
Ein weiterer Glanzpunkt war die Ausstellung «Bevor die
Römer kamen/Späte Kelten am Bodensee». Sie wurde am
15. Mai 2010 eröffnet und dauert bis 16. Januar 2011.
«Die Ausstellung ‹Bevor die Römer kamen – Späte
Kelten am Bodensee› widmet sich der letzten Phase
der jüngeren Eisenzeit (150–15 vor Christus) in der
Nordostschweiz, dem heutigen Liechtenstein und dem
angrenzenden Ausland. Themen der Ausstellung sind
Siedlungen, Wirtschaft, Religion, Tod und Bestattungs-
Sonderausstellung «Welt der Wiegendrucke».
Tätigkeitsbericht 2010
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151Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Ein besonderer Glanzpunkt im Jahr 2010 war die Sonderausstellung «Bevor die Römer kamen /Späte Kelten am Bodensee».
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152 Liechtensteinisches Landesmuseum: Tätigkeitsbericht 2010
Ein grosses Ereignis des Jahres 2010 war die Schenkung der Sammlung von Adulf Peter Goop an das Land Liechtenstein. Von links: Margrit
Goop, Dorothea Goop, Adulf Peter Goop, Ida Goop und Peter Goop (oben).
Kaori Tomiyama singt Lieder von Prinz Rudolf von Liechtenstein, im Beisein des Fürstenpaares, der Kulturministerin Aurelia Frick sowie des
stellvertretenden Museumsdirektors und Landtagspräsidenten Arthur Brunhart (unten).
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153Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
für Kinder und Junggebliebene statt. Dies war eine Art
Abschlussveranstaltung der Ausstellung «Bevor die Rö-
mer kamen/Späte Kelten am Bodensee».
Sehr gut besucht waren die Mittwochabend-Veranstal-
tungen, die jeden ersten Mittwoch im Monat stattfanden.
Die Themen waren sehr vielfältig und von den Vortra-
genden und dem Führungsteam bestens präsentiert und
vorbereitet.
Im Folgenden sind diese einzelnen Veranstaltungen auf-
gelistet:
– 6. Januar 2010: Gold, Weihrauch und Myrrhe, mit
Dr. Hansueli Etter
– 3. Februar 2010: Flatterhafte Untermieter (Fleder-
mäuse), mit Silvio Hoch
– 3. März 2010: Mädchen, Magd und Managerin, mit
lic. phil. Julia Frick
– 7. April 2010: Höllisch oder himmlisch, mit Nicolas
Biedermann
– 5. Mai 2010: Perlen, Gold und Edelsteine, mit
Dr. Arthur Stögmann
– 2. Juni 2010: Aus den Anfängen der Liechtensteiner
Nationalelf, mit Manfred Moser
– 7. Juli 2010: Brandis, Sulz und Hohenems, mit Clau-
dius Gurt
– 4. August 2010: Für Gott, Fürst und Vaterland, mit
Daniela Clavadetscher
– 1. September 2010: Steinperlen, aus der geologischen
Schatzkiste Liechtensteins, mit Eckhard Wollwage
– 6. Oktober 2010: Die Entstehung der Politischen Ge-
meinden, mit Altvorsteher Hansjakob Falk
– 3. November 2010: Alle(r) Heiligen, mit Pfarrer i. R.
Franz Näscher
– 1. Dezember 2010: Homo ludens, mit Andrea Mündle
Wie schon die letzten Jahre haben das Landesmuseum
und das Postmuseum am 2. Oktober an der Langen
Nacht der Museum, organisiert und koordiniert vom
ORF, teilgenommen. Diverse, auch musikalische Veran-
staltungen haben in und um das Landesmuseum statt-
gefunden. Die vielen Besucherinnen und Besucher, auch
aus dem benachbarten Vorarlberg und der Schweiz, be-
lebten nicht nur das sonst so stille Städtle, sondern auch
noch andere kulturellen Einrichtungen in unserem Land.
Fotos dieser und weiterer Anlässe sind in der Homepage
des Landesmuseums «www.landesmuseum.li» zu finden.
Rheintal bis zum Bodensee und über Schaffhausen und
Basel weiter nach Deutschland und die Niederlande
bis zur Mündung in die Nordsee. Bleulers Veduten-
werk in herrlichem, stimmungsvollem Kolorit zählt zu
den kostspieligsten druckgraphischen Arbeiten, welche
den Rhein thematisieren.» (vgl. Homepage des Landes-
museums)
Veranstaltungen
Landesmuseum
Zu den Sonderausstellungen wurden mehrere Be-
gleitveranstaltungen durchgeführt. Des Weiteren fanden
zahlreiche Veranstaltungen statt, die thematisch mit den
Inhalten des Landesmuseums zu tun haben.
Am 10. März fand eine Dichterlesung mit der Künstlerin
und Lyrikerin Evi Kliemand statt. Am 30. März wurde das
Buch «Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospi-
tälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter» als Neuer-
scheinung präsentiert. Mitautor ist der stellvertretende
Direktor des Landesmuseums, lic. phil. Arthur Brunhart
(das Hauptgebäude des Landesmuseums war im 19. Jahr-
hundert mehrere Jahre Untersuchungsgefängnis). Am
1. April wurde im Landesmuseum in Anwesenheit der Re-
gierungsrätin Dr. Renate Müssner das internationale Jahr
der Biodiversität eröffnet. Am 14. April präsentierte Vlado
Franjević, Mitarbeiter des Landesmuseums, seinen Lyrik-
band «Berührung der Stille». Am 18. April sang Kaori To-
miyama Lieder von Prinz Rudolf von Liechtenstein, dies
in Anwesenheit des Fürstenpaares und der Kulturmini-
sterin Dr. Aurelia Frick. Anlässlich des internationalen
Museumstages am 16. Mai fand der Familientag statt. Am
9. Juni gab es einen Vortrag von Biljana Schmid-Sikimic
über «Wartau Ochsenberg in den letzten Jahrhunderten
vor der Zeitwende». Am 25. August hielt Dr. Jürg Rageth,
archäologischer Dienst Graubünden, einen Vortrag über
«Römische Neufunde vom Septimerpass». Am 15. Sep-
tember hielten Verena Hasenbach, Mitarbeiterin im
Landesmuseum, und Christine Ertel einen Vortrag über
«Hafenkastell und Kaiserkultbezirk als Instrumente rö-
mischer Macht in Brigantium (Bregenz)». Am 27. Okto-
ber berichtete Thomas Stehrenberger, Landesarchäologie
Liechtenstein, über «Brandopfer und Toten-verbrennung
in der eisenzeitlichen und römischen Fundstelle Balzers-
Rietle». Am 29. Dezember schliesslich fand der Römertag
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154 Liechtensteinisches Landesmuseum: Tätigkeitsbericht 2010
zur Verfügung. Auch die Gebrauchsgegenstände im
Gebäude, sowie der liebevoll betreute Garten, sind
ein wichtiger Anschauungsunterricht bäuerlicher Dorf-
kultur.
Sammlungen
Sammlung Adulf Peter Goop
Ein grosses Ereignis im Berichtsjahr 2010 – auch
für das Landesmuseum – war die Schenkung der
Sammlung von Adulf Peter Goop am 9. Juni an das
Land Liechtenstein. Der Stiftungsrat hat sich sehr
dafür eingesetzt, dass diese grossartige, rund 5 500
Objekte umfassende Sammlung in den Besitz des
Landes und vertragsgemäss in die Obhut und Betreuung
des Landesmuseums kam. Nicht nur bei der Regierung,
auch im Landesmuseum ist die Freude sehr gross. Der
Dank an den Stifter Adulf Peter Goop kann nicht in
Worte gefasst werden. Dem Landesmuseum ist es
eine grosse Verpflichtung die Sammlung nicht nur
optimal zu betreuen, sondern Teile daraus auch in
Sonderausstellungen und in Dauerausstellungen zu
präsentieren.
Die Sammlung umfasst neben den sehr wertvollen
Fabergé-Eiern auch bemalte (Oster-)Eier von Künst-
lerinnen und Künstlern aus Liechtenstein. Weitere
Postmuseum
Anlässlich des 80. Geburtstages des Malers Josef Schäd-
ler stellte das Postmuseum dessen Briefmarkenentwürfe
einer Ausstellung zur Verfügung, die vom 7. Mai bis
6. Juni 2010 im Gasometer in Triesen stattfand.
Eine weite Reise machten 60 Exponate aus der phila-
telistischen Sammlung, die dem Niederländischen Phila-
telistenverein für die Ausstellung «Postex 2010» in Apel-
doorn (NL) zur Verfügung gestellt wurden.
Im Berichtsjahr 2010 gingen weitere 239 alte Gruss-
und Ansichtskarten in die Sammlung des Postmuseums
über.Traditionsgemäss und in verdankenswerter Weise
übergab die Liechtensteinische Post AG dem Postmu-
seum die Neuerscheinungen der Briefmarken sowie de-
ren Entwürfe des Jahres 2010.
Die Archivbestände des Postmuseums mussten vom
Untergeschoss des Post- und Verwaltungsgebäudes Va-
duz, wo sie bisher gelagert wurden, wegen anderwei-
tiger Nutzung der Räumlichkeiten in die Kulturgüter-
schutzräume des Landesmuseums umgelagert werden.
Diese Arbeit dauert voraussichtlich noch bis 2011.
Wohnmuseum Schellenberg
Im Berichtsjahr 2010 wurde im Wohnmuseum
eine neue Video- und CD-Anlage installiert. Den inte-
ressierten Besuchern stehen wie bisher Filme über das
Wohnmuseum, über Brauchtum und Alltagskultur
Die beiden Aussenstellen des Landesmuseums: das Postmuseum in Vaduz (im Parterre des Engländerbaus, links) sowie das Wohnmuseum im
Biedermannhaus in Schellenberg (rechts).
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155Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Adulf Peter Goop erklärt ein bemaltes (Oster-)Ei aus seiner grossen
Sammlung.
Schätze sind Werke von Prof. Eugen Zotow (1881–
1953) sowie viele Blätter aus der Landschaftsgrafik, ins-
besondere die Blätter «Rheinreise» von Louis Bleuer,
mit welchen im Jahr 2010 eine Sonderausstellung ge-
staltet wurde. Eine weitere grosse Ausstellung über die
Fabergé-Eier und Ostereier ist für das kommende Jahr
geplant.
Wachssammlung
Die Wachssawmmlung, die 2005 von der Familie
Bühler erworben wurde, konnte weiter dokumentiert
und konserviert und damit vor dem Verfall gerettet
werden.
Inventarisation
Die Sammlungen, die dem Landesmuseum ge-
hören oder in seiner Obhut sind, sind nur zu etwa
15 Prozent inventarisiert. Ohne zusätzliche Arbeits-
kraft wird das auch weiterhin nicht möglich sein.
Der Stiftungsrat hofft, diesbezüglich eine Regelung
zu finden, die es erlaubt, in den kommenden Jahren
die grossen Sammlungen zu erfassen, zu inventarisie-
ren und Teile davon der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen.
Schenkungen
Herta Batliner
Frau Batliner hat dem Landesmuseum mehrere
Werke, Gemälde und Zeichnungen des Liechtensteiner
Malers Anton Ender (1898–1984) geschenkt. Herta Bat-
liner war eine Schülerin des Malers. Damit konnte der
Werkbestand von Anton Ender weiter ergänzt werden.
Prinz Emmeram von Liechtenstein
Prinz Emmeram übergab dem Landesmuseum
Bücher und wertvolle Grafikblätter als Schenkung.
Darunter befinden sich Ansichten Fürstlicher Schlösser,
Palais und Besitzungen in Österreich sowie in Böhmen
und Mähren.
Geneviève Louise Marthe Bertrand
Madame Bertrand († 8. Dezember 2009) hat dem Lan-
desmuseum testamentarisch ein spätgotisches Altartryp-
tichon vermacht. Die Schenkungsübergabe erfolgte am
20. Mai 2010 in Genf. Museumsdirektor Norbert W. Has-
ler durfte das kostbare Altarwerk in Empfang nehmen.
Kleinbronzen, Zyklus der Mattabote von Herbert Fritsch
Das Landesmuseum besitzt vier Kleinbronzen, die alle
im Eingangsbereich des Museums ausgestellt sind. Der
im Jahr 2007 verstorbene Künstler hat die fünfte und
letzte Bronze nur noch als Gipsmodell hergestellt. Im Ein-
verständnis mit der Witwe des Künstlers, Frau Maria
Fritsch, konnte das Landesmuseum mit grosser Unter-
stützung durch Dr. Peter Monauni diesen fünften Bron-
zeguss bei der Bronzegiesserei Krismer in Telfs (Tirol)
in Auftrag geben. Geschenkt wurde dieses Werk von
Sven Beham, Dr. Johannes Gassner und der Hilti Art
Foundation.
Dr. Peter und Veronika Monauni
Das Ehepaar Monauni hat dem Museum einen gross-
formatigen Teppich aus dem Zyklus «La Licorne – Das
Einhorn» von Artemis (Anne Frommelt) geschenkt.
Der Stiftungsrat ist den Donatorinnen und Donatoren zu
grossem Dank verpflichtet. Es ist eine Ehre für das Lan-
desmuseum und zeugt auch von grosser Wertschätzung
gegenüber dem Haus.
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156 Liechtensteinisches Landesmuseum: Tätigkeitsbericht 2010
Schenkungen aus der Sammlung von Adulf Peter Goop: Bild aus dem
Zyklus «Rheinreise» von Louis Bleuler (oben links), Stillleben von
Eugen Zotow (oben rechts) sowie Schlosswiese Vaduz von Martin
Frommelt (unten).
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157Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
– Ines Schachenhofer, Gamprin (neu)
– Sandra Wenaweser, Vaduz (neu).
Der Stiftungsrat traf sich ab Mai zu drei ordentlichen und
einer ausserordentlichen Sitzung. Zudem fanden meh-
rere Arbeitssitzungen wie zum Beispiel mit Frau Regie-
rungsrätin Aurelia Frick statt, an denen einzelne Mitglie-
der teilnahmen. In Angriff genommen wurden auch die
neuen Statuten für das Landesmuseum.
Aufgrund der Rücktritts des Museumsdirektors lic.
phil. Norbert W. Hasler per Ende Mai 2011 hat der Stif-
tungsrat im November 2010 die Stelle neu ausgeschrie-
ben. Fristgerecht wurden 26 Bewerbungen für die Stelle
des neuen Direktors eingereicht. Die Auswertung der
eingegangenen Bewerbungsunterlagen wird vom Büro
Ulrich Associates AG in Zürich vorgenommen. Die defi-
nitive Wahl erfolgt im Jahr 2011.
Ebenfalls ausgeschrieben hat der Stiftungsrat die
Stelle einer «Fachperson für Bildung und Vermittlung
(80 Prozent)», befristet auf drei Jahre. Da die Stelle im
Stellenplan des Landesmuseums bisher nicht enthal-
ten ist, wird sie über das Stiftungsvermögen finanziert.
Die Stelle wird im kommenden Jahr 2011 besetzt
werden.
Fachbeirat
Der Fachbeirat, bis Ende 2009 Museumskommission ge-
nannt, traf sich zu drei Sitzungen. Die Mitglieder Petra
Büchel, Silvio Hoch und Josef Eberle besprachen unter
dem Vorsitz von lic. phil. Norbert W. Hasler Ankäufe,
Schenkungen, Leihgaben sowie Ausstellungs- und Pro-
jektthemen. Der Stiftungsrat bedankt sich herzlich für
diese, für das Museum sehr wichtige Arbeit.
Personen
Im Team des Kassa- und Aufsichtspersonals wurde ein
Abgang ersetzt, ebenso im Wohnmuseum Schellenberg.
Im Jahr 2010 feierten vier Damen des Kassa- und Auf-
sichtspersonals ihre Arbeitsjubiläen. Sie konnten auf
zehn respektive fünf Dienstjahre zurückblicken.
Ankäufe
Rudolf von Alt, Aquarell von Vaduz
Der Maler Rudolf von Alt (1812–1905) hat das Aqua-
rell im Jahr 1867 geschaffen. Es handelt sich um eine An-
sicht von Vaduz im Herbst und konnte an einer Auktion
in Wien ersteigert werden.
Anton Ender, Rheinbrücke bei Schaan
Dieses Gemälde des Malers Anton Ender (1898–
1984) entstand 1938 und zeigt in impressionistischer
Manier die Eisenbahnbrücke und die Rheinlandschaft
bei Schaan.
Stiftungsrat
Mit den per 1. Januar 2010 in Kraft getretenen «Ge-
setz über die Steuerung und Überwachung öffentlicher
Unternehmen (Öffentliche-Unternehmen-Steuerungs-
Gesetz ÖUSG)» und dem «Gesetz über das Liechten-
steinische Landesmuseum (LLMG)» gehen wesentlich
mehr Rechte, aber auch Verantwortung, Pflichten und
Aufgaben an den Stiftungsrat über. Dazu gehören auch
das Erstellen von Statuten und die Ausarbeitung eines
Organisationsreglements.
Der Stiftungsrat hat sich Anfang Februar zur letzten
Sitzung der Mandatsperiode 2006–2010 getroffen. Aus
Gründen der Amtszeitbeschränkung (zwei-mal vier
Jahre) beziehungsweise aus persönlichen Gründen sind
die beiden Mitglieder Luisa Walser, Vaduz, und Christel
Hassler, Schellenberg, aus dem Stiftungsrat ausgeschie-
den. Sie haben seit 2002 durch ihr engagiertes Mitwirken
im Stiftungsrat viel zur Entwicklung und zum Wohl des
Liechtensteinischen Landesmuseums beigetragen. Der
Stiftungsrat und die Museumsleitung bedanken sich da-
für ganz herzlich.
Im April hat die Regierung für die Mandatsperiode
2010–2014 zwei neue Mitglieder gewählt. Der Stiftungs-
rat setzt sich neu wie folgt zusammen:
– Irene Lingg-Beck, Planken (Präsidentin, bisher)
– Eva-Maria Bechter, Triesen (bisher)
– Mario F. Broggi, Triesen (bisher)
– Christa Eberle, Triesenberg (bisher)
– Michael Goop, Vaduz (bisher)
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158 Liechtensteinisches Landesmuseum: Tätigkeitsbericht 2010
Schenkungen und Ankäufe im Jahr 2010: Spätgotisches Altartryptichon, um 1500 (oben), Ansicht von Vaduz des Malers Rudolf von Alt, 1867,
sowie Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Schaan, gemalt von Anton Ender, 1938 (unten).
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159Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 110, 2011
Dieser Jahresbericht wurde an der Sitzung des Stiftungs-
rates vom 9. März 2011 verabschiedet.
Bildnachweis
Sven Beham, Liechtensteinisches Landesmuseum
Anschrift
Liechtensteinisches Landesmuseum, Postfach 1216,
FL-9490 Vaduz
Dank
Der Dank des Stiftungsrates geht als erstes an den schei-
denden Direktor des Landesmuseums, lic. phil. Norbert
W. Hasler. Er hat, neben allen anderen Tätigkeiten für
das Landesmuseum, als Projektleiter mit viel Engage-
ment, viel Enthusiasmus und grosser Professionalität die
herausragenden Sonderausstellungen betreut.
Der Stiftungsrat weiss um die wertvolle Arbeit aller
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inklusive jener des
Amtes für Wald, Natur und Landschaft und der Archäologie.
Ihnen allen dankt der Stiftungsrat für ihr Engagement
und für ihre Unterstützung. Sie helfen entscheidend mit,
das Landesmuseum als Bijou im Museumsbereich zu
positionieren.
Besucherstatistik
Landesmuseum, Postmuseum und Wohnmuseum zähl-
ten im Berichtsjahr 30‘649 Eintritte. Im Vorjahr waren
es 22‘530 Besucherinnen und Besucher gewesen. Das
bedeutet ein Plus von 36 Prozent.
Am Familientag, der am 16. Mai 2010 durchgeführt
wurde, besuchten 670 Erwachsene und 290 Kinder das
Landes- und das Postmuseum. Am Staatsfeiertag, dem
15. August 2010, nutzten 2‘748 Personen die Möglichkeit
des freien Eintritts in die beiden Museem. 315 Personen
besuchten das Landes- und das Postmuseum anlässlich
der Langen Nacht der Museen, die am 2. Oktober 2010
in Zusammenarbeit mit dem ORF angeboten wurde. Aus
Anlass des Römer-Tags vom 29. Dezember 2010 kamen
119 Personen in das Landesmuseum.
Von den rund 30‘000 Besucherinnen und Besuchern
kamen 32,7 Prozent aus Liechtenstein, 11,4 Prozent aus
der Schweiz, 9,0 Prozent aus Deutschland, 5,7 Prozent
aus Österreich, 8,3 Prozent aus anderen europäischen
Ländern und 32,9 Prozent aus dem übrigen Ausland.
Das Landesmuseum hat insgesamt 148 (Vorjahr: 122)
Führungen für die Dauer- und Sonderausstellungen an-
geboten, die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
bestens durchgeführt wurden. Dazu kamen noch 24 Füh-
rungen des Liechtenstein Tourismus.
Irene Lingg-Beck, Präsidentin des Stiftungsrates
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