Liechtenstein
Politische Schriften
BAND 32
Herbert Wille (Hrsg.)
Verfassungs gerichts bar keit
im Fürstentum Liechten stein
75 Jahre Staatsgerichtshof
Mit Beiträgen von: Gerard Batliner, Hilmar Hoch, Wolfram Höfling,
Daniel Thürer, Herbert Wille
Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Vaduz 2001
© 2001 Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
FL-9490 Vaduz, Postfach 44
ISBN 3-7211-1048-X
Druck: Gutenberg AG, Schaan
Satz: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein : 75 Jahre
Staats gerichtshof / Herbert Wille (Hrsg.). Mit Beitr. von: Gerard
Batliner . . . – Vaduz : Verl. der Liechtensteinischen Akad. Ges., 2001
(Liechtenstein, Politische Schriften ; Bd. 32)
ISBN 3-7211-1048-X
Vorwort des Herausgebers
Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des liechtensteinischen Staats ge -
richts hofes veranstaltete das Liechtenstein-Institut am 15. Dezember
2000 eine akademische Feier, in deren Mittelpunkt die liechtensteinische
Verfassungsgerichtsbarkeit stand, wie sie in der geltenden Verfassung
1921 vorgegeben, im Gesetz vom 5. November 1925 über den Staatsge -
richts hof ausgestaltet und vom Staatsgerichtshof als Verfassungs -
gerichts hof in seiner Rechtsprechung umgesetzt worden ist.
Die Institution des Staatsgerichtshofes gehört neben den demokra-
tischen Einrichtungen zu dem auffallend Neuen der Verfassung von
1921. Der Staatsgerichtshof ist eingerichtet worden zum Schutz der ver-
fassungsmässig gewährleisteten Rechte, zur Entscheidung von Kompe -
tenz konflikten zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden und
als Disziplinargerichtshof für die Mitglieder der Regierung. In seine
Zuständigkeit fallen weiter die Prüfung der Verfassungsmässigkeit von
Gesetzen und der Verfassungs- und Gesetzmässigkeit der Regierungs -
ver ordnungen. Er entscheidet auch über die Auslegung der Verfassung,
wenn darüber Zweifel entstehen. Schliesslich fungiert er als Verwal -
tungs ge richts hof und seit 1958 auch als Wahlgerichtshof.
Die Bedeutung dieser verfassungspolitischen Grundentscheidung
für den staatlichen Zusammenhalt und die Rechte der Einzelnen wurde
schon früh erkannt, so dass der Verfassung attestiert wurde, sie habe
ihren «inneren Wert» durch diese Institution «gekrönt» (Otto Ludwig
Marxer).
75 Jahre sind ein beachtenswerter Zeitraum, über den der Staats ge -
richtshof in vielfältiger Weise gewirkt hat, und daher Grund genug, ihn
in seinem historischen Bezug und seiner staatsrechtlichen Bedeutung
darzustellen und zu würdigen. Er hat nicht nur den Grundrechten zum
Durchbruch verholfen, indem er den Ausbau eines effektiven Grund -
rechts schutzes zu einer seiner Hauptaufgaben gemacht hat. Er hat auch
5
in wesentlichem Masse zur Erhaltung und Fortentwicklung der rechts-
staatlichen Verfassungsordnung beigetragen, indem er sich als «Hüter
der Verfassung» verstand. Der Staatsgerichtshof ist und bleibt ein unent-
behrliches Element im Gefüge der staatlichen Gewalten.
Der vorliegende Band enthält die Vorträge von Herbert Wille,
Hilmar Hoch und Daniel Thürer in der Reihenfolge, wie sie gehalten
wurden. Sie sind in überarbeiteter Form wiedergegeben. Zusätzlich zu
diesen Vorträgen sind Beiträge von Wolfram Höfling und Gerard Bat li -
ner in diese Publikation aufgenommen worden, die thematisch in den
vorgegebenen Rahmen passen und ihn erweitern, indem sie die Ver fas -
sungsgerichtsbarkeit aus der Sicht der Verfassungsbeschwerde bzw. der
Austandsregeln für liechtensteinische Verfassungsrichter zur Sprache
bringen.
Als Herausgeber möchte ich den Autoren herzlich danken. Ein be-
sonderer Dank gilt Frau Eva Hasenbach, Geschäftsführerin des Liech -
ten stein-Instituts, die die Manuskripte für den Satz vorbereitet hat.
Herbert Wille
6
Inhaltsverzeichnis
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein –
Entstehung, Ausgestaltung, Bedeutung und Grenzen 9
Herbert Wille
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
des Staatsgerichtshofes 65
Hilmar Hoch
Recht – Gericht – Gerechtigkeit 88
Daniel Thürer
Der konditionierte Verfassungsstaat – Die Ausstandsregel
des Art. 7 lit. d LVG für liechtensteinische Verfassungsrichter 109
Gerard Batliner
Die Verfassungsbeschwerde als objektives und subjektives
Rechtsschutzinstitut 138
Wolfram Höfling
Abkürzungsverzeichnis 157
7
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein –
Entstehung, Ausgestaltung, Bedeutung und Grenzen*
Herbert Wille
Übersicht
Einleitung – Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit – Gesetzliche
Aus gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit – Bedeutung der Ver fas -
sungs gerichtsbarkeit – Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Leitmotive:
Mit dem Staatsgerichtshof ist eine Institution geschaffen worden, «die in
wichtigen und weittragenden Fragen das letzte Wort zu sprechen haben
wird»1.
«Dem Wunsche demokratischer Männer folgend und der Lehre der
Wissen schaft, dass es schon zum Wesen eines Rechtsstaates gehöre, hat
auch unsere neue Verfassung ihren inneren Wert gekrönt, indem sie end-
lich die Institution ‹eines Gerichtshofes des öffentlichen Rechtes› in sich
aufgenommen hat und dadurch hat sie sich auch eine wirksame Garantie
ihres Bestandes und ihrer ihrem Geiste entsprechenden Anwendung ge-
schaffen».2
9
* Der vorliegende Text beruht auf einem vom Verfasser am Liechtenstein-Institut gehal-
tenen Vortrag vom 15. Dezember 2000. Der Referatstext wurde erweitert und mit Fuss -
noten versehen.
1 Wilhelm Beck, Landtagssitzung vom 4. und 5. November 1925, LNa Nr. 88, 7. No vem -
ber 1925.
2 Marxer, S. 79.
I. Einleitung
1. Allgemeines
Die Verfassungsrechtsprechung wird im Fürstentum Liechtenstein vom
Staatsgerichtshof ausgeübt. Die Verfassung hat den Staatsgerichtshof in
einem eigenen Abschnitt E des VII. Hauptstücks, der «Von den Behör -
den» handelt, institutionalisiert. Zuständigkeit und Organisation sind
von der geltenden Verfassung 1921 in den Art. 104 bis 106 in den Grund -
zü gen festgelegt und im Gesetz vom 5. November 1925 über den Staats -
ge richtshof, das am 19. Dezember 1925 in Kraft getreten ist,3 näher aus-
geführt worden.
Die Verfassung hat die Verfassungsgerichtsbarkeit dem Staatsge -
richts hof zugeordnet (Art. 104 LV)4 und ihm als eine der wichtigsten
Auf gaben die Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der staatlichen Ge -
walt übertragen. Dem Staatsgerichtshof steht denn auch die Prüfung der
Entscheidungen des Gesetzgebers, der Gerichts- und Verwaltungs be -
hör den sowie die Entscheidung über die Auslegung von Bestimmungen
der Verfassung, wenn Zweifel bestehen (Art. 112 LV), zu.
Das System, bei dem die Verfassungsgerichtsbarkeit auch über Akte
des Gesetzgebers bei einem Verfassungsgericht konzentriert ist, wie dies
beim liechtensteinischen Staatsgerichtshof der Fall ist, wird als «öster-
reichisches Modell»5 bezeichnet. Es sieht in der Gesetzesprüfungs kom -
pe tenz des Verfassungsgerichts den «Kern der Verfassungs ge richts bar -
keit»6.
Nach 1920 und insbesondere in der neueren Zeit hat sich immer
mehr die Auffassung durchgesetzt, dass ein unabhängiges Gericht der
sicherste Garant für die Beachtung der Verfassung ist. Heute gilt eine
Ver fas sungsgerichtsbarkeit – also eine Gerichtsbarkeit in Fragen der
Ver fas sung und zum Schutz der Verfassung – in vielen Rechtsstaaten als
selbstverständlich. Teils bestehen besondere Verfassungsgerichte
(Deutsch land, Österreich, Liechtenstein), teils sind die obersten Ge -
10
Herbert Wille
3 LGBl 1925 Nr. 8; LR 173.10.
4 Vgl. Wille, Normenkontrolle, S. 71 ff.
5 Cappelletti/Ritterspach, S. 82; Korinek, Tatsachenermittlung, S. 107.
6 Korinek, Gesetzesprüfungsrecht, S. 108; vgl. auch Hiesel, S. 63.
richte zugleich als Verfassungsgerichte tätig (USA und Schweiz). Da ne -
ben gibt es auch Sonderformen.7
2. Begriffliche Vorklärungen
Die Bezeichnung «Staatsgerichtshof», wie sie die Verfassung verwendet,
ist wohl in Anlehnung an ausländische Vorbilder gewählt worden.8 Sie
steht in Verbindung mit dem Begriff «Staatsgerichtsbarkeit», der zur
Zeit der Weimarer Verfassung in der Staatspraxis geläufig war9. Man ver-
stand darunter Organstreitigkeiten und Ministeranklagen im überliefer-
ten Sinne, wie sie etwa ansatzweise in den §§ 42 und 122 der liechten-
steinischen Verfassung 1862 enthalten waren, und in den andern Staaten
des Deutschen Bundes in der Regel vor einem Gericht, das häufig die
Bezeichnung «Staatsgerichtshof» führte, ausgetragen wurden.10 Der Ver -
fas sungsentwurf von Wilhelm Beck11 übernahm diesen Ausdruck, indem
er in Art. 79 einen «Staatsgerichtshof» statuiert, der «staatsrechtliche Be -
schwerden über Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte der
Bürger, Gemeinden und Korporationen, die Verantwortlichkeit der Re -
gie rungs mitglieder und Beamten; allenfalls Anklagen des Landtags ver -
tre ters gegen die Regierung»12 zu beurteilen hat. In der Folge fand der
Staats gerichtshof als Institution Eingang in die Schlossabmachungen
vom 11./13. September 192013 und schliesslich in die Regierungsvorlage
11
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
7 Wagner, S. 280 f.
8 So der «Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich»; vgl. dazu Hoke, S. 80 ff.; für Öster-
reich den Staatsgerichtshof gemäss RGBl Nr. 101/1867; vgl. dazu Melichar, Ver fas -
sungs gerichtsbarkeit, S. 441 f.
9 Hoke, S. 80/Anm. 396; Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 8/Rdnr. 10; vgl. auch den
Titel des Referats über «Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit», das Hein -
rich Triepel vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1928 (pu-
bliziert in: VVDStRL 5, [1929]) gehalten hat.
10 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 968 ff. mit weiteren Literaturhinweisen.
11 Zu seiner Person siehe Arthur Brunhart/Rupert Quaderer, S. 103 ff.; der Verfassungs -
ent wurf von «Mitte Januar 1919» ist abgedruckt in: ONa vom 12., 16., 19., 23. und
26. Juni 1920.
12 So auch Ziffer 8 Abs. 5 des Parteiprogramms der christlich-sozialen Volkspartei, ONa
Nr. 3 vom 18. Januar 1919. Danach verlangt die Partei einen «Staatsgerichtshof zum
Schutze der verfassungsmässigen Rechte der Bürger, zur Entscheidung von Zuständig -
keits konflikten zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden und zur Beurteilung
der Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder und sonstiger Staatsangestellter».
13 Siehe Ziff. I/4, abgedruckt in: Die Schlossabmachungen, S. 188 und 191.
zur Verfassung 192114, die (Landesverweser) Josef Peer15 nach den Vor -
ga ben der Schlossabmachungen verfasst hatte.
Josef Peer hat dem Staatsgerichtshof zusätzlich noch die Ver wal -
tungs gerichtsbarkeit für bestimmte Rechtsgebiete übertragen, die in all-
gemeiner Art in Art. 97 der Verfassung 1921 der Verwaltungs be schwer -
de instanz zugeordnet ist, so dass der Staatsgerichtshof in der End fassung
auch die Funktion eines besonderen Verwaltungs ge richts hofes über-
nommen hat. Von einem Staatsgerichtshof als Verwaltungs ge richtshof
war weder im Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck noch in den
Schloss abmachungen die Rede. Das Gesetz vom 5. November 1925 über
den Staatsgerichtshof hat dem Staatsgerichtshof als Verwaltungsge richts -
hof neben den in Art. 104 Abs. 2 der Verfassung 1921 genannten Be -
reichen, wonach er als Verwaltungsgerichtshof über «Klagen des Land -
tages auf Entlassung oder Schadenersatzpflicht der Mitglieder und
Beamten der Regierung wegen behaupteter Pflichtverletzungen»16 ent-
scheidet, noch weitere «Verwaltungsstreitsachen»17 von besonderer
Rele vanz zugewiesen. Im Kommissionsbericht zum Gesetzesentwurf
über den Staatsgerichtshof wird zu dieser «Sonderverwaltungsgerichts -
bar keit»18 des Staatsgerichtshofes wie folgt Stellung bezogen: Er habe
12
Herbert Wille
14 § 103, LLA Verfassung 1921/963.
15 Zu seiner Person siehe Kremzow, S. 53 ff.
16 In der heute geltenden Fassung von Art. 104 Abs. 2 LV ist, nachdem die Verantwort -
lich keit der Behörden, Beamten und Staatsangestellten neu geregelt worden ist, nur
mehr die Rede davon, dass der Staatsgerichtshof auch als Verwaltungsgerichtshof fun-
giere. Siehe dazu LGBl 1964 Nr. 10 und LGBl 1966 Nr. 24 sowie das Gutachten von
Dietrich Schindler vom 20. September 1963 zu Fragen der Delegation von Verwal -
tungs aufgaben und der Verantwortlichkeit der Behörden, Beamten und des Staates,
S. 7 ff. und den Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag über die Erlassung
eines Verfassungsgesetzes betreffend die Abänderung der Verfassung vom 5. Oktober
1921, LLA RF 292/72/10 und RF 296/72/24.
17 Art. 55, LGBl 1925 Nr. 5; LR 173.10. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des Staats ge -
richts hofes wird nach und nach abgebaut. Frühere, dem Staatsgerichtshof als Ver wal -
tungsgerichtshof zugewiesene Verwaltungsstreitsachen werden heute der Verwal tungs -
be schwerdeinstanz übertragen. Siehe z.B. in Steuersachen Art. 25, LGBl 1998
Nr. 218.
18 Ritter, S. 90, bezeichnet die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeitsregelung zwischen
der Verwaltungsbeschwerdeinstanz und dem Staatsgerichtshof einen «sonderbaren
Dua lismus». Vgl. auch Sprenger, S. 358 ff. Vgl. für Österreich Art. 144 Abs. 1 B-VG,
der nach Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger, Öster-
reichisches Staatsrecht, Bd. 2, Wien/New York 1998, S. 282/Rdnr. 38.002 und
38.003-01, beim Verfassungsgerichtshof eine zum Verwaltungsgerichtshof konkurrie-
rende «Son derverwaltungsgerichtsbarkeit» eingerichtet hat.
«insbesondere auch als Verwaltungsgerichtshof in Verwaltungsstreit -
sachen zu amtieren. Was als Verwaltungsstreitsache anzusehen ist, sagt
die Verfassung nicht näher und hat das Gesetz im einzelnen Falle zu be-
stimmen. Insoweit also der Staatsgerichtshof als Verwaltungsgerichtshof
zur Entscheidung in Verwaltungsstreitsachen neben der Verwaltungsbe -
schwer de instanz zuständig ist, bestimmt sich seine Zuständigkeit nach
«speziellen Bestimmungen (Enumerations-Methode)».19 Als Verwal -
tungs gerichtshof fungiert demnach der Staatsgerichtshof neben der Ver -
wal tungsbeschwerdeinstanz nur in den vom Gesetz ausdrücklich ge-
nannten Fällen.20
1958 wird noch zum Schutz des demokratischen Prinzips dem
Staats gerichtshof als zusätzliche Aufgabe die Wahlgerichtsbarkeit zuge-
sprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt entschied der Landtag über Wahlbe -
schwerden.21
Mit der Zeit ging man unter Bezugnahme auf die österreichische
Sprachweise mehr und mehr zum Ausdruck «Verfassungsgerichts bar -
keit» über.22 Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von
1920 verwendete aus Gründen der Abgrenzung zum Reichsgericht23 und
«zur Betonung seines Ranges» (Karl Renner) in den Art. 137 ff. den Ter -
mi nus «Verfassungsgerichtshof».24 Zuvor war schon mit Gesetz vom
25. Ja nuar 1919 der deutschösterreichische Verfassungsgerichtshof er-
richtet worden.
Die «Verfassungsgerichtsbarkeit» wird heute in Lehre und Recht -
spre chung trotz der Vielfalt der einem Verfassungsgericht übertragenen
Kompetenzen und der Unterschiedlichkeit der einzelnen verfassungs-
rechtlichen Verfahren25 als «verselbständigte Jurisdiktion über Verfas -
sungs fragen»26 verstanden. Es ist auch verschiedentlich die Rede von
13
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
19 Der «Kommissions-Bericht» wurde von Wilhelm Beck verfasst und ist undatiert.
20 Vgl. dazu Art. 97 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 2 LV. Der «Kommissions-Bericht zum
Geset zent wurf über den Staatsgerichtshof», S. 1, charakterisiert die Ver waltungs be -
schwer deinstanz als ein «Verwaltungsgericht» mit einer «generellen Zuständigkeit
(Generalklausel)».
21 LGBl 1958 Nr. 1; vgl. auch LGBl 1964 Nr. 10. Zu den Hintergründen dieser Ver fas -
sungs änderung siehe Martin Batliner, S. 200/Anm. 11.
22 So Heinrich Triepel (Anm. 9).
23 Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichtes, RGBl 1867/143.
24 Vgl. Herbert Haller, S. 41 und 69.
25 Aus diesem Grund hegt Korinek, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 21 f., Skepsis gegen -
über einem einheitlichen Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit.
26 Friesenhahn, S. 7.
einer «Rechtsprechung unmittelbar in Verfassungssachen».27 Charak te -
ris tisch für das Verfahren vor einem Verfassungsgericht ist, dass das
Verfassungsrecht den «Kern des Rechtsstreits» bzw. die «Verfassung un-
mittelbar als das zu schützende Rechtsgut» den Gegenstand des Rechts -
streits bildet.28
Im folgenden wird in kurzen Zügen die Entwicklung der liechten-
steinischen Verfassungsgerichtsbarkeit nachgezeichnet.
II. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit
1. Vorstufen der Verfassungsgerichtsbarkeit
a) «Ministeranklage»
Im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts war man der Auffassung,
dass der richtige Weg gegenüber einer Verfassungsverletzung seitens der
Regierung das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit sei. In den mei-
sten Staaten des Deutschen Bundes blieb denn auch die Verfassungs ge -
richts barkeit bzw. Staatsgerichtsbarkeit auf die Ministeranklage be-
schränkt, indem zur Entscheidung besondere Staatsgerichtshöfe oder ein
höchstes Gericht berufen waren.29 In der Konstitutionellen Verfassung
des Fürstentums Liechtenstein von 1862 sind die «Anklage wegen Ver -
fassungs- und Gesetzesverletzungen der verantwortlichen Staatsdiener»
(§ 40 Bst. d) bzw. die «Beschwerden gegen Staatsdiener wegen Ver let -
zung der Verfassung» (§ 42) lediglich als Anträge des Landtages an den
Landesfürsten formuliert und zugestanden worden und sind in dieser
Ausgestaltung ohne praktische Bedeutung geblieben. Dieses Institut ist
nicht mehr als eine blosse «Anzeige»30 an den Fürsten zu werten und
kann nicht als eine Form der Verfassungsgerichtsbarkeit verstanden wer-
den, da die «Abstellung», d.h. die Stattgebung der Beschwerde allein in
der Entscheidung des Landesfürsten lag. Wenn der Beschwerde nicht
14
Herbert Wille
27 Eichenberger, S. 437; vgl. auch Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 8/Rdnr. 9.
28 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 938.
29 So Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, S. 32; Friesenhahn,
S. 14 und Wintrich/Lechner, S. 650.
30 So Press, S. 93.
Folge gegeben wurde, war dem Landtag das «Ergebnis der Untersu -
chung» zu eröffnen (§ 42). Der Landtag konnte es lediglich zur Kenntnis
nehmen, musste sich also mit der Information über den Ausgang des
Beschwerdeverfahrens abfinden. Diese Regelung erklärt sich aus dem
Umstand, dass nach wie vor alle Rechte der Staatsgewalt im Fürsten als
Staatsoberhaupt «vereinigt» sind (§ 2), die Regierungsgewalt in seiner
Hand gelegen ist und die verantwortlichen Staatsdiener von ihm ernannt
werden (§ 27). Das Regime der konstitutionellen Monarchie schloss es
aus, dass ein Gericht einem von der Autorität des Fürsten getragenen
Gesetz die Anwendung wegen Verstosses gegen die Verfassung versagt
hätte.31 Eine gerichtliche Prüfung und Feststellung der Verfassungs mäs -
sig keit von Akten der «Staatsdiener» des Fürsten war auch aus Sicht der
Souveränität des Monarchen unannehmbar, weil sie einen Verstoss gegen
das monarchische Prinzip bedeutet hätte, von dem die Verfassung 1862
ausgeht.32 Ein solches Vorgehen hätte die Gerichtsbarkeit über den
Fürsten gestellt, in dessen Auftrag sie ausgeübt wurde (§ 33).33 Die Ver -
fas sungs gerichtsbarkeit hat unter einem solchen Verfassungsverständnis,
das nach wie vor dem monarchischen Prinzip anhängt, in einer Staats -
ver fassung noch keinen Platz.
b) Bundesschiedsgericht
Das Fürstentum Liechtenstein war Mitglied des Deutschen Bundes. Mit
Bundesbeschluss vom 30. Oktober 1834 wurden die Verfassungsstreitig -
kei ten zwischen der Landesregierung und den Landständen einem Bun -
des schiedsgericht übertragen. Die Konstitutionelle Verfassung von 1862
hat ihm diese Verfassungsstreitigkeiten zur Entscheidung übertragen.
Eine eigene Einrichtung des Verfassungsschutzes kannte sie wie zuvor
auch die Landständische Verfassung von 1818 nicht.
15
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
31 So Friesenhahn, S. 12.
32 § 2 lautete: «Der Landesfürst ist Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der
Staatsgewalt und übt sie unter den in gegenwärtiger Verfassungsurkunde festgesetzten
Bestimmungen aus (1). Seine Person ist heilig und unverletzlich (2)». Zum Gerichts -
wesen der damaligen Zeit siehe Ospelt, S. 239 ff.
33 Vgl. auch Fricke, S. 68 ff.
Das Bundesschiedsgericht war ein echtes Gericht. Seine Ent schei -
dungen hatte es im Auftrag und Namen des Bundes zu fällen. Die Ent -
scheidung, die es mit Mehrheit fällte, besass die Kraft und Wirkung ei-
nes austrägalgerichtlichen Erkenntnisses; sie wurde notfalls nach der
bundesgerichtlichen Exekutionsordnung vollstreckt.34 Eine solche Rege -
lung der schiedsrichterlichen Entscheidung erklärt sich aus dem
Charakter des Bundes als eines «völkerrechtlichen Vereins»35.
Wenn in der Errichtung des Bundesschiedsgerichts und der damit
verbundenen Verfassungsklage zur Beilegung von Verfassungsstrei -
tigkei ten innerhalb eines Gliedstaates der «Ursprung» der modernen
Ver fas sungs gerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne erblickt wird,36 trifft
dies auf die Streiterledigung nach § 122 der Konstitutionellen Verfassung
von 1862, dem Vorläufer von Art. 112 der Verfassung 1921, nicht zu.
Denn diese Bestimmung ist so angelegt, dass sie im Streitfall nicht zum
Tragen kommt, was von seiten des Fürsten sicher so gewollt war. Es
heisst darin nur, dass bei Zweifeln über Inhalt und Sinn einzelner Be -
stim mungen der Verfassung das Bundesschiedsgericht des Deutschen
Bundes ange rufen werden soll, damit dieses eine verbindliche Ent schei -
dung treffe.
Im Rahmen dieses Verfahrens ging es zwar um eine Art von «insti-
tutioneller Sicherung des Verfassungsrechts»37, man könnte auch sagen,
um die «Gewähr der Verfassung»38, wie dies das Neunte Hauptstück der
Konstitutionellen Verfassung 1862, dem § 122 zugeordnet ist, zum Aus -
druck bringt. Darin geht es um die inhaltliche Klärung von Verfassungs -
vor schriften aus Anlass von Auslegungsstreitigkeiten zwischen Landtag
und Regierung des Landes. Die Regierung war aber nichts anderes als
die «Dienerin» des Fürsten. Auffallend ist nämlich, dass ein solches Ver -
fah ren nicht zwingend vorgeschrieben war. Darauf deutet die Soll-
Vorschrift des § 122 hin. Hätte man sich für eine wirksame Regelung
aus gesprochen, hätte dies bedeutet, dass sich der Landesfürst voll unter
16
Herbert Wille
34 So Huber, S. 624.
35 So Wintrich/Lechner, S. 653.
36 So Schmidt, S. 81. Er weist allerdings darauf hin, dass sich die Errichtung des Bun des -
schiedsgerichts als ein «völliger Fehlschlag» erwiesen habe, da das Gericht in keinem
einzigen Fall tätig geworden sei.
37 Schmidt, S. 81.
38 Das Neunte Hauptstück der Verfassung trägt den Titel «Von der Gewähr der Ver fas -
sung».
die Verfassung gestellt hätte. In der Folge wurde denn auch nie beim
Bundesschiedsgericht eine Entscheidung «eingeholt». Diese Tatsache hat
neben den erwähnten staatspolitischen Gründen sicher auch damit zu
tun, dass zum einen das Bundesschiedsgericht nur bis 1866, der Auf lö -
sung des Deutschen Bundes, Bestand hatte und zum andern der Landtag
in der Verfassung eine gegenüber dem Monarchen und seiner von ihm
bestimmten Regierung eine realpolitisch gesehen eher schwache Position
ein nahm.39 Die positiv gestaltende Macht im Staate lag nach wie vor
beim Landesfürsten und seiner Exekutive,40 auch wenn die Ver fas sungs -
lage ein anderes Bild der Machtverteilung vermittelt, nämlich eine
«Rechts verschiebung» zugunsten des Parlamentes. Zu dieser «Um deu -
tung» trug im Wesentlichen die konstitutionelle Doktrin bei, die nach
Hans Kelsen41 im «Widerspruch zur Rechtswirklichkeit der Ver fas -
sung»42 stand. Sie habe unter dem Vorwand des monarchischen Prinzips
den Monarchen als den einzigen oder eigentlichen Faktor der Gesetz ge -
bung ausgegeben und die Funktion des Parlaments als eine «mehr oder
weniger nebensächliche, minderwertige, unwesentliche Zustimmung»
herabgemindert. Damit habe sie den der «Machtstellung der Monarchien
gefährlichen Sachverhalt», wie er auch in der Konstitutionellen Ver fas -
sung des Fürstentums Liechtenstein angelegt war, verschleiert.
Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit sind vor diesem Hin ter -
grund in der Verfassungsanordnung 1862 nicht auszumachen, auch nicht
17
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
39 Dem Landtag steht kein Recht zur Selbstversammlung zu. Der Landesfürst allein hat
das Recht, den ordentlichen sowohl als den ausserordentlichen Landtag zu berufen,
solchen zu schliessen und aus erheblichen, der Versammlung jedesmal mitzuteilenden
Gründen auf drei Monate zu vertagen oder aufzulösen (§ 90 Verfassung 1862). Der
Vorsitzende des Landtages und sein Stellvertreter bedürfen der Bestätigung des Lan des -
fürsten (§ 97). Drei von den 15 Landtags-Abgeordneten werden vom Fürsten aus der
im Fürstentum wahlfähigen männlichen Bevölkerung ernannt (§ 55). Dem Landes fürs -
ten ist auch ein absolutes Vetorecht gegen Gesetzesbeschlüsse vorbehalten. Die Domi -
nanz der Monarchie bleibt so jedenfalls gewahrt. Demgegenüber ist aber auch nicht zu
übersehen, dass die Position des Landtages gestärkt wurde. Batliner, Einführung, S. 35,
zählt seine Rechte als «Errungenschaften der Konstitutionellen Verfassung 1862» auf.
Die Bestimmung des § 2 Abs. 1 der Verfassung 1862 (siehe den Wortlaut in Anm. 32)
steht nach seinen Worten allerdings «im Kontrast» zu den Rechten des Landtages, der
demzufolge an der Staatsgewalt nur in begrenztem Masse partizipiert.
40 Aus § 2 der Verfassung 1862 folgt, dass Regierung und vollziehende Gewalt dem Lan -
des fürsten zustand. Die monarchische Regierung war nicht auf das Vertrauen des Land -
tages angewiesen. Vgl. etwa die §§ 2, 24 Abs. 2, 27, 28 und 38 Abs. 1.
41 Kelsen, S. 34.
42 Siehe für Liechtenstein die Zusammenfassung der Verfassungslage von 1862 bei Bat -
liner, Einführung, S. 34 f.
in Bezug auf den § 122 der Konstitutionellen Verfassung, da von vorn-
herein davon ausgegangen werden musste, dass diese Regelung nie zum
Tragen kam und ihr daher jegliche Wirkung abging. Die Verfassungs -
gerichtsbarkeit bestand für diese Zeitepoche nur dem Anschein nach.
2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsreform
a) Postulate und Verhandlungen
aa) Reformkräfte und monarchisches Staatswesen
Mit der Entstehung politischer Parteien nach 1914 kam der Ruf nach Re -
formen des monarchischen Staatswesens. Die christlich-soziale Volks -
par tei, in der die Oppositions-und Reformkräfte versammelt waren und
zu Wort kamen, forderte eine «Demokratisierung» der Monarchie. Sie
macht veränderte «Zeitverhältnisse» geltend, die nach einer «Neuorien -
tie rung» und damit nach einer grundlegenden Änderung, d.h. nach einer
«Total revision» der Verfassung verlangen.43 In den Oberrheinischen
Nach richten vom 2. Februar 191844, dem Sprachrohr der christlich-so-
zialen Volkspartei, wird eine Lageanalyse vorgenommen, die zu folgen-
der Schlussfolgerung kommt: «Die Zeiten haben sich geändert und die
Völker mit ihnen. Auch wir sind nicht mehr das gleiche Liechtenstein
wie anno 1862. Unsere geistigen und materiellen Güter haben sich ver-
vielfacht; die Aufgaben des Staates sind grösser geworden und rufen
nach einer stärkeren Anteilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften
. . . ».45 Es wird das monarchische Staatsgebilde, wie es in der Kon -
stitutio nel len Verfassung 1862 zutage tritt, hinterfragt und als nicht mehr
«zeitgemäss» betrachtet. In ihrem Parteiprogramm46 setzt sich die christ-
lich-soziale Volkspartei mit ganzer Kraft für eine Verfassungs- und
18
Herbert Wille
43 Zur Entstehung der Parteien und der Einführung des direkten Wahlrechts siehe Qua -
de rer, Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 110 ff. und Wille, Regierung und
Parteien, S. 61 ff.; ders., Landtag und Wahlrecht, S. 61 ff.
44 Nr. 5 «Unser neues Wahlrecht».
45 Vgl. zu den Verfassungspositionen der Parteien Wille, Monarchie und Demokratie,
S. 160 ff. und ders., Regierung und Parteien, S. 69 ff.
46 Es ist in den ONa Nr. 3 vom 18. Januar 1919 und in: Die Schlossabmachungen vom
Sep tember 1920, S. 148 ff., publiziert.
Verwal tungs politik ein, die ein «Volksfürstentum» im Sinne der Worte:
«Die Demokratie im Rahmen der Monarchie» und den «Ausbau der
Volks rechte» vorsieht.47 Sie postuliert einen «Staatsgerichtshof zum
Schutze der verfassungsmässigen Rechte der Bürger» und tritt dafür ein,
dass «die gesamte Verwaltung nach dem Grundsatze des Rechtsstaates
geführt wird». Unter diesen Vorzeichen ist die monarchistische Staats -
idee in der Ausprägung der Konstitutionellen Verfassung 1862 nicht
mehr tragfähig. Sie lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Das mussten
auch die konservativen politischen Kräfte anerkennen und akzeptieren.
Denn dem «im Zuge der Zeit liegenden demokratischen Geiste»48 konn-
ten sich auch die konservativen, der Tradition und Monarchie verpflich-
teten, politischen Kräfte nicht verschliessen.
bb) Rechtsschutz und Normenkontrolle
Nach dem Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck und den Vorstel lun -
gen der christlich-sozialen Volkspartei soll der Staatsgerichtshof auch
zu ständig sein, «staatsrechtliche Beschwerden über Verletzung verfas-
sungsmässig garantierter Rechte der Bürger» zu entscheiden.49 Die
Verfassungsgerichtsbarkeit wird in den Schlossabmachungen vom
11./13. September 1920 um die Normenkontrolle erweitert. Zur Kom pe -
tenz des Staatsgerichtshofes soll auch die «Prüfung der Verfassungs mäs -
sig keit von Gesetzen» gehören.50 Josef Peer dehnte in der von ihm aus-
gearbeiteten Regierungsvorlage den Bereich der Normenkontrolle in der
Weise aus, dass sie nicht nur die Prüfung der Verfassungsmässigkeit von
Gesetzen, sondern auch die Prüfung der Gesetzmässigkeit der Regie -
19
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
47 Siehe auch Art. 1 des Verfassungsentwurfs von Wilhelm Beck von «Mitte Januar 1919»,
abgedruckt in: ONa Nr. 47 vom 12. Juni, wonach das Fürstentum Liechtenstein in sei-
ner Vereinigung der beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg eine «unteilbare, un-
veräusserliche, souveräne demokratische Monarchie auf parlamentarischer Grundlage»
bildet. Weitere Bestimmungen dieses Verfassungsentwurfs finden sich in den Ausgaben
Nr. 48 vom 16. Juni, Nr. 49 vom 19. Juni, Nr. 50 vom 23. Juni und Nr. 51 vom 26. Juni
1920.
48 Formulierung von Albert Schädler, Die Tätigkeit des liechtensteinischen Landtages in
der Periode 1912 bis 1919, in: Jb Bd. 21, Feldkirch 1921, S. 5 (8).
49 Art. 79; siehe ONa Nr. 50 vom 23. Juni 1920; Ziff. 8 Abs. 3 des Programms der christ-
lich-sozialen Volkspartei; siehe ONa Nr. 3 vom 18. Januar 1919.
50 So «Die Schlossabmachungen», S. 191.
rungs verordnungen erfasst und fügte bei, dass der Staatsgerichtshof in
«diesen Angelegenheiten» kassatorisch zu urteilen habe.51 Er baute die
Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes noch weiter aus, indem er aus der
Konstitutionellen Verfassung 1862 die Bestimmung des § 122 übernahm,
wonach der Staatsgerichtshof über die Auslegung von Verfassungs zwei -
feln entscheidet, wenn sie nicht durch Übereinkunft zwischen der Regie -
rung und dem Landtag beseitigt werden können. Er ordnete sie in abge -
änderter Form dem IX. Hauptstück der Verfassung 1921, das die Über-
schrift «Verfassungsgewähr und Schlussbestimmungen» trägt,52 zu, wie
dies schon die Konstitutionelle Verfassung 1862 getan hatte. Ent spre -
chendes findet sich im Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck nicht.53
cc) Verfassungsgerichtsbarkeit als Gebot der Rechtsstaatlichkeit
Wilhelm Beck fordert in seinem Verfassungsentwurf, dass «Verord nun -
gen jeder Art nur vom Regierungskollegium im Rahmen der Gesetze
erlassen werden dürfen und nie dürfen Massregeln zum Vollzuge eines
Gesetzes andere oder neue Bestimmungen zur Hauptsache enthalten.
Die gesamte Landesverwaltung überhaupt wie das freie Ermessen aller
Verwaltungsbehörden hat sich innert den Schranken der Verfassung und
Gesetze zu bewegen und es dürfen die Verwaltungsbehörden insbeson-
dere niemals einer gesetzlichen Bestimmung zuwider handeln und in die
Freiheit der Bürger und deren Eigentum nur insoweit eingreifen, als die
Gesetze dieses zulassen».54 Im Kommissionsbericht zum Gesetz über die
allgemeine Landesverwaltungspflege55 kann er festhalten, dass die neue
20
Herbert Wille
51 § 103 Abs. 2 der Regierungsvorlage, LLA Verfassung 1921/963. Aus einem Protokoll
vom 14. September 1920 zu den Schlossverhandlungen geht hervor, dass die Vertreter
der christlich-sozialen Volkspartei, Anton Walser-Kirchthaler, Wilhelm Beck und
Gustav Schädler zur Kompetenz des Staatsgerichtshofes vorgebracht hätten, dass «die
Erkenntnisse dieses Gerichtshofes über präjudicielle Verfassungsfragen kassatorisch zu
sein haben». Dazu ist vermerkt, dass Josef Peer diese Auffassung geteilt habe.
52 Siehe § 111 Regierungsvorlage, der zum späteren Art. 112 LV wurde.
53 Vgl. dazu das VIII. Hauptstück seines Verfassungsentwurfs (ONa Nr. 51 vom 26. Juni
1920), das ebenfalls mit «Verfassungsgewähr und Schlussbestimmungen» betitelt ist
und einen einzigen Artikel (83) enthält; zur Auslegung und Bedeutung von Art. 112 LV
siehe Batliner, Aktuelle Fragen, S. 78 f. und ders., Einführung, S. 99 f.
54 So Art. 66 Abs. 2 und 3 des Verfassungsentwurfs, ONa Nr. 50 vom 23. Juni 1920.
55 Gesetz vom 21. April 1922; LGBl 1922 Nr. 24; LR 172.020. Der Kommissionsbericht
ist undatiert. Der Bericht zum Gesetzesentwurf über den Staatsgerichtshof, der eben-
Verfassung den «Geist des Rechtsstaates» erkennen lasse. Josef Peer hat
diesem Anliegen in Art. 92 der Verfassung 1921 entsprochen. Wie er sel-
ber sagt, habe er den Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck bei der Aus -
arbeitung der Regierungsvorlage herangezogen.56 Nach den Vorstel lun -
gen von Wilhelm Beck muss die gesamte Verwaltung nach Rechts grund -
sät zen geführt werden. Der Einzelne sei nicht nur ein der Ver waltungs be -
hör de Unterworfener, ihr Untertan, Objekt der Verwal tungs tätigkeit,
son dern sei Untertan des Gesetzes und habe zugleich derselben Verwal -
tung gegenüber subjektive Rechte und «anerkannte rechtlich geschützte
In teressen».57 Dieser Grundsatz des Rechtsstaates sei an die Stelle des
Grunds atzes des Polizeistaates getreten, wonach der Un ter tan nur
Pflichten aber keine Rechte gegenüber der Behörde gehabt habe. Wie es
dem «Geist des Rechtsstaates»58 entspricht, bedarf der Ein zelne auch des
individuellen Rechtsschutzes, der ihm in Form der «staats rechtlichen
Beschwerde», wie sie Wilhelm Beck in seinem Ver fas sungs entwurf
postuliert und wie sie zum Gegenstand der Schlossab ma chun gen ge -
macht wurde und wie sie schliesslich Eingang in Art. 104 der Ver fas sung
1921 gefunden und in der Form der Verfassungsbeschwerde in Art. 23
Abs. 1 des Staatsgerichtshofgesetzes 1925 ihre Ausprägung erhalten hat.
Legte Wilhelm Beck in der Verfassungsdiskussion besonderen Wert
auf die Stärkung des individuellen Rechtsschutzes, setzte Josef Peer
einen anderen Akzent und betonte mit der Normenkontrolle, die seine
Hand schrift trägt,59 den Schutz der Verfassung, wie er ihn im österreichi -
21
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
falls undatiert ist, verweist auf den vorgenannten Bericht und hält fest, dass sich aus den
einzelnen Bestimmungen der Verfassung ergebe, dass auch die Verwaltung gemäss den
Grundsätzen eines Rechtsstaates geführt werden solle. Zu diesem Zwecke sei bereits
früher das Gesetz über die allgemeine Landesverwaltungspflege vom Jahre 1922 ge-
schaffen und besonders die Verwaltungsbeschwerdeinstanz geordnet worden.
56 So in seinem Bericht «Die Revision der Verfassung im Fürstentum Liechtenstein» vom
18. April 1921 an Fürstlichen Rat Josef Ospelt, S. 22 f. Hier gibt Josef Peer zu verste-
hen, dass er «bei Abfassung der Regierungsvorlage» auch den ihm vom Abgeordneten
Dr. Beck zur Verfügung gestellten, von ihm ausgearbeiteten Entwurf einer Verfassung
sowie eine ihm gleichfalls von ihm überlassene «Zusammenstellung der schweizeri-
schen Bundes- und Kantonalverfassung», endlich auch die österreichische Verfassung,
soweit dieselbe «für Liechtenstein verwendbare und zweckmässige Bestimmungen»
enthalte, benutzt habe. Vgl. z.B. zu Art. 92 Abs. 2 LV Art. 18 Abs. 1 und 2 öst. B-VG.
57 Kommissionsbericht, S. 1. So auch die Formulierung in Art. 92 Abs. 1 LVG.
58 Der Kommissionsbericht, S. 1, verweist beispielhaft auf die Art. 27, 90 und 92 der Ver -
fas sung. Zum Legalitätsprinzip und dessen gerichtlichen Schutz siehe Batliner, Aktuelle
Fragen, S. 92 f.
59 Vgl. Wille, Normenkontrolle, S. 54 ff.
schen Bundes-Verfassungsgesetz garantiert sah. Dass bei Wilhelm Beck
die Sicherung der Grund- und Freiheitsrechte des Einzelnen im Vorder -
grund stand,60 ist als Reaktion auf den liechtensteinischen Poli zei staat zu
verstehen, den es nach seiner Überzeugung zu überwinden galt. Josef
Peer führt als sinnvolle und wirksame Ergänzung das Argument der
Sicherung der Verfassung durch ein Verfassungsgericht ins Feld. Es ist
auch eines der wichtigsten Anliegen des Rechts- und Verfassungsstaates,
dass er eine die Macht begrenzende Rechtsordnung schafft.61 Die streiti-
gen Rechtsbeziehungen zwischen den obersten Staatsorganen sollen
auch auf der Ebene des Verfassungsrechts durch ein unabhängiges Ge -
richt in einem gerichtlichen Verfahren entschieden und die ihren Macht -
be fugnissen durch das Recht gezogenen Grenzen kontrolliert werden.62
So weit der Fürst legislativ über die Notverordnung oder als Mit ge -
setzgeber neben dem Landtag auftritt, sind seine Akte durch den Staats -
ge richtshof kontrollierbar.63
b) Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und geändertes
Verfassungsverständnis
aa) Verfassung als Grundlage staatlicher Gewalt
Die Verfassungsgerichtsbarkeit setzt voraus, dass die Verfassung Grund -
lage aller staatlicher Gewalt ist. 1862 war die Verfassung noch nicht aus-
schliessliche Grundlage der monarchischen Herrschaft. Die Verfassung
stellte sich nur als eine – allerdings verbindliche – Selbstbeschränkung
der monarchischen Gewalt dar. Sie war Begrenzung und nicht aus -
schliess liche Grundlage der monarchischen Herrschaft. Der Landesfürst
vereinigte als Oberhaupt des Staates im Sinne des monarchischen
Prinzips64 in sich alle Rechte der Staatsgewalt.65 Nun soll auch das Volk
Anteil an der Staatsgewalt haben, so dass sie «von beiden nach Massgabe
22
Herbert Wille
60 Art. 79 Abs. 2 seines Verfassungsentwurfs, ONa Nr. 51 vom 26. Juni 1920, spricht von
«verfassungsmässig garantierte(n) Rechte der Bürger».
61 So Wintrich/Lechner, S. 646.
62 Vgl. Wintrich/Lechner, S. 649.
63 Zu diesem Themenkreis siehe Batliner, Aktuelle Fragen, S. 46/Rdnr. 85.
64 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. V, S. 212 f. und Huber, S. 652 ff.
65 Vgl. Batliner, Einführung, S. 35.
der Bestimmungen dieser Verfassung ausgeübt» wird (Art. 2 LV 1921).
Sie sind als Gesetzgeber an die Verfassung, die zur gemeinsamen norma-
tiven Grundlage geworden ist, gebunden.
Über die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen und die Verfassungs-
und Gesetzmässigkeit der Verordnungen der Regierung wacht und ent-
scheidet der Staatsgerichtshof (Art. 104 LV), wie er auch über Aus le -
gungs zweifel von Verfassungsbestimmungen, die nicht durch Überein-
kunft der gesetzgebenden Organe beseitigt werden können, entscheidet
(Art. 112 LV). Diese Bestimmung soll allerdings nach dem Verfassungs -
vor schlag des Fürstenhauses vom 2. Februar 2000 ersatzlos aus dem Ver -
fas sungsbestand eliminiert bzw. durch einen neuen Art. 112 ersetzt wer-
den, der einerseits das Verfahren über einen Misstrauensantrag gegen
den Landesfürsten und andererseits ein Verfahren über die Abschaffung
der Monarchie zum Gegenstand hat, da es für den Landesfürsten keine
rechtliche Bindung in Verfassungsfragen geben soll. Ein solcher Ver fas -
sungsstandpunkt bedeutet einen Rückfall in den vormaligen Konsti tu -
tionalismus der Verfassung 1862.
Um möglichst alle staatliche Gewalt der Kontrolle durch ein Ge -
richt zu unterwerfen, was noch in Lehre und Praxis der konstitutionel-
len deutschen Monarchien des 19. Jahrhunderts und auch in der Kon sti -
tu tionellen Verfassung 1862 abgelehnt wurde, wollte Josef Peer eine
Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch auf die Auslegung der
Verfassung, wenn ihr Inhalt oder Sinn zwischen «Regierung (Fürst) und
Landtag»66 streitig ist.67 Art. 112 der Verfassung 1921 beinhaltet daher
mehr als nur eine blosse Nachführung von schon bestehendem Verfas -
sungs recht (§ 122 LV von 1862). Es werden im Unterschied zur Konsti -
tu tionellen Verfassung 1862 der fürstlichen Gewalt von Verfassungs we-
gen Grenzen durch die Verfassung im Wege der Verfassungs ge richts bar -
keit gezogen. Es sollen Verfassungsstreitigkeiten mit dem andern Träger
der Staatsgewalt (Landtag/Volk) nicht im Wege eines Schieds spruchs
oder gar eines Machtspruchs des Fürsten bereinigt werden, sondern im
Wege gerichtlicher Entscheidung, die der Staatsgerichtshof zu fällen
hat.68 Es bedurfte eines von diesen Akteuren unabhängigen Kon troll me -
23
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
66 So Marxer, S. 85.
67 Vgl. auch StGH 1995/25, Gutachten vom 23. November 1998, LES 3/1999, S. 141 (148);
Batliner, Aktuelle Fragen, S. 77/Rdnr. 145.
68 Vgl. auch Wintrich/Lechner, S. 648.
chanismus, wie es auch rechtsstaatlichen Überlegungen entsprach. Es ist
daher einsichtig und kommt nicht von ungefähr, dass Josef Peer zur
«Verfassungsgewähr» diese Art der Streitregelung in Form einer höchst-
gerichtlichen Entscheidung beibehalten will.69
bb) Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz
Die Intention zur Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit folgt – wie
ausgeführt – zu einem erheblichen Teil aus dem der Verfassung zugrun-
deliegenden rechtsstaatlichen Prinzip. Entscheidend ist aber die Über-
ordnung der Verfassung, das Bedürfnis nach Kontrolle des Gesetzgebers
und eine starke Stellung des Gerichts als Verfassungsorgan.70 Der Ver -
fassungsgeber unterstrich die grundsätzliche Bedeutung dieser In sti tu -
tion dadurch, dass er den Staatsgerichtshof von der übrigen Recht spre -
chung abhob und alle die den Staatsgerichtshof betreffenden Be stim -
mungen in einem besonderen Abschnitt der Verfassung regelte. Schon
diese äussere Gliederung in der Verfassung weist neben der Kompetenz -
zu weisung darauf hin, dass der Staatsgerichtshof wohl von der ordent -
lichen Gerichtsbarkeit zu unterscheiden ist. Otto Ludwig Marxer sieht
die «Hauptfunktion» der Verfassungsgerichtsbarkeit in der «Garantie»
der Verfassung.71 Das heisst, dass die Letztentscheidungskompetenz
bzw. Letztinterpretationskompetenz dem Staatsgerichtshof als Verfas -
sungs gerichtshof zustehen soll.72
Die Höherrangigkeit der Verfassung gegenüber dem einfachen Ge -
setz ist eine notwendige Voraussetzung der Verfassungs gerichtsbarkeit.
Als richterliche Prüfung der Einhaltung fester Verfassungsschranken
oder als verfassungsrechtliche Streitschlichtung ist sie Ausdruck einer
ganz bestimmten Auffassung von der Überordnung der Verfassung und
von ihrer Juridifizierung vom Recht als Norm und von der Stellung des
Richters zum Recht, endlich von der Position der Gerichte im Staats gan -
zen.73 Die Überzeugung von der Überordnung der Verfassung über alle
24
Herbert Wille
69 So auch Batliner, Aktuelle Fragen, S. 78 f. und ders., Einführung, S. 100.
70 So Scheuner, Probleme und Verantwortungen, S. 298.
71 Marxer, S. 79, spricht davon, dass sich die Verfassung in der Institution des Staats ge -
richts hofes eine «wirksame Garantie ihres Bestandes» geschaffen habe.
72 Vgl. auch Hiesel, S. 79.
73 So Scheuner, Probleme und Verantwortungen, S. 294.
anderen Rechtsnormen, ihre Anerkennung als unverbrüchliche normati-
ve Grundordnung des Staates konnte sich im Konstitutionalismus noch
nicht durchsetzen.74
Der Verfassungsgeber tritt nun für den Vorrang der Verfassung vor
dem einfachen Gesetz ein. Dies war bisher unter dem Regime der Kon -
sti tutionellen Verfassung 1862 nicht möglich.75 Es bestand daher die
Not wendigkeit, zum Schutz der Verfassung den Staatsgerichtshof mit
um fangreichen Kompetenzen auszustatten. Der Verfassungsgeber ver-
ficht damit die Postulate des politischen Liberalismus auf staatsrecht -
lichem Gebiet.76 Josef Peer war ein Liberaler77 und damit wohl ein Ver -
fech ter des Justizstaatsgedankens. Darin stimmt er mit Wilhelm Beck
überein. So verstärkte Josef Peer in der Regierungsvorlage justizstaat -
liche Elemente in der Verfassung, wie dies am Beispiel der Prüfung der
Regierungsverordnungen auf ihre Verfassungs- und Gesetzmässigkeit
durch den Staatsgerichtshof offenkundig wird. Eine solche Vorschrift
war in den Schlossabmachungen nicht ausgehandelt worden. Sie kam
erst durch seine Initiative in die Verfassung und führte gegenüber den
Schloss abmachungen noch zu einer Verstärkung der Ver fassungs ge -
richtsbarkeit.
cc) Abkehr vom bisherigen Justizsystem
Die Entscheidung für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt
der Normenkontrolle, wie sie in den Schlossabmachungen für die Geset -
zes prüfung und in der Regierungsvorlage auch für die Verordnungs prü -
fung festgelegt wurde, bedeutet eine klare Abwendung vom bisherigen
Justizsystem. Der Staatsgerichtshof steht über dem Gesetzgeber, also
auch über dem Fürsten als Mitgesetzgeber neben dem Landtag (Volk).
Dies wäre noch unter dem Regime der Konstitutionellen Ver fassung
1862 undenkbar gewesen und hätte einen Verstoss gegen das monar chi -
sche Prinzip bedeutet.78
25
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
74 So Friesenhahn, S. 12.
75 Vgl. die bei Schmidt, S. 136/Anm. 318, angeführte Literatur.
76 So Fricke, S. 73.
77 Siehe Quaderer, Hintergrund der Verfassungsdiskussion, S. 122/Anm. 41.
78 So Fricke, S. 69.
Am stärksten kommt denn auch die Veränderung des Ver fassungs -
ge füges in allen denjenigen Kompetenzen des Staatsgerichtshofes zum
Vorschein, durch die die Gesetzgebungsorgane, d.h. die Organe des po-
litischen Handelns, Fürst, Landtag und Regierung, kontrolliert werden.
Dazu gehören namentlich alle Verfahren, die zu einer Überprüfung der
legislativen Tätigkeit in der Form der Gesetzes- und Verordnungs -
prüfung durch den Staatsgerichtshof führen. Der Verfassungsgeber sah
offensichtlich eine Notwendigkeit für eine solche weite gerichtliche
Garantie der Verfassung.79
dd) Direktdemokratische Einrichtungen und Verfassungsgerichtsbarkeit
Neu ist auch der Einbau direktdemokratischer Elemente in die Ver fas -
sungs ordnung, wie sie die Initiative und das Referendum beinhalten. Sie
sind einer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht abträglich oder schliessen sie
nicht aus. Der Verfassungsgeber hält sie jedenfalls mit der Institution der
Verfassungsgerichtsbarkeit für vereinbar. Walter Haller80 lehnt für die
Schweiz eine Einführung der abstrakten Normenkontrolle von Bundes -
ge setzen ab. Er argumentiert, dass sie sich letztlich nicht mit der Refe -
ren dumsdemokratie vertrage und zu einer erheblichen Politisie rung der
Justiz führe. Mit dem Einwand der übergeordneten Stellung des demo -
kratischen Gesetzgebers wurde in der Schweiz auch im Rahmen der
Justizreform eine Ausdehnung der konkreten Normenkontrolle auf
Bundesgesetze verhindert, so dass auch nach der neuen schweizerischen
Bundesverfassung für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwen-
denden Behörden Bundesgesetze nach wie vor massgebend sind.81
Rückschlüsse oder neue Erkenntnisse können aus der schweizeri-
schen Verfassungsdiskussion für die liechtensteinische Verfassungsord -
nung nicht gezogen werden. Sie lässt sich mit dem schweizerischen
Verfassungssystem nicht vergleichen, von dem sie in einem wesentlichen
Punkt abweicht. Ein Gesetz, gegen das das Referendum ergriffen wird,
und dem in einer Volksabstimmung zugestimmt wird, hängt nach liech-
26
Herbert Wille
79 Näheres dazu hinten S. 30 ff.
80 Haller, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 183 f.
81 Vgl. Rhinow, S. 194 ff.
tensteinischem Verfassungsrecht auch von der Sanktion des Fürsten als
Mitgesetzgeber ab (Art. 65 LV). Einen Teil der Staatsgewalt bildet der
Fürst und wird von ihm nach Massgabe der Bestimmungen der Verfas -
sung ausgeübt (Art. 2 LV). Die Staatsform wird als «konstitutionelle
Erb mo narchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage»
umschrieben. Das Fürstentum Liechtenstein ist keine der Schweize ri -
schen Eidgenossenschaft vergleichbare Demokratie. Ein (positiver)
Volks entscheid bindet den Fürsten nicht. Das Sanktionsrecht bleibt da-
von unberührt.82
Es lassen sich in der Literatur Stimmen finden, die vor dem Hinter -
grund einer Referendumsmöglichkeit für Gesetzesbeschlüsse die «Schaf -
fung eines mit einer Gesetzesprüfungskompetenz ausgestatteten Ge -
richts», wie dies in der liechtensteinischen Verfassung 1921 beim Staats -
gerichtshof der Fall ist, für eine «äusserst beachtenswerte Tat sache»83
oder eine «bemerkenswerte und durchaus nicht selbstverständliche
Regelung»84 halten.
c) Motive des Verfassungsgebers
aa) Allgemeines
Materialien, die geeignet wären, Aufschluss über die Motive des Verfas -
sungs gebers zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu geben,
sind spärlich. Ausser den Schlossabmachungen und den Landtagsakten,
die in diesem Zusammenhang zwar von Belang sind, aber kaum weiter-
führen, sind wenige vorhanden. Es sind vornehmlich Parteiprogramme
oder Stellungnahmen der Parteien, sowie Berichte und Kommentare in
den Parteizeitungen, die Eindrücke und Erkenntnisse zu vermitteln ver-
mögen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine neue Einrichtung der
Verfassung. An eine Tradition konnte nicht angeknüpft werden, so dass
auf ihr aufgebaut hätte werden können. Es gilt daher, auch die Verfas -
sungs entwürfe sprechen zu lassen. Hilfreich ist insbesondere der Blick
27
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
82 Vgl. Hoch, S. 233 ff.
83 Hiesel, S. 3.
84 Melichar, Liechtensteinische Verfassung, S. 444 f.
auf das, was sich in der Verfassung 1921 gegenüber der Konstitutionellen
Verfassung 1862 geändert hat und was an Neuem entstanden ist. Von
Interesse ist dabei zu wissen, woher die Vorstösse zu Änderungen stam-
men und was sie beinhalten und welchen Einfluss sie auf die spätere Ver -
fas sungsgebung hatten. In diesem Kontext kann die Verfassungs ge richts -
barkeit festere Konturen gewinnen. Es versteht sich, dass man auch
darauf angewiesen ist, Vergleiche mit ausländischen Regelungen anzu-
stellen, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen. Letztlich kann es
sich hier aber nur um Erklärungsversuche handeln.
bb) Verfassungsgerichtsbarkeit in Lehre und Rechtsprechung
Geht man vom damaligen Diskussionstand in der Staatsrechtslehre aus,
so war der Entscheid für die Verfassungsgerichtsbarkeit in Form der
Normenkontrolle nicht selbstverständlich. Es ist dem Einfluss von Josef
Peer und der Zustimmung von Wilhelm Beck und seiner christlich-
so zialen Volkspartei zu verdanken, dass das österreichische Modell
kopiert worden ist. Es passte zum Rechtsschutzkonzept der Reform -
kräfte, bedeutete doch die Normenkontrolle eine Verstärkung des
Rechts staats ge dankens, wie sie ihn die christlich-soziale Volkspartei auf
ihre Fahnen geschrieben hatte. Es gilt zu bedenken, dass es zur Zeit der
Verfas sungs ge bung zwei Auffassungen über die Methode gab, Strei tig -
keiten zu entscheiden, die bei der Auslegung und Anwendung der Ver -
fas sung entstehen.
Nach einer damals weit verbreiteten Ansicht ist eine solche Ent -
schei dung rein politisch und daher Sache eines politischen Organs und
nicht eines Gerichts wie des Staatsgerichtshofes. Auf diese Seite hätten
sich die konservativen Kräfte und vor allem das Fürstenhaus schlagen
können, hätten sie am monarchischen Staatsverständnis festhalten wol-
len. Für Carl Schmitt überschreitet die Verfassungsgerichtsbarkeit mit
der Normenkontrolle die Grenze der Rechtsprechung. Verfassungs ge -
richts barkeit laufe auf eine verdeckte Zuweisung politischer Entschei -
dun gen an den Richter, auf eine Politisierung der Justiz hinaus; politische
Streitfragen würden ehrlicher von politischen Instanzen entschieden.85
28
Herbert Wille
85 Vgl. Simon, S. 1258.
Bekanntlich gab es in der Weimarer Reichsverfassung keine Prü fung der
Verfassungsmässigkeit der Reichsgesetze. Nach einer anderen Ansicht
sind auch Verfassungsfragen Rechtsfragen und daher richter licher Ent -
schei dung zugänglich, teils durch die ordentlichen Gerichte, teils durch
eigens hierfür geschaffene Verfassungsgerichte. Es darf davon ausgegan-
gen werden, dass zumindest Josef Peer und Wilhelm Beck diese unter-
schiedlichen Standpunkte kannten, als sie sich in den Schloss abma -
chungen für das österreichische System entschieden.
Der Verfassungsgeber verharrte nicht bei dem Verständnis einer
Ver fassungsgerichtsbarkeit, wie es sich unter der Weimarer Verfassung
herausgebildet hatte. Dies machte im Grunde schon der Verfassungs -
vor schlag von Wilhelm Beck deutlich, wonach ein Staatsgerichtshof
zum Schutz der verfassungsmässig garantierten Rechte der Bürger
einge richtet werden sollte. Er wendet sich damit gegen die Vorstellung
der Wei ma rer Reichsverfassung, wonach die Verfassungsgerichtsbar keit
nicht der Kontrolle staatlicher Gewalt gegenüber den Bürgern und Bür -
ge rinnen dienen sollte. Wilhelm Beck wollte jedem Bürger das Recht
geben, zur Verteidigung seiner Grundrechte den Staatsgerichtshof im
Wege der staatsrechtlichen Beschwerde anrufen zu können. «Ver fas -
sungsmässig garantierte Rechte» können auch durch Akte eines Ge -
richts oder einer Verwaltungsbehörde, die sich auf ein verfassungswid-
riges Gesetz oder eine verfassungs- bzw. gesetzwidrige Verordnung
stützen, verletzt werden. Die Voraussetzungen dazu schufen die
Schloss ab ma chun gen, indem sie den Kompetenzbereich des Staatsge -
richts hofes um die Normenkontrolle ausgebaut und ihn mit der Auf -
gabe, die Grund rechte zu sichern, betraut hatten. Ein derartiges Rechts -
schutz mittel hatte sich schliesslich in Form der Verfassungsbeschwerde,
wie sie in Art. 23 des Staatsgerichtshofgesetzes 1925 formuliert wurde,
durchgesetzt.
cc) Geschichtliche Erfahrungen
Bei Wilhelm Beck erscheint die Verfassungsgerichtsbarkeit in Form der
«staatsrechtlichen Beschwerde» an den Staatsgerichtshof als klare Ab sa -
ge gegen den Polizeistaat. Dies hat mit der geschichtlichen Erfahrung zu
tun. Gegenüber dem konstitutionellen Verfassungsregime von 1862 soll
die Justiz gegen den Monarchen und die Verwaltungsspitze instrumen-
29
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
talisiert werden und auch deren Akte auf ihre Übereinstimmung mit
Verfassung und Gesetzen überprüft werden, wie dies eine Forderung der
Zeit gewesen ist. Es ist daher ein Staatsgerichtshof als entscheidende
Instanz zur Sicherung der Grundrechte der Bürger notwendig.
Die Begegnung mit dem Regime der Konstitutionellen Verfassung
1862 hatte bei Wilhelm Beck nachhaltige Spuren hinterlassen. Eine der
entscheidenden Verfassungsfragen war für ihn: Wie kann gesichert wer-
den, dass der Einzelne staatlicher Macht nicht ohne Möglichkeit der
Gegen wehr ausgeliefert ist. Es dürfte auch Josef Peer an die Erfahrungen
des Konstitutionalismus in Österreich, wie sie sich aus dem dualen Ver -
fas sungsverständnis ergeben hatten,86 bestimmend gewesen sein, so dass
er sich für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit ausgesprochen und sie
in der Regierungsvorlage umgesetzt hat.
dd) Duales Verfassungssystem
Man darf aufgrund seiner Ausbildung und Berufskarriere wohl anneh-
men, dass Josef Peer mit dem Staatsrecht des Deutschen Konstitutio na -
lis mus vertraut war. Es muss ihm daher die Anfälligkeit und Brüchigkeit
eines dualen Verfassungssystems, dem einerseits monarchische und an-
dererseits demokratische und parlamentarische Elemente unterlegt wer-
den sollen,87 wie dies eines der Postulate der christlich-sozialen Volks -
par tei gewesen ist, aufgefallen sein, so dass er nach besonderen rechts-
staatlichen Sicherungen Ausschau gehalten und sie in einer starken Ver -
fas sungs gerichtsbarkeit in Gestalt der Normenkontrolle, die auch den
Gesetzgeber erfasst, gefunden hat. Eine solche Verfassungsgerichts bar -
keit ist durch das Bestreben gekennzeichnet, auch Vorgänge des politi-
schen Bereichs, Handlungen politischer Organe in ungewöhnlich wei-
tem Masse der Kontrolle durch den Staatsgerichtshof zu unterwerfen
und damit die Postulate des Rechtsstaates auch verfahrensmässig zu rea-
30
Herbert Wille
86 Zur Entstehung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung
Öster reichs zum demokratischen Verfassungsstaat siehe Schambeck, S. 190 ff. mit wei-
teren Literaturhinweisen.
87 Batliner, Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem Band, S. 137, spricht von einem
«labilen Verfassungs sys tem». Vgl. auch Wille, Monarchie und Demokratie, S. 187 ff.
lisieren.88 Dazu kommt, dass eine Ausweitung der Verfassungs gerichts -
barkeit auch auf die Auslegung der Verfassung vonnöten war, wenn ihr
Inhalt oder Sinn zwischen Regierung (Fürst) und Landtag, den «gesetz-
gebenden Faktoren»89, streitig ist. Denn solche «obersten Verfassungs -
strei tigkeiten» sind von staatsrechtlicher Tragweite und können an die
Grundlagen des Staates rühren.90 Sie können nur durch eine neutrale,
«ausschliesslich auf das Recht der Verfassung verpflichtete Instanz»91,
wie es die Institution des Staatsgerichtshofes sein kann, mit Wirkung ge-
genüber allen (erga omnes) entschieden werden.92
Eine andere Ansicht vertrat vier Jahre später Otto Ludwig Marxer
in seiner Innsbrucker Dissertation,93 indem er vor allem die demokrati-
sche Komponente des liechtensteinischen Verfassungssystems betonte.94
Er greift auch das Problem des Verhältnisses bzw. der Grenzziehung
zwischen einem Verfassungsgericht (hier: des Staatsgerichtshofes) und
dem Gesetzgeber auf – ein Thema, das bis heute noch nichts an Aktua -
li tät eingebüsst hat.95
Die Überlegungen von Otto Ludwig Marxer gehen dahin, dass
Art. 112 der Verfassung 1921 dem Staatsgerichtshof eine ganz «eigen -
tüm liche Competenz» übertrage. Hier sei dem Staatsgerichtshof eine
Auf gabe überwiesen, die eigentlich über den «natürlichen Kreis» eines
Gerichtes, über die Aufgaben der Rechtsprechung hinausgehe. Er hätte
einen Appell an das Volk vorgezogen, um zu einer «Ausgleichung un -
31
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
88 So Knöpfle, S. 235.
89 Marxer, S. 85.
90 So Batliner, Einführung, S. 99.
91 Wahl/Rottmann, S. 340.
92 Art. 39 Abs. 1 StGHG; vgl. auch StGH-Gutachten vom 8. März 1952, nicht veröffent-
licht; darauf Bezug nehmend und bestätigend StGH 1995/25, Gutachten vom 23. No -
vem ber 1998, LES 3/1999, S. 141 (145 und 148). Vgl. im weiteren Batliner, Einführung,
S. 99 f.
93 Die Organisation der obersten Staatsorgane in Liechtenstein, 1924.
94 Ähnlich in jüngerer Zeit StGH 1986/10, Gutachten vom 6. März 1987, LES 4/1987,
S. 148, wo der Staatsgerichtshof auf den «demokratischen Charakter» der Verfassung,
der «gewollt und betont» sei, aufmerksam macht. Vgl. auch StGH 1996/29, Urteil vom
24. April 1996, LES 1/1998, S. 13 (17). Hier gibt der Staatsgerichtshof zu verstehen, dass
eine Bestimmung, welche in ihrer grundrechtseinschränkenden Konsequenz für das
Volk als Teilhaber an der gesetzgebenden Gewalt nicht nachvollziehbar sei, in einem
«demokratischen Rechtsstaat» – diese Ausdrucksweise ist aufgrund von Art. 2 LV für
die liechtensteinische Staatsordnung wohl nicht ganz zutreffend – nicht haltbar sei und
somit gegen Art. 31 LV verstosse.
95 Ausführlicher dazu hinten S. 46 ff.
überbrückbarer Gegensätze» der Meinungen zu gelangen, wobei er sich
dies in der Art vorstellt, dass der Standpunkt des Landtages und der
«Regierung (Fürst)»96 dem Volke «formuliert» zur Abstimmung vorge-
legt worden wäre, was «in hohem Masse den Ideen der Demokratie ent-
sprochen hätte»97. Er plädiert mit andern Worten für einen politischen
Entscheid, den das Volk als Schiedsrichter zu fällen gehabt hätte. Otto
Ludwig Marxer kritisiert, dass wir hier den Fall haben, dass ein Ge -
richts hof «rechtsbildende Kraft» hat, dass «unser Staatsgerichtshof» in
einzelnen Fällen durch seine «Entscheidungen» zum mindesten formell,
«allgemein verbindliche Rechtssätze»98 aufstellen könne, eine Tat sache,
die unbedingt über die «natürlichen Grenzen» der Recht spre chung weit
hinausgehe und in das nach der Verfassung «den Faktoren der Gesetz ge -
bung ausdrücklich vorbehaltene Gebiet» eingreife. Dabei setzt er voraus,
dass der Fürst an den Volksentscheid gebunden wäre und die Sanktion
erteilen müsste. Die Konsequenz dieser Annahme hätte allerdings be-
deutet, dass in diesem Fall dem Volk das Letztentscheidungs recht zuge-
standen worden wäre. Otto Ludwig Marxer spricht sich in dieser Hin -
sicht deutlich für den Vorrang der Demokratie gegenüber der Monarchie
aus. Damit wäre der Kompromisscharakter der Verfassung 1921, die
«unentschiedene»99 Verfassungslage, überwunden worden. Da zu hat
sich jedoch der Verfassungsgeber nicht durchringen können. Ein solches
Ansinnen wäre wohl am Widerstand der konservativen Mehrheit in
Landtag und Volk gescheitert.
Josef Peer übernahm das Verfahren zur Verfassungsgewähr aus der
Konstitutionellen Verfassung 1862, das nie zur Anwendung gelangte
und bedeutungslos bleiben musste, obwohl ein möglicher Verfassungs -
streit schon damals einem Gericht, dem Bundesschiedsgericht zugewie-
sen worden war. Denn diese Regelung änderte – wie bereits ausgeführt –
nichts an der Machtverteilung zwischen dem Monarchen und der Volks -
ver tretung und war auch nicht geeignet, etwas zur Abgrenzung der
Macht befugnisse zwischen Monarch und Volksvertretung beitragen zu
32
Herbert Wille
96 Marxer, S. 85.
97 Marxer, S. 86 f.
98 In diesem Zusammenhang gebraucht Marxer, S. 85, den Terminus «authentische Inter -
pre ta tion».
99 Wille, Monarchie und Demokratie, S. 190.
können. Art. 112 der Verfassung 1921 wird neu, nachdem sie zur die
Staatsgewalt bindenden Grundlage geworden ist, als eigentliche Ein rich -
tung zum Schutz der Verfassung selber verstanden. Der Staatsgerichts -
hof hat die Aufgabe, die dem dualistischen Staatsaufbau immanente
Grundspannung zwischen den Positionen des Monarchen und der
Volksvertretung allgemeinverbindlich zum Ausgleich zu bringen. Eine
solche Regelung war bisher im Konstitutionalismus der Verfassung 1862
wirkungslos. Die Tatsache, dass Josef Peer auf die Bestimmung des § 122
der Konstitutionellen Verfassung 1862 zurückgriff, zeigt, dass er eine
verfassungsgerichtliche Lösung der Streitigkeiten über Auslegungs fra -
gen der Verfassung, die die Kompetenzen und Befugnisse der
Gesetzgebungsorgane berühren können, in einer «Mischverfassung»
liechtensteinischer Prägung100 für notwendig fand.101
III. Gesetzliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichts -
barkeit
1. Ausarbeitung des Gesetzes
a) Verfassungsrechtliche Ausgangslage
Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde in der liechtensteinischen Verfas -
sung 1921 im Unterschied zur Regelung des österreichischen Bundes-
Verfassungsgesetzes nur in ihren Grundstrukturen, die den «rauhe(n)
Rahmen» zeichnen,102 festgelegt. Art. 104 der Verfassung 1921 sind kei-
ne bestimmten Vorstellungen zu entnehmen, wie beispielsweise der Zu -
gang zum Staatsgerichtshof, insbesondere was die Initiative zu einem
33
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
100 Dieser Begriff ist Alois Riklin, Liechtensteins politische Ordnung als Mischverfassung,
in: Eröffnung des Liechtenstein-Instituts, Kleine Schriften 11, Vaduz 1987, S. 20, ent-
lehnt. Informativ zur monarchisch-demokratischen Verfassungslage sein Bericht, Ein
Jahr danach - wie eine Staatskrise knapp vermieden wurde, in: Bodensee Hefte Nr. 10,
Oktober 1993, S. 20–25.
101 Zu Konsequenz und Tragweite des fürstlichen Verfassungsänderungsvorschlages
(Verfassungsvorschlag des Fürstenhauses vom 2. Februar 2000), Art. 112 LV gänzlich
abzuschaffen, siehe Batliner, Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem Band,
S. 129.
102 So Marxer, S. 79. Vgl. die Art. 104 bis 106 LV.
Gesetzes- oder Verordnungsprüfungsverfahren oder die Art und den
Um fang der Normenkontrolle betrifft, die in Österreich im Bundes-
Verfassungsgesetz geregelt sind, ausgestaltet werden müssten. So hat der
Verfassungsgeber die Ausgestaltung und prozessuale Durchsetzung der
Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem grossen Teil dem einfachen Gesetz -
geber überlassen. Es heisst denn auch in Art. 104 Abs. 1 der Verfassung
1921, dass ein Staatsgerichtshof als Gerichtshof des öffentlichen Rechtes
«im Wege eines besonderen Gesetzes» zu errichten sei. Dieser Gesetz ge -
bungs auftrag beinhaltet einen weiten Gestaltungsspielraum. Die Gefahr
einfachgesetzlicher Überdehnung des verfassungsmässigen Zustän dig -
keits bereiches des Staatsgerichtshofes ist gross.103
b) Redaktionelle Probleme und zeitliche Verzögerung
So waren die beiden Gesetzesredaktoren Emil und Wilhelm Beck zum
grössten Teil auf sich selbst gestellt. Sie fanden in der Verfassung kein in
sich schlüssiges Konzept einer Verfassungsgerichtsbarkeit vor. Otto
Ludwig Marxer analysiert die Ausgangslage wie folgt: «Über das zu er-
lassende, ausführliche Gesetz herrscht in massgebenden Kreisen noch
völlige Unklarheit und das bestätigt meine Ansicht, dass die Artikel der
Verfassung bis heute nur fragmentarischen Charakter haben».104 Die
Redaktionsarbeit gestaltete sich mühsam. Der Staatsgerichtshof ist eine
neue Institution. Emil und Wilhelm Beck konnten nicht auf entspre-
chende Erfahrungen zurückgreifen. Sie konnten zwar das österreichi-
sche Bundes-Verfassungsgesetz wie auch das Gesetz über den öster-
reichischen Verfassungsgerichtshof zu Rate ziehen. Diese Regelungen
entsprachen aber nicht in allen Belangen ihren Vorstellungen und konn-
34
Herbert Wille
103 Zur Problematik der einfachgesetzlichen Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes siehe
Heinz Josef Stotter, Verfassungsrechtliche Probleme zum Kompetenzkatalog des
Staats gerichtshofes des Fürstentums Liechtenstein, in: LJZ 1986, S. 167–171. In StGH
1982/37, Urteil vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983, S. 112, hält der Staatsgerichtshof
zu seiner Zuständigkeit fest: «Die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes ist in Art. 104
der Verfassung verfassungsmässig umschrieben, dessen Funktionen sind darin ab -
schliessend aufgezählt. Auch die im StGHG näher umschriebenen Kompetenzen sind
nur solche, die in Art. 104 der Verfassung festgelegt sind.» Zur Kritik an der gutachter-
lichen Tätigkeit des Staatsgerichtshofes siehe Wille, Normenkontrolle, S. 90 ff.
104 Marxer, S. 79.
ten nicht so ohne weiteres auf die liechtensteinischen Verhältnisse über-
tragen werden. Die Redaktionsarbeit erforderte eine gründliche Aus -
einan dersetzung mit Sinn und Zweck, Funktion und Rolle der Ver fas -
sungsgerichtsbarkeit. Das Staatsgerichtshofgesetz stellt denn auch nicht
nur eine Rezeption österreichischen Rechts dar. Emil und Wilhelm Beck
haben auch Neuland beschritten.
Die Eigenleistung vermag ein Vergleich mit der damaligen öster-
reichischen Rechtslage zu erhellen. Die Unterschiede sind signifikant. So
ist nach dem liechtensteinischen Staatsgerichtshofgesetz jedes Gericht
be fugt, in einem anhängigen Verfahren dem Staatsgerichtshof die Frage
der Verfassungs- bzw. Gesetzmässigkeit der Rechtsvorschriften zur Prü -
fung zu unterbreiten (Art. 28 StGHG). Die Antragstellung ist nicht wie
in Österreich auf den Obersten Gerichtshof und den Verwaltungs ge -
richts hof beschränkt. Die Verfassungsbeschwerde kann nach Art. 23 des
Staatsgerichtshofgesetzes gegen eine Entscheidung oder Verfügung einer
Ver waltungsbehörde und eines Gerichts nach Erschöpfung des Instan -
zen zuges beim Staatsgerichtshof erhoben werden. In Österreich ist die
Verfassungsbeschwerde zur Anfechtung gerichtlicher Urteile und Be -
schlüsse nicht zugelassen.105 Die selbständige Anfechtung von Regie -
rungs verordnungen durch Stimmbürger und Stimmbürgerinnen106 ist
dem österreichischen Recht fremd. Diese Beispiele verdeutlichen die
Eigenschöpfungen des liechtensteinischen Gesetzgebers.
Zu den redaktionellen Problemen kam noch eine übermässige Inan -
spruch nahme ihrer Arbeitskraft auf anderen Gebieten der Gesetz ge -
bung. Der Zollvertrag mit der Schweiz und seine Ausführungs gesetz ge -
bung wie überhaupt der Erlass von neuen Gesetzen im Nachgang zur
Ver fassung 1921 nahm ihre ganze Kraft in Anspruch. Sie beklagen sich
denn auch über allzu grosse Arbeitsbelastungen. Diese Umstände er-
35
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
105 Vgl. auch StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11), wo der
Staats gerichtshof unter Bezugnahme auf Gerard Batliner, Die liechtensteinische
Rechts ordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 112 f, ausführt:
«Im Gegensatz zum österreichischen Verfassungsgerichtshof hat der StGH aber doch
gemäss Art. 23 StGHG die Aufgabe, sämtliche mit Verfassungsbeschwerde angefochte-
ne Endentscheidungen – also nicht nur Entscheidungen der VBI, sondern auch diejeni-
gen des OGH – auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen und allenfalls zu kassie-
ren.»
106 In der Literatur ist auch von «Kollektivpopularklage» die Rede. Siehe dazu Wille,
Normenkontrolle, S. 87.
klären die zeitliche Verzögerung des Gesetzes. Wilhelm Beck schreibt im
Kommissionsbericht zum Gesetzesentwurf über den Staatsgerichts -
hof107: «Leider kann der Entwurf des obigen Gesetzes infolge Arbeits -
über häufung der Behörden und des Verfassers zur verfassungsmässigen
Behandlung dem Landtage erst jetzt unterbreitet werden.» Mit diesem
Hinweis begegnet er auch einer gewissen Ungeduld, die sich in der Öf -
fent lichkeit bemerkbar gemacht hatte.108 Die Fertigstellung des Ge set -
zes entwurfs datiert vom Oktober 1925, d.h. 4 Jahre nach Inkraft tre ten
der Verfassung.
2. Einzelne Zuständigkeitsbereiche
a) Abstrakte und konkrete Normenkontrolle
aa) Abstrakte Normenkontrolle
Ein Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig ganz oder zum Teil, mit
Wirkung für jedermann, aufzuheben, kann von der Regierung oder einer
Gemeindevertretung jederzeit gestellt werden (Art. 24 Abs. 1 StGHG).
Da es sich hierbei um ein selbständiges Verfahren handelt, das unabhän-
gig von einem wegen eines konkreten Anlasses anhängigen Verfahrens
erfolgt, wird sie im Schrifttum abstrakte Normenkontrolle genannt. Die
abstrakte Normenkontrolle ist allerdings bedeutungslos geblieben.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein wesentlicher Grund stellt das Gut -
achten des Staatsgerichtshofes dar, da es einen ähnlichen Zweck wie die
abstrakte Normenkontrolle erfüllt. Regierung und Landtag können
näm lich beim Staatsgerichtshof ein Gutachten einholen und die Ver fas -
sungs- oder Gesetzmässigkeit von Rechtsnormen abklären lassen.109
Ver ord nungen können innerhalb einer Frist von einem Monat seit ihrer
Publikation im Landesgesetzblatt von hundert Stimmfähigen als verfas-
sungs- oder gesetzwidrig beim Staatsgerichtshof angefochten werden,
ohne dass sie ein besonderes Interesse nachzuweisen hätten. Von dieser
36
Herbert Wille
107 «Kommissions-Bericht», LLA RE 1925/2255, S. 1.
108 Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes siehe Wille, Normenkontrolle, S. 43 ff.
109 Art. 16 StGHG; vgl. Wille, Normenkontrolle, S. 90 ff.
Möglichkeit wurde in der Praxis erst in jüngster Zeit Gebrauch ge-
macht.110
bb) Konkrete Normenkontrolle
Die Gerichte können im Rahmen eines anhängigen Rechtsstreites eine
Entscheidung über die Verfassungs- oder Gesetzmässigkeit beim Staats -
ge richtshof herbeiführen, wenn die Verfassungswidrigkeit eines Ge -
setzes behauptet wird oder wenn einem Gericht eine Verordnungs prü -
fung als verfassungs- oder gesetzwidrig erscheint. Sie wird konkrete
Nor menkontrolle genannt.111 Das Recht, ein solches Verfahren vor dem
Staatsgerichtshof einzuleiten, steht jedem Gericht zu. Dazu zählt nach
konstanter Spruchpraxis auch die Verwaltungsbeschwerdeinstanz.112
Der Kreis der Antragsberechtigten wird über die Verfassungs be -
schwerde auch auf natürliche und juristische Personen des Privat -
rechts113 und sehr begrenzt auch auf juristische Personen öffentlichen
Rechts, d.h. auf die Gemeinden, ausgeweitet.114 Ausländer können sich
jedoch nicht auf jene Grundrechtsgewährleistungen berufen, die ihren
personellen Geltungsbereich explizit auf Landesangehörige beschrän-
ken, wie dies beispielsweise bei Art. 28 Abs. 1 der Verfassung 1921
(Nieder lassungsfreiheit, Vermögenserwerbsfreiheit) der Fall ist und mit
37
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
110 Vgl. StGH 1991/7, Urteil vom 19. Dezember 1991, bezüglich Verordnungen zur Ein -
füh rung der 5-Tage-Schulwoche, nicht veröffentlicht; vgl. dazu Schurti, S. 250 f. Vgl. im
weiteren StGH 1999/11, Entscheidung vom 14. Dezember 1999, betreffend Anfech -
tung der Verordnung vom 2. März 1999 über das Verbot besonders gefährlicher Waffen
und Munition, LGBl 1999 Nr. 61, nicht veröffentlicht.
111 Ausführlicher dazu Wille, Normenkontrolle, S. 80 ff. und S. 168 ff.
112 Siehe aus der jüngsten Rechtsprechung StGH 1998/12, Urteil vom 3. September 1998,
LES 4/1999, S. 215 (217), wo es heisst: «Die VBI ist nach gefestigter Rechtsprechung
des Staatsgerichtshofes ein Gericht iS von Art. 25 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 2 StGHG
und ist deshalb ebenso wie die Zivil- und Strafgerichte zur Antragstellung gemäss die-
sen StGHG-Bestimmungen berechtigt.»
113 StGH 1977/3, Entscheidung vom 24. Oktober 1977, LES 1981, S. 41 (43); StGH
1996/24, Urteil vom 21. Februar 1997, nicht veröffentlicht, S. 7 und StGH 1996/25,
Urteil vom 21. Februar 1997, nicht veröffentlicht, S. 7. Danach sind Grund rechts träger
insbesondere natürliche Personen, aber auch, soweit dies «ihrem Wesen» entspricht, ju-
ristische Personen des Privatrechts.
114 Im Rahmen ihrer Gemeindeautonomie; siehe dazu StGH 1996/24, Urteil vom 21. Feb -
ruar 1997, nicht veröffentlicht, S. 7 und StGH 1996/25, Urteil vom 21. Februar 1997,
nicht veröffentlicht, S. 7; vgl. auch Höfling, Die liechtensteinische Grundrechts ord -
nung, S. 66 ff. und 251 f.
denen hinsichtlich des sachlichen Geltungsbereichs keine EMRK-
Garantien korrespondieren.115
b) Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde116 ist ein besonderer Rechtsbehelf oder be-
sonderes Rechtsschutzmittel zum Schutz der verfassungsmässig gewähr-
leisteten117 Rechte. Ihr Schutz erstreckt sich auch auf die in der Euro päi -
schen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 enthaltenen
Grund rechte118 sowie auf die Rechte des Internationalen Paktes über
bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966119. Nach
Auf fassung des Staatsgerichtshofes geniesst die EMRK «faktisch Verfas -
sungs rang»120. Der Staatsgerichtshof entscheidet über Beschwerden ge-
gen Entscheidungen oder Verfügungen eines Gerichtes oder einer Ver -
wal tungsbehörde, soweit der Beschwerdeführer oder die Beschwerde -
füh rerin durch eine Entscheidung oder Verfügung in einem verfassungs-
mässig garantierten Recht verletzt zu sein behauptet. Die Beschwerde
kann erst nach Erschöpfung des gerichtlichen bzw. administrativen In -
stan zenzuges erhoben werden. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist
nach den Worten des Staatsgerichtshofes ein gegenüber dem vorange-
gangenen Verwaltungs-, Zivil- oder Strafverfahren «eigenständiges» Ver -
fah ren. Dabei ist er als Verfassungsgerichtshof keine weitere Rechts- und
Tatsacheninstanz.
Eine Ausnahme macht der Staatsgerichtshof bei der Prüfung von
Willkürbeschwerden, die er «grundsätzlich nicht anders als eine vierte
Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz» prüft, «auch wenn die von
38
Herbert Wille
115 So Höfling, Liechtenstein und die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 148 f.
116 Batliner, Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechts -
kon vention, S. 154, bezeichnet sie auch als verfassungsgerichtliche «Individual be -
schwerde»; vgl. Wille, Normenkontrolle, S. 109 ff.
117 So Art. 104 Abs. 1 LV; Art. 23 Abs. 1 Bst. a StGHG verwendet wie seinerzeit Art. 79
Abs. 2 des Verfassungsentwurfs von Wilhelm Beck die Formulierung verfassungsmäs-
sig «garantierte» Rechte.
118 LGBl 1982 Nr. 57.
119 LGBl 1999 Nr. 46.
120 StGH 1925/21, Urteil vom 23. Mai 1996, LES 1/1997, S. 18 (28); vgl. die kritische
Anmerkung bei Höfling, Liechtenstein und die Europäische Menschenrechtskon ven -
tion, S. 144 f.
ihm aus dieser Analyse zu ziehenden rechtlichen Folgerungen grund -
sätz lich andere sind als bei einer ordentlichen Gerichtsinstanz. Eine von
«vornherein eingeschränkte Prüfung von Willkürbeschwerden» würde
nämlich eine «Rechtsverweigerung» bedeuten.121 Danach hat der Staats -
ge richts hof im Verfassungsbeschwerdeverfahren gemäss Art. 23 StGHG
spezifisch zu prüfen, ob eine ihm vorgelegte Entscheidung gegen eines
der von der Verfassung garantierten Grundrechte verstösst.122 Es ent-
spricht der Stellung des Staatsgerichtshofes als einem Verfassungsgericht
mit spezifischen Kompetenzen, dass er im Zweifelsfall erst angegangen
werden kann, wenn die unteren Instanzen durchlaufen sind bzw. der
Instanzenzug erschöpft ist.123
Die Verfassungsbeschwerde eröffnet jedermann den Zugang zum
Staats gerichtshof. Dass der Individualrechtsschutz ein Anliegen von
Wilhelm Beck gewesen ist, wie dies sein Verfassungsentwurf verdeut-
licht, ist schon mehrmals erwähnt worden. Er formulierte die Verfas -
sungs beschwerde noch als staatsrechtliche Beschwerde, ohne dass er ihr
damals (1919) einen Bezug zur Normenkontrolle gegeben hätte. Die
Verfassungsbeschwerde geht denn auch häufig nicht auf Normen kon -
trolle, sondern richtet sich primär oder ausschliesslich gegen letztin-
stanzliche Entscheidungen oder Verfügungen von Gerichts- und Ver -
wal tungs behörden, deren Verfassungsmässigkeit vom Beschwerdeführer
in Zweifel gezogen wird. Art. 23 des Staatsgerichtshofgesetzes wurde im
Nachgang zur und aufgrund der Normenkontrollkompetenz des Staats -
ge richtshofes gemäss Art. 104 Abs. 2 der Verfassung auch in der Weise
gestaltet, dass er eine Verletzung eines verfassungsmässig garantierten
39
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
121 So StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11); vgl. auch StGH
1998/44, Urteil vom 8. April 1999, veröffentlicht in: Jus & News 1/1999, S. 28 (35). In
StGH 1993/1, Urteil vom 23. März 1993, LES 3/1993, S. 89 (90) hiess dies noch: «Der
StGH kann im besonderen Entscheidungen, die in richterlicher Unabhängigkeit ge-
troffen sind, nur daraufhin prüfen, ob das Gesetz denkunmöglich oder so unsachlich
grob verfehlt angewendet wurde, dass die resultierende Sachentscheidung einer will-
kürlichen, erweislich verfassungswidrigen oder im konkreten Fall erkennbar, speziell
unsachlichen Rechtsprechung gleichkäme, wodurch der Urteilsfindung ein so schwerer
Fehler unterliefe, der mit erweislicher Gesetzwidrigkeit gleichzusetzen wäre. Hingegen
hat der StGH nicht einfach als zusätzliche meritorische Instanz zur Verfügung zu ste-
hen. Versuche, mit dem Willkürvorhalt eine weitere instanzenmässige Sach- und
Rechtsprüfung zu erwirken, müssen ins Leere gehen und können keinen Erfolg haben.»
122 StGH 1996/38, Urteil vom 24. April 1997, LES 4/1998, S. 177 (180).
123 StGH 1983/3, Beschluss vom 15. September 1983, LES 2/1984, S. 31 und StGH
1983/5/V, Urteil vom 5. Dezember 1983, LES 3/1984, S. 68.
Rechts durch eine Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungs be -
hörde oder Gerichts regelmässig dann annimmt, wenn die Entscheidung
oder Verfügung auf einem verfassungswidrigen Gesetz oder einer ver-
fassungs- und gesetzeswidrigen Verordnung beruht. Dadurch dass die
Ver fassungsbeschwerde jedem einzelnen offen steht, haben die Grund -
rechte eine Allgegenwart und Alltäglichkeit im Leben der Bürger erhal-
ten, die man positiv als Verlebendigung der Verfassung beschreiben
kann.124 Ein anderer Aspekt ist, dass auch der Individualrechtsschutz ge-
gen die gesetzgebende Gewalt statuiert worden ist,125 wenn Rechts nor -
men beim Staatsgerichtshof wegen Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit
angefochten werden können, der sie gegebenenfalls aufheben kann.
c) Auslegung von Verfassungsbestimmungen
Gegenstand des Verfahrens nach Art. 112 der Verfassung 1921 sind
Zwei fel über die Auslegung einzelner Bestimmungen der Verfassung, die
nicht durch Übereinkunft zwischen der Regierung und dem Landtag be-
seitigt werden können. Danach ist die Auslegung einzelner Verfassungs -
be stimmungen (Art. 29 Abs. 1 StGHG), die im Streitfall durch Ent -
scheidung des Staatsgerichtshofes erfolgt, allgemeinverbindlich.126
Entscheidend ist nicht, zwischen wem gestritten wird, d.h. wer Streit -
partei ist, sondern dass der Gegenstand des Streites die Verfassung be-
trifft. Die Zweifel beziehen sich also auf die Verfassung. Es können z.B.
Zweifel über den Inhalt einer Verfassungsbestimmung, die Grenzen der
Gesetzes- und Verordnungsgewalt, den Umfang des Notverordnungs -
rechts und die Reichweite der Kompetenzen und Befugnisse der Gesetz -
ge bungsorgane sein.
d) Zusammenfassende Übersicht
Eine kurze, überblicksmässige Darstellung der Verfahrensarten, die der
Kontrolle der staatlichen Gewalt dienen, kann wie folgt gegeben wer-
40
Herbert Wille
124 So Wahl, S. 402/Anm. 3.
125 Vgl. Öhlinger, S. 136.
126 Vgl. Batliner, Aktuelle Probleme, S. 72 ff.
den: Kontrolle von Gerichtsentscheidungen, Kontrolle von Verwal -
tungs entscheidungen; Kontrolle von Gesetzen (Gesetzgeber), Kontrolle
von Verordnungen (Regierung), verfassungsgerichtliche Streitentschei -
dung im Falle der Auslegung der Verfassung. Daneben hat der Staatsge -
richts hof noch weitere Aufgaben von Gewicht, die sich diesen Tätig -
keits feldern nicht ohne weiteres zuordnen lassen, wie z.B. als Verwal -
tungs gerichtshof (Art. 13 StGHG), Wahlgerichtshof (seit 1958)127,
Kompetenzkonfliktshof (Art. 12 StGHG) und als Ministeranklage- und
Disziplinargerichtshof (Art. 14 StGHG).
IV. Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit
Schon diese vielfältigen Entscheidungszuständigkeiten belegen den gros-
sen Einfluss, den der Staatsgerichtshof auf die Entwicklung der Rechts -
ordnung und damit des staatlichen Geschehens überhaupt ausübt. Im
Folgenden werden ein paar Bereiche genannt, in denen der Staats ge -
richts hof massgebliche Weichenstellungen vorgenommen hat oder die
Art des Vorgehens beschrieben, wie sich der Staatsgerichtshof Gehör
ver schafft.
1. Sicherung der Verfassung
Funktion und Struktur lassen erkennen, dass der Staatsgerichtshof von
Ver fassungs wegen nicht mit den «andern» Gerichten gleichgesetzt wer-
den kann. Dies ist schon aus der von der Verfassung 1921 dem Staats ge -
richts hof in Beziehung zur Gerichtsbarkeit zugewiesenen Stellung er-
sichtlich, Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungs be -
hör den zu entscheiden sowie letztinstanzliche Entscheidungen von
Gerichten wegen behaupteter Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu
prüfen. Wenn auch Art. 104 der Verfassung den Staatsgerichtshof als
«Gerichtshof des öffentlichen Rechts» ausweist, d.h. ihn als Gericht im
weiteren Sinne betrachtet, trennt die Verfassung dessen Funktion doch
so von der Gerichtsbarkeit im Sinne der Art. 99 und 101 der Verfassung,
41
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
127 LGBl 1958 Nr. 1.
dass sie nicht durch einfaches Gesetz in einem Instanzenzug miteinander
verbunden werden können.128 Der Staatsgerichtshof übt nicht nur inner-
halb der Judikative, sondern auch gegenüber der Legislative und Exe ku -
tive im Staatsgefüge insgesamt eine übergeordnete Funktion aus. Dies
kommt in der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Ausdruck, die bei ihm
konzentriert ist. Er ist die letztverbindliche, entscheidende Instanz in al-
len Verfassungsrechtsfragen.
Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung verschafft dem Staats -
ge richtshof die Möglichkeit, in erheblichem Masse auf die anderen
Staats funktionen einzuwirken, insbesondere auf die Gesetzgebung und
damit auch auf die Tätigkeit der Regierung sowie auf die Recht spre -
chung der Gerichts- und Verwaltungsbehörden.129 Es war eine kluge
Ent scheidung des Verfassungsgebers und liegt ganz auf der Linie der
Fortentwicklung der Verfassung, wenn der Staatsgerichtshof dem Ge -
setz geber als Kontrolleur beigegeben worden ist, weil letztlich nur er die
Gewaltenbalance herstellen und die dem dualen Verfassungssystem
immanenten Gefährdungen bzw. den «Spannungen in der liechtensteini-
schen Verfassungsordnung»130 begegnen und ihnen Rechnung tragen
kann, indem er dem Staat Halt verleiht.131
Die Verfassungsgerichtsbarkeit und insbesondere die Normen kon -
trolle, die in der Prüfung und Verwerfung von Gesetzen und Regie -
rungs verordnungen besteht, dient im ganzen gesehen der Sicherung der
Verfassungsmässigkeit und damit der Gewährleistung der Geltung der
Verfassung als Grundlage der gesamten Rechtsordnung.132
2. Rechtsschutz
Der Staatsgerichtshof legt in seiner neueren Rechtsprechung Art. 43 der
Verfassung im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes aus. Er hat dem
grundrechtlichen Anspruch auf Beschwerdeführung einen «materiellen
Gehalt» unterlegt. Danach sind der in Art. 43 Satz 2 der Verfassung vor-
42
Herbert Wille
128 So StGH 1982/37, Urteil vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983, S. 112 (113).
129 So Starck, S. 15 f; zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit siehe Ziff. V, S. 46 ff.
130 Diese Formulierung ist Batliner, Verfassungsschichten, S. 299, entnommen.
131 Vgl. Batliner, Einführung, S. 99 f.
132 So Spanner, S. 38.
gesehene Gesetzesvorbehalt einschränkend bzw. gesetzliche Einschrän -
kun gen im Zweifel zu Gunsten der Gewährung des Beschwerderechts
zu interpretieren. Erfasst sind nicht nur rechtlich geschützte, sondern
auch faktische Interessen, so dass der von der jeweiligen Verfügung oder
Entscheidung direkt Betroffene beschwerdelegitimiert ist und sehr wohl
jegliche für seinen Fall relevanten behördlichen Rechtsverletzungen rü-
gen kann. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die behördliche Anwen -
dung des Verwaltungsrechts in Teilbereichen gar keiner verwaltungsge-
richtlichen Überprüfung unterliegen würde, was kaum erwünscht sein
könne.133
Der Staatsgerichtshof sieht es in seiner Rechtsprechung nicht nur als
seine Aufgabe an, die Verfassungsordnung zu schützen, sondern ist auch
bemüht, den Rechts- und Verfassungsschutz auszubauen. So hat er bei-
spielsweise aus dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 31 der Verfassung
wichtige verfahrensrechtliche und materielle Gerechtigkeitsprinzipien
abgeleitet.134 Er lässt es dabei nicht bewenden und ist in jüngster Zeit
dazu übergegangen, auch ungeschriebenes Verfassungsrecht anzuerken-
nen, indem er dem Willkürverbot den «Status» eines ungeschriebenen
Grund rechts zuerkannt hat. Der Staatsgerichtshof hält es für angebracht,
für den Einzelnen «fundamentale, im Verfassungstext nicht erwähnte
Rechts schutzbedürfnisse» direkt als ungeschriebene Grundrechte anzu-
erkennen, anstatt sie aus «thematisch mehr oder weniger verwandten po-
sitiv normierten Grundrechten» abzuleiten.135 Die Rechtsprechung zum
Willkürverbot zeigt auch, dass dem Staatsgerichtshof viel an einem mög-
lichst effektiven Grundrechtsschutz gelegen ist, um dem Rechtsstaats ge -
bot gerecht zu werden.
43
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
133 StGH 1997/36, Urteil vom 2. April 1998, LES 2/1999, S. 76 (78 f.) und StGH 1996/5,
Urteil vom 30. August 1996, LES 3/1997, S. 141 (147).
134 Vgl. z.B. für das rechtliche Gehör StGH 1998/6, Urteil vom 18. Juni 1998, LES 3/1999,
S. 173 (176); StGH 1998/17, Urteil vom 23. November 1998, LES 5/1999, S. 271 (273)
und für das Willkürverbot StGH 1997/32, Urteil vom 2. April 1998, LES 1/1999, S. 16
(18).
135 StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (6); vgl. dazu den
Kommentar von Kley, S. 256; für die Schweiz vgl. Haller, Das schweizerische Bun des -
ge richt als Verfassungsgericht, S. 213; zur Kritik aus der Optik der Grenzen der Verfas -
sungs gerichtsbarkeit siehe S. 34 f.
3. Leitfunktion136
Der Staatsgerichtshof ist aufgrund seiner Stellung als «oberste Instanz
zur Beurteilung der Einhaltung der Verfassung»137 eine Autorität. Seiner
Rechtsprechung kommt eine Leitfunktion zu. Das heisst, dass sie für die
Gestaltung der liechtensteinischen Rechtsordnung, wie überhaupt des
Staats wesens insgesamt wegweisend ist. Seine Entscheidungen setzen
nicht nur für den Einzelfall die Grenzen staatlicher Gewalt fest, sondern
stecken bisweilen auch den verfassungsrechtlichen Rahmen ab, inner-
halb dessen sich Politik und Gesetzgebung bewegen und entwickeln
können. In dieser Hinsicht lassen sich Beispiele anführen, in denen es der
Staats gerichtshof unternimmt, die richtige, d.h. verfassungsmässige
Rich tung anzuzeigen, um, wie dies etwa im Steuer-, Sozialversicherungs-
oder Bürgerrecht geschehen ist, dem Gleichberechtigungsgrundsatz von
Mann und Frau zum Durchbruch zu verhelfen oder im Bau- und
Planungs recht, um Fehlentwicklungen vorzubeugen oder sie zu korri-
gieren.
Der Staatsgerichtshof hat dem Steuergesetzgeber zu verstehen gege-
ben, aus den Verfassungsgrundsätzen der Gleichheit und der Verhältnis -
mässig keit der Steuer nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit folge,
dass er bei der progressiven Besteuerung Ehepaare im Verhältnis zu
Alleinstehenden angemessen entlasten müsse.138 Er hat auch das Ehe -
paar rentensystem der Alters- und Hinterlassenenversicherung, das auf
der traditionellen unterschiedlichen Rollenverteilung zwischen Mann
und Frau aufbaut, wonach der Mann das für den Familienunterhalt not-
wendige Einkommen erzielt, während die Frau sich um Haushalt und
Kin der kümmert, für verfassungswidrig gehalten. Ein solches Ehepaar -
renten system verstosse nicht nur gegen den Geschlechter gleich heits -
grund satz des Art. 31 Abs. 2 der Verfassung, sondern auch gegen den all-
gemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 31 Abs. 1 der Verfassung, weil es
Ehepaare gegenüber Konkubinatspaaren im Bereich der Erwerbs- und
Vermögenssteuerveranlagung ungleich behandle, d.h. benachtei lige.139
44
Herbert Wille
136 Diesen Begriff verwendet der Staatsgerichtshof in StGH 1995/20, Urteil vom 24. Mai
1996, LES 1/1997, S. 30 (38).
137 Dieser Ausdruck findet sich in StGH 1970/1, Gutachen vom 13. Juli 1970, ELG
1967–1972, S. 254 (256).
138 StGH 1989/15, Urteil vom 31. Mai 1990, LES 4/1990, S. 135 (139).
139 StGH 1995/20, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1/1997, S. 30 (36).
Die 1996 durchgeführte Revision des Gesetzes über den Erwerb
und Verlust des Landesbürgerrechts erachtete der Staatsgerichtshof als
unhaltbar, weil es unter anderem in der Übergangsbestimmung in we-
sentlichen Punkten dem Geschlechtergleichheitsgrundsatz wie auch dem
allgemeinen Gleichheitsgrundsatz der Verfassung zuwiderlaufe. Liech -
ten steinische Mütter würden in der Weitergabe der Staatsbürgerschaft
ohne sachlichen Grund gegenüber liechtensteinischen Vätern diskrimi-
niert. Eine Altersgrenzenregelung, wonach ausländische Kinder einer
liech tensteinischen Mutter auf Antrag in das Landesbürgerrecht und das
Gemeindebürgerrecht ihrer Mutter aufgenommen werden können,
wenn sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes das 40. Alters -
jahr noch nicht vollendet haben, verstosse wegen der Ungleich be hand -
lung älterer gegenüber jüngeren Kindern liechtensteinischer Mütter auch
noch gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot gemäss Art. 31
Abs. 1 der Verfassung. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers hätte
die Altersgrenze die Zahl der Aufnahmeanträge von Kindern liechten-
steinischer Mütter wirkungsvoll reduzieren sollen.140
In seiner Entscheidung vom 27. September 1999141 tritt der Staats -
ge richtshof im Bereich des Bau- und Planungsrechts in «ergänzenden
Aus führungen» einer weit verbreiteten Ansicht, die auch die Verwal -
tungs beschwerdeinstanz teilt, entgegen, wonach auch Erweiterungen
einer an sich schon zu grossen Bauzone zulässig seien, sofern das ganze
Baugebiet umgelegt ist und trotz dieses Umstandes ein starker Druck zu
weiteren Einzonierungen besteht. Denn Grundeigentümer mit mehre-
ren Grundstücken könnten nicht gezwungen werden, alle ihre Grund -
stücke zu überbauen oder die Grundstücke zu verkaufen. «Dies würde
dem allgemeinen Verhalten der Liechtensteiner widersprechen»142. Der
Staatsgerichtshof widerspricht dieser Argumentation. Er verschliesst
sich zwar nicht der Tatsache, dass Gemeinden aufgrund des weitgehend
ausgetrockneten Bodenmarktes von Eigentümern, deren Grundstücke
sich ausserhalb der Bauzone befinden, unter Druck gesetzt werden kön-
nen, damit ihre Grundstücke ebenfalls einzoniert werden. Er lässt aber
45
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
140 StGH 1996/36, Urteil vom 24. April 1997, LES 4/1997, S. 211 (216 f.); vgl. auch die
Kurzzusammenfassung bei Ralph Wanger, Das liechtensteinische Landesbürgerrecht,
Diss. Zürich 1997, S. 323 ff.
141 StGH 1998/68, Entscheidung vom 27. September 1999, nicht veröffentlicht, S. 24 f.
142 VBI 1998/18 und 19, Entscheidung vom 18. November 1928, nicht veröffentlicht, S. 10.
die von der Verwaltungsbeschwerdeinstanz daraus gezogene Schluss fol -
gerung nicht gelten, wonach bei entsprechendem Druck eine Einzonie -
rung durchaus ortsplanerisch begründet sei. Eine solche Auffassung
greife entschieden zu kurz und entziehe einer «sinnvollen Raumplanung
weitgehend die Grundlage». Den Gesetzgeber erinnert er bei dieser
Gelegen heit daran, dass eine Praxis, die «aufgrund der minimalen
Besteuerung auf der Basis zumeist völlig überholter Steuer schätz werte
eine Bodenhortung in grossem Ausmass ohne finanzielle Nach teile» er-
mögliche, sowohl steuergesetz- als auch verfassungswidrig sei.
Bisweilen greift der Staatsgerichtshof zum Mittel der Kritik, um
eine Gesetzesänderung anzumahnen, wie dies beim Gesetz vom
21. April 1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege143 gesche-
hen ist. Der Staatsgerichtshof ist verschiedentlich auf Mängel im Ver wal -
tungs verfahren gestossen. So plädiert er für eine Verbesserung des
Rechts schutzes von Dritten im Rahmen der Privat wirt schafts ver wal -
tung, die eine Totalrevision des «über 70 Jahre alten und den modernen
Anforderungen an ein Verwaltungsverfahrensgesetz längst nicht mehr
genügenden LVG» dringend erscheinen lasse»144 oder erachtet in einem
spä teren Beschwerdefall eine «konsistentere Lösung des Kostener -
satzes» im Verwaltungsgerichtsverfahren als wünschbar und macht er-
neut darauf aufmerksam, dass eine «zügige Revision des veralteten
LVG» vordringlich sei.145
V. Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit
1. Grundsätzliches und Problemstellung
Der Staatsgerichtshof charakterisiert seine Tätigkeit als Rechtsprechung.
Er versteht sich als Gericht, wenn er z.B. von einer «in Beziehung zur
Ge richtsbarkeit zugewiesenen Stellung»146 oder von der «höchstrichter-
lichen Rechtsprechung»147 oder von den dem Staatsgerichtshof zukom-
46
Herbert Wille
143 LGBl 1922 Nr. 24, LR 172.020.
144 StGH 1996/5, Urteil vom 30. August 1996, LES 3/1997, S. 141 (146).
145 StGH 1998/2, Urteil vom 19. Juni 1998, LES 3/1999, S. 158 (163).
146 StGH 1982/37, Urteil vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983, S. 112 (113).
147 StGH 1976/6, Gutachten vom 10. Januar 1977, ELG 1973–1978, S. 407 (409).
menden «Aufgaben der Rechtsprechung», die im positiven Recht veran-
kert sind,148 spricht.149
Den Staatsgerichtshof zeichnet als Gericht aus, dass ihm allein die
Wah rung der Verfassung und ihr Schutz aufgetragen ist und ihm das
letztverbindliche Wort über die Verfassungsmässigkeit von Akten ande-
rer Gewalten zusteht, wobei er nicht in deren Funktionen übergreifen
darf. Denn die Gewaltenteilung funktioniert nur, solange Legislative,
Exekutive und Judikative als «qualitativ verschiedene Staatsfunktionen»
verstanden werden. Soweit der Staatsgerichtshof im Normenkontroll -
ver fahren lediglich als «negativer Gesetzgeber» tätig wird, indem er ver-
fassungswidrige Gesetze aufhebt, überschreitet er seine verfassungsge-
richtlichen Befugnisse nicht. Wird der Staatsgerichtshof aber zum «Er -
satz gesetzgeber» bzw. «Ersatzverfassungsgeber», ist zwischen Recht -
spre chung und Gesetzgebung qualitativ kein Unterschied mehr zu ma-
chen bzw. fehlt es an der qualitativen Verschiedenheit dieser beiden
Gewalten.150 Die Kassationsbefugnis macht nicht nur die Besonderheit
der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes aus, in ihr liegen auch die
Probleme.151
Allerdings erfährt diese weitreichende Normenkontrollkompetenz
bei richtiger Beurteilung in verfahrensrechtlicher Hinsicht dadurch eine
nicht unerhebliche Abschwächung oder Einschränkung, dass der Staats -
ge richtshof nicht von sich aus, sondern nur auf Antrag eines An trags -
berechtigten tätig werden kann. Das gilt auch dann, wenn er von Amts
wegen ein Gesetz auf seine Verfassungsmässigkeit überprüft,152 was nur
möglich ist, wenn vorher bei ihm ein Verfahren anhängig gemacht wor-
den ist. Von sich aus kann der Staatsgerichtshof selbst bei einem schwe-
ren und augenfälligen Verfassungsverstoss nicht einschreiten.153 Aus die-
sem Grunde ist auch der Ausdruck «Hüter der Verfassung», wie der
Staatsgerichtshof sich schon selber bezeichnet hat,154 nicht ganz zutref-
47
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
148 StGH 1982/65/V, Urteil vom 15. September 1983, LES 1/1984, S. 3 (4).
149 Vgl. auch Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 36 f.
150 So Schmitt Glaeser, S. 1197 f.
151 Nach Knies, S. 1159, steht ein Gesetz unter dem «Vorbehalt verfassungsgerichtlicher
Approbation». Schmitt Glaeser, S. 1191, spricht in diesem Zusammenhang von einer
«Kom pe tenz-Einbusse des Gesetzgebers».
152 Art. 24 Abs. 3 StGHG; für Verordnungen Art. 25 Abs. 1 StGHG.
153 So auch Knies, S. 1160 f.
154 StGH 1982/65/V, Urteil vom 15. September 1983, LES 1/1984, S. 3 (4).
fend und könnte den falschen Eindruck erwecken, als ob der Staats ge -
richts hof eine «Allein- und Allzuständigkeit» zum Schutze der Ver fas -
sung beanspruchen und innehaben könnte.155 Der Staatsgerichtshof ist
weder der Garant einer durchgehenden Verfassungsmässigkeits kon -
trolle, noch gibt es eine «durchgehende Verfassungsmässigkeit» staat -
lichen Handelns.156 Dass nicht alle staatliche Gewalt kontrolliert werden
kann, hat auch mit der Eigenart des liechtensteinischen dualen Verfas -
sungs systems, soweit es mit der Monarchie in Verbindung steht, zu tun.
So sind staatliche Akte des Fürsten nicht beim Staatsgerichtshof an-
fechtbar.157
In diesem Zusammenhang ist auch in Betracht zu ziehen, dass auch
die anderen (ordentlichen) Gerichte die Verfassungsmässigkeit und Ge -
setz mässigkeit von Rechtsnormen, die sie anzuwenden, auszulegen bzw.
zu überprüfen haben, ohne sie allerdings verwerfen bzw. aufheben zu
können. Eine solche Verwerfungs- oder Kassationskompetenz steht al-
lein dem Staatsgerichtshof als Verfassungsgerichtshof zu. Aus diesem
Grunde können denn auch die Gerichte (OGH, OG und LG sowie die
Ver waltungsbeschwerdeinstanz), wenn in einem anhängigen Verfahren
die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes behauptet wird oder wenn
ihnen eine Verordnungsbestimmung als verfassungs- oder gesetzwidrig
erscheint, das Verfahren unterbrechen und die «Frage» dem Staats ge -
richts hof zur Prüfung unterbreiten.158
48
Herbert Wille
155 So Knies, S. 1161; vgl. auch die Spruchpraxis des Staatsgerichtshofes zur Kann-
Bestimmung in den Art. 24 Abs. 1, 25 Abs. 2 und 28 Abs. 2 StGHG. Siehe dazu StGH
1995/20, LES 1/1997, S. 30 (39); StGH 1996/36, Urteil vom 24. April 1997, LES 4/1997,
S. 211 (216) und StGH 1998/3, Urteil vom 19. Juni 1998, nicht veröffentlicht, S. 11 f.
sowie Wille, Normenkontrolle, S. 157 ff. und 183 ff.
156 So Knies, S. 1161; aus diesem Grunde überzeugt die diesbezügliche Spruchpraxis des
Staats gerichtshofes (wie in Anm. 155) nicht.
157 Vgl. Art. 23 Abs. 1 StGHG; siehe dazu Batliner, Aktuelle Fragen, S. 70 ff. und ders.,
Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem Band, S. 133. Zur Prüfung von Land -
tags beschlüssen siehe Wille, Normenkontrolle, S. 231 ff. Illustrativ das Urteil des
EGMR vom 28. Oktober 1999 (Grosse Kammer) über die Beschwerde Nr. 28396/95 im
Fall Wille gegen Liechtenstein; siehe die Bearbeitung von Wolf Okresek in: ÖJZ 2000,
S. 647 ff.
158 Art.25 Abs. 2 und 28 Abs. 2 StGHG.
2. Staatsgerichtshof und Gesetzgeber
a) Position der Zurückhaltung
Die vom Staatsgerichtshof bisher gegenüber dem Gesetzgeber prakti-
zierte «Zurückhaltung» bzw. «Selbstbeschränkung» hat unter anderem
ihren verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt in der demokratischen Legiti -
ma tion des Gesetzgebers159 und im Gewaltenteilungsgrundsatz, wonach
dem Gesetzgeber ein eigenständiger Verantwortungsbereich zur Verfas -
sungs entfaltung zusteht, der vom Staatsgerichtshof nur kontrolliert,
nicht aber in Zweifel gezogen werden darf.160 Der Staatsgerichtshof hat
diesen gesetzgeberischen Bereich bisweilen mit «Ermessen des Gesetz -
gebers» als «politische Ermessensfrage»161 oder mit «gesetzgeberischer
Gestaltungsfreiheit»162 und in neuester Zeit mit «Gestaltungs spiel raum
des Gesetzgebers»163 umschrieben. Diese Zurückhaltung wird in der ne-
gativen Abgrenzung zum Gesetzgeber in die Formel gefasst, dass sich
der Staatsgerichtshof nicht «an die Stelle des Gesetzgebers» setzen kön-
ne und dürfe.164 Aus dem gleichen Grund hat der Staats gerichts hof einer
Beschwerdeführerin entgegengehalten, sofern sie in ihren Be schwerde -
ausführungen «rechtspolitische Forderungen» geltend mache, könnten
sie sich nur an den Gesetzgeber wenden.165 Diesem Rollen ver ständ nis
49
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
159 Vgl. StGH 1993/3, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 37 (38), wo der
Staats gerichtshof ausführt: «Allerdings ist zu beachten, dass sich das Verfassungsgericht
gegenüber dem Gesetzgeber stärker als bei der Überprüfung von Einzelakten Zurück -
hal tung auferlegen muss. Dem Landtag kommt aufgrund der direkten Volks wahl seiner
Mitglieder höchste demokratische Legitimation zu. Er muss deshalb einen grossen
Spielraum bei der Ausgestaltung der Gesetzesvorlagen beanspruchen können». Dazu
ist allerdings anzumerken, daß bei dieser Betrachtungsweise der Landesfürst als Mit ge -
setz geber ausgeblendet bleibt.
160 Vgl. z.B. StGH 1991/15, Urteil vom 2. Mai 1991, LES 3/1991, S. 77 (80).
161 StGH 1987/12, Urteil vom 11. November 1987, LES 1/1988, S. 4 (6).
162 StGH 1996/30, Urteil vom 20. Februar 1997, LES 4/1997, S. 207.
163 StGH 1997/13, Urteil von 4. September 1997, LES 5/1998, S. 258 (262); StGH 1997/14,
Urteil vom 17. November 1997, LES 5/1998, S. 264; StGH 1997/32, Urteil vom 2. April
1998, LES 1/1999, S. 16 (18).
164 StGH 1977/4, Entscheidung vom 19. Dezember 1977, nicht veröffentlicht, S. 9; StGH
1988/16, Urteil vom 28. April 1989, LES 3/1989, S. 115 (118); StGH 1991/15, Urteil
vom 2. Mai 1991, LES 3/1991, S. 77 (80); StGH 1998/2, Urteil vom 19. Juni 1998, LES
3/1999, S. 158 (163).
165 StGH 1994/12, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1/1995, S. 30 (33). So auch in StGH
1998/2, Urteil vom 19. Juni 1998, LES 3/1999, S. 158 (163), wo der Staatsgerichtshof
entspricht es, wenn der Staatsgerichtshof von einem «Konkreti sie rungs -
primat» des Gesetzgebers166 ausgeht und die «Rechtspolitik» dem Ge -
setz geber überlässt. Für ein solches Abgrenzungsverhalten spricht auch
ein Verfassungsverständnis, das den Umstand berücksichtigt, dass die
liechtensteinische Verfassung eher leicht abänderbar ist,167 so dass das
Bedürfnis nach einer Weiterentwicklung der Verfassung durch Konkre -
ti sierung bzw. Interpretation des Staatsgerichtshofes nicht so gross sein
dürfte wie in Ländern mit schwer abänderbaren Verfassun gen wie z.B.
diejenige der Schweiz. Auch die direktdemokratischen Ein rich tungen
der Initiative und des Referendums auf Verfassungs- und Gesetzes ebene
sind in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen. Es ist der Staats -
gerichtshof selber, der der «Referendumsdemokratie» einen auffallend
grossen Stellenwert im Gesetzgebungsverfahren beimisst, wie dies zwei
Ent scheidungen aus jüngster Zeit unterstreichen.168 Aus dieser Einschät -
zung folgt, dass im Zweifel zugunsten der Gesetzgebung und nicht ge-
gen die Gesetzgebung zu judizieren ist.169
Es spielen in der Praxis auch andere Überlegungen eine gewichtige
Rolle. Eine «richterliche Zurückhaltung» kann auch aus Gründen der
«Folgenberücksichtigung» einer Entscheidung angebracht sein.170 So
sieht sich der Staatsgerichtshof zur richterlichen Zurückhaltung «im
Sinne eines judicial self restraint» unter anderem dann veranlasst, wenn
die Anerkennung von grundrechtlichen Ansprüchen mit besonders
schwer wiegenden und für das Gericht gar nicht überschaubaren finan -
ziellen Belastungen der öffentlichen Hand verbunden wäre.171 In StGH
1993/3 äussert sich der Staatsgerichtshof dahingehend, dass die «verfas-
sungsgerichtliche Zurückhaltung» allenfalls dann aufzugeben wäre,
50
Herbert Wille
ausführt: «Für das Verfassungsgericht ist nicht relevant, ob diese Regelung (Kosten -
ersatz pflicht des LVG) besonders zweckmässig ist und ob allenfalls ein umfassender
Kostenersatzanspruch im Sinne der Beschwerdeausführungen rechtspolitisch wünsch-
bar wäre. Die Entscheidung hierüber ist Sache des Gesetzgebers, und der Staats ge -
richts hof hat sich nicht an dessen Stelle zu setzen.»
166 Diese Formulierung stammt von Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der
offenen Gesellschaft (Schriften zur Rechtstheorie; Heft 163), Berlin 1994, S. 408.
167 Siehe Art. 111 Abs. 2 LV.
168 StGH 1996/29, Urteil vom 24. April 1996, LES 1/1998, S. 13 (17) und StGH 1997/42,
Urteil vom 18. Juni 1998, LES 2/1999, S. 89 (94).
169 So auch Scholz, S. 1208 f.
170 Vgl. Literatur und Rechtsprechung bei Wille, Normenkontrolle, S. 63 ff.
171 StGH 1994/19, Urteil vom 11. Dezember 1995, LES 2/1997, S. 73 (76).
wenn der Gesetzgeber trotz der aus grundrechtlicher Sicht nicht unbe-
denklichen Gesetzeslage längere Zeit nicht tätig würde. Es sei aber nicht
Aufgabe des Staatsgerichtshofes, die Regelung der revisionsbedürftigen
Kon kursklassen in der Konkursordnung vorwegzunehmen. Der Ent -
schei dungsfindungsprozess sei von zahlreichen, wesentlich auch politi-
schen Faktoren abhängig. Hier sei primär der Einsatz des liechtensteini-
schen Gesetzgebers gefragt, um eine ausgewogene Gesamtlösung zu
finden. 172
b) Tendenz zu einem gestalterischen Rollenverständnis
ba) Ersatzgesetzgeber
Nicht zu übersehen ist, dass in rechtsdogmatischer Hinsicht zwischen
Gesetzgeber und Verfassungsgericht in Bezug auf die Konkretisierung
der Verfassung geradezu ein «systemimmanentes Spannungsver hält -
nis»173 besteht. Der Staatsgerichtshof hält denn auch die vorgezeichnete
Linie nicht konsequent durch. Es sind zumindest Anzeichen vorhanden,
wonach er sich mehr und mehr auch in einer gestaltenden Rolle sieht. So
setzt sich der Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 23. März
1993174 über ein Verfassungsgesetz hinweg, das die Anpassung des alten
bzw. geltenden Rechts an den neu geschaffenen Gleichheitsgrundsatz
von Mann und Frau in Art. 31 Abs. 2 der Verfassung dem Gesetzgeber
vor behalten hatte,175 indem er dieser Übergangsbestimmung trotz des
ausdrücklichen Gesetzgebungsauftrages «unmittelbare Wirkung» zuer-
kannte.176 Er hält sich nicht an diese klare und unmissverständliche
Aussage des Verfassungsgesetzgebers, indem er den Gesetzgebungs auf -
trag abschwächt und nur «grundsätzlich» gelten lässt, da der Gesetzge -
bungs auftrag nicht als ein «verschleierter» Vorbehalt zum Grundsatz der
51
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
172 StGH 1993/3, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 37 (39).
173 Hiesel, S. 3.
174 StGH 1991/14, Urteil vom 23. März 1993, LES 3/1993, S. 73 (75).
175 Das Verfassungsgesetz vom 16. Juni 1992, LGBl 1992 Nr. 81, schreibt nämlich vor:
«Über die Anpassung des geltenden Rechts an die Gleichberechtigung von Mann und
Frau bestimmen die Gesetze.»
176 Siehe StGH 1994/6, Urteil von 4. Oktober 1994, LES 1/1995, S. 16 (19).
Geschlechtergleichheit gesehen werden könne.177 Auf diese Weise rekla-
miert der Staatsgerichtshof für sich selber einen Gestaltungsspielraum
und kann, nachdem er sich nun einmal an die Stelle des Verfassungs ge -
setz gebers gesetzt hat, sagen, dass in der Rechtsanwendung eine «gleich-
heitsgemässe» Entscheidung bei verfassungskonformer Interpretation178
nichts anderes bedeute, als dass sich der Bürger und die Bürgerin sofort
auf den Geschlechtergleichheitsgrundsatz als verfassungsmässig gewähr-
leistetes Recht berufen könnten, d.h. ohne eine Gesetzesänderung bzw.
die entsprechende gesetzgeberische Anpassung des geltenden Rechts ab-
warten zu müssen. Der Staatsgerichtshof tritt hier in der Rolle eines Er -
satz gesetzgebers auf, die ihm von seiner Funktion und Stellung als
Gericht im Verfassungsgefüge nicht zugewiesen ist, auch dann nicht,
wenn das (rechtspolitische) Engagement des Gesetzgebers seinen Vor -
stel lungen nicht entsprechen sollte.
bb) Ungeschriebenes Verfassungsrecht
Der Staatsgerichtshof wird bisweilen auch «schöpferisch und verfas-
sungsgestaltend» tätig,179 wenn er ungeschriebenes Verfassungsrecht
kreiert und das Willkürverbot, das «unzweifelhaft zum unverzichtbaren
Grund bestand des Rechtsstaates» gehört, zum ungeschriebenen Grund -
recht erklärt.180 Dabei behält er sich vor, weitere für den Einzelnen «fun-
damentale, im Verfassungstext nicht erwähnte Rechtsschutzbedürfnisse
direkt als ungeschriebene Grundrechte» anzuerkennen. Der Staatsge -
52
Herbert Wille
177 StGH 1991/14, Urteil von 23. März 1993, LES 3/1993, S. 73 (76); vgl. zur späteren
Motion, mit der der Landtag die Regierung verpflichtet hatte, bis spätestens Dezember
1996 die entsprechenden Gesetzesänderungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der
Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 31 Abs. 2 LV) dem Landtag in Vorschlag
zu bringen, StGH 1996/36, Urteil von 24. April 1997, LES 4/1997, S. 211 (212 f. und
215), wo der Staatsgerichtshof festhält, dass die vom Landtag gesetzte – und inzwischen
abgelaufene – Frist bis Ende 1996 zur Behebung der in zahlreichen Gesetzen bestehen-
den verfassungswidrigen Differenzierungen zwischen den Geschlechtern die
Durchsetzung dieser Verfassungsbestimmung durch den Staatsgerichtshof im Rahmen
der ihm vor Ablauf dieser Frist zur Beurteilung vorgelegten Beschwerdefälle nicht ge-
hindert habe.
178 Wenn man sie hier als «spezifisches Interpretationsmodell» (so Höfling, Die liechten-
steinische Grundrechtsordnung, S. 45 f) versteht, würde die verfassungskonforme Aus -
le gung für den Verfassungsgesetzgeber, d.h. das Verfassungsgesetz, sprechen.
179 Kley, S. 256; vgl. für das schweizerische Bundesgericht siehe Müller, S. 68 f.
180 StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (6).
richts hof verlässt damit die bisherige Methode, «neue Grundrechte»
bzw. Rechtsschutzbedürfnisse aus thematisch mehr oder weniger ver-
wandten positiv normierten Grundrechten abzuleiten. Man hätte sich
auch vorstellen können, dass der Staatsgerichtshof das Willkürverbot
nach wie vor aus dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 31 Abs. 1 der Ver -
fas sung hergeleitet hätte. Denn für die Schutzwirkung, auf die es in er-
ster Linie ankommt, ist es – wie er selber sagt – nicht von Belang, ob das
Willkürverbot als selbständiges Grundrecht gilt. So erklärt der Staats -
gerichts hof, dass die Frage der «Geltungsgrundlage des Willkürverbots»
letztlich «kaum praktische Auswirkungen» habe, zumal er auch keine
«strengen Anforderungen in Bezug auf die richtige Subsumtion einer
Grundrechtsrüge innerhalb des positivrechtlich normierten Grund -
rechts kata logs der Verfassung» stelle.181 Die auf diese Weise, d.h. im
Wege der Anerkennung von ungeschriebenen Grundrechten «gewonne-
nen Normen» lassen sich kaum «nahtlos in das vom kodifizierten
Verfas sungs recht errichtete System einfügen», wie dies Andreas Kley182
fordert. Die Tatsache, dass man auch in Österreich beginnt, die
Konzeption der Geschlossenheit des Rechtsquellensystems infrage zu
stellen, ist in diesem Kontext nur ein und keineswegs ein zwingender
Aspekt. Die Ge waltenteilung ist ein anderer Aspekt bzw. ein gewichti-
geres Argument, weil der Staatsgerichtshof bei der Anerkennung von
ungeschriebenen Grundrechten in die Funktionen des Verfassungs ge -
setz gebers übergreift bzw. als Ersatzverfassungs gesetz geber auftritt.183
Dieser Einwand findet in der Entscheidung des Staatsgerichtshofes kei-
ne Berücksichtigung und bleibt ausgeblendet.
c) Noch keine gefestigte Praxis
Diese Entscheidung stellt nur einen Teil der Rechtsprechung zu seinem
Abgrenzungsverhalten dar. Sie weist aufs Ganze gesehen nicht in diese
Richtung oder erhält nicht so eindeutige Konturen. Dies hängt nicht un-
wesentlich mit seiner «eingeschränkten funktionellen Eignung» zur
53
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
181 Vgl. auch Kley, S. 258.
182 Kommentar, S. 258.
183 Kley (S. 256) spricht davon, dass es sich bei der Grundrechtsprechung um eine «schöp-
ferische und verfassungsgestaltende Rechtsprechung» des Staatsgerichtshofes handle.
Kor rektur des Gesetzgebers zusammen,184 so dass der Staatsgerichtshof
bei der Rechtsetzung für den «Vorrang der Legislative» eingetreten ist.185
Es gibt – wie ausgeführt – auch Aussagen, die zugunsten des Gesetz ge -
bers Stellung beziehen, so dass die Rechtsprechung in dieser Hinsicht
abzuwarten bleibt. Denn es obliegt dem Staatsgerichtshof als Verfas -
sungs gerichtshof und nicht dem Gesetzgeber, darüber zu entscheiden,
wo die Grenzlinie verläuft.
3. Staatsgerichtshof und die «andern» Gerichte186
a) Grundsatz
Es ist konstante Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, dass mit Ver fas -
sungs beschwerde nur unter bestimmten Voraussetzungen eine zusätz -
liche, volle instanzenmässige Prüfung und Sachentscheidung beim Staats -
gerichtshof erlangt werden kann.187 Der Staatsgerichtshof wird zwar auf
diesem Wege häufig als «vierte Instanz» angerufen. Er hat je doch grund -
sätzlich nicht die Funktion einer solchen Instanz. In der Entscheidung
vom 24. Oktober 1996188 sagt der Staatsgerichtshof, dass es nicht seine
Aufgabe sei, als «vierte Sach- und Rechtsinstanz in Zivil sa chen zu fungie-
ren». Im Gegensatz zum österreichischen Verfassungs ge richtshof habe er
aber doch gemäss Art. 23 des Staatsgerichts hof ge set zes die Aufgabe,
sämtliche mit Verfassungsbeschwerde angefochtene End ent scheidungen
– also nicht nur Entscheidungen der Ver wal tungs be schwer deinstanz,
sondern auch diejenigen des Obersten Gerichts hofes – auf ihre Ver fas -
sungsmässigkeit zu überprüfen und allenfalls zu kassieren.189
54
Herbert Wille
184 StGH 1993/3, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 37 (38).
185 StGH 1982/65/V, Urteil vom 15. September 1983, LES 1/1984, S. 3 (4). Siehe auch die
Ausführungen vorne S. 49 ff.
186 So die Formulierung gemäss Art. 28 StGHG.
187 Vgl. StGH 1994/16, Urteil vom 11. Dezember 1995, LES 2/1996, S. 49 (55).
188 StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11).
189 Vgl. auch StGH 1996/38, Urteil vom 24. April 1997, nicht veröffentlicht, S. 12 f., wo
der Staatsgerichtshof ausführt: «Dabei ist der Staatsgerichtshof als Verfassungs ge richts -
hof gerade keine weitere Rechts- und Tatsacheninstanz im Rahmen dieses jeweiligen
voran ge gangenen Instanzenzuges. Vielmehr hat der Staatsgerichtshof im Verfassungs -
be schwer deverfahren nach Art. 23 StGHG spezifisch zu prüfen, ob eine ihm vorgeleg-
te Entscheidung gegen eines der von der Verfassung garantierten Grund rechte ver -
stösst».
Der Staatsgerichtshof verneint seine Zuständigkeit, letztinstanz -
liche gerichtliche Entscheidungen, die nur das einfache Gesetz auslegen
und anwenden, zu überprüfen. So erklärte er auch schon, wenn er es ab-
lehnte, als vierte Rechts- und Sachinstanz zu fungieren, dass Be schwer -
de ausführungen, insoweit sie die «einfachgesetzliche Rechtsanwen -
dung» revisionsartig bekämpften, aus der «Prüfkompetenz» des Staats -
gerichtshofes fielen. 190 Damit gibt der Staatsgerichtshof zu verstehen,
daß er nicht schon dann eingreifen kann, wenn eine an einfachgesetz -
lichen Bestimmungen gemessene gerichtliche Entscheidung objektiv
feh lerhaft bzw. falsch ist. Es fehlt hier am verfassungsgesetzlichen Be -
zug, der gegebenenfalls über den Weg des Willkürverbots hergestellt
werden kann. Er erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, dass die
Entscheidungen der anderen (ordentlichen) Gerichten in «richterlicher
Unabhängigkeit» getroffen worden sind.191 Dieser Hinweis kommt auch
nicht von ungefähr. Er hat seinen Grund darin, dass der Staats ge richts -
hof sich nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, allzu stark in die
Selbstän digkeit dieser Gerichte einzugreifen, wenn er von seiner verfas-
sungsgerichtlichen Prüfungs- und Kassationsbefugnis Gebrauch macht.
b) Ausnahme
Die Prüfung letztinstanzlicher gerichtlicher Entscheidungen beschränkt
sich demnach auf die Beachtung der in den Art. 28 ff. der Verfassung und
der in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund frei -
hei ten (EMRK) sowie des Internationalen Paktes über bürgerliche und
politische Rechte gewährleisteten Rechte.192 Eine weitere instanzenmäs-
sige, sich nur auf einfaches Gesetz gründende Sach- und Rechtsprüfung
soll mit Beschwerde vor dem Staatsgerichtshof nicht erwirkt werden
können.193 Dies geschieht jedoch nicht ausnahmslos. Würde man sich
55
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
190 StGH 1994/12, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1/1995, S. 30 (33).
191 StGH 1993/1, Urteil vom 23. März 1993, LES 3/1993, S. 89 (90); zur Gewaltenteilung
siehe auch StGH 1982/65/V, Urteil vom 15. September 1983, LES 1984, S. 3 (4).
192 Siehe Art. 23 StGHG.
193 StGH 1988/4, Urteil vom 30./31. Mai 1990, LES 1/1991, S. 1 (2); vgl. auch StGH
1990/4, Urteil vom 22. November 1990, LES 2/1991, S. 25 (27); StGH 1991/14, Urteil
vom 23. März 1993, LES 3/1993, S. 73 und StGH 1993/1, Urteil vom 23. März 1993,
LES 3/1993, S. 89; für Deutschland vgl. Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 186 ff./
Rdnr. 271 ff.
nämlich einer solchen Formel mit aller Strenge verschreiben, wäre sie für
die Praxis untauglich, da eine Abgrenzung in «einfache» Rechts wid rig -
keit und Grundrechtswidrigkeit kaum gelingt.194 Der Staatsgerichtshof
behält sich daher das Recht vor, letztinstanzliche gerichtliche Entschei -
dun gen, die wegen unrichtiger Anwendung oder Auslegung eines Geset -
zes angefochten werden, dann zu überprüfen, wenn sie in einem so
erheblichen Masse fehlerhaft sind, so dass bei ihnen von Willkür gespro-
chen werden muss.195 So nimmt er im Rahmen eines Verfassungs be -
schwer deverfahrens auf entsprechenden Antrag eine Willkürprüfung
auch dann vor, wenn kein spezifisches Grundrecht betroffen ist.196 Von
einer Ausnahme (im eigentlichen Sinne) kann zwischenzeitlich aller-
dings nicht mehr die Rede sein, nachdem der Staatsgerichtshof das Will -
kürverbot als ungeschriebenes, eigenständiges Grundrecht anerkannt
hat.197 Dies zeigt sich in verfahrensrechtlicher Hinsicht darin, dass sich
eine Verfassungsbeschwerde allein auf das Willkürverbot stützen kann,
ohne zusätzlich noch eine Verfassungsbestimmung anrufen zu müssen,
die spezifisch dem Schutz der Interessen des Beschwerdeführers dient.
Jedenfalls tritt der Staatsgerichtshof auf eine Willkürbeschwerde gegen
eine letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung ohne weiteres ein.198
Auf die Willkürprüfung selbst, d.h. auf den Prüfungsvorgang, der
nachstehend näher erörtert wird, hat die Anerkennung des Will kür -
verbots als ungeschriebenes Grundrecht keine Auswirkungen. Sie ist da-
von nicht betroffen, so dass sich eine Änderung in der Recht spre chung
56
Herbert Wille
194 Vgl. Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 75 f.
195 Vgl. StGH 1988/19, Urteil vom 27. April 1989, LES 3/1989, S. 122 (125), wo ausgeführt
wird: «Da der Beschwerdeführer in keinem besonderen verfassungsmässigen garantier-
ten Recht verletzt worden ist, bleibt einzig zu überprüfen, ob das Obergericht das ma-
terielle Recht derart unsachlich und grob unrichtig angewendet hat, dass die getroffene
Ent scheidung das aus Art. 31 Abs. 1 der Verfassung abgeleitete Willkürverbot verletzen
würde. Dies wäre dann der Fall, wenn das Obergericht bei der Rechtsanwendung einen
der art schweren Fehler gemacht hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit gleichzusetzen
wäre».
196 StGH 1998/42, Urteil vom 4. September 1998, LES 5/1999, S. 295 (298).
197 Das Willkürverbot wird nicht als «spezifisches» Grundrecht angesehen, da es keinen
klar abgrenzbaren Schutzbereich aufweist.
198 In StGH 1998/75, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2, S. 1 (6 /Ziff. 4.4) weist der
Staats gerichtshof darauf hin, dass es, auch wenn dem Willkürverbot ein Status eines
unge schriebenen Grundrechts zuerkannt worden sei, nicht schade, wenn auch zukünf-
tig in einer Willkürrüge auf Art. 31 LV Bezug genommen werde. Voraussetzung sei
aller dings, dass die angefochtene Entscheidung ausdrücklich auch als willkürlich be-
zeichnet werde.
auch nicht aufdrängte und der Staatsgerichtshof seine Praxis fortsetzen
konnte.
c) Art und Weise der Prüfung
Die Willkürprüfung unterscheidet sich in ihrem Inhalt und ihrer Dichte,
nicht jedoch in ihrer Reichweite bzw. in ihrem Umfang199 von der spezi-
fischen verfassungsgerichtlichen Grundrechtsprüfung. Das heisst, dass
die Kontrolle des Willkürverbots nicht eine (eigentliche) Inhalts kon -
trolle im Sinne der Richtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung ist und
nicht mit der gleichen Intensität erfolgt, so dass der Staatsgerichtshof sa-
gen kann, er prüfe die «sachliche Richtigkeit» einer gerichtlichen Ent -
schei dung nicht im Lichte eines Grundrechts, sondern des Willkür ver -
bots.200 Ansonsten prüft der Staatsgerichtshof die vorgebrachten Argu -
mente eines Beschwerdeführers «grundsätzlich nicht anders als eine
vierte Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz»201, auch wenn die vom
Staatsgerichtshof «aus dieser Analyse zu ziehenden rechtlichen Fol ge -
rungen grundsätzlich andere als bei einer ordentlichen Gerichts in stanz
sind». Der Staatsgerichtshof rechtfertigt ein solches Vorgehen damit,
dass eine von «vornherein eingeschränkte Prüfung von Willkür be -
schwerden» eine Rechtsverweigerung darstellen würde, da der Staatsge -
richts hof im Einzelfall abzuwägen und nachvollziehbar zu begründen
habe, wann die Grenze zwischen einer in einem Rechtsstaat gerade noch
57
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
199 Vgl. als Beispiele zur Reichweite der Prüfung im Rahmen des Willkürverbots StGH
1988/44, Urteil vom 8. April 1999, Jus & News 1/99, S. 28 (34 ff./Ziff. 4.1 bis 4.4) und
StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11 ff./Ziff. 3 und 4).
200 StGH 1998/44, Urteil vom 8. April 1999, Jus & News 1/99, S. 28 (32). Unter «Inhalts -
kontrolle» ist eine umfassende Überprüfung von gerichtlichen Entscheidungen auf ihre
sachliche Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassung unter dem
Gesichts punkt materieller Richtigkeit zu verstehen. In diesem Sinne Hans-Peter
Schneider, S. 2105.
201 So schon in seiner konstanten Rechtsprechung, die der Staatsgerichtshof in StGH
1994/16, Urteil vom 11. Dezember 1995, LES 2/1996, S. 49 (54 f.) zusammenfasst (vgl.
auch S. 54 f.). Danach kann mit Verfassungsbeschwerde eine «zusätz liche, volle instan-
zenmässige Prüfung und Sachentscheidung» beim Staatsgerichtshof erlangt werden,
wenn einer gerichtlichen (hier: verwaltungsgerichtlichen) Entschei dung ein verfas-
sungswidriges Gesetz oder eine gesetzwidrige Verordnung zugrundegelegt ist oder eine
«so willkürliche Rechtsanwendung erweislich» ist, die einer Verlet zung von Art. 31 LV
gleichkäme.
vertretbaren und einer qualifizierten falschen Entscheidung überschrit-
ten sei. Der Gesetzgeber räume nämlich dem Staatsgerichtshof nicht die
Möglichkeit ein, offensichtlich unbegründete Verfassungsbeschwerden
ohne nähere Begründung keine Folge zu geben.202 Der Willkürraster ist
gröber bzw. nicht so fein wie der Prüfungsraster bei der (spezifischen)
Grundrechtsprüfung. So ermöglicht eine spezifische Grundrechtsrüge in
der Regel eine eingehendere Kontrolle als das Willkürverbot.203 Dem
Willkürverbot liegt der es begrenzende Gedanke zugrunde, als «letzte
Verteidigungslinie des Rechts gegenüber derart offensichtlichem
Unrecht zu dienen, das in einem modernen Rechtsstaat nicht zu tolerie-
ren ist».204 Aus dieser Funktion als «Auffanggrundrecht» erklärt und
recht fertigt sich die Prüfungsbeschränkung. Der Staatsgerichtshof prüft
demnach eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen des Willkürverbots
nur daraufhin, ob von einer «gerade noch vertretbaren» oder (schon)
von einer «qualifiziert falschen» Entscheidung gesprochen werden muss.
In diesem Zusammenhang hält er beispielsweise fest, dass eine Ver let -
zung des Willkürverbots nicht schon vorliege, wenn sich die gerichtliche
Entscheidung auf «vertretbare» Gründe stütze oder wenn die vom Ge -
richt getroffene Sachverhaltsfeststellung, die auch einen Verstoss gegen
das Willkürverbot darstellen kann,205 «genügend plausibel» sei. Denn
Willkür sei nicht schon dann gegeben, wenn der Staatsgerichtshof eine
gerichtliche Entscheidung als unrichtig qualifiziere. Eine solche («Ver -
tretbarkeits»)kontrolle meint der Staatsgerichtshof, wenn er von einem
«groben Willkürraster» spricht.206 Es gibt keine feste Regel, die angeben
58
Herbert Wille
202 StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11); vgl. auch StGH
1998/44, Urteil vom 8. April 1999, veröffentlicht in: Jus & News 1/1999, S. 28 (35).
203 StGH 1998/19, Urteil vom 23. November 1998, LES 5/1999, S. 282 (285 f.). In StGH
1998/29, Urteil vom 3. September 1998, LES 5/1999, S. 276 (282), ist von einem «gro-
ben Willkürraster» die Rede.
204 In diesem Sinne StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11) un-
ter Bezugnahme auf Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 220 f. und
Daniel Thürer, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, ZSR Bd. 106 [1987], II. Halbband,
S. 449 und 461 ff.).
205 StGH 1998/29, Urteil vom 3. September 1998, LES 5/1999, S. 276 (281) und StGH
1998/44, Urteil vom 8. April 1999, Jus/News 1/99, S. 28 (35).
206 StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11); StGH 1997/23,
Urteil vom 29. Januar 1998, LES 5/1998, S. 283 (286 f.); StGH 1998/29, Urteil vom
3. September 1998, LES 5/1999, S. 276 (282); StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar
1999, LES 1/2000, S. 1 (6 f); StGH 1998/63, Entscheidung von 27. September 1999, LES
2/2000, S. 63 (66) und StGH 1998/65, Urteil vom 3. Mai 1999, LES 1/2000, S. 8 (11);
zum Begriff der Vertretbarkeitskontrolle siehe Schneider, S. 2105.
könnte, wo die Grenzlinie zwischen einer noch vertretbaren bzw. halt-
baren Entscheidung und einer bereits willkürlichen bzw. stossenden
Entscheidung verläuft. Dies lässt sich nur im Einzelfall be stimmen.207
Wird in einem Beschwerdefall neben der Verletzung des Will kür -
ver bots gleichzeitig auch die Verletzung eines spezifischen Grundrechts
gerügt, ermöglicht dies in der Regel eine differenziertere, nachhaltigere
Prüfung als unter dem Willkürgesichtspunkt, weshalb die spezifische
Grundrechtsrüge der Anrufung des Willkürverbots vorgeht.208 In wel-
cher Weise der Staatsgerichtshof die Nachprüfung gestaltet, hängt vom
Intensitätsgrad der Grundrechtsbeeinträchtigung ab, mit andern Worten
in welchem Grundrecht und mit welcher Intensität die mögliche Grund -
rechtsverletzung auf den Betroffenen wirkt. Eine solche Abstufung nach
der Eingriffsintensität ermöglicht es dem Staatsgerichtshof, je nachdem
die Prüfungsdichte zu verstärken oder zurückzunehmen. So hat der
Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 22. Februar 1999 festge-
halten, dass bei besonderer Schwere der Beeinträchtigung eines Grund -
rechts, hier: des Rechts auf den ordentlichen Richter gemäss Art. 33
Abs. 1 der Verfassung, eine differenzierte, d.h. vollumfängliche und ein-
gehende Überprüfung angebracht sein kann, wenn einem Rechts suchen -
den durch eine erstinstanzliche Zurückweisungs entscheidung die Be -
schrei tung des Rechtsweges von vornherein abgeschnitten wird.209
Gleich verhält sich der Staatsgerichtshof auch gegenüber dem Gesetz ge -
ber, wenn er einen über die Willkürprüfung hinausgehenden strengen
Mass stab nicht nur bei gesetzgeberischen Verstössen gegen das
Geschlechtergleichheitsgebot gemäss Art. 31 Abs. 2 der Verfassung, son-
dern auch generell bei den die «Menschenwürde tangierenden Diskrimi -
nie rungen» anwendet.210 Liegt dagegen kein «schwerwiegender» Eingriff
in ein (spezifisches) Grundrecht vor, so etwa wenn der «Schutzbereich
des Anspruchs auf den ordentlichen Richter nur am Rande betroffen
59
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
207 So StGH 1995/28, Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1/1998, S. 6 (11).
208 StGH 1997/27, Urteil vom 18. November 1997, LES 1/1999, S. 11 (15); StGH 1997/36,
Urteil vom 2. April 1998, LES 2/1999, S. 76 (78); StGH 1998/19, Urteil vom 23. No -
vem ber 1998, LES 5/1999, S. 282 (285 f); in diesem Sinne auch der Prüfungsvorgang in
StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (10 f) und StGH 1998/63,
Entscheidung vom 27. September 1999, LES 2/2000, S. 63 (65 f.).
209 Vgl. StGH 1997/27, Urteil vom 18. November 1997, LES 1/1999, S. 11 (15) und StGH
1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (5).
210 So StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (5) unter Bezugnahme
auf StGH 1998/2.
ist»211, geht die Schutzwirkung des Grundrechts nicht über das Will kür -
ver bot hinaus,212 so dass der Staatsgerichtshof in diesem Fall lediglich
den «groben» Willkürraster anwendet. Gleiches gilt für den Schutz be -
reich des Gleichheitsgebots bei der Normenkontrolle. Hier deckt sich
der Schutzbereich weitgehend mit demjenigen des Willkürverbots, so
dass sich die Prüfung des Staatsgerichtshofes in der Regel darauf be-
schränkt, ob der Gesetzgeber gleich zu behandelnde Sachverhalte bzw.
Per sonen gruppen ohne einen vertretbaren Grund und somit eben in
willkürlicher Weise ungleich behandelt.213 Dieser Vertretbarkeits mass -
stab ist Ausdruck verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung, die den Ge -
stal tungsspielraum des Gesetzgebers nicht wesentlich beeinträchtigt
bzw. ihn respektiert, indem er dem Gewaltenteilungsprinzip Rechnung
trägt.
d) Schlussfolgerung
Aus diesen Ausführungen ist zweierlei ersichtlich: Einerseits ist es der
Grund satz der Gewaltenteilung und andererseits ein funktionell-recht -
licher Gesichtspunkt, der bei der Aufgabenteilung zwischen dem Staats -
ge richtshof und den andern Gerichten zur Kompetenzabgrenzung her-
angezogen wird. Die Thematisierung der Frage nach der Reichweite und
dem Intensitätsgrad verfassungsgerichtlicher Nachprüfung von gericht-
lichen Entscheidungen, wie sie der Staatsgerichtshof in seiner Recht spre -
chung vornimmt, verdeutlicht zudem, dass neben der funktionalen
Stellung des Staatsgerichtshofes in seinem Verhältnis zu den andern Ge -
richten auch das materielle Grundrechtsverständnis214 eine Rolle spielt.
60
Herbert Wille
211 StGH 1997/27, Urteil vom 2. April 1998, LES 1/1999, S. 7 (15).
212 StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (5).
213 StGH 1997/28, Urteil vom 29. Januar 1999, LES 3/1999, S. 148 (154) und StGH
1997/14, Urteil vom 17. November 1997, LES 5/1998, S. 264 (267).
214 Vgl. etwa zum «materiellen Gehalt» des Art. 43 LV (Recht auf Beschwerde) StGH
1997/36, Urteil vom 2. April 1998, LES 2/1999, S. 76 (78 f.) und StGH 1998/19, Urteil
vom 23. November 1998, LES 5/1999, S. 282 (286).
Literaturverzeichnis
Hinweis: Weitere Literaruturangaben finden sich in den Anmerkungen.
Batliner, Gerard: Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem Band, S. 109–137.
Batliner, Gerard: Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Verfassungsrechts, Vaduz 1998.
Batliner, Gerard: Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht (1. Teil), in:
Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staat -
lichen Organisation, LPS 21, Vaduz 1994, S. 15–104.
Batliner, Gerard: Schichten der liechtensteinischen Verfassung von 1921, in: Arno Wasch -
kuhn (Hrsg.), Kleinstaat: Grundsätzliche und aktuelle Probleme, LPS 16, Vaduz 1993,
S. 281–300.
Batliner, Gerard: Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschen -
rechtskonvention, in: Peter Geiger/Arno Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein: Kleinheit
und Interdependenz, LPS 14, Vaduz 1990, S. 91–180.
Batliner, Martin: Die politischen Volksrechte im Fürstentum Liechtenstein (Publikationen
des Instituts für Föderalismus Freiburg Schweiz; Band 8), Diss. Freiburg/Schweiz 1993.
Beck, Wilhelm: Kommissionsbericht und Begründung zum Gesetzesentwurfe über die all-
gemeine Landesverwaltungspflege, Vaduz 1922.
Benda, Ernst/Klein, Eckart: Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, Heidelberg 1991.
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen
Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne
deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Königstein/Ts. 1981, S. 146–170.
Brunhart, Arthur/Quaderer, Rupert: Wilhelm Beck (1885–1936): Bilder aus seinem Leben
und Schaffen, in: Vaterländische Union (Hrsg.), Die Schlossabmachungen vom Sep tem -
ber 1920. Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liech ten -
stein im frühen 20. Jahrhundert, Vaduz 1996, S. 103–140.
v. Brünneck, Alexander: Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein
systematischer Verfassungsvergleich (Studien und Materialien zur Verfassungsgerichts -
bar keit; Bd. 52), Baden-Baden 1992.
Cappelletti, Mauro/Ritterspach, Theodor: Die gerichtliche Kontrolle der Ver fas sungs -
mässig keit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: JöR NF Bd. 20 (1971),
S. 65–109.
Eichenberger, Kurt: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Gliedstaaten der Schweiz, in:
Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Studien und
Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit; Bd. 25) Teilband 1: Geschichte, Organi sa -
tion, Rechtsvergleichung, Baden-Baden 1983, S. 435–460.
Fricke, Carsten: Zur Kritik an der Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit im verfassungs-
staatlichen Deutschland: Geschichte und Gegenwart (Europäische Hochschulschriften:
Reihe 2; Bd. 1823), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien 1995.
Friesenhahn, Ernst: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland,
Köln/Berlin/Bonn/München 1963.
Haller, Herbert:Die Prüfung von Gesetzen. Ein Beitrag zur verfassungsgerichtlichen Nor -
men kontrolle (Forschungen aus Staat und Recht 47), Wien/NewYork 1979.
Haller, Walter: Ausbau der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Rainer
J. Schweizer (Hrsg.), Reform der Bundesgerichtsbarkeit, Zürich 1995, S. 177–193.
61
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
Haller, Walter: Das schweizerische Bundesgericht als Verfassungsgericht, in: Christian
Starck/Albrecht Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa (Studien und
Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit; Bd. 30/I), Teilband I: Berichte, Baden-
Baden 1986, S. 179–217.
Haller, Walter: Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: DÖV
1980, S. 465–472.
Hiesel, Martin: Verfassungsgesetzgeber und Verfassungsgerichtshof (Österreichische
Rechtswissenschaftliche Studien; Bd. 28), Wien 1995.
Hoch, Hilmar: Verfassung- und Gesetzgebung, in: Gerard Batliner(Hrsg.), Die liechten-
steinische Verfassung 1921. Elemente der staatlichen Organisation, LPS 21, Vaduz
1994, S. 201–2029.
Hoke, Rudolf: Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der
deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landes ver -
fas sungs gerichtsbarkeit (Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit;
Bd. 25), Baden-Baden 1983, S. 25–102.
Höfling, Wolfram: Die liechtensteinische Grundrechtsordnung. Eine kritisch-systemati-
sche Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs unter Berück sich ti -
gung der Grundrechtslehren des deutschsprachigen Raumes, LPS 20, Vaduz 1994.
Höfling, Wolfram: Liechtenstein und die Europäische Menschenrechtskonvention, in:
AVR Bd. 36 (1998), S. 140–153.
Huber, Ernst Rudolf:Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restau -
ra tion 1789 bis 1830, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 1990.
Kelsen, Hans: Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL Heft 5
(1929), S. 30–88.
Kley, Andreas: Kommentar zu Urteil StGH 1998/45 vom 22. Februar 1999 (Anerkennung
ungeschriebener Grundrechte), in: Jus & News 3/1999, S. 256–259.
Knies, Wolfgang: Auf dem Wege in den «verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat»? in:
Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum
65. Geburtstag, München 1997, S. 1155–1182.
Knöpfle, Franz: Richterbestellung und Richterbank bei den Landesverwaltungsgerichten,
in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Studien
und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit; Bd. 25), Teilband 1: Geschichte, Orga -
ni sation, Rechtsvergleichung, Baden-Baden 1983, S. 231–251.
Korinek, Karl: Die Tatsachenermittlung im verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Klaus
Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, München 1990, S. 107–117.
Korinek, Karl: Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in:
VVDStRL 39 (1981), S. 7–52.
Korinek, Karl: Das Gesetzesprüfungsrecht als Kern der Verfassungsgerichtsbarkeit, in:
Salzburger Symposion zum Jubiläum 60 Jahre Bundesverfassung, Salzburg 1980,
S. 108–113.
Kremzow, Friedrich Wilhelm: Rechtsanwälte als Mitglieder des k.k. Verwaltungsgerichts -
hofes, in: Friedrich Lehne/Edwin Loebenstein/Bruno Schimetschek (Hrsg.), Die Ent -
wick lung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 100jährigen
Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Wien/NewYork 1976,
S. 39–58.
Marxer, Otto Ludwig: Die Organisation der obersten Staatsorgane in Liechtenstein, Diss.
Innsbruck 1924.
62
Herbert Wille
Melichar, Erwin: Die Liechtensteinische Verfassung 1921 und die österreichische Bundes -
ver fassung 1920, in: B.-Ch. Funk/H. R. Klecatzky/E. Loebenstein/W. Mantl/K. Ring -
hofer (Hrsg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, Festschrift
für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien/NewYork 1992, S. 435–445.
Melichar, Erwin: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Hermann Mosler
(Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, Köln/Berlin 1962, S. 439–488.
Müller, Jörg Paul: Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in:
VVDStRL 39 (1981), S. 53–98.
Öhlinger, Theo: Verfassungsgerichtsbarkeit und parlamentarische Demokratie, in: Heinz
Schäffer (Hrsg.), Im Dienst an Staat und Recht. Internationale Festschrift Erwin
Melichar zum 70. Geburtstag, Wien 1983, S. 125–148.
Ospelt, Alois: Die geschichtliche Entwicklung des Gerichtswesens, in: Beiträge zur ge-
schichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der
Gerichts barkeit in Liechtenstein, in: LPS 8, Vaduz 1981, S. 217–244.
Press, Volker: Das Fürstentum Liechtenstein im Rheinbund und im Deutschen Bund
(1806–1866), in: LPS 10, Vaduz 1984, S. 45–106.
Quaderer, Rupert: «Erkenne man die flammenden Zeichen der Zeit!» Die Schloss ab ma -
chun gen vom September 1920, in: Vaterländische Union (Hrsg.), Die Schloss -
abmachungen vom September 1920. Studien und Quellen zur politischen Geschichte
des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, Vaduz 1996, S. 71–93.
Quaderer, Rupert: Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion von 1921, in:
Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staat -
lichen Organisation, LPS 21, Vaduz 1994, S. 105–140.
Rhinow, René: Die Bundesverfassung 2000. Eine Einführung, Basel/Genf/München 2000.
Ritter, Karlheinz: Die Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Fürstentum
Liech tenstein, Diss. Bern 1958.
Schambeck, Herbert: Österreichs Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik,
in: Heinz Schäffer (Hrsg.), Im Dienst an Staat und Recht. Internationale Festschrift
Erwin Melichar zum 70. Geburtstag, Wien 1983, S. 185–203.
Scheuner, Ulrich: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: DÖV 1980, S. 473–
480.
Scheuner, Ulrich: Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und
20. Jahr hundert, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grund -
gesetz, Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts;
Bd. I: Verfassungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1976, S. 1–75.
Scheuner, Ulrich: Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der
Bun desrepublik, in: DVBl 1952, S. 293–298.
Schlaich, Klaus: Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl., München 1997.
Schlaich, Klaus: Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL
39 (1981), S. 99–146.
Schmidt, Christian Hermann: Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie
(Schrif ten zur Verfassungsgeschichte, Bd. 62), Berlin 1999.
Schmitt Glaeser, Walter: Das Bundesverfassungsgericht als «Gegengewalt» zum verfas-
sungsändernden Gesetzgeber?, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlich -
keit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1183–1198.
Schneider, Hans-Peter: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, in: NJW 1980,
S. 2103–2111.
63
Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein
Scholz, Rupert: Karlsruhe im Zwielicht – Anmerkungen zu den wachsenden Zweifeln am
BVerfG, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus
Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1201–1223.
Schurti, Andreas: Das Verordnungsrecht der Regierung. Finanzbeschlüsse, in: Gerard Bat -
liner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staatlichen Orga ni -
sa tion, LPS 21, Vaduz 1994, S. 231–266.
Simon, Helmut: Verfassungsgerichtsbarkeit, in Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-
Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutsch -
land, Berlin/NewYork 1983, S. 1253–1289.
Spanner, Hans: Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde in Österreich, in: Ver fas -
sung und Verfassungsrechtsprechung, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayer.
Verfassungsgerichtshofs, München/Stuttgart 1972, S. 33–44.
Sprenger, Peter: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechten-
steinische Verfassung 1921. Elemente der staatlichen Organisation, LPS 21, Vaduz
1994, S. 329–371.
Starck, Christian: Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozess der Bun des -
republik (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart; 466/467), Tübingen 1976.
Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1980 und
Bd. V, München 2000.
Stotter, Heinz Josef: Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1986.
Vaterländische Union (Hrsg.):Die Schlossabmachungen vom September 1920, Studien und
Quel len zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahr -
hun dert, Vaduz 1996.
Wagner, Albrecht: Entstehung, Organisation und Kompetenzen des Bundesverfassungs ge -
richts, in: DriZ 1961, S. 280–287.
Wahl, Rainer: Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in:
NVwZ 1984, S. 401–409.
Wahl, Rainer/Rottmann, Frank: Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsge -
richts barkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Wei -
mar, in: Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bun des re pu -
blik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem (Industrielle Welt: Schrif ten reihe
des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 34: Sozialgeschichte der Bundes -
republik Deutschland), Stuttgart 1983, S. 339–386.
Wille, Herbert: Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht auf der Grundlage der
Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, LPS 27, Vaduz 1999.
Wille, Herbert:Monarchie und Demokratie als Kontroversfragen der Verfassung 1921, in:
Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staat -
lichen Organisation, LPS 21, Vaduz 1994, S. 141–199.
Wille, Herbert: Landtag und Wahlrecht im Spannungsfeld der politischen Kräfte in der
Zeit von 1918–1939, in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen
Volks rechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein, LPS 8, Vaduz
1981, S. 59–215.
Wille, Herbert: Regierung und Parteien. Auseinandersetzung um die Regierungsreform in
der Verfassung von 1921, in: Probleme des Kleinstaates gestern und heute, LPS 6,
Vaduz 1976, S. 59–118.
Wintrich, Josef/Lechner, Hans: Die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Karl August Better -
mann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Hand buch
der Theorie und Praxis der Grundrechte, 2. Aufl., Bd.III/2, Berlin 1972, S. 643–683.
64
Herbert Wille
Schwerpunkte in der Entwicklung der
Grundrechtssprechung des Staatsgerichtshofes*
Hilmar Hoch
Übersicht
Einleitung – Die Anfänge: Zurückhaltende Grundrechtsprechung – An -
sätze eines strengeren Prüfungsmassstabes – Primat der Grundrechte –
Willkürverbot als universelles Auffanggrundrecht – Willkürverbot als ei-
genständiges Grundrecht – Eingrenzung des sachlichen Geltungsbe reichs
spezifischer Grundrechte – Persönlicher Geltungsbereich der Grund -
rechte – Zusammenfassung und Bilanz
Einleitung
Gegenstand dieses Beitrages bilden die wichtigsten Entwicklungen der
Grundrechtsprechung des Staatsgerichtshofes. In den letzten Jahren
habe ich als Mitglied unseres Verfassungsgerichts eine sehr dynamische
Phase der Grundrechtsprechung mitgestalten dürfen. Ich möchte die
Ge legenheit dieses Jubiläums nutzen, um Rückschau auf 75 Jahre
Grund rechtsprechung des Staatsgerichtshofes zu halten und Bilanz zu
ziehen. Es gilt dabei, den langwierigen Prozess einer zunehmenden Sen -
si bilisierung des Staatsgerichtshofes für den Grundrechtsschutz nach zu -
zeichnen. Besonderes Augenmerk ist der Entwicklung von materiellen
Kriterien für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen sowie dem da-
mit zusammenhängenden Funktionswandel des Willkürverbots zu
schenken. Neben ausgewählten Fragen des sachlichen Geltungs be reichs
der Grundrechte werde ich auch noch kurz auf die Entwicklung beim
persönlichen Geltungsbereich der Grundrechte eingehen.
65
* Der vorliegende Text beruht auf einem vom Verfasser am Liechtenstein-Institut ge -
haltenen Vortrag vom 15.12.2000. Der Referatstext wurde erweitert und mit Fussnoten
versehen. Der Vortragsstil wurde im übrigen beibehalten.
Die Anfänge: Zurückhaltende Grundrecht sprechung
Der Staatsgerichtshof wird in der Literatur verschiedentlich als «Krö -
nung» der liechtensteinischen Verfassung von 1921 angesehen.1 Der
Staats gerichtshof bezeichnet sich auch selbst gern als «Hüter der Ver fas -
sung»2. Tatsächlich sind diese Hervorhebungen der besonderen Stellung
unseres Verfassungsgerichts im liechtensteinischen Verfassungs gefüge
durchaus gerechtfertigt. Denn die verfassungsgerichtlichen Kompeten -
zen des Staatsgerichtshofes sind geradezu umfassend. Zwar ist die liech -
ten steinische Verfassungsgerichtsbarkeit klar von der österreichi schen
Ver fassung von 1920 inspiriert;3 trotzdem gehen die Kompetenzen des
Staatsgerichtshofes beträchtlich über jene des österreichischen Vorbildes
hinaus. Der österreichische Verfassungsgerichtshof kann nämlich die
Verfassungsmässigkeit von Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichte
nicht überprüfen, während in Liechtenstein sämtliche letztinstanzlichen
Entscheidungen der Verfassungsbeschwerde an den Staatsgerichtshof
unterliegen.4
Mit einer solchen umfassenden Prüfungskompetenz für den Staats -
ge richtshof waren die Schöpfer unserer bald achtzigjährigen Verfassung
ihrer Zeit weit voraus.5 Erst 25 Jahre später erhielt das deutsche Bundes -
ver fassungsgericht ähnlich weitgehende Kompetenzen.6, 7
Während aber das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen
von Anfang an ausschöpfte, war die Rechtsprechung des Staatsge richts -
hofes während Jahrzehnten, konkret bis etwa Ende der fünfziger Jahre,
66
Hilmar Hoch
1 Kühne, S. 230; siehe auch Waschkuhn, S. 41 sowie Höfling, S. 32; vgl. auch Clemenz,
S. 13 f., welcher vom deutschen Bundesverfassungsgericht als der «Krönung des
Rechts staats» spricht.
2 So StGH 1982/65/V, LES 1984, 3 (3). Höfling, Bestand, S. 107, spricht vom Selbst ver -
ständnis des Staatsgerichtshofes als «Hüter der Grundrechte».
3 Siehe Melichar, S. 442 ff. sowie Wille, S. 47.
4 Siehe Batliner, S. 104 und 111 ff.
5 Vgl. zu früheren Ansätzen zu einer verfassungsgerichtlichen Individualbeschwerde in
Österreich sowie im süddeutschen Raum Batliner, S. 112 FN 48 mit zahlreichen Lite -
ra turhinweisen.
6 Vgl. Höfling, S. 33.
7 Mit Höfling, S. 33 FN 74, ist allerdings anzumerken, dass diese Vorreiterrolle des
Staatsgerichtshofes in der deutschen Literatur bisher keine Beachtung gefunden hat.
Immerhin hatte der Staatsgerichtshof in jüngster Zeit im Rahmen der intensiven
freund schaftlichen Kontakte mit dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, die
deutschen Verfassungsrichterkollegen darüber aufzuklären, wem hier die historischen
Lorbeeren gebühren.
von grösster Zurückhaltung geprägt. Der Grundrechtsschutz war nur
sehr eingeschränkt gewährleistet. Zwar hat der Staatsgerichtshof seine
Zu ständig keit zur Überprüfung von letztinstanzlichen Gerichtsent -
schei dungen von Anfang an bejaht,8 doch in die Zivil- und Straf ge richts -
bar keit griff der Staatsgerichtshof während dieser Zeit nicht ein einziges
Mal ein. Faktisch beschränkte sich der Staatsgerichtshof somit freiwillig
auf den reduzierten Kompetenzbereich des österreichischen Verfas -
sungs gerichtshofes. Hier spielte offensichtlich der Respekt gegenüber
den Berufsrichtern in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit eine wichtige
Rolle. Gegenüber der nur von nebenamtlichen Juristen bestrittenen Ver -
wal tungsgerichtsbarkeit schien dagegen weniger Zurückhaltung an ge -
bracht.
Doch auch bei der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen
hielt sich der Staatsgerichtshof während Jahrzehnten zurück. Wie in
Öster reich und anfänglich auch in der Schweiz9 überprüfte er ihm vor -
ge legte Entscheidungen generell nur auf ihren subjektiven Will kürgehalt
hin, und ein solcher war kaum einmal gegeben. Denn wenn sich die zu-
ständige Instanz ersichtliche Mühe gegeben hatte, eine richtige Ent schei -
dung zu fällen, erachtete der Staatsgerichtshof die Entscheidung nach
diesem subjektiven Willkürverständnis auch dann nicht als verfassungs-
widrig, wenn sie objektiv krass unrichtig ausgefallen war.10
Auch bei der Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen
und Verordnungen, also im Rahmen der sogenannten Normen kon -
trolle11, erlegte sich der Staatsgerichtshof grösste Zurückhaltung auf.
Zwar anerkannte er im Grundsatz schon relativ früh eine Grundrechts -
bin dung nicht nur der Exekutive, sondern auch der Legislative; doch
diese Grundrechtsbindung des Gesetzgebers beschränkte sich lange Zeit
auf das Willkürverbot.12 Ähnlich bestimmend wie beim österreichischen
Verfassungsgerichtshof war auch beim Staatsgerichtshof das positivis ti -
sche Grundrechtsverständnis, wie es der österreichische Verfassungs -
67
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
8 StGH-Entscheidung vom 2.12.1931, in: Entscheidungen des Staatsgerichtshofes 1931,
39 (42); vgl. hierzu Höfling, Bestand, S. 118.
9 Siehe hierzu die rechtsvergleichenden Hinweise bei Höfling, S. 221.
10 So noch StGH 1977/8, LES 1981, 48 (52); siehe auch Höfling, a.a.O.
11 Siehe hierzu nunmehr die diese Thematik erschöpfend behandelnde Monographie von
Wille.
12 Siehe Höfling, S. 72 mit Verweis auf StGH-Entscheidung v. 15.7.1955, ELG 1947 -
1954, 259 (264).
recht ler Hans Kelsen in den zwanziger Jahren geprägt hatte.13 Danach
waren Grundrechtseingriffe ohne weiteres zulässig, solange sie auf eine
willkürfreie gesetzliche Grundlage abgestützt waren. Die Grundrechte
konnten somit durch Gesetze massiv eingeschränkt, ja geradezu ausge -
höhlt werden; sie standen faktisch zur Disposition des Gesetzgebers.14
Dies wurde damit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber vom Volk ge -
wählt ist, und somit über höchste demokratische Legitimation verfügt.
Weil sich aber die anderen Staatsgewalten, also Gerichte und Verwal -
tung, sowieso an die Gesetze zu halten haben, «blieb für die Grund -
rechte kein eigener Anwendungsbereich übrig. Sie gingen im Gesetz -
mäs sigkeitsprinzip auf und liefen als solche leer»15; mit anderen Worten:
Die Normierungskraft der Grundrechte schmolz auf das Willkürverbot
zusammen.16
Ansätze eines strengeren Prüfungsmassstabes
Anfangs der sechziger Jahre zeigten sich jedoch erste Anzeichen dafür,
dass der liechtensteinische Staatsgerichtshof gewillt war, die Normie -
rungs kraft der einzelnen Grundrechte ernster zu nehmen; er begann, sei-
nen Prüfungsmassstab für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen in
mehrfacher Hinsicht zu verfeinern.
68
Hilmar Hoch
13 Siehe Batliner, S. 100 f.; Höfling, S. 22 und 32 sowie Frick, S. 4 f. Zu Kelsens, auf einem
– gerade nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges offensichtlich unhaltbaren – radi ka -
len Wertrelativismus beruhenden Grundrechtsverständnis ausführlich Dreier, S. 262 ff.,
insbes. S. 268 ff.; vgl. zu Kelsens Wertrelativismus auch Kley, Kelsen, S. 25 f.
14 Höfling, Bestand, S. 108; Frick, 218; Berka, S. 27 f. Rz. 48 und 51; vgl. auch zum ent -
sprechenden Grundrechtsverständnis der Weimarer Verfassung Grimm, S. 373; und
Höf ling, Bestand, S. 116 f.
15 Grimm, a.a.O.; Grimm charakterisiert damit zwar die Rechtsprechung des deutschen
Staatsgerichtshofes während der Weimarer Verfassung, doch passt diese Einschätzung
ebenso auf die jahrzehntelang eingeschränkte Grundrechtssensibilität des liechten stei -
ni schen Staatsgerichtshofes. Zur in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun -
derts ähnlich restriktiven Grundrechtsprechung siehe Kälin, Verfassungs gerichts bar -
keit, S. 26 mit weiteren Nachweisen.
16 Dies zeigt sich auch deutlich an der alten Willkürformel des Staatsgerichtshofes, wo -
nach die behauptete unrichtige Anwendung eines Gesetzes oder einer Verordnung al-
lein keine Verletzung eines verfassungsmässigen Rechtes darstellte, «sofern nicht eine
qualifiziert unsachliche Rechtsverletzung erweislich wäre, die einer Verletzung des
Gleichheitsgebots als Willkür gleichkäme, . . . »; so noch StGH 1993/1, LES 1993, 89
(90 Erw. 2); StGH 1994/16, LES 1996, 49 (54 f. Erw. 4.1); siehe hierzu auch Hoch,
Rezen sion Höfling, S. 86. Zur neuen Willkürformel siehe in diesem Beitrag S. 74.
Dies galt zunächst einmal für das Willkürverbot selbst, indem sich der
Staatsgerichtshof nunmehr zu einem objektiven Willkürbegriff be kannte,
was auch prompt zur ersten Aufhebung einer Entscheidung des Obers ten
Gerichtshofes führte.17 Der damalige Präsident des Obersten Gerichts -
hofes, der renommierte österreichische Zivilrechtler Franz Gschnitzer, soll
ob diesem Affront sogar den Rücktritt von seinem Rich ter amt erwogen
haben.18 Inzwischen ist die Aufhebung von Ent schei dun gen des Obersten
Gerichtshofes durch den Staatsgerichts hof wegen objek tiver Willkür im
übrigen durchaus nichts Ausserge wöhn liches mehr.19
Praktisch gleichzeitig mit der ersten Aufhebung eines Urteils des
Obersten Gerichtshofes wegen Verstosses gegen das Willkürverbot be -
gann der Staatsgerichtshof auch die Prüfung der Zulässigkeit von gesetz -
69
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
17 StGH-Entscheidung 1961/1; unveröffentlicht, jedoch auszugsweise abgedruckt in
Stotter, S. 41 f. Nr. 16a; siehe hierzu auch StGH 1998/44, Jus & News 1999/1, 28 (38
Erw. 4.5); wie die in FN 10 erwähnte Entscheidung zeigt, kam es jedoch auch später
noch zu «Rückfällen» in ein subjektives Willkürverständnis. Erst kürzlich hat sich der
Staatsgerichtshof beim grundrechtlichen Anspruch auf Begründung gemäss Art. 43 LV
ebenfalls zu einem rein objektiven Prüfungsmassstab bekannt; siehe StGH 1998/44,
a.a.O., mit Verweis auf StGH 1995/21, LES 1997, 18 (27 Erw. 42); vgl. dagegen aber
noch Höfling, S. 240, und die dortigen Rechtsprechungshinweise.
18 Kohlegger, S. 74 FN 143; vgl. auch Batliner, S. 113.
19 Erst kürzlich hat der Staatsgerichtshof wieder auf diese erste Aufhebung einer OGH-
Entscheidung Bezug genommen und dabei den objektiven Charakter des Willkür be -
grif fes in Erinnerung gerufen. Er hat dabei betont, dass die Qualifizierung einer
Entscheidung als «willkürlich» keineswegs den Vorwurf beinhalte, die entscheidende
Behörde habe sich bewusst und gewissermassen «böswillig» über klares Recht hinweg -
gesetzt. Aus dieser Erkenntnis zieht der Staatsgerichtshof dann mit den Worten des
Lausanner Verfassungsrechtlers Pierre Moor den tröstlichen Schluss, «dass alle jene
Behör den, welche früher oder später mitansehen müssen, dass eine ihrer Entschei dun -
gen als willkürlich qualifiziert wird, die Angelegenheit mit philosophischer Gelas sen -
heit zur Kenntnis nehmen; und dass die von ihrer Entscheidung Betroffenen darin nicht
den schlüssigen Beweis dafür sehen, dass sie Tyrannen unterworfen seien, welche es
umgehend zu stürzen gelte» (StGH 1998/44, Jus & News 1999/1, 28 [38 Erw. 4.5] mit
Verweis auf Moor, S. 606; vgl. hierzu auch Kohlegger, S. 74 f.). In diesen selbstiro ni -
schen Kontext passt im übrigen der kürzliche Hinweis des Staatsgerichtshofes, dass sich
auch Höchstgerichte irren können – wobei er nicht nur den von der Ent schei dung be-
troffenen Obersten Gerichtshof, sondern sehr wohl auch sich selbst meinte: Unter
Verweis auf ein Bonmot des amerikanischen Supreme Court-Richters Robert Jackson
hat er nämlich festgehalten, dass Höchstgerichte nicht deshalb letzt instanz lich ent-
schieden, weil sie unfehlbar seien; vielmehr seien sie faktisch unfehlbar, weil sie letztin-
stanzlich entschieden (StGH 1997/3, LES 2000, 57 [62 Erw. 4.6]; das Original zitat
stammt aus Brown v. Allen 344 U.S. 443, 540 [1953] [concurring opinion]). Dass der
Staatsgerichtshof neuerdings zu solch gelassener Selbstreflexion fähig ist, ist nicht
selbstverständlich; mit etwas mehr hiervon hätte jedenfalls die gar nicht so lange zu -
rück liegende Staatsgerichtshofkrise im Zusammenhang mit den Aus ein ander setzungen
um das seinerzeitige Kunsthaus-Projekt wesentlich besser ge meis tert werden können
(ausführlich hierzu Hoch, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 14 ff.).
lichen Grundrechtsbeschränkungen zu verschärfen. Der Staatsgerichts -
hof beliess es nicht mehr bei der weitgehend formellen Prüfung, ob eine
willkürfreie gesetzliche Grundlage für einen Grundrechtseingriff vor-
handen war, sondern er stellte an die gesetzliche Grundlage strengere in-
haltliche Anforderungen. Ähnlich wie in der Schweiz20 wurde diese
Rechtsprechung zunächst im Zusammenhang mit der Eigentumsgarantie
entwickelt. Als ersten Schritt verlangte der Staatsgerichtshof bei schwe-
ren Grundrechtseingriffen eine klare gesetzliche Grundlage. Diese hatte
objektive Merkmale für die Zulässigkeit des Eingriffs zu ent halten.21 Mit
anderen Worten: Je schwerer die Grundrechts beein träch tigung, um so
höhere Anforderungen waren an deren demokratische Legitimation
durch den Gesetzgeber zu stellen. Inhaltliche Präzi si e run gen des Ge -
setz gebers erachtete der Staatsgerichtshof entsprechend diesem Grund -
satz auch dann für angezeigt, wenn zur Gesetzesdurch füh rung der
Erlass von Verordnungen erforderlich war. Die öffentlichen Interessen,
welche nach Auffassung des Gesetzgebers einen entspre chen den Eingriff
rechtfertigen konnten, waren schon im Gesetz zu spe zi fizieren.22
Zumindest implizit kommt in diesen Entscheidungen zudem zum
Ausdruck, dass auch der Gesetzgeber nicht völlig frei ist, ob und wie er
Grundrechtseingriffe zulässt. Dies wird besonders deutlich in einer im
Jahre 1958 ergangenen Entscheidung zur Handels- und Gewerbefreiheit.
Hier führte der Staatsgerichtshof aus, dass die dauernde Verunmög -
lichung der Ausübung eines Berufes oder Gewerbes durch den Gesetz -
geber unzulässig wäre.23 In anderen Fällen verwies er in der Folge zur
Rechtfertigung des gesetzgeberischen Eingriffs in die Handels- und
70
Hilmar Hoch
20 Siehe etwa BGE 74 I 147 (155 f.).
21 StGH 1960/8, ELG 1955–1961, 151 (160 f.); siehe auch Höfling, Bauelemente, S. 352
und Fehr, S. 210 f. und 213 f.
22 StGH 1968/3, ELG 1967–1972, 239 (243); Höfling, Bauelemente, S. 353, sieht diese
Entscheidung als Anknüpfung an die sogenannte Wesentlichkeitslehre des deutschen
Bundesverfassungsgerichts; in der (unveröffentlichten) StGH-Entscheidung 1991/7 (S.
7) stellt der Staatsgerichtshof explizit diesen Bezug her; ausführlich zu dieser
Entscheidung Schurti, S. 254 ff. Vgl. hierzu auch schon StGH 1977/10, LES 1981, 56
(57 Erw. 3) sowie Wille, S. 290.
23 StGH-Entscheidung vom 1.9.1958, ELG 1955–1961, 125 (129); Frick, S. 218 f., sieht im
Zusammenhang mit dieser StGH-Entscheidung schon die faktische Anerkennung einer
Wesensgehaltsgarantie durch den Staatsgerichtshof. Ähnlich hat der österreichische
Ver fas sungsgerichtshof in den Entscheidungen VfSlg. 3118/1956 und 3505/1959 im
Grund satz eine auch für den Gesetzgeber geltende «Wesensgehaltssperre» anerkannt;
siehe hierzu Berka, S. 153 Rz. 262.
Gewerbefreiheit zumindest ansatzweise auf die betroffenen öffentlichen
Interessen.24
Ein nächster wichtiger Schritt erfolgte anfangs der siebziger Jahre
nun wieder im Bereich der Eigentumsfreiheit. Analog der schwei ze ri -
schen Rechtsprechung wurde bei der Prüfung der Zulässigkeit von
Eingriffen in dieses Grundrecht neben dem öffentlichen Interesse erst-
mals auch – wenn auch eher formelhaft – auf den Verhältnismässig keits -
grund satz Bezug genommen.25
Primat der Grundrechte
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre schwenkte der Staatsgerichts -
hof zunächst bei der Handels- und Gewerbefreiheit ganz auf die in der
Schweiz und in Deutschland schon seit langem fest etablierten mate riel -
len Prüfungskriterien für Grundrechtseingriffe ein. Danach ist bei
Grund rechtseingriffen neben dem Vorliegen eines überwiegenden
öffent lichen Interesses auch die Verhältnismässigkeit des Ein griffes dif -
fe ren ziert nach den Kriterien der Geeignetheit, Erfor der lichkeit und
Zumut barkeit zu überprüfen.26 Als zusätzliches Eingriffs kriterium ist
auch noch die sogenannte Kerngehaltsgarantie zu be achten.27 Die
Kernge halts- oder Wesensgehaltsgarantie hat ihren Ur sprung in Art. 19
Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes, wonach der Wesens ge halt der
Grundrechte schlechthin unantastbar ist.28 Dieser dif fe renzierte Katalog
von Prüfungskriterien wurde vom Staatsgerichts hof sukzessive auch auf
71
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
24 StGH vom 06.10.1960, ELG 1955–1961, 145 (148 f.); StGH 1970/2, ELG 1967–1972,
256 (261 Erw. 8).
25 StGH 1973/1, teilweise abgedruckt in Stotter, S. 69 Nr. 10; siehe auch StGH 1974/14,
in Stotter, S. 71 Nr. 15; StGH 1977/8, LES 1981, 48 (52); StGH 1987/11, LES 1988, 4
(5 Erw. 3); vgl. auch Höfling, Bestand, S. 108 und Fehr, S. 270 f.
26 Siehe StGH 1985/11 v. 2.5.1988, LES 1988, 94 (99 f. Erw. 15 f.); StGH 1985/11 v.
5.5.1987, S. 6 ff. Erw. 3 ff.; StGH 1986/11, LES 1988, 45 (49 Erw. 5.5); siehe Höfling,
Be stand, a.a.O. sowie Frick, S. 220. Gegenstand der beiden erstgenannten, die Zwangs -
mit gliedschaft in der Gewerbegenossenschaft betreffenden Entscheidungen war neben
der Handels- und Gewerbefreiheit im übrigen auch die Vereinsfreiheit; siehe Frick,
S. 335 ff.
27 StGH 1985/11 v. 5.5.1987, S. 7 Erw. 5; StGH 1986/11, LES 1988, 45 (49 Erw. 5.6) sowie
StGH 1989/6, LES 1990, 43 (47 Erw. 2.1).
28 Häberle, passim; vgl. auch Müller, Elemente, S. 141 f. sowie Berka, S. 153 f. Rz. 262.
Eingriffe in andere Grundrechte angewandt.29
Die Hinwendung des Staatsgerichtshofes zu einer modernen
Grund rechtsdoktrin war wesentlich durch die Europäische Menschen -
rechts konvention (EMRK) beeinflusst, welche für Liechtenstein im
Jahre 1982 in Kraft trat.30 Die EMRK sieht bei zahlreichen Grund rech -
ten ausdrücklich materielle Eingriffsschranken vor. So ist bei ver schie -
denen EMRK-Rechten neben der gesetzlichen Grundlage erforderlich,
dass sich der Eingriff für die Durchsetzung bestimmter, in einer demo -
kra tischen Gesellschaft anerkannter öffentlicher Interessen als notwen -
dig erweisen muss. Diese EMRK-Schranken für Grundrechts ein griffe
entsprechen somit im Ergebnis weitgehend dem Erfordernis des über-
wiegenden öffentlichen Interesses und des Verhältnismässig keits prin -
zips.31,32 Vor dem Hintergrund der Europäischen Menschen rechts kon -
vention kam es auch in Österreich praktisch gleichzeitig wie in Liech -
ten stein zur Hinwendung zu einem verstärkt materiellen Grund rechts -
verständnis.33 Der österreichische Verfassungsrechtler Bernd Christian
Funk hat dabei zu Recht von einem eigentlichen «Paradigmen wech sel»
in der Grundrechtsprechung gesprochen.34 Erfolgte die Ein griffs prüfung
bisher von den gesetzlichen Grundrechtsschranken her, ist nunmehr das
72
Hilmar Hoch
29 Meinungsäusserungsfreiheit: StGH 1994/8, LES 1995, 23 (26 f. Erw. 3 f.) – auch abge-
druckt in EuGRZ 1994, 607; StGH 1994/18, LES 1995, 122 (130 Erw. 2.3) – auch aus-
zugsweise abgedruckt im Archiv des Völkerrechts, Bd. 36/2 (1998) 202 ff.; StGH
1998/19, LES 1999, 282 (286 Erw. 3); Beschwerderecht: StGH 1996/47, LES 1998, 195
(199 Erw. 3); per sönliche Freiheit: StGH 1996/4, LES 1997, 203 (206 Erw. 4.2);
Niederlassungs frei heit: StGH 1997/19, LES 1998, 269 (272 f. Erw. 2.4 ff.).
30 LGBl. 1982/60.
31 Ausführliche Erwägungen hierzu enthält StGH 1997/1, LES 1998, 201 (205 Erw. 4);
vgl. auch Kley, S. 228 f. sowie Höfling, Menschenrechtskonvention, S. 149, mit Ver wei -
sen auf Batliner, S. 143, Berka, Gesetzesvorbehalte, S. 71 und ders., Men schen rechts -
kon vention, S. 372 f.
32 Ähnliche materielle Eingriffsschranken kennt im übrigen der für Liechtenstein am
10.3.1999 in Kraft getretene Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte
vom 16.12.1966 (LGBl. 1999/58); siehe Nowak, S. 14. Bisher hat sich der Staatsgerichts -
hof erst einmal mit diesem sogenannten «UNO-Pakt II» auseinandergesetzt und dabei
eine weitgehende Deckung mit dem bisherigen von der Landesverfassung und der
EMRK gewährten Grundrechtsschutz festgestellt (StGH 1999/36 Erw. 2.1 mit Verweis
auf BBl. 1991 I 1190).
33 Siehe Frick, S. 221 mit zahlreichen Literaturnachweisen.
34 Siehe Funk, S. 187; Berka, S. 155 Rz. 664, spricht von der «Kopernikanischen Wende»
der jüngeren österreichischen Grundrechtsjudikatur. Vgl. auch Berka, Menschenrechts -
kon vention, S. 430 ff., der schon in diesem Aufsatz aus dem Jahre 1979 die EMRK als
Chance bezeichnete, «bestimmte dogmatische Fehlentwicklungen . . . zu überwinden»
und deshalb vehement die inzwischen erfolgte dogmatische Neuorientierung in der
österreichischen Grundrechtsprechung propagierte.
Grundrecht selbst Ausgangspunkt der Prüfung. Es gilt somit der Primat
des Grundrechtsdenkens über das Schrankendenken. Dabei ist zunächst
der Schutzbereich des jeweils in Frage kommenden Grundrechts zu be-
stimmen. Wird in diesen Schutzbereich eingegriffen, so ist der Eingriff
rechtfertigungsbedürftig. Gelingt diese Rechtfertigung nicht, liegt ein
un zulässiger Eingriff und somit eine Grundrechts ver letzung vor. Nach
diesem modernen Grundrechtsverständnis sind folg lich Grundrechte
auch dem Gesetzgeber nicht mehr zur Disposition gestellt. Vielmehr
sind den vom Gesetzgeber aufgestellten gesetzlichen Grund rechts -
schran ken im Lichte des zu schützenden Grundrechtes ihrer seits
Schranken gesetzt, und zwar in Form der erwähnten Eingriffs kri terien.
Man bezeichnet diese Begrenzungskriterien für Grundrechts schran ken
deshalb auch als sogenannte Schranken-Schranken.35,36 Durch die
Anerken nung solcher Schranken-Schranken haben Österreich und
Liechtenstein, wenn auch relativ spät, den Anschluss an die moderne
deutsche und schweizerische Grundrechtsdoktrin hergestellt. Mit eini -
gem Recht konnte deshalb Wolfram Höfling in einem Aufsatz aus dem
Jahre 1993 davon sprechen, dass nunmehr die Grundlage für eine ge -
mein same Grundrechtsdogmatik des deutschsprachigen Raumes ge -
schaf fen sei.37
Die neue, differenzierte Prüfung der Zulässigkeit von Grundrechts -
ein griffen nach den Kriterien des öffentlichen Interesses, der Verhältnis -
mäs sig keit und der Kerngehaltsgarantie macht heute eine wesentlich de-
tailliertere Begründung von Entscheidungen des Staatsgerichtshofes not-
wendig, als dies früher der Fall war. Dies hat zur Folge, «dass sich der
Betroffene nicht mehr mit blossen Floskeln zufrieden geben muss, son-
dern mit einer nachvollziehbaren Begründung rechnen kann. Ein ratio-
naler Begründungsstil ist gerade für die Akzeptanz ablehnender
Entscheidungen von Bedeutung»38. Tatsächlich zwingt diese mehrstufi-
ge Prüfung zu einer umsichtigen Abwägung der sich bei einem Grund -
rechts eingriff gegenüberstehenden öffentlichen und privaten Inter -
73
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
35 Siehe Höfling, S. 97 mit zahlreichen Nachweisen; vgl. auch Berka, S. 150 f. Rz. 258.
36 Umgekehrt darf unter Beachtung dieser Begrenzungskriterien grundsätzlich auch dann
in ein Grundrecht eingegriffen werden, wenn kein formeller Gesetzesvorbehalt besteht;
siehe StGH 1997/19, LES 1998, 269 (273 f. Erw. 3.2 f.).
37 Höfling, Bauelemente, passim, insbesondere S. 362 f.; vgl. auch derselbe, Bestand, S. 108 f.
38 Frick, S. 222.
essen.39
Willkürverbot als universelles Auffang grund recht
Die vom Staatsgerichtshof inzwischen konsequent angewandten dif -
feren zierten Prüfungskriterien sind allerdings nur für solche Grund -
rechte tauglich, welche einen genügend klar abgrenzbaren sachlichen
Schutzbereich haben. Dies ist bei den klassischen Abwehrrechten, wie
der Eigentumsfreiheit, der Handels- und Gewerbefreiheit sowie den ide-
ellen Grundrechten, also der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der
Meinungsäusserungsfreiheit etc. ohne weiteres der Fall.40 Auch der sach -
liche Geltungsbereich etwa des Beschwerderechts und teilweise auch des
rechtlichen Gehörs ist inzwischen genügend konkretisiert, um dem
Staats gerichts hof eine Prüfung nach den erwähnten Grundrechts ein -
griffskriterien zu erlauben.41 Hingegen liegt ein klar abgrenzbarer sach -
licher Schutzbereich gerade beim wichtigsten Grundrecht, dem Will kür -
ver bot, nicht vor. Ähnlich dem Gleichbehandlungsgebot beansprucht
das Willkürverbot nämlich in seiner schon erwähnten zeitgemässen Aus -
prägung als objektiver Vertretbarkeitsmassstab Geltung in der gesamten
Rechtsordnung. Es schützt einen Minimalstandard an Gerechtigkeit und
ist insoweit gewissermassen eine universelle Kerngehaltsgarantie.42
Entsprechend kann bei der Durchsetzung des Willkürverbots nicht der
gleich strenge Prüfungsmassstab angewendet werden wie bei den spezi -
fischen, nur punktuell geltenden Grundrechten. Bei der Willkürprüfung
ist deshalb insbesondere auf eine differenzierte Verhältnismässigkeits -
prü fung zu ver zich ten.43 Andernfalls würde das Verfassungsgericht zu
einer zusätz lichen Revisionsinstanz.
Angesichts der unterschiedlichen Prüfungsdichte ist es somit wich -
74
Hilmar Hoch
39 Vgl. zu dieser, die grundrechtliche Argumentation strukturierenden Funktion der Ein -
griffs kriterien Höfling, S. 79 und Frick, S. 215 f.
40 Vgl. Müller, Elemente, S. 96 ff.
41 Siehe zum Beschwerderecht StGH 1995/11, LES 1996, 1 (5f. Erw. 2.3.2); zum Anspruch
auf rechtliches Gehör in der Ausgestaltung als Akteneinsichtsrecht siehe StGH 1991/8,
LES 1992, 96 (98 Erw. 5.6) und StGH 1998/6, LES 1999, 173 (176 Erw. 3.1).
42 Vgl. Thürer, S. 452 f. sowie Müller, S. 478.
43 Siehe Müller, Elemente, S. 139 f. sowie Kälin, S. 69.
tig, klar zwischen dem Willkürverbot und den spezifischen Grundrech -
ten zu unterscheiden. Dem trägt der Staatsgerichtshof in seiner neueren
Recht sprechung Rechnung. Er versteht das Willkürverbot nunmehr aus -
drück lich als blosses Auffanggrundrecht, das nur dann eine eigen stän -
dige Bedeutung hat, wenn kein spezifisches Grundrecht betroffen ist.
Nach dieser neueren Rechtsprechung erübrigt sich folglich eine zusätz -
liche Willkürprüfung, wenn eine differenzierte Prüfung im Lichte eines
spezifischen Grundrechtes möglich ist.44 Entsprechend dem subsidiären
Charakter des Willkürverbots ist die Schwelle für eine Verletzung dieses
Grundrechtes nach wie vor hoch anzusetzen. Der Staatsgerichtshof um -
schreibt dessen Gehalt in seiner neueren Rechtsprechung plastisch wie
folgt: «Willkür ist . . . nicht schon dann gegeben, wenn der Staats ge -
richts hof eine Entscheidung als unrichtig qualifiziert. Die Verfassungs -
mäs sigkeit ist vielmehr gewahrt, wenn sich die Entscheidung auf ver tret -
bare Gründe stützt. Wenn allerdings eine Entscheidung sachlich nicht zu
begründen, nicht vertretbar bzw. stossend ist, liegt Willkür vor. In seiner
Funk tion als Auffanggrundrecht soll das Willkürverbot gewissermassen
als letzte Verteidigungslinie des Rechts gegenüber derart offensicht -
lichem Unrecht dienen, dass es in einem modernen Rechtsstaat nicht zu
tolerieren ist”.45 Allerdings bedingt auch die Willkürprüfung entgegen
einer gelegentlich heute noch vertretenen Ansicht durchaus eine genaue
Prüfung des jeweiligen Beschwerdefalles. Sonst kann das Verfassungs ge -
richt nämlich gar nicht beurteilen, ob eine ihm vorgelegte Entscheidung
zwar möglicherweise unrichtig, aber eben noch vertretbar ist; oder ob sie
im Gegenteil geradezu unhaltbar und somit willkürlich ist. Die vom
schweizerischen Staatsrechtler Jean-François Aubert schon vor Jahren in
die Diskussion eingebrachte Auffassung, die Willkürprüfung habe ge -
wis ser massen durch eine «Milchglasbrille» zu erfolgen, welche nur den
Blick auf die gröbsten Beurteilungsfehler einer Entscheidung freigebe,46
ist deshalb zumindest irreführend. Grundsätzlich ist eine Willkürrüge
ebenso sorgfältig wie jede andere geltend gemachte Grundrechts ver let -
75
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
44 Siehe StGH 1997/12, LES 1999, 1 (4 Erw. 2); StGH 1997/36, LES 1999, 76 (78 Erw. 2)
mit Verweis auf StGH 1994/18, LES 1995, 122 (129 ff. insbes. 132 Erw. 2) und StGH
1994/18, LES 1995, 122 (130 Erw. 2.3); ebenso Frick, S. 349 mit Verweis auf Hangartner,
Staats recht, S. 201. Frick befasst sich allerdings kritisch mit der alten, noch gegen tei -
ligen Rechtsprechung; siehe hierzu auch Hoch, Rezension Frick, S. 54.
45 StGH 1995/28, LES 1998, 6 (11 Erw. 2.2).
46 Aubert, S. 615 Rz. 1717; ebenso Kaufmann S. 165 ff.
zung zu prüfen.47
Willkürverbot als eigenständiges Grundrecht
Im Gegensatz zur Praxis des schweizerischen Bundesgerichts anerkennt
der Staatsgerichtshof das Willkürverbot auch verfahrensrechtlich als
voll wertiges Grundrecht. Er stellt an Willkürrügen keine strengeren for-
mellen Anforderungen als an andere Grundrechtsrügen.48 Dagegen ver-
langt das Bundesgericht trotz einhelliger Kritik in der Lehre be kannt lich
nach wie vor, dass sich eine Willkürrüge zusätzlich auf eine Rechts norm
abstützen muss, welche spezifisch dem Schutz der Interessen des
Beschwerdeführers dient.49 So tritt das Bundesgericht etwa auf die Will -
kür beschwerde eines Ausländers wegen Nichterteilung bzw. Nichtver -
län gerung der Aufenthaltsbewilligung nur dann ein, wenn der Be -
schwer deführer aufgrund eines auf ihn anwendbaren Staatsvertrages ei-
nen entsprechenden Anspruch hat.50 Der Staatsgerichtshof hingegen tritt
auf eine solche Willkürbeschwerde ohne weiteres ein, auch wenn die
Erfolgschance bei der Überprüfung von derartigen Ermessensent schei -
dun gen zwangsläufig gering ist. Doch dies ist für den Staatsgerichtshof
eine materielle und keine Legitimationsfrage.51
Wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtes zur alten schwei ze -
ri schen Bundesverfassung wurde das Willkürverbot auch vom Staats ge -
richts hof bis vor kurzem aus dem Gleichheitssatz von Art. 31 Abs. 1 LV
abgeleitet.52 In den letzten Jahren begann der Staatsgerichtshof indessen,
das Willkürverbot vom Gleichheitssatz abzugrenzen und bei aller Über -
76
Hilmar Hoch
47 StGH 1995/28, LES 1998, 6 (11 Erw. 2.2) mit Verweis auf Gygi, S. 197 f.; siehe nunmehr
auch Gstöhl, S. 129 f.
48 Siehe Frick, S. 179 f.
49 Häfelin/Haller, S. 571 Rz. 1732 mit weiteren Rechtsprechungs- und Literatur nach -
weisen. Allerdings gilt diese Voraussetzung nur bei der Rüge einer willkürlichen
Rechts an wendung; siehe Kälin, S. 235 und 238 ff. Sogar die nunmehrige selbständige
Verankerung des Willkürverbots in Art. 9 der neuen schweizerischen Bundesverfassung
konnte das Bundesgericht bisher zu keiner Praxisänderung bewegen; siehe Müller,
S. 480 sowie Auer/Malinverni/Hottelier, S. 539 f. Rz. 1112.
50 Kälin, S. 239 mit Verweis auf BGE 99 Ia 321 Erw. 3; 98 Ia 651; 96 I 310.
51 So etwa StGH 1998/42, LES 1999, 295 (298 Erw. 4 f.) und StGH 1999/7 (Erw. 4.1). Der
Staatsgerichtshof hat sich allerdings noch nie explizit mit dieser Thematik befasst.
52 Siehe Höfling, S. 222 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; zur früheren Praxis
des schweizerischen Bundesgerichts siehe etwa Thürer, S. 431.
lap pung der beiden Grundrechte doch auch wesentliche Unterschiede in
deren Schutzfunktion herauszuarbeiten.
Zu differenzieren ist danach primär im Bereich der Rechtsan wen -
dung: Hier kann die Rechtsgleichheit nur betroffen sein, wenn zwischen
zwei konkreten Fällen verglichen werden kann. Bei der Beurteilung ei-
nes Einzelfalles kann höchstens Willkür vorliegen. Andererseits kann
etwa die Ermessensausübung in zwei vergleichbaren Fällen zwar rechts -
un gleich, jedoch jeweils im Ermessensrahmen und somit willkürfrei
erfol gen.53 Schliesslich können zwei vergleichbare Fälle durchaus rechts -
gleich behandelt werden, und trotzdem können beide Fälle willkürlich
entschieden worden sein, weil sie auf einer völlig unsachlichen Argu -
men tation beruhen.
Eine weitergehende Überlappung von Gleichheitssatz und Will kür -
ver bot hat der Staatsgerichtshof dagegen bei der Rechtsetzung kon sta -
tiert, wo die Prüfung auch im Lichte des Gleichheitssatzes darauf hin -
aus läuft, ob der Gesetzgeber gleich zu behandelnde Sachverhalte bzw.
Personengruppen ohne einen vertretbaren Grund und somit eben in
willkürlicher Weise ungleich behandelt.54 Allerdings hat der Staats ge -
richts hof kürzlich doch auch in bezug auf die Rechtsetzung eine Diffe -
ren zierung zwischen Willkürverbot und Rechtsgleichheitsgebot vor ge -
nommen, und zwar dann, wenn es um eine eigentliche Diskriminierung
(also eine Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse, Sprache, Religions -
zu gehörigkeit etc.) geht. Falls solche besonders «suspekten» gesetz ge be -
ri schen Ungleichbehandlungen gerügt werden, hat der Staatsgerichtshof
eine nicht nur auf Willkür beschränkte Vertretbarkeitsprüfung, sondern
eine differenzierte Normenkontrolle in Aussicht gestellt.55 Dies ent -
spricht der vom Staatsgerichtshof nach der Schaffung des neuen Art. 31
Abs. 2 LV hinsichtlich gesetzgeberischen Verstössen gegen das Ge -
schlech terdiskriminierungsverbot angewandten strengen Überprüfungs -
77
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
53 In StGH 1998/45, LES 2000, 1 (5 f. Erw. 4.1) wird unter Verweis auf Thürer, S. 433,
auch das Beispiel der erstmaligen Anwendung einer Ermessensklausel bzw. eines un be -
stimmten Rechtsbegriffs angeführt, welche willkürlich sein kann, ohne gegen das
Gleich heitsgebot zu verstossen.
54 Siehe StGH 1997/14, LES 1998, 264 (267 Erw. 2) mit Verweis auf Haefliger, S. 62 f.
55 Siehe StGH 1998/2, LES 1999, 158 (161 Erw. 2.2) mit Verweis auf Kälin, Ausländer dis -
kri minierung, S. 568. Ähnlich hat der amerikanische Supreme Court eine Recht spre -
chung entwickelt, wonach bei «suspect classifications» des Gesetzgebers eine grössere
Kontrolldichte angewendet wird als bei anderen Differenzierungen; siehe hierzu Kälin,
a.a.O., S. 579 f.
praxis.56 Allerdings hat der Staatsgerichtshof klargestellt, dass die in der
Praxis besonders wichtige fremdenpolizeiliche Benachteiligung von
Aus ländern gegenüber Einheimischen keine solche qualifizierte Dis kri -
mi nierung darstellt. Folglich kann das Ausländerrecht im Grund satz
nach wie vor nur einer Willkürprüfung unterzogen werden.57
Als Konsequenz aus dem gegenüber dem Gleichheitsgebot letztlich
doch originären Anwendungsbereich des Willkürverbots hat der Staats -
ge richtshof kürzlich das Willkürverbot als eigenständiges un ge schrie be -
nes Grundrecht anerkannt.58 Der Staatsgerichtshof hat damit gewisser -
mas sen den traditionellen, durch den österreichischen Einfluss beding -
ten positivistischen «Bann»59 gegen ungeschriebenes Verfassungs recht60,
jedenfalls gegen ungeschriebene Grundrechte61, gebrochen. Da bei hat er
sich an die Rechtsprechung des schweizerischen Bundes ge richts zu den
ungeschriebenen Grundrechten angelehnt. Danach sind «für den
Einzelnen fundamentale, im Verfassungstext nicht erwähnte Rechts -
schutzbedürfnisse direkt als ungeschriebene Grundrechte anzu er ken -
nen, anstatt sie aus thematisch mehr oder weniger verwandten positiv
normierten Grundrechten abzuleiten»62. Indessen hat der Staats ge richts -
hof auch schon früher sehr wohl – wenn auch stillschweigend – unge -
schrie benes Verfassungsrecht anerkannt. Abgesehen von dem in der
Lite ra tur mehrfach zitierten Beispiel des Grundsatzes der unmittelbaren
innerstaatlichen Geltung des Völkerrechtes63 gilt dies insbesondere für
die schon erwähnten, von der modernen Grundrechtsdoktrin postulier -
78
Hilmar Hoch
56 StGH 1994/6, LES 1995, 16 (19 Erw. 4.2).
57 StGH 1999/2 Erw. 3.2 mit Verweis auf Kälin, Ausländerdiskriminierung, S. 574 f.
58 StGH 1998/42, LES 2000, (6 Erw. 4.2 ff.) – ebenfalls abgedruckt im Schweizerischen
Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl.) 1999, S. 586 ff. sowie in Jus &
News 3/99, S. 243 ff. mit ausführlichem Kommentar von Andreas Kley.
59 So Hoch, Rezension Frick, S. 52.
60 Siehe StGH 1970/2 ELG 1967–1972, 256 (259 Erw. 4) sowie Frick, S. 4 f.
61 Im Bereich von Organisation und Zuständigkeiten wird für ungeschriebenes Verfas -
sungs recht wohl, wenn überhaupt, nur ein sehr eingeschränkter Spielraum bestehen;
siehe Batliner, Fragen, S. 12 Rz. 6.
62 StGH 1998/42, LES 2000, 1 (6 Erw. 4.4) mit Verweis auf Kley, S. 68 f.; vgl. hierzu Hoch,
S. 106 f. sowie auch schon Fehr, S. 192 f. Allerdings hat das Bundesgericht gerade dem
Will kür verbot trotz entsprechenden Forderungen in der Lehre den Status eines unge -
schrie benen Grundrechtes verweigert; siehe hierzu Thürer, S. 434.
63 Siehe Batliner, S. 146; vgl. Thürer, Völkerrechtsordnung, S. 109. Dass der Staatsgerichts -
hof in der unveröffentlichten StGH-Entscheidung 1977/4 (S. 10) offen gelassen hat, ob
es ein ungeschriebenes Recht auf Ehe gibt, ist wohl eher als dogmatisches Versehen zu
werten; vgl. hierzu auch Höfling, Bestand, S. 104.
ten Einschränkungen für Grundrechtseingriffe. Die Kriterien des genü -
gen den öffentlichen Interesses, der Verhältnismässigkeit und der Wah -
rung des Kerngehalts bei Vornahme eines Grundrechtseingriffs stellen
nichts anderes als ungeschriebene Verfassungsprinzipien64 und somit
eine klare Abweichung vom traditionellen verfassungsrechtlichen Posi -
tivismus dar.65
Eingrenzung des sachlichen Geltungsbereichs spezifischer
Grundrechte
Von der im Rahmen eines modernen materiellen Grundrechtsverständ -
nis ses grundlegenden Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem als
Auf fanggrundrecht dienenden Willkürverbot und den spezifischen
Grund rechten war schon die Rede. Dabei rechtfertigt gerade der punk -
tuelle Charakter der spezifischen Grundrechte, dass innerhalb von deren
beschränktem sachlichem Geltungsbereich eine differenzierte verfas -
sungs gerichtliche Prüfung erfolgt. Bei einzelnen Grundrechten besteht
aber die Gefahr, dass ihr sachlicher Geltungsbereich ausufert und ∠ ähn -
lich wie bei einem zu grosszügigen Prüfungsmassstab beim Willkürver -
bot66 ∠ das eigentliche Anliegen des Grundrechtsschutzes, nämlich die
Sicherung elementarer Aspekte der Menschenwürde und des demokrati -
schen Rechtsstaates, im Endeffekt verwässert wird.
Diese Gefahr besteht einmal bei der Eigentumsgarantie. Denn nach
der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes umfasst dieses Grundrecht
bei weitem nicht nur das Eigentum an beweglichen Sachen und Grund -
stücken, sondern auch Forderungen und andere geldwerte Interessen.67
Bei einer extensiven Handhabung dieses Grundrechtes unterstünde des -
halb jede Zivilstreitigkeit, bei der es direkt oder indirekt um finanzielle
79
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
64 Zwar sind diese Grundrechtseingriffskriterien, wie erwähnt, im Ergebnis auch in der
EMRK enthalten, welche in Liechtenstein «faktisch Verfassungsrang» hat (StGH 1995/
21, LES 1997, 18 [28 Erw. 6.1]; vgl. Thürer, Völkerrechtsordnung, S. 114 und Höf ling,
EMRK, S. 144); doch zum ersten wurden diese Prinzipien teilweise schon vor Inkraft -
treten der EMRK angewandt; und zum zweiten fanden sie ihre volle Aus prägung zu-
erst bei der Handels- und Gewerbefreiheit, welche kein EMRK-Grundrecht darstellt.
65 Siehe Frick S. 249 sowie Hoch, Rezension Frick, S. 52; vgl. auch Batliner, Fragen, S. 11
Rz. 6 und Wille, S. 287.
66 Siehe vorne S. 74.
67 Siehe Höfling, S. 172 ff. mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen.
Interessen geht, einer differenzierten verfassungsgerichtlichen Überprü -
fung. Der Staatsgerichtshof hat aber klargestellt, dass sich bei Zivilpro -
zes sen in der Regel gleichwertige Vermögensinteressen der betroffenen
Pro zessparteien gegenüberstehen, so dass sich der entsprechende
Grund rechtsschutz gewissermassen gegenseitig aufhebt. Der Staatsge -
richts hof nimmt dann nur eine Willkürprüfung vor. Der Schutz der
Eigen tums garantie greift zudem in der Regel nur dann, wenn ein staat -
licher Eingriff in eine gefestigte Eigentümerposition zu beurteilen ist.68
Verneint hat der Staatsgerichtshof zum Beispiel eine solche gefestigte
Eigen tümerposition im Falle der Kautionsleistung eines aus der Unter -
su chungs haft entlassenen Beschwerdeführers. Der Staatsgerichtshof hat
argumentiert, dass sich der Beschwerdeführer mit der Leistung der Kau -
tion der gefestigten Eigentümerposition begeben habe und hat deshalb
die Frage der Rechtmässigkeit des vom Strafrichter ausgesprochenen
Verfalls der Kaution nur auf Willkür geprüft.69
Ein zweites wichtiges Einfallstor für eine Verwässerung des Grund -
rechts schutzes ist das Recht auf den ordentlichen Richter, da der Staats -
ge richts hof auch Verfahrensfehler («errores in procedendo») grund sätz -
lich unter den sachlichen Schutzbereich dieses Grundrechtes sub su -
miert. Der Staatsgerichtshof hat aber diese Ausweitung des sachlichen
Geltungsbereiches des Rechts auf den ordentlichen Richter dadurch
weit gehend entschärft, dass er eine differenzierte Überprüfung von Ver -
fahrensfehlerrügen nur dann vornimmt, wenn der Beschwerdeführer
durch die angefochtene Entscheidung von der Beschreitung des Rechts -
weges geradezu ausgeschlossen wird. Andere Verfahrensfehlerrügen
prüft der Staatsgerichtshof nur im Lichte des Willkürverbots. Um einen
solchen anderen, nur der Willkürprüfung offenen Verfahrensfehler geht
es zum Beispiel dann, wenn sich der Beschwerdeführer nicht wegen der
Beschneidung des eigenen Rechtsweges, sondern deshalb auf dieses
Grund recht beruft, weil im Gegenteil dem Beschwerdegegner ein
Rechts weg eröffnet worden sei.70
Eine besondere Gefahr der Ausuferung des sachlichen Gel tungs be -
80
Hilmar Hoch
68 StGH 1996/8, LES 1997, 153 (157 Erw. 2.2.2) und StGH 1996/20, LES 1998, 68 (72
Erw. 2).
69 Siehe StGH 1996/47, LES 1998, 195 (200 Erw. 4); vgl. auch StGH 1988/19, LES 1989,
122 (124 Erw. 2).
70 StGH 1998/45, LES 2000, 1 (4 f. Erw. 2); siehe auch StGH 1997/27, LES 1999, 11 (15
Erw. 5.1); jeweils mit Verweis auf Höfling, Willkür, S. 961 f.; vgl. auch Gstöhl, S. 130.
reichs besteht schliesslich auch beim Grundrecht der persönlichen Frei -
heit. Dies zeigt sich an der Rechtsprechung des deutschen Bundes ver -
fassungsgerichtes, welches dieses Grundrecht sehr weit im Sinne einer
allgemeinen Handlungsfreiheit handhabt.71 Demgegenüber umfasst der
Schutz bereich der persönlichen Freiheit nach der Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofes analog derjenigen des schweizerischen Bundesge -
richts neben der körperlichen und seelischen Integrität nur elementare
Erscheinungsformen der Persönlichkeitsentfaltung.72 Entsprechend
kommt dem Grundrecht der persönlichen Freiheit im Gegensatz zum
universellen Willkürverbot nur sehr eingeschränkt die Funktion eines
Auffanggrundrechtes zu.73
Durch die Einschränkung des sachlichen Geltungsbereichs ins be -
son dere der erwähnten drei Grundrechte Eigentumsgarantie, Recht auf
den ordentlichen Richter und persönliche Freiheit konnte der Staats ge -
richtshof den punktuellen Charakter des spezifischen Grund rechts -
schutzes gegenüber dem generell geltenden Willkürschutz wahren. Ins -
ge samt, so scheint mir, ist es somit dem Staatsgerichtshof in den letzten
Jahren gelungen, eine differenzierte materielle Grundrechtsprechung zu
entwickeln, ohne zu sehr in den Kompetenzbereich der ordentlichen
Ge richte und der anderen Verfassungsorgane einzugreifen.74
Persönlicher Geltungsbereich der Grundrechte
Neben dem Umfang des sachlichen Geltungsbereichs der Grundrechte
hängt die Wirksamkeit des Grundrechtsschutzes wesentlich auch vom
per sönlichen Geltungsbereich ab. Auch insoweit hat der Staatsgerichts -
hof seine Rechtsprechung insbesondere seit anfangs der achtziger Jahre
81
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
71 Siehe Höfling, S. 112 mit Verweis auf die grundlegende Entscheidung BVerfGE 6,32;
vgl. auch Müller, Elemente, S. 141.
72 StGH 1996/4, LES 1997, 203 (206 Erw. 4.1); siehe auch schon StGH 1987/12, LES 1988,
4 (6 Erw. 6); zur Rechtsprechung des Bundesgerichts siehe etwa Müller, S. 7; zum auf
die körperliche Bewegungsfreiheit beschränkten österreichischen Grundrecht auf per -
sön liche Freiheit siehe Berka, S. 229 f. Rz. 397.
73 Vgl. Frick, S. 326 f.; Auer/Malinverni/Hottelier, S. 538 Rz. 1106 ff.
74 So auch die Einschätzung von Frick, S. 222 mit weiteren Literaturnachweisen. Vehe -
ment anderer Ansicht ist Kohlegger, S. 73 f., welcher allerdings nach wie vor einen sub -
jek tiven Willkürbegriff zu propagieren und die grundrechtsdogmatische Neuausrich -
tung der StGH-Rechtsprechung generell als Irrweg zu beurteilen scheint; siehe auch
derselbe, Rechtshilfe, S. 64 f.
unter dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention ver -
schärft.
Zumindest formell war der Grundrechtsschutz während Jahrzehn -
ten auf Landesangehörige beschränkt. Die Rechtsstellung der Ausländer
und somit auch deren Grundrechtsträgerschaft bestimmten sich gemäss
der expliziten Regelung in Art. 31 Abs. 3 (früher Abs. 2) LV nach staats -
ver traglichen Regelungen bzw. nach dem Gegenrecht.75 Allerdings hielt
sich der Staatsgerichtshof in einzelnen Entscheidungen aus den sechziger
und siebziger Jahren nicht an diese Restriktionen und gewährte Aus län -
dern generell Grundrechtsschutz.76 Andererseits verneinte der Staatsge -
richts hof noch in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1981, also kurz
vor dem Inkrafttreten der EMRK, den Grundrechtsschutz für Auslän -
der.77 Nach der Ratifizierung der EMRK im Jahre 1982 distanzierte sich
der Staatsgerichtshof explizit von diesen beiden Entscheidungen und
dehnte den Grundrechtsschutz grundsätzlich auch auf Ausländer aus.78
Für die EMRK-Rechte war dies gewissermassen zwingend, da diese be -
kanntlich als Menschenrechte konzipiert sind und somit gemäss Art. 1
EMRK universelle persönliche Geltung haben.79 Unter dem Einfluss der
EMRK wandte der Staatsgerichtshof auch die dort nicht garantierten
Grundrechte, zunächst das Gleichheitsgebot und das Willkürverbot80, in
der Folge aber auch die Eigentumsfreiheit81 und die Handels- und Ge -
wer be freiheit82 auf Ausländer an.83 Nach wie vor nicht auf Ausländer an -
wendbar ist jedoch die Niederlassungsfreiheit, welche in Art. 28 Abs. 2
der LV ausdrücklich den Landesangehörigen vorbehalten ist.84 Diese
82
Hilmar Hoch
75 So etwa Gutachten v. 23.2.1953, ELG 1947–1954, 264; StGH-Bericht ELG 1962–1966,
270.
76 StGH 1975/1, ELG 1973–1978 373 (378); StGH 1977/6, LES 1981, 44 (47); StGH
1980/4, LES 1981, 185 (185 Erw. 2).
77 StGH 1981/6, S. 2 f. sowie StGH 1981/10, LES 1982, 122 (122 Erw. 3); vgl. hierzu
Höfling, S. 62, Batliner, S. 111 sowie Gstöhl, S. 119.
78 Siehe Höfling, S. 63, mit Verweis auf die StGH-Entscheidungen 1982/118, 119 und 120
sowie StGH 1982/65, LES 1984, 1 (1 f.) und StGH 1982/35, LES 1983, 105 (106).
79 Siehe Hangartner, S. 129; Frowein/Peukert, S. 18 f. Rz. 3.
80 StGH 1990/7, LES 1992, 10 (11), StGH 1990/16, LES 1991, 81 (82 Erw. 2.1); jeweils mit
Verweis auf StGH 1982/119; letzere Entscheidung ist teilweise abgedruckt in Stotter,
S. 55 ff. Nr. 57; bloss auf das Gegenrecht abstellend dagegen noch StGH 1984/13, LES
1985, 108 (109 Erw. 1).
81 Inzwischen ist für Liechtenstein aber das 1. EMRK-Zusatzprotokoll in Kraft getreten,
welches in Art. 1 die Eigentumsfreiheit garantiert (LGBl. 1995/208). Siehe im übrigen
schon Fehr, S. 126 f.
82 Kritisch hierzu Frick, S. 153 ff.; vgl. aber auch Hoch, Rezension Frick, S. 53.
83 Vgl. Hoch, S. 108.
Einschränkung besteht selbst nach dem liechtensteinischen Beitritt zum
Europäischen Wirtschaftsraum im Jahre 1995 weiter. Zwar hat der
Staats gerichtshof das EWR-Abkommen als verfassungsänderndes bzw.
-ergänzendes Staatsvertragsrecht anerkannt.85 Doch ist die Teil der vier
EWR-Grundfreiheiten bildende Personenfreizügigkeit in bezug auf
Liech tenstein bekanntlich nach wie vor suspendiert, nachdem in einer
kürz lich zustande gekommenen Verhandlungslösung die Übergangsfrist
für Liechtenstein bis zum Jahre 2006 verlängert worden ist.86 Diese
Lücke im Grundrechtsschutz für Ausländer wird somit noch einige Zeit
nicht geschlossen werden.87
Beim persönlichen Geltungsbereich der Grundrechte stellt sich
weiters die Frage, ob nicht nur natürliche, sondern auch juristische
Personen Grundrechtsträger sind. In bezug auf juristische Personen des
Privatrechts war in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes soweit
ersichtlich nie in Frage gestellt, dass diese grundsätzlich ebenfalls
Grund rechtsträger sein können.88 Wie in der Schweiz gilt dies nach der
neueren Rechtsprechung auch für öffentlich-rechtliche juristische Per so -
nen, soweit diese in einem Verfahren wie Private betroffen sind.89 Eben -
falls analog der schweizerischen Rechtsprechung besteht in einem Aus -
83
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
84 Siehe StGH 1997/19, LES 1998, 269 (272 Erw. 2.1) mit Verweis auf Wanger, S. 220.
85 Siehe StGH 1996/34, LES 1998, 74 (80 Erw. 3.1). Zur Vermeidung von Konflikten zwi -
schen EWR-Recht und den Grundrechten der Landesverfassung hat der Staatsgerichts -
hof inzwischen auch präzisiert, dass er die Konformität von EWR-Recht mit der
Landesverfassung ausser bei Verletzung von «Grundprinzipien und Kerngehalten» der
darin enthaltenen Grundrechte von vornherein nicht überprüfe (StGH 1998/59 Erw.
3.1).
86 Beschluss Nr. 191/1999 des Gemeinsamen EWR-Ausschusses (LGBl. 2000/97); vgl.
hierzu Steiner, S. 7.
87 Der Staatsgerichtshof hat es unter anderem aufgrund des eminent politischen Charak -
ters dieser Frage abgelehnt zu prüfen, ob sich Liechtenstein während dieser Verhand -
lun gen zulässigerweise auf die Schutzklausel gemäss Art. 112 f. EWRA berufen hat
bzw. ob die nunmehr vereinbarte Übergangsfrist im Einklang mit Sinn und Geist des
EWR-Abkommens sei; StGH 1998/56, LES 2000, 107 (110 f. Erw. 2.6).
88 Dies jedenfalls soweit es «dem Wesen der juristischen Person entspricht»; StGH
1977/3, LES 1981, 41 (43 Erw. 3); siehe auch StGH 1984/14, LES 1987, 36 (38 f. Erw.
1); vgl. Höfling, S. 64 f.
89 Dies ist z.B. dann der Fall, wenn das Land oder eine Gemeinde in einem Baubewilli -
gungs verfahren selbst als Bauherr oder als Eigentümer eines Nachbargrundstücks auf -
tritt. Zu weitgehend Gstöhl, 124 f., der öffentlichrechtliche juristische Personen jeden -
falls in bezug auf die Garantie des ordentlichen Richters gemäss Art. 33 Abs. 1 LV ge -
ne rell als Grundrechtsträger anerkennen will. Dies soll sogar für den Staat bzw. den
Staats anwalt im Strafverfahren gelten. Gerade letzteres hat der Staatsgerichtshof indes -
sen in mehreren Entscheidungen ausdrücklich abgelehnt (StGH 1996/25 Erw. 2; StGH
nah me fall aber auch bei hoheitlichem Handeln einer öffentlich-rechtli-
chen juristischen Person die Legitimation zur Verfassungsbe schwerde.
Auf der Grundlage der in Art. 110 LV normierten Gemein de autonomie
anerkennt der Staatsgerichtshof nämlich seit Mitte der achtziger Jahre ei-
nen grundrechtsähnlichen Anspruch der Gemeinden auf Wahrung ihrer
Autonomie.90 Im Rahmen einer solchen Autonomie beschwerde kann
die Gemeinde neben Willkür beim Eingriff in ihren Autonomiebereich
auch eine Verletzung von Verfahrensrechten wie des Anspruchs auf
rechtliches Gehör oder des Beschwerderechts geltend machen.91
Zusammenfassung und Bilanz
75 Jahre Grundrechtsprechung des Staatsgerichtshofes lassen sich ab -
schlies send wie folgt zusammenfassen: Der Weg des Staatsgerichts hofes
hin zu einer verstärkten Grundrechtssensibilisierung war lang und
durch aus beschwerlich. Während Jahrzehnten verlief diese Entwicklung
ausgesprochen schleppend. Erst zu Beginn der sechziger Jahre waren in
einer Annäherung an die schweizerische Rechtsprechung erste Ansätze
einer stärkeren Normierungskraft der Grundrechte auch dem Gesetz -
geber gegenüber zu verzeichnen. In den letzten fünfzehn Jahren war die
Grundrechtsprechung des Staatsgerichtshofes insbesondere unter dem
Einfluss der EMRK sogar von einer beträchtlichen Dynamik geprägt.
Inzwischen hat sich in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes ein
materielles Grundrechtsverständnis mit differenzierten Eingriffs kri te -
rien fest etabliert. In diesen erhöhten Grundrechtsschutz sind nunmehr
auch Ausländer weitestgehend einbezogen. Auf diese Grundlage lässt
sich auch in Zukunft bauen.
Literaturverzeichnis
Hinweis: Die Zitierweise ist durch Kursivschrift gekennzeichnet.
84
Hilmar Hoch
1996/31, LES 1998, 125 [130 Erw. 1]; StGH 1998/55 Erw. 1.1; StGH 1999/47, Erw. 2
ff.). Daneben hat der Staatsgerichtshof auch der Rechtsanwaltskammer (StGH 1996/24
Erw. 2) und der Alters- und Hinterlassenversicherung (StGH 1999/4 Erw. 1.1 ff.) im
Rah men von deren hoheitlichen Tätigkeit die Verfassungsbeschwerdelegitimation ab -
ge sprochen.
90 StGH 1984/14, LES 1987, 36 (38 Erw. 1); siehe Höfling, S. 251, sowie von Nell, S. 217
f.; zur schweizerischen Rechtsprechung siehe Kälin, S. 271 ff.
91 Eine Zusammenfassung des aktuellen Stands der Rechtsprechung zur Gemeinde auto -
nomie findet sich in StGH 1998/27, LES 1999, 291 (294 Erw. 1.3).
Aubert, Jean-François: Traité de droit constitutionnel suisse, Bd. II, Neuchâtel 1967
Auer, Andreas/Malinverni, Giorgio/Hottelier, Michel: Droit constitutionnel suisse, Bd. 2,
Les droits fondamentaux, Bern 2000
Batliner, Gerard: Die liechtensteinische Rechtsordnung und die EMRK; in: Peter Geiger/
Arno Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein: Kleinheit und Interdependenz, LPS Bd. 14,
Vaduz 1990, 91
Batliner, Gerard: Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Verfassungsrechts, Vaduz 1998
Berka, Walter: Die Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich,
Wien/New York 1999
Berka, Walter: Die Gesetzesvorbehalte der Europäischen Menschenrechtskonvention,
Österreich. Zeitschrift für öff. Recht und Völkerrecht 37 (1986), 71
Berka, Walter: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die österreichische
Grund rechtstradition, ÖJZ 79 (34), 365
Clemenz, Thomas: Das Bundesverfassungsgericht im Rechts- und Verfassungsstaat, in:
Michael Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt
von Recht und Politik, Mainz/München 1995
Dreier, Horst: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. A,
Baden-Baden 1990
Fehr, Josef Alexander: Grundverkehrsrecht und Eigentumsgarantie im Fürstentum
Liechtenstein, Diss. Fribourg 1984
Frick, Kuno:Die Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit nach Art. 36 der Ver -
fas sung des Fürstentums Liechtenstein, Freiburg/Schweiz 1998
Frowein, Jochen A./Peukert, Wolfgang: EMRK-Kommentar, Kehl etc. 1996
Funk, Bernd Christian: Verfassungsrechtliche Adaptionen/Innovationen des Kleinstaates.
Das Beispiel Österreich, in: Arno Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat. Grundsätzliche und
aktuelle Probleme, LPS Bd. 16, Vaduz 1997. 177
Grimm, Dieter: Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main 1991
Gstöhl, Christian:Das Recht auf einen ordentlichen Richter in der liechtensteinischen Ver -
fas sung, LPS Bd. 31, Vaduz 2000
Gygi, Fritz: Freie und beschränkte Prüfung im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren, in:
Fest schrift für Hans Huber, Bern 1981
Haefliger, Arthur: Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985
Hangartner, Yvo: Die Grundrechte der Ausländer im Fürstentum Liechtenstein, in: LJZ
1986, 129
Hangartner, Yvo: Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Band II: Grundrechte,
Zürich 1982
Häberle, Peter: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein
Be trag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Ge set zes -
vorbehalt, 3. A., Heidelberg 1983
Häfelin, Ulrich/Haller, Walter: Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. A., Zürich 1998
Hoch, Hilmar: Grundrechtliche Verfahrensgarantien in der Rechtsprechung des liechten-
steinischen Staatsgerichtshofes, in: Grundrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren,
DACH-Schriftenreihe, Bd. 2, Wien 1994, 105
85
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
Hoch, Hilmar: Rezension von Kuno Frick, Die Gewährleistung der Handels- und Ge -
werbefreiheit nach Art. 36 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, LJZ 1999, 51
Hoch, Hilmar: Rezension von Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grund rechts -
ordnung, LJZ 1995, 86
Hoch, Hilmar:Die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie am Bei -
spiel des Staatsgerichtshofskandals, Vortrag am Liechtenstein-Institut vom 5.6.1990
(Maschinenskript)
Höfling, Wolfram: Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, LPS Bd. 20, Vaduz 1994,
32
Höfling, Wolfram: Bauelemente einer Grundrechtsdogmatik des deutschsprachigen Rau -
mes, in: Kleinstaat und Menschenrechte, Festgabe Gerard Batliner, Basel/Frankfurt am
Main 1993, 341
Höfling, Wolfram: Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Fürstentum Liechtenstein,
LJZ 1995, 103
Höfling, Wolfram: Liechtenstein und die Europäische Menschenrechtskonvention, in:
Archiv des Völkerrechts, Bd. 36 (1998), 140
Höfling, Wolfram: Das Verbot prozessualer Willkür, JZ 1991, 955
Kälin, Walter: Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994
Kälin, Walter: Ausländerdiskriminierung, in: Bernhard Ehrenzeller et al. (Hrsg.), Der Ver -
fas sungsstaat vor neuen Herausforderungen, Festschrift für Yvo Hangartner,
St. Gallen/Lachen 1998, 561
Kälin, Walter: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, Bern 1987
Kaufmann, Otto K.: Die beiden Brillen des Bundesgerichts, in: Beiträge zur Methode des
Rechts, St. Galler Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1981, Bern und Stuttgart
1981, 165
Kley, Andreas: Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, LPS Bd. 23, Vaduz
1998
Kley, Andreas: Hans Kelsen als politischer Denker des 20. Jahr hunderts, LJZ 2000, 16
Kohlegger, Karl: Die Justiz des Fürstentums Liechtenstein und der Republik Österreich in
einer Beziehung besonderer Art, in: Festschrift Otto Oberhammer, Wien 1999, 35
Kohlegger, Karl: Das Fürstentum Liechtenstein und die internationale Rechtshilfe in Straf -
sachen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des F.L. OGH, LJZ
1996, 3
Kühne, Josef: Der Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein – Funktion und Kom -
pe tenzen, EuGRZ 1988, 230
Melichar, Erwin: Die Liechtensteinische Verfassung 1921 und die österreichische Bun des -
verfassung 1920, in: Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels,
Festschrift Ludwig Adamovich, Wien/New York 1992
Moor, Pierre: De la place de la prohibition de l’arbitraire dans l’ordre juridique –
Réflections sur le droit et la justice, in: Bernhard Ehrenzeller et al. (Hrsg.), Der Ver fas -
sungs staat vor neuen Herausforderungen, Festschrift für Yvo Hangartner, St. Gallen/
Lachen 1998, 605
Müller, Jörg Paul: Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern 1999
Müller, Jörg Paul: Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, Bern 1982
Nell von, Job: Die politischen Gemeinden im Fürstentum Liechtenstein, LPS Bd. 12,
Vaduz 1987
86
Hilmar Hoch
Nowak, Manfred: Inhalt, Bedeutung und Durchsetzungsmechanismen der beiden UNO-
Menschenrechtspakte, in: Walter Kälin/Giorgio Malinverni/Manfred Nowak (Hrsg.),
Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2.A., Basel etc., 1997, 3
Schurti, Andreas: Das Verordnungsrecht der Regierung – Finanzbeschlüsse, in: Gerard
Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921, LPS Bd. 21, Vaduz, 1994, 231
Steiner, Peter R.: Freizügigkeit und Niederlassungsrecht im Fürstentum Liechtenstein im
Rah men des EWR, LJZ 2000, 1
Stotter, Heinz Josef: Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1986
Thürer, Daniel: Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, ZSR NF Bd. 106 (1987), II. Hbd., 413
Thürer, Daniel: Liechtenstein und die Völkerrechtsordnung. Ein Kleinstaat im völker-
rechtlichen Spannungsfeld zwischen Singularität und modellrechtlicher Integration, in:
Archiv des Völkerrechts, Bd. 36 (1998), 198
Wanger, Ralph: Das liechtensteinische Landesbürgerrecht, Vaduz 1997
Waschkuhn, Arno: Justizrechtsordnung in Liechtenstein, LJZ 1991, 38
Wille, Herbert: Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht auf der Grundlage der
Recht sprechung des Staatsgerichtshofes, LPS Bd. 27, Vaduz 1999
87
Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtssprechung
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
Daniel Thürer*
«To speak of justice, of course, is not necessarily to speak of law: the
judicial job is to achieve the one in applying the other, but the rigi-
dity of law and the elusiveness of justice continually conspire to keep
the two things in tension.» Lord Justice Sedley1
«The roots of constitutionalism lie in the hearts of the people.»
Archibald Cox2
«But a judge without convictions will be a leaf in the wind.»
Richard A. Posner3
Was ist Gerechtigkeit?4
Die Frage nach der Gerechtigkeit steht für viele im Vorder grund, die von
aussen an die Rechtsordnung herantreten; seien dies Rechts su chende, die
vor dem Richter ein «gerechtes Urteil» erstreiten wollen, Wis senschafter
88
* Ich danke Dr. Hilmar Hoch, LL.M., Richter am F.L. Staatsgerichtshof und Rechts -
anwalt, für seine sehr wertvollen Hinweise auf die neueste Praxis des Gerichtshofes,
und meiner Assistentin, Frau lic.iur. Ursula Leu, für ihre sehr wertvolle Mitarbeit bei
der Vorbereitung dieses Artikels. Der vorliegende Text beruht auf einem vom Verfasser
am Liechtenstein-Institut gehaltenen Vortrag vom 15. Dezember 2000. Der Referatstext
wurde erweitert und mit Fussnoten versehen.
1 Lord Justice Sedley, Freedom, Law and Justice, London 1999, S. 47.
2 Archibald Cox, Court and the Constitution, Boston 1987, S. 15.
3 Richard A. Posner, Cardozo – A Study in Reputation, Chicago/London 1990, S. 9.
4 Die Frage «Was ist Gerechtigkeit?» – versehen mit dem Untertitel «Gedankenskizzen
eines Richters» – hatte in Liechtenstein bereits Dr. Heinz Josef Stotter, Fürstlicher
Land richter in Vaduz, in der Liechtensteinischen Juristen-Zeitung 1983, Heft 1,
S. 10 ff., in einer Abhandlung aufgeworfen, die von Platon, Aristoteles, Jesus, Kant,
Kelsen bis zur Rolle des Richters im Bemühen um Gerechtigkeit und zum Urteil reich-
te.
und Schrift stel ler, welche sich anschicken, die Funk tions weise des
Rechts systems als solche zu untersuchen, oder Studenten zu Beginn des
Rechtsstudiums. Sie alle entdecken, dass «Gerechtigkeit» nicht zum all-
täglichen begrifflichen Instru men tarium des Juristen gehört; nur margi-
nal ist in Kom men taren, Gerichtsurteilen oder Lehr büchern von Ge -
rech tig keit die Rede. Rechtspraktiker werden auf die Frage, weshalb sie
kaum von Gerechtigkeit sprächen, vielleicht im Sinne jenes Zürcher
Oberrichters antworten, der – als Jurist und leidenschaftlicher Alpinist –
mir zu Beginn meines Studiums gesprächsweise erklärte: «So wie es für
den Bergsteiger nutzlos ist, sich über die Gravitations kraft den Kopf zu
zerbrechen, die sein Tun beherrscht, und er sich fragt: Wie ist die Wand
beschaffen, die ich bezwingen möchte – Granit oder Schiefer? Was ist
der Schwierigkeitsgrad: fünf oder sechs? Wie ist die Gefahr einzuschät-
zen, dass sich an der Halde ein Schneebrett löst? So fragt sich der Jurist
nicht von von Tag zu Tag und von Fall zu Fall, was für eine innere Kraft
die Rechtsordnung zusammenhalte und ihr Gestalt gebe, obwohl er sich
natürlich bewusst ist, dass es diese Kraft gibt.»
Die Frage nach der Gerechtigkeit also ist – wenn auch auf der
Oberfläche kaum sichtbar – auch für die juristische Praxis zentral.5 Die
liechtensteinischen Richter werden bei ihrem Amtsantritt feierlich daran
erinnert, wenn sie schwören und geloben, «in allem, was vom Gerichte
zu beurteilen ist, nach Recht und Gerechtigkeit, best Ihres Wissens und
Gewissens ein allen gleich unparteilicher Richter zu sein».6
Wiewohl es in einem Land wie Liechtenstein keinen «Palais de
Justice» gibt und die Richter auch nicht «Justices» genannt werden, steht
die Idee der Gerechtigkeit im Hintergrund jeder Rechts- und Richter -
89
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
5 Zum Ganzen Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft,
2. Aufl., Berlin 1996; Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit – Defizite
eines Begriffs, 2. Aufl., Zürich 1993.
6 Die ganze Eidesformel lautet: «Sie schwören und geloben vor Gott dem Allmächtigen:
Genaue Beobachtung der Verfassung, Gehorsam den Gesetzen; Verschwiegenheit in
allen an Sie gelangenden Amtssachen; allen erhaltenen Einberufungen zu Gerichts ver -
hand lungen und in der Amtspflicht liegenden Auf trä gen mit Vorbehalt statthafter Aus -
schliessungs-, Ablehnungs- oder Verhin de rungs gründe jederzeit pünktlich Folge zu
leis ten; in allem, was vom Gerichte zu beurteilen ist, nach Recht und Gerechtigkeit, best
Ihres Wissens und Gewissens ein allen gleich unparteilicher Richter zu sein, ohne An -
sehen der Person, dem Reichen wie dem Ar men, und dabei nicht ansehen Miet, Gab,
Gunst, Furcht, Freundschaft noch Feind schaft, denn allein gerechtes Gericht und
Recht, inmassen Sie das gegen Gott, den All mäch tigen, am Jüngsten Tage verantworten
können.» «Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!»
tätig keit. Dabei handelt es sich freilich nur um ein Postulat, das in der
Rechts wirklichkeit voll nie erreicht werden kann. Der Cambridge-
Professor Philip Allott schrieb überzeugend:
«The capacity of human beings to recognize order – the order of the
physical universe, of society, or morality, of law, of human persona-
lity, of human consciousness – is the capacity to recognize the order
of all order. And the order of the order of law is called justice.»7
Dann aber weist er auf die Fragilität des Gerechtigkeitsideals hin:
«As they witness to the ideal of justice, courts, in everything they
do, commit injustice . . . The justice of a given society, the social ju-
stice embodied in its law, is a shadow, and only a shadow, of the ju-
stice of all justice . . . A court is a blade of sacrifice.»8
Und das Gericht symbolisiert nach Allott die Warnung,
«that there is a justice above and beyond the justice of the law, that
the law is always a means and never an end. The voice that is heard
in the court-room is the voice of law (lex loquens). Its echo is the
voice of justice (ius loquens).»9
Was also ist Gerechtigkeit? Ich versuche, den Begriff in eine Verbin dung
zum «Gesetz» und zum «Gericht» zu bringen, also gleichsam eine
Brücke zu schlagen, deren eine Teil das Gesetz und der andere Teil die
Institutionen der Justiz, vor allem der Verfassungs ge richts barkeit, bildet
und die durch das Mittelstück der Gerechtigkeit zusammengehalten
wird. Für die (verfassungs)rechtliche Analyse unserer letzt lich nie lösba-
ren Thematik seien vier Thesen aufgestellt:
– Gerechtigkeit bedeutet grundsätzlich Einhaltung der Gesetze.
– Voraussetzung für die Legitimität der Gesetze ist, dass sie ihrerseits in
einem «fairen» Verfahren zustande gekommen sind.
– Aus nahmsweise kann sich der Gerechtigkeitsgedanke «korrektiv» ge-
gen das (einfache) Gesetz wenden, dies insbesondere in Form verfas-
90
Daniel Thürer
7 Philip Allott, The International Court and the voice of justice, in: Vaughan Lowe/
Malgosia Fitzmaurice (ed.), Fifty Years of the International Court of Justice: Essays in
honour of Sir Robert Jennings, Cambridge 1996, S. 26.
8 A.a.O.
9 A.a.O.
sungsrechtlich geschützter Rechte und Prinzipien und letztlich des
Willkürverbots.
– Das letzte Wort der Versöhnung der Gebote der Rechtssicherheit und
Gerechtigkeit liegt beim Richter, vor allem beim Verfassungsrichter.
Abschliessend sei, nach Betrachtung dieser vier «Topoi», erneut die
Frage aufgeworfen: Was ist Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit gebietet, die Gesetze zu befolgen
Ein Freund des überragenden amerikanischen Richters Oliver Wendell
Holmes soll sich einst, vor dem Supreme Court stehend, von Holmes
mit den Worten verabschiedet haben: «I wish you well in your task to do
justice». Und Holmes soll geantwortet haben: «I am not here to do ju-
stice, but to decide cases according to the rules.» Er brachte damit die
hier vertretene These zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit zunächst gebie-
tet, die Gesetze zu befolgen.
Dieses Prinzip ist nicht selbstverständlich, fand aber – historisch
und literarisch – eine eindrückliche Verkörperung in der Figur von Sir
Thomas More, seinerzeit Kanzler des englischen Königs Heinrich VIII.
Die Geschichte sei – weil sie trifft und sich einprägt – kurz darge-
stellt. More hatte sich, nachdem Heinrich VIII. die Ehe mit Katharina
von Aragon als nichtig bezeichnet und Anna Boleyn geheiratet hatte, ge-
weigert, einen Treueschwur auf den König abzulegen, in dem er allen
Gehorsam dem «Bischof von Rom» gegenüber aufgekündigt und Hein -
rich als das Haupt der «Church of England» anerkannt hätte. Er wurde
wegen Verrats verurteilt; Richard Rich, einst Freund von More, legte
Zeugnis gegen ihn ab.
Der Regisseur Robert Bolt konzipierte im Film «A Man for all Sea -
sons» das folgende Gespräch zwischen More, seiner Tochter Margaret
und seinem künftigen Schwiegersohn Roper, wobei sich anfänglich auch
Rich im Raum befindet:
Margaret: Vater, dieser Mann (gemeint ist Rich) ist schlecht.
More: Dem steht kein Gesetz entgegen.
Roper: Aber doch! Das Gesetz Gottes!
More: Dann kann Gott ihn verhaften.
Roper: Sophismen über Sophismen!
91
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
More:Nein, ich meine etwas ganz Einfaches. Das Recht, Roper, das
Recht. Ich weiss, was Rechtens ist, nicht was richtig ist. Ich halte
mich an das, was Rechtens ist.
Roper: Dann setztest Du das Recht der Menschen über das Recht
Gottes.
More: Nein, weit darunter; aber lasst mich darauf hinweisen: ich bin
nicht Gott. Durch die Strömungen und Klippen von richtig und
falsch, die Dir so leicht zu durchsegeln erscheinen, kann ich nicht
navigieren; ich bin kein Seefahrer. Aber im Dickicht des Rechts, ja,
da bin ich ein Förster. Ich bezweifle, ob es jemanden gibt, der mir
da folgen könnte.
Mittlerweile hatte Rich den Raum verlassen.
More: Und gehen soll er, solange er das Gesetz nicht gebrochen hat,
selbst wenn er der Teufel wäre.
Roper: Du würdest also den Teufel unter den Schutz des Gesetzes
stellen?
More: Ja. Was würdest Du tun? Eine grosse Schneise durch den
Wald schlagen, um den Teufel zu verfolgen?
Roper: Ich würde jedes Gesetz Englands niederschlagen, um dieses
Ziel zu erreichen.
More:Oh? Und wenn das letzte Gesetz niedergeschlagen wäre und
der Teufel sich Dir zuwendete – wo würdest Du Dich verstecken,
Roper, nachdem die Gesetze alle flach liegen? Dieses Land ist, von
Küste zu Küste, mit Gesetzen dicht bepflanzt – Gesetzen der Men -
schen, nicht Gottes – und wenn Du sie niederschlägst – und Du
wärest der geeignete Mann dazu – glaubst Du wirklich, dass Du
noch aufrecht stehen könntest in den Winden, die dann bliesen? Ja,
ich würde den Teufel unter den Schutz des Gesetzes stellen, um
meiner eigenen Sicherheit willen.10
Eine erste These also ist, dass Gerechtigkeit dadurch verwirklich wird,
dass das Gesetz befolgt wird.11 Dies ist die Lehre von Thomas More.
92
Daniel Thürer
10 Wiedergegeben in Brian Harris, The Literature of the Law, London 1998, S. 335 f.
11 Dem Leitbild, wonach für den Richter erstes Gebot die Beachtung und Durchsetzung
des vom demokratischen Gesetzgeber beschlossenen Rechts darstellt, entspricht die
methodische Grundsatzeinstellung des «judical self-restraint» (im Gegensatz zu dem
Dieser Grundsatz ist – nach der Rechtsprechung des schweizerischen
Bun desgerichts – in dem als Brenn- und Kristallisationspunkt der
Rechts methodik ausgestalteten, verfassungsrechtlichen Willkürverbot
ent halten.
Gerechtigkeit bedeutet also zunächst Ernstnehmen und Beachtung
des Rechts, wie es – in vielfältig gewordenem und reichem «Dickicht» –
gewachsen ist. Hierin liegt letztlich der Schutz der Freiheit der Bürger,
die Ziel jeder Rechtsordnung ist. Der Grundsatz ist wichtig. Die An -
erken nung des Rechts, «Schneisen zu schlagen» und «abzuholzen»,
würde leicht zu Machtmissbrauch und Arroganz, Masslosigkeit, Autori -
ta rismus sowie Geringschätzung des Willens der Bürger als Mitglieder
der politischen Gemeinschaft führen, wie er im demokratisch beschlos-
senen Recht seine Verkörperung gefunden hat; sie würde die Rechte und
Be dürf nisse der Bürger beeinträchtigen.12
Geboten ist also zunächst Gesetzmässigkeit des staatlichen Han -
delns. Der Bürger hat als Ausfluss aus dem Gerechtigkeitsprinzip oder,
prä ziser ausgedrückt, nach Massgabe des Willkürverbots einen An -
spruch darauf, dass der Staat ihm gegenüber die Legalordnung nicht in
grober Weise missachtet. Natürlich fragen wir weiter: Was aber ist der
Wille des Gesetzes? Hierauf ist zu antworten, dass – prima facie – kein
Ver stoss gegen den Minimalstandard der Gerechtigkeit bzw. gegen das
Will kürverbot vorliegt, wenn das Gesetz seinem Wortlaut gemäss ge-
handhabt wird. Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Text der zu in-
terpretierenden Gesetzesbestimmung. Es gilt die Anscheinsvermutung,
93
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
die schöpferische Seite der Richtertätigkeit betonenden «judicial activism»); hervorra-
gender Vertreter dieser Schule war Learned Hand – gelegentlich bezeichnet als «the
greatest judge never to be appointed to the Supreme Court». Vgl. Gerald Gunther,
Learned Hand – the Man an the Judge, Cambridge (Mass. 1994), S. 664: «Hostility to
the judges’ tendency to pour their personal preferendes into vague constitutional phras -
es was Hand’s most consistent, deep seated feeling about courts.» Vgl. als wissen-
schaftlichen Vertreter dieser Richtung etwa Alexander M. Bickel, The Supreme Court
and the Idea of Progress, New Haven/London 1978, S. 21; ders., The Morality of
Consent, New Haven/London 1975. Als «judicial activist» galt «Supreme Court»-
Richter William O. Douglas; vgl. William O. Douglas, The Court Years (1939–1975) –
The Autobiography of William O. Douglas, New York 1980.
12 Vgl. in diesem Kontext auch etwa als Warnung Sebastian Haffner, Geschichte eines
Deutschen – Die Erinnerungen 1914–1933, 5. Aufl., Stuttgart/München 2000, der ein-
drücklich-konkret, d.h. aus der Binnensicht des Berliner Kammergerichts, schilderte,
wie die bisher massgebliche, differenzierte rechtliche Doktrin und Praxis im Zug und
Zeichen des neuen «Telos» Führungsprinzip Schritt für Schritt erodierte, degenerierte
und pervertiert wurde (vgl. S. 175 ff.).
dass das Recht so gilt, wie es sich in seinem Wortlaut präsentiert. Dabei
ist es aber auch möglich, dass sowohl ein wortlautkonformer wie auch
ein vom Wortlaut abweichender, aber durch eine andere anerkannte
Aus legungsmethode ermittelter Sinngehalt des Gesetzes dem Gerech -
tig keits gebot entspricht oder eben – besser – willkürfrei ist, das Gesetz
also eine Spannweite je vertretbarer Auslegungsvarianten offenhält: dass
also auch eine dem Gesetzeswortlaut widersprechende Interpretation
des Gesetzes vor dem Willkürverbot standhalten kann, wenn triftige
Gründe ein solches Resultat der Auslegung indizieren. Es kann sich so-
dann, wenn sich «intra legem» keine Lösung finden lässt, auch aufdrän-
gen, dass der Richter «extra legem» eine Lücke zu füllen sucht, wobei er
methodisch so vorgehen soll, wie wenn er selbst Gesetzgeber wäre.13
Ich will hier nicht weiter auf die Problematik der willkürfreien oder
vor dem Gerechtigkeitsgebot standhaltenden Gesetzesauslegung14 ein -
gehen, sondern nur meine erste These wiederholen: Gerechtigkeit be-
deutet zunächst Befolgung der Gesetze, wie immer deren Bestand und
Inhalt ermittelt wird.
Um als legitim zu erscheinen, müssen Gesetze in einem
gerechten Verfahren entstanden sein
Die Legitimität materiellen Rechts hängt von der Korrektheit ihrer Ent -
stehungsweise ab. Die Fairness des Verfahrens der Willensbildung und
der Entscheidfindung im Staat sind unerlässliche Voraussetzungen für
das Vertrauen des Bürgers in das Recht, dem er unterworfen ist, und in
das politische System, in das er hineingestellt ist und in dem er agiert.
Klar bezeugt etwa die Praxis des Supreme Court der Vereinigten Staaten,
94
Daniel Thürer
13 Näheres hierzu etwa bei Daniel Thürer, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, in: ZSR
1987 II, S. 413 ff., insbesondere 475 ff. Vgl. zum Ganzen insbesondere etwa Claude
Rouiller, La protection de l’individu contre l’arbitraire de l’Etat, in: ZSR 1997 II, S. 225
ff; Georg Müller, Reservate staatlicher Willkür, in: Festschrift für Hans Huber, Bern
1981, S. 109 ff.; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz – Im Rahmen der Bun -
des verfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, Bern 1999, S. 467 ff.; Pierre
Tschannen/Ulrich Zimmerli/Regina Kiener, Allgemeines Verwaltungsrecht, Bern 2000,
S. 118 ff.
14 Zum Ganzen: Martin Schubarth, Der Richter zwischen Rationalität und Sensibilität, in:
recht 1995, S. 151 ff.; Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Ver wal tungs -
rechts, Vaduz 1998, S. 82 ff.
auf die ich wegen der grossen Überzeugungskraft zahlreicher seiner
Urteile in diesem Artikel gelegentlich Bezug nehmen werde,15 den inne-
ren Zusammenhang zwischen der Offenheit und Fairness des politischen
Prozesses einerseits und der Anerkennung der aus ihm hervorgehenden
Ergebnisse andererseits. So hob das oberste amerikanische Gericht im
Fall Wesberry v. Sanders den fundamentalen Charakter des Stimmrechts
hervor:
«No right is more precious in a free country than that of having a
choice in the election of those who make the laws under which, as
good citizens, they must live. Other rights, even the most basic, are
illusory if the right to vote is undermined.»16
In einer (halb)direkten Demokratie wie etwa der Schweiz oder Liech -
tenstein sind die politischen Rechte der Bürger nicht auf die Wahl ihrer
Repräsentanten im Parlament beschränkt; die Verfassung gibt ihnen
auch Befugnisse der unmittelbaren Partizipation an Sachent schei dungen.
Verfassungsgerichte tragen zentral die Verantwortung dafür, dass die
Kanäle der politischen Willensbildung offen und rein gehalten sind und
die politischen Prozesse integer verlaufen.
Zum «Gerechtigkeitstopos» des «fairen demokratischen Verfah -
rens» hatte der Staatsgerichtshof im Jahre 1993 einen richtungsweisen-
den Entscheid gefällt.17 Es ging darum, ob die Abstimmung der liech-
tensteinischen Stimmbürger über den EWR-Beitritt wegen Verletzung
des Stimmrechts der Bürger für ungültig zu erklären sei.
Es lag der folgende Sachverhalt vor: Die liechtensteinischen Stimm -
bür ger hiessen, bei einer Stimmbeteiligung von 55,8 %, im Urnen -
gang vom 13. Dezember 1992 den Vertrag mit der Europäischen
95
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
15 Vgl. zu dieser Thematik etwa G. Edward White, The American Judicial Tradition –
Profiles of Leading American Judges, New York/Oxford 1988; Morton J. Horwitz,
The Warran Court and the Pursuit of Justice, New York 1998; Philip B. Kurland (ed.),
Of Law and Life and Other Things that Matter – Papers and Adresses of Felix Frank -
furter 1956–1963, New York 1969. In einem weiten Kontext: Richard A. Posner, Over -
coming Law, Cambridge (Mass.)/London 1995.
16 Zitiert von Laurence H. Tribe, God Save this Honorable Court – How the Choice of
Supreme Court Justices Shapes our History, New York/Scarborough (Ontario) 1985,
S. 31.
17 Urteil vom 21. Juni 1993, StGH 1993/8, LES 3/93, S. 91 ff.
Gemein schaft über den «Europäischen Wirtschaftsraum» gut. Ge -
gen diesen Entscheid reichte ein Bürger Abstimmungsbeschwerde
bei der liechtensteinischen Re gie rung ein mit dem Antrag, «die
Volks abstimmung vom 11./13.12.1992 für nichtig zu erklären».
Grund für die Beschwerde war das nach Ansicht des Be schwer de -
führers unverhältnismässige Aus mass der von der Regierung vor
der Volksabstimmung durchgeführten Informationskampagne.
Diese beinhaltete etwa, neben einer Abstim mungs broschüre, die
Ein richtung einer «EWR-Hot-Line» (d.h. einer telefonischen Aus -
kunfts stelle zur Beantwortung von Fragen über den EWR), welche
nach Auffassung des Beschwerdeführers als «Manipula tions instru -
ment» diente; Zeitungsbeiträge unter dem Titel «Die Regie rung in-
formiert»; eine Inseratenkampagne der Regierung in den Landes zei -
tungen; eine Ausstrahlung über den Landeskanal ohne Möglichkeit
der Teilnahme der EWR-Gegner. Des weiteren erachtete der Be -
schwer de führer die Informationen zum EWR-Beitritt seitens des
Landes fürs ten und der Behörden und insbesondere eine nicht-
kontra diktorische Fernsehsendung im Landeskanal ein paar Tage
vor der Abstimmung als unfair und teilweise bewusst irreführend.
Er machte in seiner Verfassungsbeschwerde u.a. die Verletzung der
politischen Volks rechte (Art. 29 LV) geltend.
Zur Beschwerde der Verletzung politischer Rechte hielt der Staats ge -
richtshof fest:
«Art. 29 LV sichert jedem Landesangehörigen nach Massgabe der
Ver fassung die staatsbürgerlichen Rechte zu. Das verfassungsmässig
gewährleistete Stimmrecht gibt dem Stimmbürger mitunter einen
An spruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird,
das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und
unverfälscht zum Ausdruck bringt. Dabei kann ein verfassungswid-
riger Ein griff ins Stimmrecht nicht bereits in der Tatsache erblickt
werden, dass die Behörden in einem amtlichen Bericht den Stimm -
bür gern eine Vor lage erläutern oder sogar dazu in Form von direk-
ten oder indirekten Abstimmungsempfehlungen Stellung nehmen.
Eine Darlegung der Entscheidungsgrundlagen kann sogar etwa bei
komplexen und in der öffentlichen Diskussion noch wenig behan-
delten Vorlagen im Sinne einer sachlichen und unverfälschten
Willensbildung wünschbar sein. Die Stimmfreiheit des Stimmbür -
96
Daniel Thürer
gers ist aber verletzt, wenn eine Behörde, die zu einer Sach ab -
stimmung amtliche Erläuterungen verfasst, ihre Pflicht zur objekti-
ven und ausgewogenen Information missachtet oder über den
Zweck und die Tragweite der Vorlage falsch informiert. Sie darf zu
den in der Vorlage aufgeworfenen Ermessens- und Wertungsfragen
Stellung nehmen, ist aber gehalten, ihre Rolle fair auszuüben und
gleichsam treuhänderisch auch abweichende und gegnerische
Auffassungen objektiv und ausgewogen zur Darstellung zu brin-
gen, soweit dies in einer notwendigerweise kurz und konzise abzu-
fassenden Abstimmungs er läuterung möglich ist.»
Zu Stellungnahmen des Landesfürsten im Vorfeld einer Abstim mung
fan den die StGH-Richter:
«Dem Landesfürsten ist zwar die verfassungsimmanente Befugnis
nicht abzusprechen, sich auch im Hinblick auf einen grundlegenden
Urnengang richtungweisend an die Stimmbürger zu wenden. Er hat
dies aber, was den Inhalt, Zeitpunkt und Stil seiner Stellungnahme
betrifft, mit der gebotenen Zurückhaltung zu tun. Die mangelnde
demokratische Legitimität und Verantwortlichkeit und die mit sei-
ner Stellung verbundene Aufgabe, Staat und Bürgerschaft als ganze
zu repräsentieren, symbolkräftig zu integrieren sowie das Staats-
und Gesellschaftsgefüge als solches zu stabilisieren, gebieten ihm,
sich aus der unmittelbar konkreten politischen Auseinandersetzung
herauszuhalten.»
In seinem Urteil beanstandete der Staatsgerichtshof im Zusammen hang
mit dem Medienauftritt von Regierungschef und Landesfürst «Mängel»
im Abstimmungsverfahren. Diese hätten aber keinen erheb lichen Ein -
fluss auf den Ausgang des Urnengangs gehabt oder haben können. Der
Un terschied von 55,8 % Ja- und 44,9 % Nein-Stimmen sei klar und
deut lich gewesen; auch sei nicht anzunehmen, dass die beanstandeten
Unregelmässigkeiten im Abstimmungsverfahren geeignet gewesen seien,
die Willensbildung der Bürger in einem für einen Um schwung des
Ergebnisses entscheidenen Ausmass zu beeinflussen. Aus diesen Erwä -
gun gen zog der Staatsgerichtshof eine Aufhebung des Volks entscheides
nicht in Betracht.
97
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
Gerechtigkeit kann nach einer Korrektur der positivrecht -
lichen Gesetzeslage rufen
Auf früheren Stufen der Rechtsentwicklung kam es oft zu kämpferi-
schen, z.T. blutigen Konfrontationen zwischen Anhängern des recht-
lich-politischen Status quo und Protagonisten der rechtspolitischen
Verwirklichung neuer Formen der Moral. Heute sind — eine kaum zu
überschätzende Errungenschaft der Rechtszivilisation – alte Postulate
der Gerechtigkeit in grundlegenden Prinzipien der Verfassung und in
Form verfassungsrechtlicher Durchsetzungsmittel kristallisiert. Die alte
Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit wird verfassungsrechtlich,
d.h. rechtssystemintern, aufgefangen. Die rechtsstaatliche Verfassung
an erkennt Fälle, die «extra legem» liegen, nicht etwa «contra ius» gerich -
tet sind. Gedacht ist vor allem an Recht, das korrekt zustande gekom-
men ist, aber gegen fundamentale, verfassungsrechtlich geschützte
Rechte der Menschen und Bürger bzw. gegen das Willkürverbot als den
in der Verfassung verankerten Kristallisationspunkt des Gerechtigkeits -
prin zips verstossen und in den Verfahren und mit den Mitteln der Ver -
fas sungsgerichtsbarkeit bzw. der Verfahren zum Schutze der Europäi -
schen Menschenrechtskonvention korrigiert werden sollen.18
Zwei Beispiele aus dem liechtensteinischen Rechtsbereich seien –
pars pro toto – an dieser Stelle hervorgehoben: die in der Landes ver -
fassung und in der EMRK niedergelegten Meinungsäusserungsfreiheit
und der neueren Praxis zum verfassungsrechtlichen Willkürverbot.
Zur Meinungsäusserungsfreiheit: Der Journalisten-Fall
In einem Entscheid vom 4. Oktober 199419 bezeichnete der Staats ge -
richts hof in bezug auf einen unflätigen und geschmacklosen Zeitungs -
98
Daniel Thürer
18 Zum Ganzen vgl. etwa Gerard Batliner, Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Ver fas -
sungsrechts, Vaduz 1998, S. 68 ff.; ders., Die Liechtensteinische Rechts ordnung und die
Europäische Menschenrechtskonvention, in: Peter Geiger/Arno Wasch kuhn (Hrsg.),
Liechtenstein: Kleinheit und Interdependenz, Vaduz 1990, S. 91 ff.; Luzius Wildhaber,
Wechselspiel zwischen Innen und Aussen, Basel/Frankfurt a.M. 1996, S. 343 ff.; Her -
bert Wille/Marzell Beck, Liechtenstein und die Europäische Menschen rechts kon ven -
tion (EMRK), in: Liechtenstein in Europa, Vaduz 1984, S. 227 ff.
19 StGH 1994/8, LES 1/95, S. 23 ff.
arti kel eine an sich einschlägige Strafrechtsbestimmung als nicht an-
wendbar. Das Gericht berief sich auf die verfassungsrechtlich und in
Arti kel 10 EMRK garantierte Meinungsäusserungsfreiheit. Diese Ga ran -
tie gelte – so der Staatsgerichtshof – nicht nur für günstig aufgenomme-
ne oder als unschädlich oder unwichtig angesehene «Informationen»
oder «Ge dan ken», sondern auch für diejenigen, die den Staat oder irgend
einen Be völ kerungsteil verletzten, schockierten oder beunruhigten. Das
ergäbe sich aus den Erfordernissen des Pluralismus, der Toleranz und
der Gross zügigkeit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht be-
stehen könne.
Es lag der folgende Sachverhalt vor: Der Beschwerdeführer verfas-
ste in der Zeitschrift X einen Kommentar, der sich auf Vorgänge um
die Stiftungen XY im Fürstentum Liechtenstein bezog. Darin hiess
es u.a.: «Solange solche Firmenkonstruktionen wie Stiftungen etc.
unkontrolliert handhabbar sind, solange verwinkelte Finanztrans -
ak tionen nicht transparent gemacht werden können, solange bleibt
der Vorwurf bestehen, dass Liechtenstein ein durch und durch ver-
kommenes und verbrecherisches Staatsgebilde darstellt. Eine
Eiterbeule im Herzen Europas, darauf spezialisiert, die «Geschäfte»
von Betrügern, Gaunern und sons tigem Unrat zu verschleiern und
somit zu ermöglichen. Eine fette Made, die von Scheisse lebt, aber
nach aussen hin weiss ist und glänzt. Zer tre ten!» Der Beschwerde -
füh rer wurde vom Landgericht wegen Herab wür digung des Staa tes
im Sinne von § 248 Abs. 1 StGB zu einer Busse verurteilt; eine Be -
rufung wurde u.a. mit der Begründung abgewiesen, die in Art. 10
EMRK gewährleistete Meinungsäusserungsfreiheit sei nicht ver -
letzt, da die Einschränkung des Grundrechts auf einer gesetzlichen
Grund lage beruhe.
Der Staatsgerichtshof entschied demgegenüber, dass die Bestrafung des
Journalisten mit der in der Landesverfassung und in der Europäi schen
Menschenrechtskonvention verbürgten Meinungsäusse rungs frei heit
nicht zu vereinbaren sei; zwar beruhe die Busse auf einer genügenden ge-
setzlichen Basis, doch könne nicht davon die Rede sein, dass sie zur
Abwehr einer Gefährdung der rechtsstaatlichen und demokratischen
Grundlagen des Fürstentums Liechtenstein notwendig sei. Der
Staatsgerichtshof führte wörtlich aus:
99
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
«(Die) Aussage (des Beschwerdeführers) mag als stillose journalisti-
sche ‹Entgleisung› aufgefasst werden, jedoch nicht als zu bestrafen-
der Angriff gegen die verfassungsmässige Ordnung des Staates. Es
kann nicht ernsthaft behauptet werden, die rechtsstaatlichen und
de mokratischen Grund lagen des Staates würden durch den Kom -
men tar des Be schwer de führers gefährdet. § 248 Abs. 1 StGB stellt
somit im vorliegenden Fall keine für die Einschränkung seiner Mei -
nungs freiheit inhaltlich genügende gesetzliche Grundlage dar . . .
Sämtliche Meinungs äusse run gen, auch diejenigen von Journalisten,
haben sich an diesen vorgegebenen Rahmen der Interessen der Öf-
fentlichkeit an der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu hal-
ten. Im vorliegenden Fall werden aber keine unmittelbar konkreti-
sierbaren, insbesondere der Persönlich keits sphäre zuzuordnenden
Rechte anderer verletzt. Auch die genannten öffentlichen Interessen
gebieten für vorliegende Situationen keinen strafrichterlichen
Schutz. Das Vorliegen eines genügenden, die Bestra fung des Be -
schwer de führers legitimierenden öffentlichen Interesses ist daher
zu verneinen.»
Und der Staatsgerichtshof hielt weiter fest:
«Das Grundrecht der freien Meinungsäusserung ist . . . für eine frei-
heitlich-demokratische Staatsordnung konstitutiv, denn es ermög-
licht erst die ständige Auseinandersetzung, den Kampf der Mei nun -
gen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grund -
lage jeder Freiheit überhaupt (BVerfGE 7, 208). In diesem dynami-
schen Pro zess der Willensbildung in einem Gemeinwesen spielt die
freie Presse eine besonders wichtige Rolle, indem sie nicht nur als
Übermittlerin «objektiver» Informationen dient, sondern durch die
inhaltliche Kom men tierung und Bewertung von Ereig nissen die
öffentliche Meinung mit gestaltet. In einer Demokratie darf aber die
Mehrheit kein Recht beanspruchen, die Minderheit zum Schweigen
zu bringen, um missliebige Ansichten zu unterdrücken (BGE 101 Ia
258). Deshalb sind gerade politische Äusserungen, die Institutionen
des Staates kritisieren, in dem Masse zu tolerieren, als sie kein recht-
lich geschütztes Gut verletzen.
Gerade die ideellen Grundwerte der Meinungs- und Pressefreiheit
sind Voraussetzung zur Erkenntnis der Wahrheit, Mittel der
Erziehung zur geistigen Toleranz und Hilfe gegen die Neigung der
100
Daniel Thürer
Unterdrückung unbequemer, unbeliebter oder unorthodoxer
Meinungen; auch sind sie als Informations- und Kontrollrechte die
Grundlagen eines freien und demo kratischen Entscheidungs pro -
zesses und stellen Mittel des Minder hei tenschutzes, Begrenzungen
des Mehrheitswillens zugunsten der Idee unpopulärer Minder hei -
ten dar . . . Die ungehemmte Information und die freie öffentliche
Auseinandersetzung gehören demnach gerade im Kleinstaat, dessen
Verfassung den politischen Rechten der Bürger eine zentrale Rolle
zuerkennt, zum ‹Salz› der Politik.»
Auch Aussagen wie diejenigen des beschwerdeführenden Jour na listen,
«die nicht in Form rational begründeter Argumente zur öffent lichen
Meinungsbildung beitragen», können also nach Auffassung des Staats ge -
richts hofs legitimer Ausdruck von mit den in Liechtenstein bestehenden
Verhältnissen unzufriedenen Minderheiten sein. Im konkreten Falle
über wog das Interesse an der Gewährung der Meinungsvielfalt gegen -
über demjenigen einer Beschränkung der Meinungsfreiheit des Be -
schwer deführers. Ihn für seine Aussagen zu bestrafen, stellt keine für die
Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung des Fürstentums
Liechtenstein notwendige Massnahme dar.
Zum Willkürverbot: Weichenstellung in der Praxis des Staatsgerichts hofs
Der Staatsgerichtshof prägte im «leading case»20 eine neue Will kür for -
mel. Er fand:
«Zu den vom Staatsgerichtshof zu prüfenden Grundrechtsverlet -
zun gen gehören auch Verstösse gegen das in Art. 31 LV verankerte
Will kür verbot. Auch wenn kein spezifisches Grundrecht betroffen
ist, hat der Staatsgerichtshof auf entsprechenden Antrag zu prüfen,
ob eine Ver let zung des Willkürverbots vorliegt. Willkür liegt aber
nicht schon dann vor, wenn der Staatsgerichtshof eine Entscheidung
als unrichtig qualifiziert. Die Verfassungsmässigkeit ist vielmehr ge-
wahrt, wenn sich die Ent scheidung auf vertretbare Gründe stützt.
Wenn allerdings eine sachliche Begründung fehlt, wenn die Ent -
101
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
20 Urteil vom 24. Oktober 1996, StGH 1995/28, LES 1/98, S. 6 ff.
scheidung nicht vertretbar und somit stossend ist, liegt Willkür vor.
Das Willkürverbot hat somit die Funk tion eines Auffanggrund rech -
tes: Es soll gewissermassen als letzte Ver teidigungslinie des Rechts
gegenüber derart offensichtlichem Un recht dienen, dass es in einem
modernen Rechtsstaat nicht zu tolerieren ist.»
Der Gerichtshof hatte sich in diesem Entscheid erfreulicherweise von
der alten, zu restriktiven Willkürformel gelöst, in der u.a. noch von
«Denkunmöglichkeit» als Willkürfall die Rede war.21 Schön wäre es ge-
wesen, wenn der Staatsgerichtshof auch den vom Schweizerischen Bun -
des gericht entwickelten Satz übernommen hätte, wonach ein staatlicher
Akt mitunter willkürlich sei, «wenn er in stossender Weise dem Gerech -
tig keits gedanken zuwiderläuft».22
Was das Verfahren zur Bestimmung jener Linie betrifft, welche die
«in einem Rechtsstaat gerade noch vertretbare» von einer «qualifiziert
falschen Entscheidung» trennt, führte der Gerichtshof richtigerweise
aus, er habe bei jeder Willkürbeschwerde die vorgebrachten Argumente
grundsätzlich nicht anders als eine vierte Rechts- oder allenfalls sogar
Sach instanz genau zu prüfen – auch wenn die vom Staatsgerichtshof aus
dieser Analyse zu ziehenden Folgerungen grundsätzlich andere seien als
bei einer ordentlichen Gerichtsinstanz; eine von vornherein einge-
schränkte Prüfung von Willkürbeschwerden würde dagegen eine
Rechtsverweigerung darstellen.
In einem weiteren Fall anerkannte der Staatsgerichtshof das Will -
kür verbot als ungeschriebenes Grundrecht. Dieser Schritt ist bedeutsam.
Denn bisher hatte der Staatsgerichtshof, ausgehend vom Prinzip der Ge -
schlossenheit der Verfassung, die Anerkennung ungeschriebener Grund -
rechte abgelehnt und das Willkürverbot dem Gleichheitssatz der Ver -
102
Daniel Thürer
21 Zur bisherigen Praxis vgl. Wolfgang Höfling, Die liechtensteinische Grund rechts ord -
nung, Vaduz 1994, S. 220 ff.; zum Ganzen ders., Bestand und Bedeutung der Grund -
rechte im Fürstentum Liechtenstein, in: LJZ 1995/4, S. 103 ff.
22 Die bundesgerichtliche Formel lautete: «Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann,
wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, son-
dern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in kla-
rem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Will kür
liegt sodann nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch
das Ergebnis unhaltbar ist» (vgl. BGE 125 I 186 E. 7a S. 166; BGE 123 I E.1a S. 5; BGE
123 I S. 1 ff., 5, E. 4a – je mit weiteren Hinweisen).
fassung zugeordnet. Er erkannte nun aber, dass sich Gleichheitssatz und
Willkürverbot zwar überschneiden, offensichtlich aber auch je eigen -
ständige Schutzgehalte aufweisen. Es heisst nunmehr unter den Leit -
sätzen23:
«Während das schweizerische Bundesgericht ungeschriebene
Grund rechte in einer jahrzehntelangen Rechtsprechung anerkennt,
hat sich der Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein in An -
lehnung an die österreichische Rechtsprechung für die Ge schlos -
sen heit der Ver fas sung und somit gegen die Anerkennung unge-
schriebener Grund rechte ausgesprochen. Nachdem inzwischen
auch in Österreich die Kon zep tion der Geschlossenheit des Rechts -
quel lensystems zunehmend in Frage gestellt wird, erscheint es nun-
mehr angebracht, dass der Staats ge richts hof für den Einzelnen fun-
damentale, im Verfassungstext nicht erwähnte Rechtsschutz be dürf -
nisse direkt als ungeschriebene Grund rechte anerkennt, anstatt sie
aus thematisch mehr oder weniger verwandten positiv normierten
Grundrechten abzuleiten. Vor dem Hin ter grund dieser Erwägung
ist es gerechtfertigt, dem Willkürverbot den Status eines solchen un-
geschriebenen Grundrechts zuzuerkennen.»
Bei der Durchsicht der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes lassen
sich allerdings keine besonders spektakulären, griffigen Willkürfälle fin-
den.24 So rügte zwar der Staatsgerichtshof im (in der Öffentlichkeit emo-
tional diskutierten) Theater-am-Kirchplatz-Fall25 die Auffassung der
Vorinstanz, da sie willkürlich und unhaltbar sei, stillschweigend über
zentrale Fakten hinweggegangen sei und im Ergebnis krass der eigenen
Argumentationsbasis widerspreche; doch beeilte sich der Gerichtshof
hinzuzufügen, die Qualifizierung einer Gerichtsentscheidung durch den
Staatsgerichtshof als willkürlich bedeute noch nicht, «dass er damit ge-
103
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
23 Urteil vom 22. Februar 1999, StGH 1998/45, LES 1/2000, S. 1.
24 Abgesehen vom erwähnten «leading case» (es ging hier um die aktive Klagelegitimation
einer ausländischen Konkursmasse in einem Inlandprozess) könnten aus der Praxis des
Staatsgerichtshofes etwa genannt werden: Urteil StGH 1996/23 (Korrektur einer klaren
Aktenwidrigkeit und Hinweis auf den objektiven Charakter des Willkürverbots),
Urteil StGH 1998/35 (dass sich ein Teil der liechtensteinischen Treuhänder für ihre
Tätigkeit keiner juristischen Person bedienen durften, wurde vom Staatsgerichtshof als
reine Schikane des Gesetzgebers angesehen) oder der «Theater-am-Kirchplatz-Fall»,
Urteil StGH 1998/44, Jus & News 1999/1, S. 28 ff.
25 A.a.O., (Anm. 24).
wissermassen das Abgleiten des Rechtsstaates in den Unrechtsstaat» ab-
gewendet habe.
Dass nun das Willkürverbot als eigenständiger Grundrechtstat -
bestand und besonderer, eigenständiger «Fokus» des Gerechtigkeits ge -
dan kens in der liechtensteinischen Grundrechtsordnung sichtbar wird,
fördert die Verfassungsklarheit und ist, in meinen Augen, als ein dog-
matischer Durchbruch und Fortschritt anzusehen.
Der Richter als Hüter von Recht und Gerechtigkeit
Auf die Frage «Was ist Gerechtigkeit?» gibt es letztlich keine verbind -
liche Antwort. Es ist eine alte Einsicht der Rechtspraxis und der
Rechts wis senschaft, dass der Gerechtigkeitsgedanke offenbar erst im
Fall seiner konkreten und krassen Verletzung für den Juristen greifbar
wird. Ge richten, deren Recht sprechung sich – wie eingangs aufgezeigt
– letztlich am Gerechtig keits ge danken zu orientieren hat, wird denn
auch in allen Rechts kul tu ren ein hoher Symbolwert zugemessen. Sie
erscheinen als Tempel26 (in denen Opfer gebracht werden), als Kampf -
stätten, in denen Dramen aus dem menschlichen Leben sich abspielen
und behandelt und entschieden werden.27 Eine grosse Errungenschaft,
die von der Magna Charta über den amerikanischen Supreme Court in
die moderne Rechts kul tur eindrang, ist – als institutionelle Garantie
zum Schutz von Recht und Gerechtigkeit28 – die Unabhängigkeit der
104
Daniel Thürer
26 Paul Johann Anselm von Feuerbach beginnt seine Antrittsrede als erster Präsident des
Appellationsgerichts mit dem Satz: «Indem ich in dieser mir feierlichen Stunde zum er-
sten Mal in Ihre Mitte trete, fühle ich das Innerste meines Gemüts von der Grösse des
Berufs durchdrungen, für welchen wir in diesem Tempel der Gerechtigkeit vereinigt
sind.» In: Paul Johann Anselm von Feuerbach, Die hohe Würde des Richteramts,
in: Ders., Naturrecht und positives Recht: von Gerhard Haney, Freiburg i.Br. 1993,
S. 226 ff., 231.
27 Anschaulich Hans Peter Walter, Psychologie und Recht aus der Sicht eines Richters, in:
Jörg Schmid/Pierre Tercier (Hrsg./Ed.), Psychologie und Recht – Psychologie et Droit
– Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Gauch – Symposium pour le 60e anniver-
saire de Peter Gauch, Zürich 2000. Zu Recht schreibt Walter (S. 33 ff.): «Konflikte be-
dürfen jedoch vorerst nicht der Entscheidung, sondern der Behandlung, und das
Verfahrensrecht wäre mit Vorteil als umfassende Streitbehandlungslehre zu begreifen.»
28 Zum Ganzen etwa René Rhinow, Die Bundesverfassung 2000 – Eine Einführung,
Basel/Genf/München 2000, S. 191 ff.; Stefan Trechsel, Gericht und Richter nach der
EMRK, in: Robert Hauser/Jörg Rehberg/Günther Stratenwerth (Hrsg.), Gedächtnis -
schrift für Peter Noll, Zürich 1984, S. 385 ff.
Justiz von der politischen Ge walt. Max Lerner schrieb zum Konzept
des «Rule of law»:
«The subjection of all public officials to a higher law that is ‹com-
mon› not only in the sense that it is available to all men but also in
the sense that it exempts no one was carried over into the American
colonies, and it took the form here of the concept of the Constitu -
tion as a ‹fundamental law›. It cropped up timorously in some of the
early cases that are now cited as forerunners of Marbury v. Madi -
son, and in that case it took its first long step towards being conver-
ted into the doctrine of judicial review. It has been the principle
ideological force bolstering judicial review as a necessary doctrine in
a ‹government of laws and not of men›. It is an influence that lingers
today in the minds of those who never heared of Coke, and who do
not know the meaning – much less the ‹spirit› – of the common
law.»29
Es ist kein Zufall, dass sich auch Archibald Cox, Sonderbeauftragter im
Watergate-Prozess gegen Präsident Nixon, auf die lange, mit der «Magna
Charta» einsetzende Geschichte des «Rule of Law» berief. Er erinnerte
an die von Chief Justice Coke an König James I. erteilte Ant wort: «The
King ought not to be under any man, but is under God and the Law.»
Und er berief sich auf ein Dictum von Justice Robert H. Jack son:
«With all its defects, delays and inconveniences, men have discover-
ed no technique for long preserving free government except that the
Exe cutive be under the law, and that the law be made by parlia-
mentary deliberations.»30
Zur Klärung von Ungewissheiten über Fragen von Recht und Ge rech -
tigkeit sehen wir uns unabdingbar auf die Figur des Richters verwiesen.
Das besondere Verfahren des Verfassungsprozesses und die besondere
Legitimation des Verfassungsrichters scheinen Gewähr dafür zu bieten,
dass angesichts des jeweiligen konkreten Falles ein verantwortbares
Urteil über die Verletzung oder Nichtverletzung des Willkür ver botes
oder andere Gerechtigkeitstopoi gefällt wird.
105
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
29 Max Lerner, Nine Scorpions in a Bottle – Great Judges and Cases of the Supreme
Court, New York 1994, S. 28.
30 Archibald Cox, The Court and the Constitution, Boston 1987, S. 9 f.
Paul Johann Anselm von Feuerbach rief in seiner Antrittsrede als
erster Präsident eines Appellationsgerichts über «Die hohe Würde des
Rich teramts» im Jahre 1817 mit den folgenden Worten eine alte Einsicht
in Erinnerung:
«Die Staatsgewalt, welche sich zu verstärken meinte, wenn sie die
Rich ter ihrem Belieben unterworfen und aus freien Dienern des
Rechts dienstwillige Knechte der Willkür sich erzogen hätte, würde
bei weitem mehr verloren als gewonnen, vielmehr nichts gewonnen
und alles verloren haben. Mit der Freiheit selbständiger Richter hät-
te sie die Gerech tig keit im Staate aufgehoben und mit ihr eben das-
jenige, was stärker als Heeres macht die Staaten hält und die Throne
stützt. Denn auch Heeres macht ist nur mächtig durch die öffent -
liche, Geister und Herzen durchdringende Meinung, die sich aber
empört von jedem abwendet, der sich von der Gerechtigkeit abge-
wendet hat.»31
Liechtenstein verfügt über eine stark ausgebaute Gerichtsordnung. Der
Einbezug von ausländischen, d.h. von österreichischen und schweizeri-
schen Richtern, ins liechtensteinische Justizsystem erhöht die Unab hän -
gig keit und Unparteilichkeit der Gerichte und insbesondere auch den
Anschein der Wahrung der Unabhängigkeit und Unparteilich keit durch
die Rechtssuchenden und Rechtsunterworfenen.
Der Staatsgerichtshof, den Josef Kühne als die Krönung des liech-
tensteinischen Justizsystems darstellte und dessen Jubiläum wir feiern,
ist das älteste kontinuierlich bestehende Verfassungsgericht der Welt.
Ihm ist die Aufgabe übertragen, im Rahmen der liechtensteinischen
Verfassungsordnung letztinstanzlich die Grundrechte zu schützen und
insbesondere in – soweit dies möglich ist – nachvollziehbarer Weise das
Willkürverbot zu handhaben.32 Für den letztlich tatbestandmässig nicht
mehr erschliessbaren Ver fas sungskern des Willkürverbotes oder des
Gebotes minimaler Gerech tig keit halten wir uns an das – wohl nicht
106
Daniel Thürer
31 Von Feuerbach, a.a.O., S. 231.
32 Zum Ganzen vgl. etwa Gerard Batliner, Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem
Band, S. 109 ff.; Josef Kühne, Der Staats gerichtshof des Fürstentums Liechtenstein –
Funk tion und Kompetenzen, EuGRZ 1988, S. 230 ff.; Daniel Thürer, Liechtenstein und
die Völkerrechts ord nung, Archiv des Völkerrechts, Heft 2, 1998, S. 98 ff.; insbes.
S. 121 ff.
ohne Rücksicht auf seine eigene Berufslaufbahn geprägte – Wort von
Lord Denning: «someone must be trusted. Let it be the judges.»33
Noch einmal: Was ist Gerechtigkeit?
Wir greifen zum Abschluss erneut die anfänglich naiv gestellte Frage auf,
was Gerechtigkeit sei. Wir haben Kriterien, aber keine schlüssige Formel
gefunden. Vielleicht ist ein Ansatzpunkt, dass gerecht ist, was in einer
bestimmten Gesellschaft in einem offenen, repräsentativ und fair geführ-
ten Dialog von den Beteiligten unabhängig von Gewalt und Interessen -
druck in einem konkreten Fall als gerecht und vernünftig erachtet wird.
Ein ideales Forum des Dialogs bildet ein Gericht, vor allem ein Verfas -
sungs gericht. Da stellt sich die Frage, ob das Gericht mit einer Stimme
sprechen soll oder – wie etwa beim amerikanischen «Supreme Court»
üblich und auch beim deutschen Bundesverfassungsgericht anzutreffen
– auch individuelle (zustimmende oder abweichende) Rechts mei nungen
der Richter zugelassen werden sollen. Ideal wäre an sich eine Vielfalt von
Meinungen, weil hier die Offenheit des Rechts(fortbildungs)prozesses
transparent zum Ausdruck kommt. Dies wäre jedenfalls nach Auffas -
sung von Louis D. Brandeis, Richter am amerikanischen Supreme
Court, für die Verfassungsgerichtsbarkeit angezeigt:
«Brandeis was» – so ein Biograph – «not too uncomfortable with-
holding a dissent in a case involving statutory construction, but
there was a ‹special function of dissent in constitutional cases. In or-
dinary cases there is a good deal to be said for not having dissents –
you want certainty and definiteness and it doesn’t matter terribly
how you decide so long as it is settled. But in these constitutional
cases, since what is done is what you (Frankfurter) called states-
manship, nothing is ever settled – unless statesmanship is settled and
at an end›.»34
107
Recht, Gericht, Gerechtigkeit
33 Lord Denning, What next in Law, London 1982, S. 330.
34 Philippa Strum, Louis D. Brandeis, Justice for the People, Cambridge (Mass.) 1984,
S. 366. Vgl. in diesem Sinn auch Archibald Cox, The Warren Court – Constitutional
Decision as an Instrument of Reform, Cambridge (Mass.)/London 1968, S. 22: «Legal
logic has no value for its own sake. Law is a human instrument designed to meet men’s
In einem kleinen Gemeinwesen wie Liechtenstein und in Gerichten, in
denen Berufs- und Laienrichter zusammenwirken, könnte es der Auto -
rität des Gerichtes allerdings auch förderlich sein, dem «Roma locuta»-
Prinzip zu folgen, die Judikatur aber in einen Dialog mit den anderen
staatlichen Institutionen, der Wissenschaft und der Gesellschaft einzu-
beziehen.35 Zentral bleibt die These, dass die Verantwortung für die Ver -
wirk lichung von Gerechtigkeit primär in die Hände des Richters – vor
allem auch des Verfassungsrichters – gelegt ist, wobei hinzuzufügen ist,
dass auch der Richter, der über keine eigenen Machtmittel verfügt, Recht
und Gerechtigkeit bloss Nachachtung zu ver schaffen vermag, wenn sei-
ne Erkenntnisse – zumindest im grossen und ganzen – vom öffentlichen
Bewusstsein der Gesellschaft mitgetragen werden.
Für mich als Wissenschafter sind die Ansprüche bei der Definition
der Gerechtigkeit bescheidener. Ich halte es mit Hans Kelsen, der – die
Ant wort relativierend ins Ermessen des einzelnen Menschen stellend –
zum Schluss kam:
«Es wäre mehr als anmassend, meine Leser glauben zu machen, mir
könnte gelingen, was die grössten Denker verfehlt haben. Und in
der Tat, ich weiss nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist,
die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit.
Ich muss mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann
nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein
Beruf ist und schon das wichtigste in meinem Leben, ist es jene
Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissen -
schaft Wahrheit und Auf rich tigkeit gedeihen können.36
108
Daniel Thürer
needs. The ultimate goals of the law are no different from those of a Council of wise
Men. The question is, how much and how fast can a court persue what it sees as the
goals of society without inpairing the long run usefulness of judge-made law in contri-
buting to their archievement.»
35 Vgl. hierzu Jörg Paul Müller, Demokratische Gerechtigkeit, München 1993, insbes.
S. 188 f.; vgl. auch Daniel Thürer, Jurisprudenz – Kunst oder Wissenschaft? In: Alois
Ricklin/Luzius Wildhaber/Herbert Wille (Hrsg.), Festschrift für Gerard Batliner,
Basel/Frankfurt a.M. 1993, S. 537 ff.
36 Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 43.
Der konditionierte Verfassungsstaat – Die Ausstandsregel
des Art. 7 lit. d LVG für liechtensteinische Verfassungs -
richter*
Gerard Batliner
Übersicht
Die Ausstandsregel des Art. 7 lit. d LVG für liechtensteinische Verfas -
sungs richter und das Ausstandsverfahren – Die verfassungsrichterliche
Unab hängigkeit und Unparteilichkeit unter dem Einfluss neuester Ent -
wick lungen – Der konditionierte Verfassungsstaat
Die Entwicklungen der letzten Jahre in Liechtenstein zeigen, in welchem
Masse der liechtensteinische Verfassungs- und Rechtsstaat angefochten
ist. Wenn Staatsgewalten beginnen, auf die Unabhängigkeit der Richter
unzulässigen Einfluss zu nehmen, bleibt den Richtern gegebenenfalls
nur der Ausweg in den Ausstand. Verdichten sich die Einwirkungen zu-
nehmend auf Verfassungsfragen, wird das Verfassungsgericht als Hüter
der Verfassung infrage gestellt. Und mit ihm die Verfassung selbst. Die
stärkeren Kräfte im Staat setzen sich durch.
Der Politikwissenschafter und Jurist Alois Riklin setzt sich in sei-
nem Werk mit den grossen institutionellen Erfindungen alter griechi-
scher und westlicher Zivilisation zur Steuerung, Aufteilung und Kon -
trolle staatlicher Macht auseinander. Er zeigt auf, dass die Institu tio nen
ebenso des rechten persönlichen Umganges bedürfen. Ihm, der in der
Schweiz beheimatet ist, aber auch in Liechtenstein, insbesondere am
Liech tenstein-Institut Wurzeln geschlagen hat und aufmerksam das po-
litische und verfassungsrechtliche Geschehen beidseits des Rheins ver-
folgt, sei diese Arbeit gewidmet.
109
* Dieser Beitrag ist dem Band Roland Kley/Silvano Möckli (Hg.), Geistes wissen schaft -
liche Dimensionen der Politik, Festschrift für Alois Riklin zum 65. Geburtstag, ent-
nommen. Bern: Paul Haupt, 2000, S. 388–419.
I. Die Ausstandsregel des Art. 7 lit. d LVG für liechtenstei-
nische Verfassungsrichter und das Ausstandsverfahren
1. Der unabhängige und unparteiische Richter: der Begriff
Ein Rechtsstaat braucht Richter, die unabhängig und unparteiisch sind.
Das in Art. 33 Abs. 1 der liechtensteinischen Verfassung gewährleistete
Recht auf den ordentlichen Richter beinhaltet nach der Rechtsprechung
des Staatsgerichtshofes das Recht auf den zuständigen Richter und die
richtige Besetzung des Gerichtes; die richtige Besetzung des Gerichtes
setzt voraus, dass eine Streitsache durch unabhängige und unparteiische
Richter beurteilt wird.1 Dem entspricht das Grundrecht auf ein unab-
hängiges und unparteiisches Tribunal in Zivil-, Straf- und teils auch Ver -
wal tungssachen gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK.2
Die zahlreichen weiteren verfassungs- und einfachgesetzlichen Re ge -
lungen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit und Unpar tei -
lichkeit sind aber nicht nur grundrechtliche Konkretisierungen, sondern
auch objektivrechtliche Regelungen.3 Sie sind nicht nur in den or dent -
lichen Gerichtsverfahren zu beachten und nicht nur im Verfas sungs -
beschwerdeverfahren, sondern auch in Verfahren vor dem Staats ge richts -
hof, wo keine subjektiven Grundrechte geltend gemacht werden: z.B. in
den Verfahren der Auslegung der Verfassung (Art. 112 LV) oder der ab -
strak ten Normenkontrolle (Art. 104 Abs. 2 LV) durch den Staats ge richts -
hof, die der Verwirklichung der objektiven Rechtsordnung dienen und die
nur von besonders legitimierten Staatsorganen oder Ge mein den ausgelöst
werden können. Schon der Anspruch auf den in Art. 33 Abs. 1 nicht weiter
110
Gerard Batliner
1 StGH 1998/25, Urteil vom 24.11.1998, LES 2001, 5 (8), Ziff. 4.1 der Ent schei dungs -
gründe; ebenso StGH 1989/14, LES 1992, 1 (3). Ebenso Praxis in der Schweiz zu
Art. 58 Abs. 1 (alt) BV: BGE 91 I 401f., 92 I 275 f.; in Deutschland zu Art. 101 Abs. 1
GG: BVerfGE 21, 139 (145 f.). Zum Ganzen: Höfling, Wolfram: Die liechtensteinische
Grund rechtsordnung (LPS 20). Vaduz: Verlag LAG, 1994. S. 231. Kley, Andreas:
Grund riss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts (LPS 23). Vaduz: Verlag LAG,
1998. S. 264 ff. Allgemein: Jehle, Hanspeter: «Die richterliche Unabhängigkeit in der
liechtensteinischen Rechtsordnung». In: LJZ, Sondernr. Oktober 1986, S. 133–137.
2 Vgl. StGH-Urteile in Anm. 1. EMRK für Liechtenstein in Kraft seit 8.9.1982 (LGBl.
1982/60). Sie ist innerstaatlich unmittelbar anwendbar: vgl. Batliner, Gerard: «Die liech-
tensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention». In:
Geiger/Waschkuhn (Hg.): Liechtenstein: Kleinheit und Interdependenz (LPS 14).
Vaduz: Verlag LAG, 1990. S. 91–180 (145 ff.).
3 Vgl. Jehle (Anm. 1).
definierten «ordentlichen Richter» bezieht in gewissem Sinne seinen Inhalt
und seine Konturen aus den anderen in der Rechts ord nung objektiv ge -
fass ten verfassungsmässigen und gesetzlichen Regelungen.
Der Staatsgerichtshof befasst sich in einem Gutachten4 mit Einzel -
fra gen der richterlichen Unabhängigkeit. Er nimmt Bezug auf Kurt
Eichen berger, der fünf Teilbegriffe richterlicher Unabhängigkeit aus-
macht,5 darunter die Unabhängigkeit gegenüber nichtrichterlichen Ge -
walten, die Unabhängigkeit gegenüber den an der Rechtsprechung als
Parteien Beteiligten und diejenige gegenüber soziologischen Wirklich -
kei ten; zur Unabhängigkeit zählt er auch jene gegenüber Organen der
richterlichen Gewalt selbst: die richterliche Eigenständigkeit. Karl
August Bettermann spricht von Staatsunabhängigkeit, Parteiunab hän -
gig keit und Gesellschaftsunabhängigkeit.6 Unabhängigkeit ist ein defen-
sives Prinzip. Es ist Un-Abhängigkeit, Nicht-Abhängigkeit von frem-
den, von aussenstehenden Kräften ausgehenden Einwirkungen.7
Richterliche Unabhängigkeit ist nicht dasselbe wie Unparteilichkeit
(Unvoreingenommenheit, Unbefangenheit). «‹Parteilichkeit› [. . . ] ist die
unsachliche innere Einstellung des Richters zu den Beteiligten oder zum
Gegenstand des konkreten Verfahrens, aus der heraus er in die Behand -
lung und Entscheidung dieses Falles auch unsachliche, sachfremde
Momente mit einfliessen lässt mit der Folge, dass er daraufhin, von der
Sache selbst her nicht gerechtfertigt, einen Prozessbeteiligten benachtei-
ligt oder bevorzugt oder aber zumindest dahin tendiert.»8
Abhängigkeit und Parteilichkeit sind in der Realität häufig mitein-
ander verbunden. Parteilichkeit ist oft die Folge richterlicher Abhängig -
kei ten, «Bevorzugung und Benachteiligung sind in der Regel verwirk-
111
Der konditionierte Verfassungsstaat
4 StGH 1980/9 (Gutachten), LES 1982, 8 (9 f.).
5 Eichenberger, Kurt: Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem.
Abhandlungen zum Schweizerischen Recht NF (Heft 341). Bern: Stämpfli, 1960.
S. 43 ff.
6 Bettermann, Karl August: «Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzlichen
Rich ter». In: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hg.): Die Grundrechte. Handbuch der
Theorie und Praxis der Grundrechte III/2. Berlin: Duncker & Humblot, 1959. S. 523–
642 (525). Ähnlich Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.
II. München: Beck, 1980. S. 909 f.
7 Vgl. Eichenberger (Anm. 5), S. 31 f.
8 Riedel, Joachim: Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters – Befangenheit und
Par tei lichkeit – im deutschen Verfassungs- und Verfahrensrecht. Schriften zum Pro -
zess recht (Bd. 65). Berlin: Duncker & Humblot, 1980. S. 86. Ähnlich auch Eichen ber -
ger (Anm. 5), S. 25, 44.
lichte Abhängigkeiten».9 Doch die Begriffe sind auseinanderzuhalten.
Die begrifflichen Unterschiede zwischen richterlicher Abhängigkeit und
Parteilichkeit zeigen sich am augenfälligsten, wo die Phänomene faktisch
nahezu ineinanderfliessen: beim Verhältnis von Parteiabhängigkeit und
Parteilichkeit. Theoretisch ist es denkbar, dass ein parteiabhängiger
Rich ter objektiv sachlich und unparteiisch entscheidet. Doch die Rechts -
ord nung lässt es nicht darauf ankommen. Um das Tätigwerden
eines Richters als unzulässig erscheinen zu lassen, genügt es, dass einer
der beiden Tatbestände, die Parteiabhängigkeit oder die Parteilichkeit,
gegeben ist, oder schon, dass hinsichtlich der Parteiunabhängigkeit oder
der Unparteilichkeit legitime Zweifel vorliegen.
Das Gesetz gewährt eine doppelte Absicherung: 1. Stets wenn ein
relevanter, wie immer gearteter äusserer Abhängigkeitsfall gegeben ist,
darf der betreffende Richter nicht amtieren. Dahinter steckt die richtige
Annahme, dass ein abhängiger Richter in der Realität auch nicht unpar-
teiisch sein kann oder zumindest den Anschein erweckt, nicht unpar -
teiisch zu sein. 2. Auch, wenn zureichende Gründe von Parteilichkeit
vorliegen, darf ein Richter nicht tätig werden, gleichgültig, ob die Par -
teilichkeit als Folge von Abhängigkeiten oder als per se gegeben er-
scheint.10 Es kann durchaus sein, dass die Parteilichkeit nicht auf Abhän -
gig keiten zurückgeht (oder dass das Ineinander von Fremdeinwirkungen
und eigenem Zutun nicht mehr auflösbar ist): etwa bei persönlichen
Aversionen gegenüber einer Partei, bei persönlicher Feindschaft oder en-
ger Freundschaft. Beides, sowohl die Unabhängigkeit als auch die
Unparteilichkeit, ist erforderlich für einen fairen Prozess. Es genügt,
wenn ein Erfordernis fehlt, um im konkreten Fall als Richter auszu-
scheiden.
112
Gerard Batliner
9 Eichenberger (Anm. 5), S. 25.
10 Im Urteil StGH 1998/50 vom 4.5.1999 (noch nicht veröffentlicht) sind die
Parteilichkeit als Folge von Parteibindung(-abhängigkeit) und Parteilichkeit per se ganz
zusammengezogen (Ziff. 3.1 der Entscheidungsgründe).
2. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Ver fas sungsrichter.
Die Ausstandsregeln, insbesondere diejenige des Art. 7 lit. d LVG,
und das Ausstandsverfahren
Der Staatsgerichtshof (Verfassungsgericht) besteht aus fünf Mitgliedern
und ebensovielen Stellvertretern. Die Mehrheit der fünf Mitglieder (dar-
unter der Präsident) und der Stellvertreter (darunter der Stellvertreter
des Präsidenten) müssen gebürtige Liechtensteiner sein (Art. 105 LV;
Art. 2 StGHG). Einer bewährten Praxis und Tradition entsprechend
gehören dem Staatsgerichtshof jeweils ein Schweizer und ein Österrei-
cher als Richter und ebensoviele als Stellvertreter an.
a) Die Unabhängigkeit der Verfassungsrichter:Nach Art. 106 der Ver fas -
sung stehen die Mitglieder des Staatsgerichtshofes «unter dem Schutze
der richterlichen Unabhängigkeit». Sie sind «in der Ausübung ihres
Amtes unabhängig und nur der Verfassung und den Gesetzen unterwor-
fen» (Art. 8 Abs. 1 StGHG).
Die Unabhängigkeit gegenüber anderen Staatsorganen wird fürs
Erste durch generell-abstrakte personelle Unvereinbarkeiten abgesichert.
Die Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof ist unvereinbar mit der Mit -
gliedschaft im Landtag (Art. 46 Abs. 4 LV) oder mit derjenigen in der
Regierung (Art. 3 Abs. 1 StGHG). Die Richter stehen sodann zu keinem
anderen Staatsorgan in einem Unterordnungsverhältnis. Sie sind sachlich
und personell weisungsunabhängig. «In der Ausübung ihres Richter -
amtes dürfen [die Richter] keine Befehle und Ratschläge des Fürsten, der
Regierung oder einer anderen Behörde entgegennehmen» (Art. 8 Abs. 2
StGHG). Sie dürfen in Rechtssachen keinem Staatsorgan und nieman-
dem sonst berichten (ebenda). Das Gesetz verbietet dem Richter, Wei -
sungen oder Ratschläge anderer Staatsorgane entgegenzunehmen, aber es
verbietet den anderen Staatsorganen nicht explizit, solche Weisungen und
Ratschläge zu erteilen. Gleichwohl ist in der übergeordneten Ver fas -
sungs bestimmung der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 106 LV) das
Verbot an die anderen Staatsorgane impliziert, solche Weisungen und
Ratschläge zu erteilen. Ergehen solche dennoch, greifen sie ein in die ver-
fassungsrechtliche richterliche Unabhängigkeit. Sind die Eingriffe oder
Einflussnahmen geeignet, legitime Zweifel an der richterlichen Un ab -
hängigkeit hervorzurufen, bleibt nach liechtensteinischem Recht der
113
Der konditionierte Verfassungsstaat
Aus stand des oder der betreffenden Richter unter Umständen als die ein -
zige Antwort (vgl. unten lit. c zur Ausstandsregel von Art. 7 lit. d LVG).
Es ist indessen unvermeidlich, dass die Verfassungsrichter zu Be -
ginn von irgendeinem Staatsorgan in ihr Amt bestellt werden, womit
auch die personelle Zusammensetzung des Gerichtes bestimmt wird.
Alle Richter und Stellvertreter werden vom Landtag gewählt; die Wahl
des Präsidenten und seines Stellvertreters bedarf der landesfürstlichen
Bestätigung (Art. 105 LV; Art. 4 StGHG). Die Amtsdauer beträgt, auf-
grund einfachgesetzlicher Regelung (Art. 4 StGHG), fünf Jahre. Wieder -
wahl und Wiederbestätigung sind gesetzlich zulässig. Die unabhängigen
Richter können während deren Amtsdauer durch kein Staatsorgan (aus-
ser durch den Staatsgerichtshof selbst bei Vorliegen bestimmter Voraus -
set zungen) abberufen werden (Art. 9 StGHG). Doch schliesst die unge-
wöhlich kurze Amtsdauer verbunden mit der Möglichkeit, das Amt
eines Richters zu erneuern oder nicht, vorauswirkende Einflussnahmen
durch den Landtag oder durch den Fürsten auf das Verhalten des Rich -
ters nicht aus.11 Werden hier normale Praktiken der Wiederbestellung
(zwei, drei Amtsdauern) verlassen oder nur schon durch Vorankündi -
gun gen oder Andeutungen seitens der Bestellungsorgane in Frage ge-
stellt, gewährt die einfachgesetzliche Regelung dem Richter den verfas-
sungsrechtlichen «Schutz der richterlichen Unabhängigkeit» (Art. 106
LV) unter Umständen nicht mehr. Das Feld sonstiger behördlicher, auch
faktischer Einflussnahmen ist breit.
Solche Fremdeinwirkungen sind nicht immer leicht auszumachen.
Um möglichst sicherzugehen, prüft der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte nicht nur die fassbaren institutionellen Garantien (Art
der Bestellung, Amtsdauer, Sicherungen gegen äussere Pressionen), son-
dern zählt schon die Frage, ob die Unabhängigkeit nach ihrem äusseren
Erscheinungsbild gewährleistet ist oder nicht.12 «Pour déterminer si un
organe peut passer pour indépendant – notamment à l’égard de l’exécu-
114
Gerard Batliner
11 Eichenberger (Anm. 5), S. 229. Vgl. Batliner, Gerard: Aktuelle Fragen des liechtenstei-
nischen Verfassungsrechts. Vaduz: Verlag LAG, 1998. Rz. 113, sowie II. Ziff. 4 dieses
Aufsatzes.
12 Villiger, Mark: Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zürich:
Schul thess, 2. Aufl. 1999. Rz. 415 ff.; Peukert, Wolfgang. In: Frowein/Peukert: Euro -
päische Menschenrechtskonvention EMRK-Kommentar. Kehl: N.P.Engel, 2. Aufl.
1996. S. 250 ff. (Rz. 124 ff.); Harris/O’Boyle/Warbrick: Law of the European Con ven -
tion on Human Rights. London: Butterworths, 1995. S. 233 f.
tif et des parties [. . . ] –, la Cour a eu égard au mode de désignation et à
la durée du mandat des membres [. . . ], à l’existence de garanties contre
des pressions extérieures [. . . ] et au point de savoir s’il y a ou non appa-
rence d’indépendance [. . . ].»13
Die EMRK gilt für Zivil-, Straf- und teils Verwaltungsgerichts ver -
fahren. Welches sind nun die Kautelen des liechtensteinischen Rechts,
wenn von anderen Staatsorganen oder Organwaltern auf die Verfas -
sungs richter des Staatsgerichtshofes Einfluss genommen wird oder
Einflüsse wirksam sind? Das Gesetz begegnet solchen Einwirkungen
und Einflussnahmen auf die Unabhängigkeit nicht direkt, sondern in-
dem es, wie noch dargetan wird, alle Phänomene erfasst, die im konkre-
ten Fall eine Befangenheit (Parteilichkeit) oder den Anschein der Partei -
lich keit bewirken. Indem das Gesetz einen Schutz gegen Parteilichkeit
anbietet, schützt es nicht nur gegen Parteilichkeit per se, sondern auch
gegen Einflussnahmen auf die richterliche Unabhängigkeit. Dem liegt
der Gedanke zugrunde, dass ein Richter, dem die Unabhängigkeit fehlt,
auch nicht unbefangen sein kann.
Zur richterlichen Unabhängigkeit gehört auch die relative richter -
liche Eigenständigkeit gegenüber der richterlichen Gewalt selbst.
Grund sätzlich können die Verfassungsrichter staatsgerichtshofsintern
nicht durch andere Verfassungsrichter ersetzt werden (Inamovibilität),
es sei denn es liege ein Ausstandsgrund vor. Ob aber ein Ausstandsfall in
Bezug auf einen Richter gegeben ist, beurteilt vor der Gerichtshof sit -
zung prinzipiell der Präsident und während der Sitzung das Richter kol -
le gium unter Einschluss der allenfalls vom Ausstand betroffenen Richter
(vgl. unten lit. d). Dies kann bei nicht sorgfältiger Handhabung zu Mani -
pu lationen der ordentlichen Zusammensetzung des Gerichtshofes
führen. Wird so festgestellt oder entschieden, dass ein Ausstandfall be-
steht, sind nochmals Einflussmöglichkeiten bei der Ad-hoc-Auswahl
der nicht ad personam bestellten stellvertretenden Richter (ausgenom-
men bei der Stellvertretung des Präsidenten) und mithin der Zusam men -
setzung des Gerichtshofes gegeben.14 Hier könnte eine Rotations- oder
Losziehungsregel das Verfahren objektivieren.15
115
Der konditionierte Verfassungsstaat
13 Arrêt Campbell et Fell, Série A: Arrêts et décisions, Vol. 80, § 78.
14 Vgl. StGH 1982/1–25, LES 1983, 74 (75).
15 Unter Beachtung der mehrheitlichen Besetzung mit gebürtigen Liechtensteinern
(Art. 105 LV).
Um die richterliche Unabhängigkeit gegenüber den Parteien zu
gewährleisten, kennt das Gesetz eine Reihe von Ausstandsregeln. Für
den Be reich der Verfassungsgerichtsbarkeit i.e.S. (Auslegung der Ver -
fassung, Normenkontrolle und Grundrechtsschutz), die hier allein
behandelt wird, erklärt das Gesetz im wesentlichen die für die Verwal -
tungs be schwerde instanz bestehenden Ausstandsregeln (Ausschluss und
Ableh nung) als auch auf den Staatsgerichtshof entsprechend anwendbar
(Art. 6 Abs. 3 StGHG; Art. 6 und 7 LVG).16
Die Unabhängigkeit gegenüber den Parteien wird durch zwei Typen
von Ausstandsgründen, die jeweils im individuell-konkreten Ein zel fall
auftreten können, sichergestellt: durch die Festlegung von Aus schluss -
gründen einerseits und von Ablehnungsgründen andererseits, welche
Gewähr dafür bieten sollen, dass bei deren Vorliegen ein Richter im Aus -
stand ist oder in Ausstand tritt. Die Ausschlussgründe (Art. 6 LVG) sind
in jedem Falle und bei sonstiger Nichtigkeit des Verfahrens zu beachten:
etwa in Fällen, in welchen ein Richter selbst Partei ist, selbst Mit be -
rechtigter ist, mit einer der Parteien nahe verwandt oder verschwägert ist
etc. Die Ablehnungsgründe dagegen (Art. 7 LVG) sind jeweils geltend zu
machen und können möglicherweise von den Parteien ver wirkt werden
(vgl. § 15 Abs. 3 GOG). Unter den Ablehnungs grün den finden sich über-
raschenderweise auch solche, die durchaus als objektive Ausschluss -
gründe gelten könnten: wenn ein Richter «selbst Mit glied einer Ge -
sellschaft oder an einer juristischen Person [. . . ] beteiligt ist, um deren
Verwaltungssache es sich handelt» (Art. 7 lit. c LVG). Andererseits fallen
etwa die Ausschlussgründe des Art. 6 Abs. 1 lit. e (z.B. Teilnahme an
früherem oder an Ausgangs-Verfahren als Zeuge oder Sachverstän di -
ger)17 und verschiedene Ablehnungsgründe von Art. 7 eher unter die
Kate gorie der richterlichen Befangenheit (Parteilichkeit) als unter dieje-
nige der Parteiabhängigkeit. Parteiabhängigkeiten und Parteilichkeit
fliessen oft ununterscheidbar ineinander.
b) Die richterliche Unparteilichkeit (Unbefangenheit, Unvoreinge nom -
men heit):Mit den Ausstandsregeln der Art. 6 und 7 LVG soll auch jede
116
Gerard Batliner
16 StGH 1983/1/V, LES 1984, 65.
17 Für strikte Anwendung (in anderem Zusammenhang): StGH 1961/2 (Gutachten) vom
14.12.1961, ELG 1962–66, 179 (181).
Art von richterlicher Parteilichkeit erfasst werden. Nach dem Gesetz
unterliegt es keinem Zweifel, dass Parteilichkeit nicht nur dann gegeben
ist, wenn der Richter eine Partei bevorzugt oder benachteiligt, sondern
auch, wenn er eine unsachliche Einstellung oder Voreingenommenheit
zum Gegenstand des konkreten Verfahrens mitbringt (z.B. Art. 6 Abs. 1
lit. e, 7 lit. b LVG).18
c) Die Ausstandsregel von Art. 7 lit. d LVG: Es handelt sich um eine ge-
neralklauselartige Schutz- und Auffangbestimmung für die Richterab -
leh nung bei richterlicher Parteilichkeit überhaupt, sei diese unmittelbar
als Parteilichkeit oder als Folge von Einwirkungen auf die richterliche
Unabhängigkeit gegeben. Die Bestimmung lautet:
«Ein [Richter . . . ] kann abgelehnt werden: . . . d) wenn sonst ein zurei-
chender Grund vorliegt, [die richterliche] Unbe fan genheit in Zweifel zu
zie hen, insbesondere wenn [der Richter] mit einer der Parteien in einem
Rechts- oder Verwaltungsstreite oder in zu enger Freundschaft oder zu
grosser Feindschaft mit einer Partei sich befindet.»
Diese Ablehnungsregel (erster Satzteil) schützt gegen Parteilichkeit wie
auch gegen Abhängigkeiten, die nicht schon anderswie ausgeschaltet
sind. Gleichgültig, ob die Parteilichkeit (Befangenheit, Voreingenom -
men heit) per se gegeben oder die Folge von Abhängigkeiten ist, mit der
Auffangbestimmung werden auch allfällige Abhängigkeiten erfasst. Das
Recht sichert den unabhängigen und unbefangenen Richter. Ein letzter
Schutz ist so derjenige des Art. 7 lit. d LVG. Dadurch soll nach Mög -
lich keit jede Art nichtobjektiver, unsachlicher, letztlich befangener,
Rich ter tä tig keit abgewendet werden. Am Ende geht es darum, «die Un -
be fan gen heit dessen sicherzustellen, der über Recht und Unrecht zu ent-
scheiden hat.»19 Der Rechtsuchende oder das antragstellende prozessle-
gitimierte Staatsorgan «soll sich beim Richter im Recht geborgen
fühlen».20
117
Der konditionierte Verfassungsstaat
18 Vgl. Riedel (Anm. 8).
19 Trechsel, Stefan: «Gericht und Richter nach der EMRK». In: Hauser/Rehberg/Straten -
werth (Hg.): GS für Peter Noll. Zürich: Schulthess, 1984. S. 385–401 (393).
20 Ebenda.
Zum Ablehnungsgrund von Art. 7 lit. d (erster Satzteil) LVG hat die
Ver waltungsbeschwerdeinstanz in einem neulichen Fall bedeutende
Ausführungen gemacht:21 «Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die
den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenom men -
heit zu begründen vermögen. Dabei ist nicht die Frage entscheidend, ob
Personen, die eine Verfügung treffen oder die sie vorzubereiten haben, in
der Sache tatsächlich befangen waren, sondern nur, ob sie es hätten sein
können, d.h. ob Tatsachen vorhanden sind, die ein Misstrauen in die
Objektivität ihrer Person rechtfertigen [. . . ]. Art. 7 lit. d LVG spricht
denn auch nur von einem ‹zureichenden Grund›, die ‹Unbefangenheit in
Zweifel› zu ziehen».22
Befangen ist schon, wer diesen Anschein erweckt. Der Wortlaut des
Art. 7 lit. d LVG stützt diese Interpretation. Einerseits muss ein «zurei-
chender Grund» vorliegen, die Unbefangenheit eines Richters in Zweifel
zu ziehen. Es reicht beispielsweise nicht schon aus, dass der Richter sich
subjektiv als befangen betrachtet, oder dass eine beteiligte Partei ihn als
befangen einschätzt. Andererseits verlangt das Gesetz nicht, dass der
Rich ter in der Tat befangen oder voreingenommen ist. Dieses Nach -
weises der effektiven inneren Befangenheit des Richters (sog. subjektiver
Test) bedarf es nicht. Es genügt, wenn nach vernünftiger Würdigung der
fassbaren Umstände objektiv ein zureichender Grund zu Zweifeln (sog.
objektiver Test) besteht. Das Gesetz fordert dabei nicht einmal einen zu-
reichenden Grund für den Nachweis von Befangenheit, sondern bloss
einen zureichenden Grund, die richterliche Unbefangenheit in Zweifel
zu ziehen.
In der Beurteilung, ob ein Gericht im Einzelfall unabhängig und
un parteiisch im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, stellen die Strass bur -
ger Organe stark auf den Eindruck (apparences) ab, der vermittelt wird.
«Es geht um das Vertrauen, das die Gerichte in einer demokratischen
Gesellschaft erwecken müssen.»23 «Justice must not only be done: it
118
Gerard Batliner
21 VBI 1996/7, LES 1996, 144 (148). Kley (Anm. 1), S. 266 (Art. 6 und 7 LVG gilt ent-
sprechend auch für den StGH).
22 Ähnlich etwa BGE 112 Ia 293: dazu mit weiteren Judikatur-Nachw., Kölz, Alfred. In:
Aubert etc. (Hg.): Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenos -
sen schaft vom 29.5.1874. Basel: Helbing & Lichtenhahn. Zu Art. 58 (alt) BV, Rz. 18 und
54 ff. Für Deutschland: BVerfGE (Kirchhof), veröffentlicht in EuGRZ 1999. S. 434
(435); BVerfGE 88, 17 (22 f.).
23 Villiger (Anm. 12), Rz. 415.
must also be seen to be done.»24 Ob ein Richter in der Tat innerlich be-
fangen und parteiisch ist, wird selten nachzuweisen sein, und es wird die
subjektive Unbefangenheit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet.
Nach der Praxis der Strassburger Organe genügt es aber schon, wenn
äussere Umstände vorliegen, die geeignet sind, den Anschein der Be fan -
gen heit zu begründen; es handelt sich dabei um «une démarche objective
amenant à rechercher si [le juge] offrait des garanties suffisantes pour
exclure à cet égard tout doute légitime».25 Stefan Trechsel schreibt dazu:
«Der Schein hat hier vielmehr Bedeutung als selbständiges Sein [. . . ].»26
Das gilt ebenso mit Bezug auf Fragen der richterlichen Unabhängigkeit
(«s’il y a ou non apparence d’indépendance»).27
Die vorstehende aus der EMRK abgeleitete Regelung findet in
Zivil-,28 Straf-29 und zum Teil auch in Verwaltungssachen30 Anwendung.
Die Verwandtschaft der genannten EMRK-Anforderungen mit der (ge -
mäss Art. 7 lit. d LVG) auch für den Staatsgerichtshof als Verfassungs ge -
richt geltenden Regel, wonach es zum Nachweis der Befangenheit (die
auch allfällige Abhängigkeiten oder «apparences de dépendance» mitein -
schliesst) «genügt, wenn Umstände vorliegen, die den Anschein der Be -
fan genheit . . . zu begründen vermögen»,31 ist unverkennbar. Die Aus -
standsregel des Art. 7 lit. d LVG gilt (gemäss Art. 6 Abs. 3 StGHG) für
alle verfassungsgerichtlichen Verfahren des Grundrechtsschutzes, der
Nor menkontrolle und der Auslegung der Verfassung.
d) Das verfassungsgerichtliche Ausstandsverfahren (Ausschluss- und
Ablehnungsverfahren): Für das Ausstandsverfahren gelten die Be stim -
119
Der konditionierte Verfassungsstaat
24 Arrêts De Cubber, Vol. 86, § 26; Campbell et Fell, Vol. 80, § 81; Delcourt, Vol. 11, § 31;
vgl. Harris/O’Boyle/Warbrick (Anm. 12), S. 234 ff. Nachw. zur englischen Praxis:
Wade/Forsyth: Administrative Law. Oxford: Clarendon, (7th ed.) 1994. S. 472 ff. Zur
Maxime gewordenes Dictum von Lord Chief Justice Hewart: «[. . . ] that justice should
not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done.» (Vgl. R.
v. Sussex Justices, Ex parte McCarthy [1924] 1 KB 256, 259).
25 Arrêt Piersack, Vol. 53, § 30.
26 Trechsel (Anm. 19), S. 394.
27 Vgl. Anm. 13.
28 Besondere Ausstandsgründe in §§ 10 und 11 GOG.
29 Besondere (stärkere) Ausstandsgründe in §§ 12 und 13 GOG.
30 Besondere Ausstandsgründe in Art. 6 und 7 LVG.
31 Vgl. Anm. 21.
mungen von Art. 7 StGHG und Art. 1 Abs. 4 StGHG i.V.m. §§ 14–17
GOG entsprechend.32 Ob Ausschluss- oder Ablehnungsgründe gegen
einen Richter vorliegen, entscheidet der Präsident, wenn diese Gründe
vor der Gerichtshofsitzung geltend gemacht werden; wenn die Gründe
nachher vorgebracht werden, entscheidet der Gerichtshof selbst (Art. 7
Abs. 1 StGHG, ergänzt durch § 16 Abs. 1 GOG).33 Werden Ableh -
nungs(oder Ausschluss)gründe gegen den Präsidenten oder den Präsi -
den ten zusammen mit einem oder mehreren Richtern vorgebracht, so
entscheidet in jedem Falle der Gerichtshof, ungeachtet des Zeitpunktes
des Vorbringens.34
Die Entscheidungen des Präsidenten bzw. des Gerichtshofes im
Aus standsverfahren sind endgültig,35 gleichviel ob ein die Nichtigkeit be -
wirkender Ausschliessungsgrund oder ein Ablehnungsgrund nach Art. 6
bzw. Art. 7 LVG vorliegt – abgesehen von den Fällen etwaiger Wie der -
ein setzung in den vorigen Stand (Art. 41 StGHG i.V.m. Art. 10f. LVG).36
Daher gebietet sich Zurückhaltung mit der Regel von § 15 Abs. 3 GOG,
wonach das Recht auf Ablehnung verwirkt ist, wenn es nicht rechtzeitig
geltend gemacht wird. Allerdings ist es fraglich, ob die Regel für den
Staatsgerichtshof überhaupt gilt, da für diesen in Art. 7 Abs. 1 StGHG
eine eigenständige Vorschrift besteht. Da in den Verfahren der Auslegung
der Verfassung und der Normenkontrolle vor dem Staatsgerichtshof
keine Vollparteien, sondern Staatsorgane und Ge meinden auftreten
(Aus nahme Grundrechtsverfahren), kommt ohnehin der Grundregel
von § 14 Abs. 1 und 3 GOG gleichsam objektivierende Bedeutung zu.
Auch bei der Auslegung der Verfassung und der Nor men kontrolle kön-
nen Abhängigkeiten, Befangenheit und Vorein ge nom menheit vorliegen.
Nach § 14 Abs. 1 GOG hat jeder Richter von dem Zeitpunkte an,
in welchem ihm ein Ausschliessungsgrund bekannt geworden ist, sich al-
ler gerichtlichen Handlungen bei sonstiger Nichtigkeit dieser Akte zu
120
Gerard Batliner
32 StGH 1983/1/V, LES 1984, 65; 1982/1–25, LES 1983, 74 (75).
33 Vgl. Anm. 32.
34 So StGH 1983/1/V, LES 1984, 65 (66).
35 StGH vom 15.12.1954 und vom 21.11.1955 (nicht veröffentlicht): bei Stotter, Heinz
Josef: Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein. Vaduz: ex jure, 1986. S. 180 f.,
Ziff. 1 und 2 zu Art. 7 StGHG.
36 StGH 1985/11/W, LES 1988, 3 (4); 1987/10, LES 1988, 102 (104). Kley (Anm. 1),
S. 271 f.
enthalten. Nach § 14 Abs. 3 GOG ist jeder Richter37, sobald ihm ein
Ablehnungs- oder Ausschlussgrund bekannt geworden ist, verpflichtet,
dies dem Präsidenten bzw. dem Gerichtshof mitzuteilen. Dies schliesst
ins besondere die amtswegige Pflicht zur Selbstablehnung mit ein.
Lässt sich ein Ausstand aber zu leicht verwirklichen, wird die or-
dentliche Zusammensetzung des Gerichtshofes in Frage gestellt. Es be-
steht hier ein gewisses Spannungsverhältnis.38 Es ist die, manchmal un-
angenehme und Mut erfordernde, rechtsstaatliche Pflicht (des unabhän-
gigen und unbefangenen) gesetzlichen Richters, ihm übertragene Kom -
pe tenzen auch tatsächlich wahrzunehmen und nicht auszuweichen.
II. Die verfassungsrichterliche Unabhängigkeit und Unpar -
tei lichkeit unter dem Einfluss neuester Entwicklungen
1. Steuerung der Meinungen zur Verfassungsauslegung: der Fall Wille
a) Am 27. Februar 1995 schreibt der Fürst einen Brief an den Vor sit zen -
den der Verwaltungsbeschwerdeinstanz (Verwaltungsgericht), Herbert
Wille: «In meinen Augen sind Sie, Herr Dr. Wille, aufgrund Ihrer Hal -
tung gegenüber der Verfassung ungeeignet für ein öffentliches Amt. Ich
habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen öffentlich oder privat in eine lan-
ge Auseinandersetzung einzulassen, aber ich möchte Ihnen rechtzeitig
mitteilen, dass ich Sie nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen wer-
de, sollten Sie mir vom Landtag oder sonst irgendeinem Gremium vor-
geschlagen werden. Es verbleibt mir die Hoffnung, dass Sie sich wäh -
rend des Restes Ihrer Amtszeit als Präsident der Verwaltungs be schwer -
de instanz in Ihren Urteilen an Verfassung und Gesetze halten werden.»39
Vorausgegangen war am 16. Februar 1995 im Rahmen einer Ring -
vor lesung am Liechtenstein-Institut ein wissenschaftlicher Vortrag von
Herbert Wille zum Thema «Wesen und Aufgaben des Staatsgerichts -
121
Der konditionierte Verfassungsstaat
37 Der Absatz verwendet den Begriff «Gerichtsperson». Darunter sind gemäss § 14
Abs. 2 GOG Richter oder Protokollführer zu verstehen; § 16 Abs. 1 GOG versteht un-
ter «Gerichtsperson» ebenfalls Richter. Entsprechend auch Urteil StGH (Anm. 10),
Ziff. 3.2 der Entscheidungsgründe.
38 Kölz (Anm. 22), Rz. 21 zu Art. 58 (alt) BV. Kley (Anm. 1), S. 265.
39 Wiedergegeben in Judgment of European Court of Human Rights (Case of Wille v.
Liechtenstein), vom 28.10.1999, § 11.
hofes».40 In diesem Vortrag wies Herbert Wille nebenbei auch auf
Art. 112 der Verfassung hin, der dem Staatsgerichtshof die Kompetenz
überträgt, über die Auslegung einzelner Bestimmungen der Verfassung
zu entscheiden, «wenn Zweifel entstehen und nicht durch Übereinkunft
zwischen der Regierung und dem Landtage beseitigt werden können».
Die Kontroverse entzündete sich am Begriff «Regierung». In der Lehre
und in einem früheren Regierungsbericht war die Auffassung dargelegt
worden – und Herbert Wille teilt diese Auffassung –, dass unter dem Be -
griff «Regierung» der Fürst zu verstehen sei, im Sinne wie die Verfassung
den Begriff an verschiedenen anderen Stellen auf den Fürsten bezieht:
«regieren» (Art. 13), «Regierungsnachfolger» (Art. 13), «Regierungs -
nach folge» (Art. 13bis), «Regierungsnachfolgers» (Art. 51 Abs. 1),
«Regie rungsveränderung» (Art. 51 Abs. 2), auch «Regierung» (Art. 111
Abs. 2). Der Fürst dagegen vertritt die Meinung, in Art. 112 sei unter
«Regierung» die Regierung als Landesverwaltung im Sinne von Art. 78ff.
der Verfassung zu verstehen. Entsprechend sei er beim Ausle gungs ver -
fah ren nach Art. 112 nicht Prozessubjekt.41 Nach dem neuen Ver fas -
sungsänderungsvorschlag des Fürsten vom 2. Februar 2000 sollen Stellen
in der Verfassung, wo der Begriff «Regierung» den Fürsten betrifft,
beseitigt werden.42
Das Berufsverbot traf im Falle Herbert Wille einen Verwaltungs -
richter, der in dieser Eigenschaft nie in die Lage gekommen wäre, über
die angesprochene Verfassungsfrage zu entscheiden. Insofern ist die Ak -
tion des Fürsten dem Inhalt nach besonders an die Verfassungsrichter
adres siert, da diese kompetenziell mit Verfassungsauslegung zu tun ha-
ben. Gewarnt sind aber, wie der Fall Wille exemplarisch zeigt, alle Rich -
ter und jeder und jede.
Der Fürst hatte von der Meinung Willes in einer Zeitung gelesen,
welche einen wissenschaftlichen Vortrag berichtsmässig wiedergegeben
hatte. Relevant an der Reaktion des Fürsten ist, dass dieser sich gar nicht
in eine Diskussion einliess – denn auf dieser Ebene befand sich Dr. Wille
122
Gerard Batliner
40 Zum weiteren Sachverhalt, Batliner (Anm. 11), Rz. 105–107 m. Nachw.; Judgment
Court (Anm. 39), §§ 6 ff., auch Report European Commission of Human Rights (Wille
v. Liechtenstein), vom 17.9.1998, §§ 17 ff.
41 Batliner (Anm. 11), m. Nachw., Rz. 137–158.
42 «Verfassungsvorschlag des Fürstenhauses» vom 2.2.2000. Vgl. Art. 13, 13bis und 51 des
Vorschlages. Der geltende Art. 112 soll gänzlich abgeschafft bzw. durch eine Bestim -
mung ganz anderen Inhaltes ersetzt werden.
mit seinem Vortrag – und etwa seine Meinung derjenigen Willes gegen -
überstellte, sondern dass der Fürst nun den ganzen Fächer aller seiner
verfassungsrechtlichen Ernennungszuständigkeiten direkt ins Spiel
brachte, um Herbert Wille wegen seiner Meinungsäusserung zu bestra-
fen. Der Fürst ist zuständig, Richter und Regierungsmitglieder auf Vor -
schlag des Landtages und Beamte auf Vorschlag der Regierung zu er-
nennen, der Regierungschef ist zuständig, die Ernennung oder deren
Verweigerung gegenzuzeichnen. Am Bestellungsverfahren sind die Or -
ga ne in unterschiedlicher Weise beteiligt. Der Landtag bzw. die Regie -
rung sind zuständig, dem Fürsten geeignete ausgewählte Personen zur
Ernennung vorzuschlagen. Das Verfahren kann nicht umgedreht wer-
den. Werden z.B. fürstliche Ernennungsvetos (oder Gegenzeichnungs -
ver weigerungen des Regierungschefs) gegen Richter und Regierungs mit -
glieder vorausgeschickt, wird die demokratisch-parlamentarische
Vorschlagskompetenz unterlaufen und ihrer Funktion beraubt.43 Die
Ernen nungen erfolgen jeweils nach Vorlage konkreter Ernennungsvor -
schläge und unter Würdigung aller Umstände (z.B. parlamentarische
Erörterungen), und selbstverständlich unter Ausschluss von Willkür.
Zu letzt folgt die Gegenzeichnung. Im Falle von Herbert Wille nun hat
der Fürst nicht bloss in einem bestimmten Bestellungsverfahren ein kon-
kretes Vorausveto gesprochen, sondern er hat alle seine Ernennungszu -
stän dig keiten, a priori und ausserhalb irgendeines Bestellungsverfahrens,
dazu eingesetzt und umfunktioniert, um Herbert Wille wegen seiner
Mei nungsäusserung ab sofort jeden möglichen Zugang zu den öffent -
lichen Ämtern zu versperren: «Ich [Fürst] habe nicht die Absicht, mich
mit Ihnen öffentlich oder privat in eine lange Auseinandersetzung ein-
zulassen, aber ich möchte Ihnen rechtzeitig mitteilen, dass ich Sie nicht
mehr für ein öffentliches Amt ernennen werde, sollten Sie mir vom
Land tag oder sonst irgendeinem Gremium vorgeschlagen werden.» Die
Be strafung mit dem Berufsverbot erfolgte grundsätzlich und absolut, ab
sofort wirkend und unbefristet, ohne Anhörung, ausserhalb irgendeines
Bestellungsverfahrens, alle Ämter erfassend, wo der Fürst eine Mitspra -
che (Ernennungszuständigkeit) hat. Herbert Wille ist damit ausgesperrt
vom Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten des Staatsgerichtshofes,
des Vorsitzenden (im Falle einer erneuten Kandidatur) und seines Stell -
123
Der konditionierte Verfassungsstaat
43 Batliner (Anm. 11), Rz. 57, 36 ff. (bes. 40, 42), 109.
ver tre ters der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, sozusagen von allen übri-
gen Richterposten, von allen Regierungsämtern, sowie von den höheren
Beamtenstellen. So wurde aus der Ernennungszuständigkeit ein von der
Verfassung nicht vorgesehenes Instrument gegen die Meinungsfreiheit.
Vom Liechtenstein-Institut zum Vorgehen des Fürsten eingeholte
externe Rechtsgutachten kamen zum Schluss, dass Verfassung und
EMRK verletzt worden sind: Verletzung des Rechts auf freie Meinungs -
äus serung, Eingriff in das Recht auf willkürfreien Zugang zu öffent -
lichen Ämtern, Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Justiz, Fehlen
eines innerstaatlichen Rechtsschutzes.44
Die liechtensteinische Öffentlichkeit gelangte mit einer Petition
vom 11. August/1. September 1995 mit über 2500 Unterschriften unter
Hin weis auf die durch die Verfassung garantierten Grundrechte in
«grosser Sorge» an den Landtag: Sie berief sich auf «das Recht auf freie
Mei nungsäusserung, das Recht auf Zugang der Landesangehörigen zu
öffent lichen Ämtern und die Unabhängigkeit der Richter» und verlang-
te, «ohne weiteren Verzug die notwendigen und geeigneten Schritte zu
unternehmen, um die offenen Fragen und Widersprüche, die sich im Zu -
sammenhang mit der Kontroverse zwischen dem Landesfürsten und
dem Präsidenten der Verwaltungsbeschwerdeinstanz ergeben, einer Klä -
rung zuzuführen».45
Der Landtag hatte sich schon am 23. März 1995 aufgrund eines
Schrei bens des Vorsitzenden der Verwaltungsbeschwerdeinstanz in
nichtöffentlicher Sitzung mit dem Fall befasst und daraufhin Herbert
Wille die einhellige Auffassung mitgeteilt, «dass die Führung des Amtes
des Vorsitzenden der Verwaltungsbeschwerdeinstanz [. . . ] nicht in
Frage gestellt» sei, und auch festgehalten, dass «der Landtag das Ernen -
nungs recht des Fürsten gemäss Art. 97 der Verfassung nicht in Frage»
stelle.46 Einige Zeit später, in der Sitzung vom 14. September 1995, be-
handelte der Landtag auch die vorerwähnte Petition, in welcher «die bis-
herige Handlungsweise des Landtags und der Regierung in dieser
schwer wiegenden Angelegenheit, die unsere staatlichen Institutionen
124
Gerard Batliner
44 Rechtsgutachten Frowein, J.A., vom 18.5.1995, und Höfling, W., vom 29.5.1995, samt
Dokumentation und Stellungnahme des Liechtenstein-Instituts vom 1.6.1995 im An -
hang, Beiträge Liechtenstein-Institut Nr. 2/1995.
45 Petition im Anhang zu Landtagsprotokoll vom 14.9.1995.
46 Vgl. Batliner (Anm. 11), Rz. 105.
der Fragwürdigkeit preisgibt und die Achtung des Bürgers vor ihnen un-
tergräbt, als unzulänglich und nicht verantwortbar» bezeichnet wurde.
Da entschloss sich der Landtag an den Staatsgerichtshof zu gelangen mit
dem Antrag, Art. 112 der Verfassung bezüglich der strittigen Fragen aus-
zulegen.47 Doch acht Monate später, in der Sitzung vom 22. Mai 1996,
wandelte der Landtag seinen ursprünglichen Antrag in ein gewöhnliches
(schliesslich untaugliches) Gutachtensersuchen an den Staatsgerichtshof
um.48 Mehr als zwei Jahre später erklärte sich der Staatsgerichtshof als
un zuständig, ein solches blosses Gutachten zu erstatten.49
Im Frühjahr 1997 war die Verwaltungsbeschwerdeinstanz wieder
neu zu besetzen.50 Im Hinblick darauf und vorgängig zur Landtags sit -
zung fragte die Mehrheitsfraktion beim Fürsten an, ob er Herbert Wille
als Vorsitzenden akzeptieren würde. Die Antwort war: Nein. Der Fürst
hielt sein Veto auch aufrecht, als der Landtag hernach Herbert Wille dem
Fürsten zur Ernennung zum Vorsitzenden der Verwaltungsbeschwerde -
instanz vorschlug. Der Vorschlag für Herbert Wille hatte im Landtag,
nach allseitiger Bestätigung seiner Qualifikation, das niedrigst mögliche
Mehr von 13 (10 FBPL, 2 FL, 1 VU) : 12 (12 VU)51 Stimmen erhalten.
Auch weitere vorgängige Anfragen, ob bestimmte Kandidaten für den
stellvertretenden Präsidenten des Staatsgerichtshofes und den stellver-
tretenden Vorsitzenden der Verwaltungsbeschwerdeinstanz dem Fürsten
genehm seien, waren seitens der Mehrheitspartei an den Fürsten gerich-
tet worden.
Der Landtag kann in einem Bestellungsverfahren mit seinem Er -
nen nungsvorschlag gewiss nicht den nachfolgenden Mitwirkungsakt des
Fürsten vorwegnehmen. Wenn aber, umgekehrt, der Landtag sich das
Feld der eigenen möglichen Ernennungsvorschläge durch Voranfragen
beim Fürsten vorabentscheiden lässt, verzichtet er auf seine 1921 erlang-
te ureigene Zuständigkeit, gibt er die eigenständige demokratisch-parla-
mentarische Vorschlagskompetenz auf und lässt u.U. von sich aus mög-
liche Kandidaten zum vornherein fallen. Mit der Vorschlagskompetenz
ist dem Landtag aufgetragen, in eigener Verantwortung geeignete Kandi -
125
Der konditionierte Verfassungsstaat
47 Petition (Anm. 45). Landtagsprotokoll vom 14.9.1995, S. 1221–1269 (1266).
48 Landtagsprotokoll vom 22.5.1996, S. 768–795.
49 StGH 1995/25 (Gutachten vom 23.11.1998), LES 1999, 141–148.
50 Landtagsprotokoll vom 14.4.1997, S. 51–69.
51 So Berichte L. Vaterland und L. Volksblatt vom 15.4.1997.
da ten zur Wahl zu stellen, zu wählen und vorzuschlagen. Dieses Ver fas -
sungs system kippt, wenn der Landtag (oder schon wenn die beherr-
schende Mehrheitsfraktion oder Mehrheitspartei) a priori ausgesproche-
ne fürstliche Berufsverbote vor einem konkret bevorstehenden parla-
mentarischen Bestellungsverfahren durch Voranfragen beim Fürsten
gleichsam gutheisst, legitimiert und zu den eigenen macht, oder wenn
der Landtag durch Anfragen Vorausvetos auslöst und den Kreis der Per -
so nen, die im Landtag zur Wahl stehen oder stehen können, seinerseits
entsprechend einschränkt. Nach solcher Voranfrage der VU-Mehrheits -
frak tion zur Kandidatur Herbert Willes zum Vorsitzenden der Verwal -
tungs beschwerdeinstanz liess der VU-Parteipräsident Oswald Kranz
schon im Vorfeld der parlamentarischen Behandlung öffentlich verlau-
ten: «Ein dahingehender Wahlvorschlag kommt daher einem Akt gleich,
der keinen Sinn mehr macht.»52 Solches ist Demokratie, soweit die Mo -
nar chie sie zulässt.53 Und wenn der Landtag sich im Einzelfall ohne
sach liche Rechtfertigung nur geteilt und mit knappen Mehrheiten zu
einem Vorschlag bekennt, gibt er seine Überzeugungen nicht weiter, und
der Kandidat ist nicht geschützt und breit getragen und wird umso stär-
ker von der Schwere eines Vetos getroffen.
Da innerstaatlich ein Schutz gegen Grundrechtsverletzungen seitens
des Fürsten fehlt, hatte sich Herbert Wille nach Erlass des Berufs ver botes
1995 an die Menschenrechtsorgane in Strasbourg gewandt. Am 27. Mai
1997 erklärte die Europäische Kommission für Menschenrechte die
Beschwerde gegen Liechtenstein für zulässig und stellte schliesslich im
Bericht vom 17. September 1998 eine Verletzung des Rechts auf freie
Mei nungsäusserung und eine Verletzung des Rechts auf innerstaatlichen
Schutz fest.54 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam in
seinem Urteil vom 28. Oktober 1999 praktisch einstimmig (16:1) zum
selben Ergebnis und verurteilte Liechtenstein zusätzlich zur Bezahlung
einer Genugtuungssumme für Herbert Wille und zur Übernahme seiner
Vertretungskosten.55 Anstatt nun das Berufsverbot gegen Herbert Wille
zurückzunehmen, liess das Fürstenhaus nach der Urteilsverkündung in
126
Gerard Batliner
52 L. Vaterland vom 12.4.1997, S. 3. Aufschlussreich die Debatte im Landtag vom 14.4.
1997, Landtagsprotokoll (Anm. 50).
53 Vgl. Batliner (Anm. 11), Rz. 109.
54 Vgl. Report Commission (Anm. 40), bes. §§ 88 und 102.
55 Judgment Court (Anm. 39), §§ 70, 78, 89 und 92 sowie S. 24 f.
einer Pressemitteilung verlauten:56 «Seine Durchlaucht Fürst Hans-
Adam II. von und zu Liechtenstein hat mit Interesse das Urteil vom
28. Oktober 1999 des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zur
Kenntnis genommen. Die Konsequenz dieses Urteiles wird sein, dass
Seine Durchlaucht der Landesfürst beziehungsweise seine Nachfolger im
Amt in Zukunft darauf verzichten werden, privat oder öffentlich gegenü-
ber möglichen Kandidaten zu begründen, weshalb sie nicht ernannt wer-
den.» Als Antwort auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte, über dem es eine höhere Instanz nicht mehr gibt, ist die
Mitteilung des Fürstenhauses eine beunruhigende «Konsequenz». Das
an einem Punkt ausgesprochene Berufsverbot gegen Herbert Wille wird
nicht zurückgenommen. Auf diesem Hintergrund ist das Spielen mit der
Möglichkeit künftiger Vetos durch den «Landesfürsten» sowie für «seine
Nachfolger im Amt» ernst und in die Zukunft hinein ver längert.
Die durch alle Phasen durchgehaltene, jederzeit rücknehmbare, von
Etappe zu Etappe erhärtete statt korrigierte Entscheidung des Fürsten,
das gleichsam mehrfach ausgesprochene Berufsverbot, demonstriert ex-
emplarisch die Radikalität des Eingriffes. Nichts konnte den Fürsten be-
wegen, seine Haltung zu ändern: Nicht die Gutachten, nicht die Petition
der Bevölkerung, nicht der Antrag des Landtages auf Wiederbestellung
von Herbert Wille zum Vorsitzenden der Verwaltungsbeschwerde in -
stanz, nicht die Beschwerde in Strassburg, nicht die Feststellung der
Grundrechtsverletzung durch den Europäischen Menschenrechts ge -
richts hof. Dabei fehlt jeglicher gerichtliche Schutz im Inland. Ein aus-
weichender Landtag verschlimmert die Lage: Volksvertreter, welche ihre
Personalentscheidungen vom Fürsten vorausbestimmen lassen. Schliess -
lich folgt – nach dem eindeutigen Urteil des Menschenrechts gerichts -
hofes – statt der selbstverständlichen Rücknahme des Berufsverbotes
durch den Fürsten die vielsagende Erklärung, in Zukunft «gegenüber
möglichen Kandidaten» nicht mehr zu begründen, «weshalb sie nicht er-
nannt werden». Da kann sich niemand mehr als geschützt betrachten.
Entsprechend ernst ist der generalpräventive Effekt des Einzelfalles
Wille. Indem der Fürst eine von ihm abweichende Meinung in einer Ver -
fas sungsfrage bestraft, erhebt er sich im Staat zum Richter schon über
Meinungsäusserungen. Der Fürst gibt an, wie die Verfassung auszulegen
127
Der konditionierte Verfassungsstaat
56 Pressemitteilung des Fürstenhauses vom 28.10.1999.
ist und wie sie – bei sonstiger Strafe – nicht auszulegen ist. Er tut dies un-
erwartet, überraschend, in «souveräner» Beliebigkeit, damit umso wirk-
samer, und grössere allgemeine Unsicherheit verbreitend, im überschau-
baren Land, wo jedermann leicht erfasst wird. Gewarnt sind Richter,
Regierungsmitglieder, Beamte, die von der fürstlichen Ernennung ab-
hängen, auch der Landtag, die Parteien und die Parteipresse bezüglich
«ihrer» Leute in den Behörden, alle. Adressaten der Warnung sind vor
allem diejenigen, welche von ihrer Zuständigkeit her zur Auslegung der
Verfassung berufen sind: die Verfassungsrichter. Ihre Lage ist prekär,
wenn sie die Verfassung in einem Punkt auslegen müssen, in welchem
der Fürst widerspricht oder schon eine feste Position bezogen hat (z.B.
gerichtliche Verfassungsauslegungskompetenz von Art. 112), wenn
schon blosse abweichende Meinungsäusserungen mit Berufsverbot ge-
ahndet werden. Unter solcher sachlicher und persönlicher Einfluss nah -
me, wo entsprechend potenziell ein Berufsverbot droht, kann von
Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Richter schwerlich gesprochen
werden, was auch immer deren innere Einstellung sein mag. Zumindest
wird der Eindruck entstehen, dass die liechtensteinischen Verfassungs -
rich ter (die ausländischen Richter kann das Berufsverbot nicht treffen)
nicht in erforderlicher Serenität, nicht völlig unabhängig und unbefan-
gen entscheiden. Damit aber erscheint die Mehrheit der Richter des
Staatsgerichtshofes als infrage gestellt. Der Ersatz durch die stellvertre-
tenden Richter hilft nicht weiter. Sie stünden vor demselben Problem.
Dies gibt dem Eingriff eine neue Dimension. Nicht ein einzelner
Rich ter ist durch einen anderen auszuwechseln. Die Verfassungsge -
richts barkeit als solche wird betroffen.
Der Zugriff auf die Richterunabhängigkeit erfolgt an der verletzt-
lichsten Stelle, ganz am Anfang bei der Richter(nicht)bestellung und der
(Nicht-)Wiederbestellung nach kurzer Amtsdauer, erfolgt sogar schon
vor her als unausgesprochene Sanktion gegen verfassungsrechtliche
Meinungsäusserungen, die dem Fürsten nicht genehm sind. Eine genü-
gend lange, einzige Amtsdauer (z.B. 9 Jahre) für Richter brächte we-
sentliche Verbesserungen und würde Einflussnahmen auf die Richter
verringern, doch die Sanktionierung abweichender Meinungsäusse run -
gen würde schon bei Erstbestellungen wirksam werden. Mit anderen
Wor ten: Wenn die Mitwirkungszuständigkeit des Fürsten bei der Bestel -
lung und Wiederbestellung dazu umfunktioniert wird, um abhängige
Rich ter, Regierungsmitglieder und Beamte zu erhalten, dann erweist sich
128
Gerard Batliner
eben solche Mitsprachezuständigkeit als fragwürdig. Dann wird es im
Interesse des Erhaltes selbstverantwortlicher Organwalter Aufgabe des
Staates sein, eben solche Mitsprachezuständigkeit aufzugeben oder mit
sus pensiver Wirkung auszugestalten. Dies wäre eine wirksame institu-
tionelle Schutzgewährung gegen beliebige Ernennungsvetos, würde aber
Probleme anderer Einwirkungen noch nicht ausschalten (z.B. An deu -
tungen bezüglich Niederlegung des Fürstenamtes in gewissen Fällen).
b) Der Widerstand des Fürsten gegen die Zuständigkeit des Staats ge -
richts hofes wird durch den neuesten fürstlichen Verfassungsänderungs -
vor schlag bestätigt.57 Danach soll die in Art. 112 verankerte Kompetenz
des Staatsgerichtshofes, die Verfassung im Streitfalle verbindlich auszu-
legen, ganz abgeschafft werden. Damit würde mit dem Altbestand liech-
tensteinischer Verfassungsgerichtsbarkeit (vgl. § 122 der Verfassung
1862), welcher aus dem deutschen Rechtskulturraum stammt, aufge-
räumt.58 Es gäbe keine letzte Instanz mehr, die im auswegslosen Fall
Verfassungstreitigkeiten überwinden könnte. Es würde die Klammer be-
seitigt, die den liechtensteinischen Staat zusammenhält: dass bei Ver fas -
sungs streitigkeiten, die sich anders nicht lösen lassen, der Staats ge richts -
hof auf Antrag die umstrittenen einzelnen Verfassungsbestimmungen
durch Entscheidung verbindlich auslegt. Mit der Annahme des Vor -
schla ges des Fürsten würde nicht nur über einzelne kontroverse Be stim -
mungen der Verfassung entschieden, sondern würde die Mög lich keit
überhaupt genommen, verfassungsrechtliche Streitigkeiten, die sich
nicht sonst bereinigen lassen, vor den Staatsgerichtshof zu bringen.
Damit würde dasjenige Institut abgeschafft, das alle Staatsorgane in den
Ver fassungsstaat einbindet. Bemerkenswerterweise haben gerade neu -
este Verfassungen mit dualen politischen Systemen, etwa diejenige Russ -
lands und der Ukraine, ihren Verfassungsgerichtshöfen die Zustän dig -
keit übertragen, die Verfassung verbindlich auszulegen.59
129
Der konditionierte Verfassungsstaat
57 Vgl. Anm. 42.
58 Batliner, Gerard: «Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht». In: Batliner
(Hg.): Die liechtensteinische Verfassung 1921 (LPS 21). Vaduz: Verlag LAG, 1994.
S. 15–104 (26 f. m. Nachw.).
59 Batliner (Anm. 11), Rz. 152 m. Nachw.
2. Die Kondition: ein neues Hausgesetz?
Am 6. Dezember 1993 wurde im Landesgesetzblatt (LGBl. 1993/100)
ein «Hausgesetz des Fürstlichen Hauses Liechtenstein» veröffentlicht.
Das Gesetzblatt trägt die Unterschriften des Fürsten und des gegen-
zeichnenden Regierungschefs Markus Büchel. Daraufhin gelangten Ab -
ge ordnete mit einer Interpellation an die Regierung. Aus den Stellung -
nah men zur Interpellationsbeantwortung im Landtag ist auf dessen
grossmehrheitliche Auffassung zu schliessen, dass das «Hausgesetz» zur
Gültigkeit der Zustimmung des Landtages bedurft hätte – so wie die
Hausgesetze schon seit der Verfassung 1862 vom Landtag genehmigt
wurden.60 Das stimmt mit der herrschenden Lehre überein, nach welcher
der veröffentlichte Text nichtig ist.61 Der Text enthält u.a. auch Regelun -
gen wie (Art. 18 Abs. 2): «Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein
kann das Hausgesetz weder verändern noch aufheben. Dasselbe gilt für
die vom Fürstentum Liechtenstein abgeschlossenen zwischenstaatlichen
Verträge. In diese ist, soweit erforderlich, ein entsprechender Vorbehalt
aufzunehmen.»
Die Diskussion wurde nicht fortgesetzt. Der zur Normenkontrolle
(auch betreffend gültiges Zustandekommen) in Art. 104 Abs. 2 oder zur
Ver fassungsauslegung (Art. 112) zuständige Staatsgerichtshof wurde
nicht angerufen. Vielmehr erhob der Fürst seine Position in der darauf-
folgenden Thronrede vor dem Landtag vom 15. März 1996 zur Kondi -
tion: «Volk und Volksvertreter müssen aber berücksichtigen, dass Fürst
und Fürstenhaus keine Befehlsempfänger des Volkes oder der Volks ver -
tre ter sind. Das Fürstenhaus stellt das Staatsoberhaupt in diesem Staat
unter gewissen Bedingungen. Dazu gehört, dass Autonomie und Haus -
ge setz des Fürstenhauses respektiert werden.»62 Debatte geschlossen.
Wie geht ein Verfassungsrichter damit um auf dem Hintergrund des
Berufverbotes? Nimmt er überdies in Kauf, dass bei der Auslegung der
Ver fassung oder der Normenkontrolle betreffend das «Hausgesetz» je
nach Gerichtsurteil das Fürstenhaus den Fürsten nicht mehr stellt?
Unter solcher Einflussnahme des Fürsten und entsprechender Stim -
130
Gerard Batliner
60 Landtagsprotokoll vom 31.10.1995, S. 1638–1650.
61 Zuletzt Kley (Anm. 1), S. 41 ff. m. Nachw.
62 Landtagsprotokoll vom 15.3.1996, S. 2 ff. (3).
mungs lage der Öffentlichkeit (Gesellschaftsunabhängigkeit) ist ein un-
abhängiges und unbefangenes Richten, zumindest dem Anschein nach,
schwerlich gewährleistet. In einem am 8. November 1999 veröffentlich-
ten Interview bekräftigte der Fürst: «Unser Hausgesetz behalten wir –
das ist uns wichtiger, als hier das Staatsoberhaupt zu stellen. Die Politik
muss sich damit abfinden: Wenn man ein Fürstentum Liechtenstein ha-
ben will, stellt das Fürstenhaus die Bedingungen auf, unter denen es hier
das Staatsoberhaupt stellt – und eben nicht das Parlament.»63
3. Das Ultimatum vom 27. Oktober 1992
Wie ernst die Positionsbezüge des Fürsten zu nehmen sind, weiss die
Öffentlichkeit u.a. seit dem Ultimatum vom 27. Oktober 1992, als der
Fürst im Zusammenhang mit der Festlegung des EWR-Abstimmungs -
ter mins den Landtag auflösen (ohne Gegenzeichnung nicht zulässig), die
Regierung entlassen, das Notstandsrecht (ohne Gegenzeichnung nicht
zulässig) proklamieren und die Regierungsgeschäfte bis zur Bestellung
eines neuen Landtags an sich ziehen wollte.64
4. Die vom Fürsten vorgeschlagene Bestellung der Verfassungsrichter65
Für das geltende Recht nicht relevant, aber als Phänomen und als Ab -
sicht aufschlussreich ist das vom Fürsten geforderte neue Richter-
Bestellungsverfahren. In der Substanz bestünde die Neuregelung für den
Staatsgerichtshof (Art. 11 und 105 des Vorschlages) darin, dass sämtliche
(neu: sieben) Verfassungsrichter inskünftig vom Fürsten dem Landtag
vorgeschlagen und nachher vom Fürsten ernannt würden. Der dazwi-
schengeschaltete Landtag besässe ein suspensives Vetorecht. Stimmt da-
bei der Landtag dem fürstlichen Richtervorschlag nicht zu und ergibt
sich keine einvernehmliche Lösung, müsste das Volk in einem kompli-
zierten Verfahren über die Kandidatenvorschläge des Fürsten, eventuell
131
Der konditionierte Verfassungsstaat
63 In: Format, Das Magazin für Politik, vom 8.11.1999, S. 5. Vgl. auch Interview, in: Bei -
lage zu L. Vaterland vom 13.8.1999, S. 7–23 (19).
64 Dazu Batliner (Anm. 11), Rz. 103 f.
65 Vgl. Anm. 42.
auch des Landtages sowie über allfällige Kandidateninitiativen des Vol -
kes entscheiden. Bei jeder Wiederbestellung der Richter nach jeweils sie-
ben Jahren würde dasselbe Verfahren angewandt. Die Einflussnahme des
Fürsten auf die Auswahl und Bestellung der Richter würde beherr-
schend. Die Errungenschaften der Verfassung 1921 in Bezug auf die
Rich terbestellung würden weitgehend aufgegeben.
III. Der konditionierte Verfassungsstaat
1. Der Staatsgerichtshof als Hüter der Verfassung
In einem Fall, in welchem es um Grundrechte ging, bezeichnete sich der
Staatsgerichtshof als «Hüter der Verfassung».66 Er ist es.
Als der Staatsgerichtshof, gestützt auf seine Kompetenzen in
Art. 104 Abs. 2 der Verfassung, das Eingreifen des Fürsten in einen Ab -
stim mungskampf (Referendum) als unzulässig gerügt hatte, erklärte der
Fürst, sich vom Staatsgerichtshof nicht «einen Maulkorb umhängen» zu
lassen.67 In einem neulichen Interview68 im Zusammenhang mit der
Frage nach der vom Fürsten geforderten Richterauswahl steigerte der
Fürst nochmals seine Position: «Und eine unabhängigere Instanz kann
man sich diesbezüglich [Richterernennungen] gar nicht vorstellen als
den Monarchen, weil dieser ja nicht einmal der Gerichtsbarkeit unter-
steht. Er ist nicht einmal davon betroffen.» Er gibt sich auch nicht be-
troffen von einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschen -
rechte, das ihn z.B. nicht dazu bewegen kann, ein ausgesprochenes Be -
rufs verbot zurückzunehmen.
Zwar kann die Person des Fürsten weder straf-, noch zivil-, noch
verwaltungsgerichtlich belangt werden. Er geniesst absolute Immunität.
Aber trotz des Immunitäts-Schutzes vor persönlicher gerichtlicher und
anderer Verfolgung ist auch der Fürst uneingeschränkt an die Verfassung
132
Gerard Batliner
66 StGH 1982/65/V, LES 1984, 3 (4). Dazu Höfling (Anm. 1), S. 36 f.; Wille, Herbert: Die
Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht auf der Grundlage der Rechtsordnung
des Staatsgerichtshofes (LPS 27). Vaduz: Verlag LAG, 1999. S. 115 Anm. 175 sowie
S. 285. Batliner (Anm. 11), Rz. 33 und 125 ff.
67 Batliner (Anm. 11), Rz. 135 m. Nachw.
68 Im L. Vaterland vom 23.9.1999, S. 4 f.
und die Gesetze und das internationale Recht gebunden. Und das Privi -
leg der Immunität verliert seine Legitimationsgrundlage nur dann nicht
und ist nur aufrechtzuerhalten, wenn der Monarch das Recht sorgfältig
respektiert. Die Immunität der Person des Fürsten verhindert auch
nicht, fürstliche Akte oder Unterlassungen als solche gerichtlicher Kon -
trolle zu unterwerfen. Gegen grundrechtsverletzende Akte des Fürsten
wie auch des Landtages fehlt allerdings derzeit ein innerstaatlicher
Grundrechtsschutz. Es handelt sich aber um eine bloss einfachgesetzli-
che Lücke im liechtensteinischen Rechtsschutzsystem (Art. 23 StGHG),
die jetzt schon gegen die EMRK verstösst, wo EMRK-Grundrechte in-
volviert sind. Ein innerstaatlicher Gerichtsschutz besteht dagegen, wenn
der Staatsgerichtshof als Wahl- und Abstimmungsgerichtshof (Art. 104
Abs. 2 LV) tätig wird: Wird eine Volksabstimmung wegen unrechtmäs-
sig erfolgter Einflussnahmen, z.B. seitens des Fürsten, gerichtlich für
ungültig erklärt, ist die Volksabstimmung ungültig. Thema des Rechts -
schutzes ist allerdings die Frage der Gültigkeit der Volksabstimmung,
sodass unrechtmässige Einwirkungen darauf nur indirekt ins Blickfeld
kommen. Oder: Wenn der Staatsgerichtshof Gesetze, welche der Fürst
genehmigt hat, aufgrund von Art. 104 Abs. 2 der Verfassung als verfas-
sungswidrig aufhebt, sind die Gesetze aufgehoben. Würden beispiels-
weise Hausgesetze wegen allenfalls nicht gültigen Zustandekommens als
nicht bestehend erklärt, gälte dies für alle. Und wenn der Staatsgerichts -
hof eine einzelne Verfassungsbestimmung durch Entscheidung auslegt
(Art. 112 LV), ist dies für alle, auch für den Fürsten und den Landtag,
verbindlich. Mit den vorgenannten verfassungsgerichtlichen Zuständig -
kei ten vereinigt Liechtenstein in eindrücklicher Weise aus den deutsch-
sprachigen Ländern übernommenes und zu eigenem Leben gebrachtes
altes Rechtskulturgut: die Verfassungsauslegung (Art. 112) aus dem
deutschen Raum, die Normenkontrolle (Art. 104 Abs. 2) aus Österreich
und der (allerdings wie dargetan lückenhafte) Grundrechtsschutz
(Art. 104 Abs. 1) aus der Schweiz.69 Hinzugekommen ist der internatio-
nale Grundrechteschutz, insbesondere derjenige der Staatengemein -
schaft des Europarates seit dem Beitritt Liechtensteins zur EMRK im
Jahre 1982.70
133
Der konditionierte Verfassungsstaat
69 Wille (Anm. 66), S. 52 ff.
70 LGBl. 1982/60.
Die Verfassung ist die oberste Norm. Sie bindet alle (Art. 111
Abs. 1). Als Hüter und Letztausleger der Verfassung ist der Staats ge -
richts hof eingesetzt. Nicht die in erster Linie politische Macht ausüben-
den Staatsorgane sind oberste Hüter der Verfassung, sondern die
schwächste aller Gewalten, die neutrale Judikative, die keinen Einfluss
«over either the sword or the purse» und sozusagen keinen eigenen
Willen und keine politische Macht zur Entscheidungsdurchsetzung,
sondern nur rational begründetes Urteil hat («neither force nor will, but
merely judgment»).71 Entsprechend hat die Verfassungsgerichtsbarkeit,
besonders seit den Auswüchsen politischer Machtausübung vor dem
und im Zweiten Weltkrieg, in fast allen Ländern des Europarates und in
anderen Staaten einen Siegeszug angetreten.
2. Verfassungsstaat konditioniert
Nach dem Gesetz sind die Mitglieder des Staatsgerichtshofes «in der
Aus übung ihres Amtes unabhängig und nur der Verfassung und den
Gesetzen unterworfen» (Art. 8 Abs. 1 StGHG). Was geschieht indessen,
wenn das Risiko von Sanktionen, die faktisch Weisungen übertreffen,
und politische Einflussnahmen von aussen auf die (liechtensteinischen)
Verfassungsrichter so gewichtig werden, dass diese nicht mehr wirklich
frei sind oder zum mindesten als nicht mehr unbefangen und unabhän-
gig wahrgenommen oder betrachtet werden können? Dann bricht der
Hüter der Verfassung in seiner Mehrheit der Mitglieder und damit als
solcher zusammen, und die stärkeren Kräfte setzen sich durch. Ergibt
sich so ein Zustand, in dem z.B. der Fürst in den ihm elementar erschei-
nenden Belangen erreicht, dass eine auch ihn bindende Auslegung der
Verfassung oder eine Normenkontrolle nicht mehr möglich ist (eine
Grundrechtskontrolle über den Fürsten und den Landtag ist derzeit
inner staatlich ohnehin nicht gegeben), dann setzt sich faktisch, ohne for-
melle Verfassungsänderung, insofern die vom Fürsten vertretene Po si -
tion durch. Er wird insoweit selber zur Verfassung, umso mehr wenn
auch die politischen Gegengewichte, der Landtag, die Regierung, die
Parteien, die Presse, die Öffentlichkeit solches hinnehmen.
134
Gerard Batliner
71 Federalist Papers, Nr. 78. Batliner (Anm. 11), Rz. 125 ff.
Das aber wäre eine Verfassung, soweit sie der Fürst zulässt. Der
kon ditionierte Verfassungsstaat wäre letztlich das Ende des Verfas sungs -
staates.72 Es stehen nicht nur wichtige Gegenstände der Normen kon -
trolle (etwa Notrecht, Hausgesetze) in Frage und nicht nur die für die
«Ver fassungsgewähr» (IX. Hauptstück LV) fundamentale Verfas sungs -
aus legungskompetenz als solche (Art. 112), sondern auch aufgrund von
Art. 112 allenfalls auszulegende kontroverse einzelne Verfassungs be -
stim mungen: etwa Fragen der Zuständigkeiten in der Aussenpolitik
(dazu die öffentlich unwidersprochen gebliebene Stellungnahme des
Fürs ten: «In wichtigen Sachfragen legt das Staatsoberhaupt die Richt -
linien fest, und auch die Entscheidung liegt beim Fürsten. Es ist aber si-
cher nicht sinnvoll, wenn sich das Staatsoberhaupt in den täglichen Ab -
lauf und in die laufenden Geschäfte einschaltet. Das ist Sache der Aus -
sen ministerin und soll von der Regierung wahrgenommen werden.»)73;
oder die Frage der fürstlichen oder parlamentarischen Kompetenz, der
Kollegialregierung ohne gesetzliche Grundlage Aufträge zu erteilen
(Art. 92 Abs. 1 LV); oder die Niederschlagung von Strafverfahren ohne
Ge genzeichnung des Regierungschefs;74 oder die Kompetenz, den Land -
tag «aus erheblichen Gründen» aufzulösen; oder der Gebrauch des Not -
rechts (Ultimatum 1992).
3. Antworten auf Infragestellungen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Das Problem, wie der 1921 geschaffene Verfassungsstaat, die «Verfas -
sung als rechtliche Grundordnung des Staates» (Werner Kägi) aufrecht -
erhalten werden kann, wenn in entscheidenden Bereichen der verfas-
sungsgerichtliche Hüter der Verfassung sich in Frage stellen oder besei-
tigen lässt, ist nicht gering zu veranschlagen. Wird rechtliche Strenge
nicht kontraproduktiv, und wird der «Damm» der Verfassung nicht erst
recht weggespült, wenn die Richter gehen?
135
Der konditionierte Verfassungsstaat
72 Der Verfassungs- und Rechtsstaat mit deren gerichtlichem Schutz war die eine der bei-
den grossen Errungenschaften der Verfassung 1921 (neben dem Ausbau der Demo -
kratie).
73 Interview im L. Volksblatt vom 27.2.1999.
74 Vgl. Waschkuhn, Arno: Politisches System Liechtensteins: Kontinuität und Wandel
(LPS 18). Vaduz, Verlag LAG, 1994. S. 123; Löwenzahn 2/92 (Februar/März), S. 4 f.
Besonders für die Justiz kann die Antwort nicht in Gründen der
Opportunität liegen. Wenn 1. alle Staatsorgane die Unabhängigkeit und
Unparteilichkeit der Justiz respektieren, was deren Pflicht ist, dann er-
folgen Übergriffe wie die vorstehenden nicht und werden die teils pre -
kä ren institutionellen Regelungen nicht zum Problem. Doch wenn sich
die derzeitige Lage und die Bedingungen nicht grundlegend verändern,
insbesondere, wenn die vorhandenen, latenten und ausgesprochenen
Pressionen nicht glaubwürdig und unzweideutig zurückgenommen und
beendigt werden und ein Richter nicht ohne Bange sein kann, wird es
2. Aufgabe des Staates sein, eine unabhängige und unparteiische Justiz
rechtlich-institutionell wirksamer zu gewährleisten – das hiesse etwa, die
bisherige gerichtliche Amtsdauer erheblich zu verlängern und zugleich
Erneuerungen der Amtsdauer nicht zuzulassen, die zu ungebührlichen
Einflussnahmen genutzte Mitsprache in Frage zu stellen, einen inner-
staatlichen Grundrechtsschutz gegen Akte des Fürsten und des Land ta -
ges vorzusehen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass rechtlich-institutio-
nelle Verbesserungen auch der Zustimmung des Fürsten bedürfen und
dass beste institutionelle Sicherungen nicht gegen alle Ein wir kungen zu
schützen vermögen (vgl. z.B. Ankündigungen wie: «Dann werden wir
den Fürsten nicht mehr stellen.»). In jedem Falle aber wird der Landtag
3. seine verfassungsmässigen Kompetenzen und Aufgaben überzeugend
wahrnehmen und sich gegen unrechtmässige Eingriffe schützend vor die
Verfassung, den Rechtsstaat und die dritte Gewalt und vor die demokra-
tisch gewählten Kandidaten und Ernennungsvorschläge stellen müssen.
Wenn schliesslich 4. trotzdem relevante Einwirkungen anderer Staats or -
gane auf die Richter erfolgen, dann bleibt für die Richter nur der Aus -
stand – es sei denn, ein Richter strebe manifesterweise ohnehin kein Amt
mehr an.
Zwar ist auch die richterliche Gewalt eine Gewalt. Aber sie ist strikt
eine solche aufgrund und im Rahmen des Rechts. Sie kann von sich aus,
ohne Antrag durch eine legitimierte Prozesspartei, nicht einmal tätig
werden. Sie ist an das Recht gebunden, und sie hat ihre Urteile gestützt
auf dieses Recht rational nachvollziehbar zu begründen. Der Urteils voll -
zug ist schon nicht mehr ihre Sache. Die dritte Gewalt ist die schwäch-
ste. Es zeichnet ihre Glaubwürdigkeit, ihre Lauterkeit und Integrität aus,
dass sie bei Einwirkungen anderer Mächte auf ihre Unabhängigkeit eher
weicht und den Konflikt durch Ausstand löst, als dass sie «schief» (bias),
parteiisch und unkorrekt entscheiden oder nur schon effektiv einen sol-
136
Gerard Batliner
chen Anschein erwecken würde – dass also im Falle der Verfassungs ge -
richts barkeit deren Richter, soweit nicht besondere Ausstandsgründe
vorliegen, aufgrund von Art. 7 lit. d LVG in den Ausstand treten. Das
Resultat ist unbefriedigend. Denn damit bricht unter Einwirkungen wie
den aufgezeigten in verfassungsrechtlichen Fragen zuerst der Hüter der
Verfassung und mit ihm die Effektivität der Verfassung zusammen. Aber
dies ist besser als eine Gerichtsbarkeit, die zur Handlangerin der Macht
würde oder bei der man sich im Recht nicht mehr sicher und geborgen
fühlte. Wenn die mächtigeren Organe im Staat vor der Unabhängigkeit
der Justiz nicht Halt machen, setzen sich eben die Mächtigeren durch.
Das labile Verfassungssystem von 1921 stürzt. Das nächste Opfer ist die
Sicherheit im Recht und mit ihr die rechtlich zwar beschränkte, aber al-
len gleichermassen zukommende Freiheit. Vor allem betroffen sind die
Schwächeren, letztlich alle im Staat, der Staat selbst. Es regiert die vom
Recht nicht mehr kontrollierte Macht.
137
Der konditionierte Verfassungsstaat
Die Verfassungsbeschwerde als subjektives
und objektives Rechtsschutzinstitut
Wolfram Höfling
Übersicht
Verfassungsgerichtsbarkeit als «Krönung der Justizorganisation», Ver fas -
sungs beschwerde als Krone des Grundrechtsschutzes – Zur Plurifunk tio -
na lität der Verfassungsbeschwerde -Normative Anknüpfungspunkte im
liechtensteinischen Verfassungsprozessrecht? – Exkurs: Die Rechtspre -
chung des Bundesverfassungsgerichts zur Doppelfunktionalität der
Verfas sungs beschwerde – Zur Doppelfunktionalität des Verfassungs be -
schwerde verfahrens in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs –
Schlussbemerkungen: Der liechtensteinische Staatsgerichtshof «zwi-
schen» dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem schweizeri-
schen Bundesgericht
I. Verfassungsgerichtsbarkeit als «Krönung der Justiz -
organi sation» – Verfassungsbeschwerde als Krone des
Grundrechtsschutzes
1928 bewegte die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer eine
grosse Debatte um «Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit».1
Cum grano salis ging es um einen deutsch-österreichischen Fundamen -
tal dissens, dessen Exponenten Heinrich Triepel auf der einen und Hans
Kelsen auf der anderen Seite waren. In diese Auseinandersetzung, die in
den Folgejahren mit dem Streit zwischen Kelsen und Carl Schmitt um
138
1 Siehe die gleichlautenden Referate von Heinrich Triepel und Hans Kelsen, VVDStRL 5
(1929), 2 ff. und 30 ff.
den «Hüter der Verfassung» seine Fortsetzung fand,2 wurde dem Kon -
struk teur der Reinen Rechtslehre Unterstützung zuteil unter anderem
von Adolf Merkl. Merkl forderte einen gerichtlichen Schutz der höchs -
ten Stufe der Rechtsordnung und eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die
gewährleiste, dass die niederrangigen Staatsakte verfassungskonform
seien. Auf diese Weise erst würde das Verfassungsrecht zu einem jus co-
gens. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erschien ihm als «die Krönung der
Jus tiz organisation, ebenso wie die Verfassung die Krone des Rechts ge -
bäu des» sei.3
Das war 1928, das heisst zu einem Zeitpunkt, in dem das Fürsten -
tum Liechtenstein bereits drei Jahre über einen Staatsgerichtshof verfüg-
te, dessen Kompetenzfülle nicht nur damals – in einer quantitativ be-
scheidenen Vergleichsgruppe mit Österreich und der tschechoslowaki-
schen Republik –, sondern eigentlich bis zur Errichtung des deutschen
Bundesverfassungsgerichts 1951 konkurrenzlos war.4 Die wohl zentrale
Differenz zum österreichischen Verfassungsgerichtshof markierte schon
zur damaligen Zeit die umfassende Befugnis des Staatsgerichtshofs zum
Schutz der verfassungsmässigen Rechte (Art. 104 Abs. 1 1. Alt. LV).
Nicht zuletzt dieses «liechtensteinische Modell» der Verfassungs ge -
richts barkeit 5 ist tragender Grund für die vielfach vorgenommene Wer -
tung, die Vorschriften über die Einrichtung und den Status eines Staats -
139
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
2 Vgl. dazu Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders.,
Ver fassungsrechtliche Aufsätze, 2. Aufl. 1973, S. 63 ff.; dens., Der Hüter der
Verfassung, 1931 einerseits und Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?,
1931, andererseits.
3 Adolf Merkl, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 5 (1928), 97 (100, 102); zum Ganzen auch
Josef Isensee, Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Wieser/Stolz (Hrsg.), Ver -
fas sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Sym posion aus Anlass des 60. Geburtstages von Herrn Richard Novak, 2000, S. 15
(15 ff.).
4 Siehe dazu Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, LPS 20
(1994), S. 33 mit FN 74; vgl. ferner etwa Ludwig K. Adamovich, Verfassungs gerichts -
barkeit in Österreich, in: Wieser/Stolz (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsge -
richts barkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, aaO, S. 7 ff. (7): «Versetzen Sie sich
bitte mit mir in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts. Die Republik Österreich und die neu
geschaffene tschechoslowakische Republik haben sich neue Verfassungen gegeben; da
wie dort wurde ein Verfassungsgerichtshof geschaffen. Das kleine Fürstentum
Liechtenstein erhält mit seiner Verfassung von 1921 einen Staatsgerichtshof. Aber sonst
will sich die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Hans Kelsen leidenschaftlich ver-
tritt, und für die 1885 schon Georg Jellinek eingetreten war, nicht durchsetzen; im
Gegenteil, sie findet herbe Kritik, gerade im deutschsprachigen Raum».
5 So Gerard Batliner.
gerichtshofs im VII. Hauptstück der liechtensteinischen Verfassung von
1921 bildeten die «Krönung . . . der Verfassungsreform von 1921».6
Dieses «liechtensteinische Modell» der umfassenden Individual be -
schwer de gegen alle höchstinstanzlichen Entscheide als wesentliche
Fort entwicklung des «österreichischen Systems» dürfte auch – wie
Gerard Batliner zutreffend und plastisch formuliert hat – «für den hoch
angesehenen österreichischen Juristen und damaligen Präsidenten des
liech tensteinischen Obersten Gerichtshofes, Franz Gschnitzer, unge-
wohnt gewesen sein, als 1961 ein unter seiner Präsidentschaft ergangenes
Urteil vom Staatsgerichtshof wegen Verletzung des Gleichheitssatzes
auf gehoben wurde».7
Im Fürstentum Liechtenstein war damit früher als anderswo die
Ver fassungsbeschwerde als zentrales Element des «Verfassungsinte gri -
täts schutzes»8 institutionalisiert. Auch wenn sich die Grundrechts judi -
ka tur des Staatsgerichtshofs zunächst nur zaghaft entwickelte und
eigentlich erst seit den 80er Jahren an klareren Konturen gewann,9 prägt
die Verfassungsbeschwerde doch von Beginn an das Selbstverständnis
des Staatsgerichtshofs als «Hüter der Verfassung».10
Durch einen erneuten kräftigen Schub in den letzten Jahren hat sich
die Grundrechtsrechtsprechung des Staatsgerichtshofs reichhaltig entfal-
tet. Dies gilt sowohl für die materielle Grundrechtsdogmatik, der das
Verfassungsgericht im Blick auf die sachlichen Gewährleistungsbereiche
der verfassungsmässigen Rechte, die personelle Geltungs- und Bin -
dungs kraft der Grundrechte und die Grundrechtsfunktionen wichtige
Impulse gegeben hat wie auch für das (verfassungsbeschwerdespezifi-
140
Wolfram Höfling
6 So etwa Josef Kühne, Der Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein – Funktion
und Kompetenzen, EuGRZ 1988, 230 ff. (230); ferner etwa Arno Waschkuhn,
Justizrechtsordnung in Liechtenstein, LJZ 1991, 38 (41).
7 So Gerard Batliner, Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Men -
schen rechtskonvention, LPS 14 (1990), 91 (113) unter Hinweis auf StGH 1961/1 vom
12.6.1961 (unveröffentlicht) als ersten Anwendungsfall der Aufhebung eines OGH-
Urteils.
8 Begriff bei Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungs -
gerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. 2, 1987, § 56 Rdnr. 142 (S. 828).
9 Vgl. dazu Wolfram Höfling, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Fürstentum
Liechtenstein, LJZ 1995, 103ff.
10 Der Begriff «Hüter der Verfassung» findet sich in StGH 1982/65/V – Urteil vom
15. Sep tember 1983, LES 1984, 3 ff. (3).
sche) Verfassungsprozessrecht.11 Diese Entwicklung erfolgte in nahelie-
gender Parallelisierung: Je ausdifferenzierter die materielle Grundrechts -
judi katur wurde, als um so wichtiger erwies sich auch eine verfassungs-
prozessuale Vertiefung und Verfeinerung der Rechtsprechung.12 Die
Berücksichtigung von Grundsatzbedeutung und/oder Folgewirkungen
einzelner Judikate,13 die Entscheidungsvariante des «Appell»-Urteils
trotz fehlender gesetzlicher Ermächtigungen hierzu,14 die Tendenz, die
«inhaltliche Substanz der Verfassung»15 auch in Form positiver Vor -
gaben für den Gesetzgeber zur Geltung zu bringen16 – all dies steht für
ein Selbstverständnis des Staatsgerichtshofs von Status und Funktion,
das – zunehmend selbstbewusst – die Verfassung als Grundordnung von
Staat und Gesellschaft17 in das Zentrum rückt. Indem der Staats ge richts -
hof für sich eine «verfassungsrechtliche Leitfunktion»18 reklamiert, wird
die Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein – ähnlich
wie in der Bundesrepublik Deutschland – deutlich vom Vorrang der Ver -
fas sung her organisiert und mit Leben erfüllt.19
II. Zur Plurifunktionalität der Verfassungsbeschwerde
Dabei wird (zunehmend) auch die Verfassungsbeschwerde zu einem
multifunktionellen, über den individuellen Rechtsschutz hinausweisen-
141
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
11 Andere Wertung bei Herbert Wille, Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht
auf der Grundlage der Rechtsprechung des StGH, 1999, S. 119: prozessuale Fragen
würden «kaum diskutiert und begutachtet».
12 Beispielhaft StGH 1997/40 – Urteil vom 2.8.1998, LES 1999, 87 (88 f.) mit eingehenden
Überlegungen zur «Legitimations?» der Beschwer bei Verfassungsbeschwerde -
verfahren.
13 Siehe etwa StGH 1994/19 – Urteil vom 11.12.1995, LES 1997, 73 (76).
14 Siehe etwa aus neuerer Zeit StGH 1995/20 – Urteil vom 24.5.1996, LES 1997, 30 (38 f.).
15 Formulierung bei Alexander von Brünneck, Verfassungsgerichtsbakeit in den west -
lichen Demokratien, 1992, S. 163 f.
16 So Herbert Wille, Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht auf der Grund -
lage der Rechtsprechung des StGH, 1999, S. 65, der die vorstehend zitierte Formu lie -
rung von v. Brünneck aufgreift.
17 Hierzu eindringlich Konrad Hesse, Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
20. Aufl., S. 3 ff.
18 So ausdrücklich in StGH 1997/40 – Urteil vom 2.4.1998, LES 1999, 87 (89), unter Be -
zug nahme auf StGH 1995/20, LES 1997, 30 (38).
19 Siehe auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen,
Organisation, Legitimation, NJW 1999, 9 (14).
den Institut.20 Bevor dies näher skizziert wird, erscheint ein kurzer Blick
auf die Funktionen der Verfassungsbeschwerde in grundsätzlicher
Perspektive sinnvoll.
1. Ausgangspunkt: Die Verfassungsbeschwerde als spezifischer Rechts -
behelf des Individuums
Mit der Beschwerde gemäss Art. 104 Abs. 1 Alt. 1 LV zum Schutze der
verfassungsmässig gewährleisteten Rechte der Bürger21 – vom Staats ge -
richtshof immer wieder auch als «Verfassungsbeschwerde» gekennzeich-
net – 22 macht der Bürger (Abwehr-) Rechte besonderer Art geltend: sei-
ne Grundrechte nämlich. Grundrechte unterscheiden sich von der gros-
sen Vielzahl sonstiger Rechte insbesondere dadurch, dass sie Integrität,
Autonomie und Kommunikation des einzelnen in ihren grundlegenden
Beziehungen schützen. Gerade wegen dieser fundamentalen Bedeutung
werden sie aus der Menge der Rechte hervorgehoben und verfassungs-
rechtlich mit erhöhten Garantien gegenüber der öffentlichen Gewalt, na-
mentlich auch mit Bindungswirkung für den Gesetz geber ausgestattet.23
Zu ihrem besonderen Schutz existiert als besonderer Rechtsbehelf die
Verfassungsbeschwerde. Insofern gibt es durchaus ein Entsprechungs -
ver hältnis zwischen dem prozessualen Institut der Verfassungs be -
schwerde einerseits und dem Verständnis der materiellen Grundrechte
als subjektiv-öffentliche Rechte par excellence24 andererseits.25 Dies gilt
auch für das Fürstentum Liechtenstein.
142
Wolfram Höfling
20 Zur Doppelfunktionalität der Verfassungsbeschwerde siehe auch schon den knappen
rechtsvergleichenden Befund bei Andrea Hans Schuler, Die Verfassungsbeschwerde
nach schweizerischem, deutschem und österreichischen Recht, JöR n.F. 19 (1970), 129
(134).
21 Vgl. auch Art. 11 Ziff. 1 StGHG.
22 Siehe z.B. StGH 1994/14 – Urteil vom 3.10.1994, LES 1995, 7 (8); StGH 1994/17 –
Urteil vom 22.6.1995, LES 1996, 6 (7); StGH 1994/19 – Urteil vom 11.12.1995, LES
1997, 73 (77).
23 Siehe hierzu nur Dieter Grimm, Abweichende Meinung, in: BVerfGE 80, 137 (164).
24 Dazu nur Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre,
1965, S. 176.
25 Hierzu auch Eckart Klein, Zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde, 1982,
797 ff. (797).
2. Zur Plurifunktionalität der Verfassungsbeschwerde: Grundsätzliche
Überlegungen
Doch in dieser «klassischen» subjektiven Zielrichtung erschöpft sich die
Verfassungsbeschwerde nicht. In der Judikatur des Staatsgerichtshofs
wird das im Ausgangspunkt individuelle Rechtsschutzinstrument immer
wieder um eine objektive Dimension ergänzt.26 Dies ist indes keine spe-
zifisch liechtensteinische Entwicklung, sondern gilt auch für die
Schweiz, in besonderem Masse für die Bundesrepublik Deutschland und
das Bundesverfassungsgericht – begrenzt auch für Österreich.27
Walter Kälin hat die Multifunktionalität der staatsrechtlichen Be -
schwerde zum Schweizerischen Bundesgericht eingehend dargelegt.
Analytisch unterscheidet er dabei mehrere Ebenen: So kann man einmal
auf die Wirkung von Entscheidungen in Verfassungs beschwerde ver fah -
ren abstellen. Diese können Rechtspositionen des einzelnen stärken oder
nicht stärken, demokratische Teilhabe fördern oder nicht fördern,
Gemeinwohlbelange absichern oder schwächen. Von den Effekten des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu unterscheiden sind sodann die
Ziele, die das Verfassungsgericht mit seinen Entscheidungen anstrebt.
Schliesslich können auch differente Argumentationsstrukturen unter-
schieden werden.28
Solchen Unterscheidungen kommt indes keine unmittelbar norma-
tive bzw. verfassungsprozessuale Bedeutung zu. Namentlich auf der
Wir kungsebene sind nämlich zahlreiche faktische Implikationen des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens denkbar, ohne dass ein entsprechen-
der Befund näheren Aufschluss über den verfassungsprozessualen oder
materiellrechtlichen Kontext liefert. Entsprechend vielgestaltig und zum
Teil vage sind auch die Beschreibungsversuche: von Aus-, Ein- oder Fol -
143
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
26 Dazu noch näher unten V.
27 Ganz grundsätzlich gilt nämlich für die österreichische Verfassungsgerichtsjudikatur,
daß sie sehr stark einzelfallbezogen ist. Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit
im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDSDRL 39 (1981), 7 (34), sieht gerade hierin einen
deutlichen Unterschied zwischen dem österreichischen Verfassungsgerichtshof und
dem deutschen Bundesverfassungsgericht, das bestrebt sei, Entscheidungen mit allge-
meiner Leitlinienfunktion für das Rechtsleben anläßlich eines willkommenen Aus -
gangs falles zu treffen.
28 Siehe hierzu weiter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Funktionen
der staatsrechtlichen Beschwerde, 1987, S. 27 ff.
ge wirkungen ist die Rede, aber auch von Nach-, Fort- oder Vor wir kun -
gen. Hinzugefügt werden Attribute wie prophylaktisch, antizipatorisch,
ausstrahlend, reflektierend usw.29
3. Die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde: Präzisierungen
Eine solch allgemeine Umschreibung der nicht (nur) subjektiven
Funktion der Verfassungsbeschwerde bedarf deshalb der Präzisierung.
Terminologisch empfiehlt sich insoweit, von der objektiven Funktion
der Verfassungsbeschwerde zu sprechen, wenn jene Zielrichtung des
Rechtsbehelfs gemeint ist, die über den Schutz der Grundrechte in ihrer
subjektiv-rechtlichen Dimension30 hinausgeht. Mit dieser begrifflichen
Fest legung ist allerdings noch keine sachliche Konkretisierung verbun-
den, und auch die in der deutschsprachigen verfassungsprozessualen
Lite ratur (und Judikatur) vielfältig anzutreffenden Charakterisierungen
der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde führen hier nicht
immer weiter. So ist es ohne näheren rechtswissenschaftlichen Erkennt -
nis gewinn, dem «kasuistischen Kassationseffekt», der im Erfolgsfall mit
der subjektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde verbunden ist, ei-
nen «generellen Edukationseffekt» entgegenzusetzen.31 Eine derartige
Wir kung auf das allgemeine Verhalten der Träger öffentlicher Gewalt
dem Bürger gegenüber ist grundsätzlich mit jeder gerichtlichen
Entscheidung, zumindest jeder obergerichtlichen Entscheidung, wenn
möglicherweise auch in geringerem Masse als beim Verfassungsgericht
verbunden.32
Auch der Hinweis darauf, die Entscheidung über eine Beschwerde,
mit der die Verletzung eines verfassungsmässig garantierten, subjektiven
Rechts gerügt wird, diene zugleich der Klärung der objektiven Rechts -
lage, führt nicht viel weiter. Grundrechte sind als Bestimmungen des
Ver fassungsrechts Rechtsnormen und erheben als solche Anspruch auf
144
Wolfram Höfling
29 Dazu siehe etwa Eberhard Luitjohann, Nicht-normative Wirkungen des Bundesverfas -
sungs gerichts, 1991, S. 4 ff.
30 Zur Unterscheidung der Grundrechtsdimensionen s. etwa Höfling, Die liechtensteini-
sche Grundrechtsordnung, a.a.O., S. 47 ff.
31 Siehe dazu schon Konrad Zweigert, Die Verfassungsbeschwerde, JZ 1952, 321 ff.; diese
Formu lierungen aufgreifend BVerfGE 33, 247 (258 f.); 51, 130 (139).
32 Siehe auch Klein, DÖV 1982, 797 (798).
Beachtung durch ihre Bindungsadressaten. Wie bei allen anderen sub-
jektiven Rechten auch ergeben sich die subjektiven Grundrechts berech -
ti gungen notwendig aus objektiven normativen Anordnungen, den
Grundrechtsnormen eben.33 Insofern findet bei jeder Entscheidung über
eine Verfassungsbeschwerde auch eine Klärung der objektiven Rechts -
lage statt.34 Doch ist diese keine Besonderheit der Verfassungs gerichts -
barkeit und des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, sondern gilt auch für
alle anderen gerichtlichen Verfahren.35 Will man dem Terminus «objek-
tive Funktion der Verfassungsbeschwerde» aber einen spezifisch verfas-
sungsprozessualen Gehalt beimessen, so muss er mehr bezeichnen als
den soeben skizzierten Umstand. Insofern erscheint es sinnvoll, diesen
überschiessenden Aspekt an jenen (intendierten) Wirkungen festzuma-
chen, die mit der subjektiv-individuellen Rechtsschutzfunktion der Ver -
fas sungs beschwerde (tendenziell) konfligieren.36 Solche Interessen kon -
flikte sind namentlich in drei Konstellationen möglich:
1) Zum einen kann das Interesse eines Verfassungs be schwer de -
führers auf Zugang zu einer Sachentscheidung auf eine Frage konzen-
triert sein, an der ein objektives Interesse der Allgemeinheit nicht besteht
oder ein solches nur gering ist.
2) Der Beschwerdeführer kann ferner eine Überprüfung nach be-
stimmten – entweder weiter oder enger gefassten – Prüfungsmassstäben
wünschen, deren Zugrundelegung aber nach objektiven Gesichts punk -
ten nicht geboten erscheint.
3) Schliesslich können Konflikte auch im Blick auf die Zeit dimen -
sion auftreten: Der Beschwerdeführer hat kein andauerndes Interesse
mehr an einer Sachentscheidung, die aber der Klärung einer aus objekti-
ver Sicht wesentlichen Frage dienen würde. Und umgekehrt: Aus der
Per spektive der Allgemeinheit besteht kein weiteres Interesse mehr an
145
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
33 Dazu etwa Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 1999, vor Art. 1
Rn. 27 f., 39.
34 Insoweit besteht, worauf Schuler, JöR n.F. 19 (1970), 129 (134) zu Recht hingewiesen
hat, eine notwendige Wechselbeziehung zwischen subjektiven und objektiven Funk -
tionen der Verfassungsbeschwerde: Je mehr die Beschwerdemöglichkeiten in personel-
ler oder gegenständlicher Hinsicht durch die Prozessordnungen begrenzt werden, um
so beschränkter fällt auch die prinzipielle Verfassungskontrolle aus.
35 Siehe auch Ernst Benda/Eckart Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 1991,
Rn. 333 f. (S. 141).
36 Von einer «Überlagerung» spricht Lang, DÖV 1999, 624 (629).
einer Klärung, die aber aus der individuellen Sicht des Beschwerde füh -
rers noch von Bedeutung ist.37
4. Verfahrensrechtliche Vorgaben?
Nun ist denkbar, dass der Gesetzgeber die aufgezeigten Konflikt kon stel -
la tionen in einer Verfassungsprozessordnung anspricht und nach be-
stimmten Präferenzregeln entscheidet. Er kann sich allerdings auch
deut lich und eindeutig zugunsten allein der – gleichsam systemimma-
nent vorhandenen – subjektiven Rechtsschutzfunktion der Verfassungs -
be schwerde aussprechen und damit die Möglichkeit der Berücksichti -
gung gegenläufiger objektiver Zielrichtungen durch das Verfassungs -
gericht verwehren. Dieser Frage ist im folgenden kurz nachzugehen.
III. Normative Anknüpfungspunkte im liechtensteinischen
Verfassungsprozessrecht?
Wendet man sich mit diesem Erkenntnisinteresse nunmehr dem liech-
tensteinischen Verfassungsprozessrecht zu, so ist der Befund spärlich bis
unergiebig. Ganz grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass das
Staats gerichtshofgesetz als die eigentliche Verfassungsprozessordnung
nur höchst lückenhaft und fragmentarisch konzipiert ist und sich in we-
sentlichen Teilen mit der blossen Verweisung auf das Gerichtsorganisa -
tions gesetz und das Landesverwaltungspflegegesetz38 begnügt, wobei
letzteres wiederum mit generellen Verweisen auf die ZPO durchsetzt
ist.39 Dieser Rechtszustand ist zu Recht als unbefriedigend bezeichnet,
eine Verbesserung des Zustandes bislang aber vergeblich angemahnt
worden. Dies gilt auch im Blick auf das noch nicht sanktionierte Staats -
ge richtshofsgesetz, das ebenfalls in Art. 39 einen dem bisherigen Recht
entsprechenden allgemeinen Verweis auf das LVG enthält.40
146
Wolfram Höfling
37 Vgl. hierzu auch Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 338 (S. 143).
38 Vgl. Art. 1 Abs. 4, Art. 17 StGHG.
39 Dazu s. auch Wille, Normenkontrolle, a.a.O., S. 117 ff.
40 Siehe dazu Wille, a.a.O., S. 120 f.
Indes beinhaltet das relative Schweigen des liechtensteinischen Ver -
fassungsprozessrechts gleichsam eine beredte Aussage zur vorstehend
skiz zierten ersten Konfliktkonstellation, in der es um im objektiven
Interesse der Allgemeinheit errichtete Zugangshürden zum Verfassungs -
ge richt geht. Dies ist eine gerade in der Bundesrepublik Deutschland
zentrale Problematik, wo es ein besonderes Annahmeverfahren für die
Verfassungsbeschwerde gibt. Nach § 93 a Abs. 1 BVerfGG bedarf die
Ver fassungsbeschwerde «der Annahme zur Entscheidung». Sie ist nach
Abs. 2 der Vorschrift anzunehmen,
– soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt,
– wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte angezeigt ist, was auch
der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung
der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil ent-
steht.41
Auch das österreichische Verfassungsrecht kennt mit Art. 144
Abs. 2 B-VG eine Regelung, die auf den ersten Blick auf eine (auch) ob-
jektiv-rechtliche Prägung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hinzu-
deuten scheint. Danach kann nämlich der Verfassungsgerichtshof die
Behandlung einer Beschwerde durch Beschluss ablehnen, wenn sie ent-
weder keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder aber von der
Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu
erwarten ist. Nach der letzteren Variante ist es an sich durchaus möglich,
dass die Beschwerde im Falle einer inhaltlichen Behandlung durch den
Verfassungsgerichtshof zwar zum Erfolg führen könnte, aber abgelehnt
wird, weil von ihrer Entscheidung keine Klärung einer verfassungsrecht -
lichen Frage zu erwarten ist. Allerdings ist zu bedenken, dass die Ab leh -
nungs tatbestände des Art. 144 Abs. 2 B-VG voraussetzen, dass eine Ab -
tretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof in Frage kommt.
Bei entsprechenden Ablehnungen handelt es sich deshalb durch weg um
147
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
41 Sehr kritisch zum Annahmeverfahren noch nach altem Recht Bernhard Schlink, Zu -
gangshürden im Verfassungsbeschwerdeverfahren, NJW 1984, 89 (92 f.). – Noch we-
sentlich einschneidender ist das sogenannte certiorari-Verfahren beim Supreme Court
der USA wo die Verfassungsbeschwerdeanträge von dem clerk des Gerichts in eine
«dead list» eingetragen werden. Die Liste wird sodann bei allen Richtern in Umlauf ge-
setzt. Nur wenn sich wenigstens vier der neun Richter für eine Annahme aussprechen,
wird das Verfahren aufgenommen. Die in der Liste verbleibenden Verfahren werden
ohne jede Begründung für erledigt erklärt; vgl. zur Darstellung des certiorari-
Verfahrens etwa Schmidt-Bleibtreu, in: BVerfGG-Kommentar, § 93 a Rn. 7.
Fälle, in denen die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleis te ter
Rechte jedenfalls auch eine Verletzung einfachgesetz licher Rechte zur
Folge hat. Dies trifft etwa zu, wenn das verfassungsgesetzlich ge währ -
leistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt
würde, wodurch auch eine einfachgesetzliche Rechts widrigkeit des an-
gefochtenen Verwaltungsaktes bewirkt wird. Der Sinn der Verfas sungs -
bestimmug, den Verfassungsgerichtshof zur Ablehnung in solchen Fäl -
len zu ermächtigen, ist darin zu sehen, dass nicht beide Gerichtshöfe des
öffentlichen Rechts ein im wesentlichen übereinstimmende Prüfung vor-
nehmen sollen, mit anderen Worten darin, dass die Prüfung solcher
Beschwerden beim Verwaltungsgerichtshof konzentriert wird.42
Das liechtensteinische Verfassungsprozessrecht kennt nun – muss
man sagen: noch? – 43 keine etwa der deutschen Konzeption, die ja aus
der notorischen Überlastung des Bundesverfassungsgerichts erklärbar
ist, vergleichbare Regelung. Im Gegenteil: Das einschlägige Verfassungs -
prozess recht auf Verfassungsebene, nämlich Art. 104 Abs. 1, 1. Alt. LV,
das die Verfassungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof zum Schutze der
verfassungsmässig gewährleisteten Rechte der Bürger garantiert, stellt
im Blick auf den Zugang zum Verfassungsgericht eindeutig auf die sub-
jektive Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde ab. Wie
selbst verständlich spricht Gerard Batliner deshalb auch von der «verfas-
sungsrechtlichen Individualbeschwerde».44
Im übrigen aber eröffnet die fragmentarische Normenkonzeption
des liechtensteinischen Verfassungsprozessrechts erhebliche Spielräume
für den Staatsgerichtshof, dessen Rechtsprechung damit jedenfalls parti-
ell inhaltliche Ausfüllung des Verfassungsprozessrechts45 bedeutet. Die
Art und Weise der verfassungsrichterlichen Reaktion auf die Lücken haf -
tig keit der normativen Ordnung hängt nun ab von dem Vorverständnis
des Gerichts von der Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit im grund -
148
Wolfram Höfling
42 Vgl. hierzu Rudolf Machacek, in: Machacek (Hrsg.), Verfahren vor dem VfGH und vor
dem VwGH, 3. Aufl. 1997, S. 73, mit Beispielen aus der Rechtsprechung S. 74 f.
43 Auch für den StGH könnte sich angesichts seiner Struktur und Arbeitsweise einerseits
und der offenkundig zunehmenden Zahl der Verfassungsbewschwerdeverfahren in
nicht allzu ferner Zukunft die Kapazitätsfrage stellen. – Vgl. aber die Formulierung in
LES 1998, 6 (11).
44 Siehe etwa Gerard Batliner, Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische
Menschenrechtskonvention, LPS 14 (1990), 91 (111 ff.).
45 So Wille, Normenkontrolle, S. 21 f.
sätzlichen und der Auffassung von der spezifischen Verfahrensart im
einzelnen.46
Das ist an dieser Stelle nicht näher auszuführen. Die vorliegende
kleine Skizze beschränkt sich vielmehr auf eine knappe Bestands auf -
nahme einschlägiger Judikate des Staatsgerichtshofs, in denen die objek-
tive Funktion der Verfassungsbeschwerde (implizit) zum Ausdruck bzw.
zum Tragen kommt. Zuvor aber erscheint es reizvoll, einen rechtsver-
gleichenden Blick auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfas -
sungs gerichts zu werfen, bei dem die Vorstellung von der Doppelfunk -
tiona lität des Verfassungsbeschwerdeverfahrens wohl – vergleicht man
die verfassungsgerichtliche Judikatur im deutschsprachigen Raum – am
stärksten ausgeprägt ist.
IV. Exkurs: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungs -
gerichts zur Doppelfunktionalität der Verfassungs -
beschwerde
Das deutsche Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Recht -
sprechung von einer Doppelfunktionalität der Verfassungsbeschwerde
aus. Explizit hat es dies in einer Entscheidung aus dem Jahre 1972 aus-
geführt: «Die Verfassungsbeschwerde hat eine doppelte Funktion. Sie ist
zunächst ein ausserordentlicher Rechtsbehelf, der dem Staatsbürger zur
Verteidigung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte einge-
räumt ist. Die Verfassungsbeschwerde erschöpft sich jedoch nicht im in-
dividuellen Grundrechtsschutz des Bürgers. Neben dem «kasuistischen
Kassationseffekt» hat sie einen «generellen Edukationseffekt».47 Darüber
hinaus hat sie die Funktion, das objektive Verfassungsrecht zu wahren
und seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen . . . Insoweit kann die
Verfassungsbeschwerde zugleich als spezifisches Rechtsschutzmittel des
objektiven Verfassungsrechts bezeichnet werden . . . ».48 Diese Grund -
149
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
46 Vgl. auch zu Österreich: Peter Pernthaler/Peter Pallwein-Prettner, Die Entscheidungs -
be gründung des österreichischen Verfassungsgerichthofes, in: Sprung (Hrsg.), Die Ent -
scheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor inter-
nationalen Gerichten, 1974, S. 199 (201).
47 Unter Hinweis auf Zweigert, JZ 1952, 321.
48 BVerfGE 33, 247 (248 f.).
auf fassung ist dann in der Folgezeit immer wieder bekräftigt worden.49
Dabei wird zwar betont, die Verfassungsbeschwerde sei nur gegeben,
wenn die als verletzt bezeichnete Norm des objektiven Verfassungs -
rechts zugleich ein subjektives Recht verbürge. Die Rüge, ein subjekti-
ves Verfassungsrecht sei verletzt, wird damit zur Voraussetzung jeder
Verfassungsbeschwerde.50 Doch sei beispielsweise bei der Bemessung
des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungs be -
schwerde verfahren über die notwendige Selbstbetroffenheit hinaus auch
die objektiv-rechtliche Funktion des Verfassungsbeschwerdeverfahrens
im Auge zu behalten. Sie verweise auf die Aufgabe des Bundesverfas -
sungs gerichts, «das objektive Verfassungsrecht zu wahren sowie seiner
Auslegung und Fortbildung zu dienen». Weise die objektive Seite des
Falles im Verhältnis zum subjektiven Interesse eigenständiges Gewicht
auf, führe dies regelmässig zu einer Erhöhung des Ausgangswertes, und
zwar – je nach Wichtigkeit – bis zu einer Vervielfachung. Dabei kommt
– so das Bundesverfassungsgericht – «einer über den Fall hinausreichen-
den, allgemeinen Bedeutung (z.B. für die Auslegung von Normen) grös-
seres Gewicht zu als einer sich nur auf Parallelsachverhalte erstrecken-
den (Musterverfahren). Je stärker die Flächenwirkung der angestrebten
Entscheidung ist und je grösser die Zahl der denkbaren Fälle ist, für die
sie relevant sein kann, desto höher wird ihr Wert zu veranschlagen
sein».51 Zur näheren Begründung stellt das Bundesverfassungsgericht
dabei auf «die Eigenarten des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens» ab,
die es deutlich vom fachgerichtlichen Rechtsschutz abhöben und ihren
Ausdruck im Status des Gerichts sowie in den Wirkungen seiner
Entscheidungen fänden. «Obwohl die Verfassungsbeschwerde dem indi-
viduellen Rechtsschutz dient und ein echter Rechtsbehelf ist, gehört sie
nicht zum Rechtsweg. Sie eröffnet eine eigenständige Kontrolle, die sich
auch auf die dritte Gewalt erstreckt. Obwohl es im formellen Sinne kei-
ne Verfahrensgegner wie im kontradiktorischen Verfahren vor den
Fachgerichten gibt, ist ‹eigentlicher› Passivbeteiligter immer der Staat,52
150
Wolfram Höfling
49 Siehe BVerfGE 45, 63 (74); 51, 130 (139); 79, 365 (367 ff.); 81, 278 (290); 85, 109 (113);
98, 218 (242 f.); vgl. auch Stern, Staatsrecht III/2, S. 1290 f.
50 Siehe auch BVerfGE 45, 63 (74).
51 BVerfGE 79, 365 (368 f.).
52 Hier ergeben sich durchaus Parallelen zur Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs, der
immer wieder im Verfassungsbeschwerdeverfahren vom Beschwerdegegner spricht; zur
der Bund oder das Land, dessen Behörden, Gerichte oder Gesetz ge -
bungs organe die angegriffene Massnahme oder Regelung zu verantwor-
ten haben. Jede dieser drei Gewalten wird der verfassungsgerichtlichen
Kontrolle unterworfen. Die über den jeweiligen Fall hinausgehende um-
fassende Bedeutung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes kommt
vor allem darin zum Ausdruck, dass die Entscheidungen des Bundes ver -
fas sungsgerichts nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für die Ver -
fas sungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Be -
hörden bindend sind (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Darüber hinaus entfalten
sie nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft, wenn das Bundesverfas -
sungs gericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unver-
einbar oder für nichtig erklärt.» Nach Auffassung des Bundesverfas -
sungs gerichts geht diese weitreichende, «von den subjektiven Interessen
der Verfahrensbeteiligten unabhängige(n) objektive Bedeutung des ver-
fassungsgerichtlichen Verfahrens» über die übliche Rechtsschutz funk -
tion der dritten Gewalt deutlich hinaus.53
Changierend ist in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts
allerdings die Bestimmung des Verhältnisses von subjektiver Rechts -
schutz funktion und objektiver Verfassungssicherungsfunktion. Dies wird
besonders deutlich in jenen Entscheidungen, in denen der Be schwer de -
führer seinen Antrag zurückgenommen hatte. In solchen Kon stel lationen
betont das Gericht zum Teil die subjektive Funktion,54 zum anderen aber
wird die Dispositionsbefugnis des Beschwerdeführers wieder zugunsten
der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde eingeschränkt.55
Hieran wird deutlich, dass dem Begriff der objektiven Funktion der
Verfassungsbeschwerde bzw. der Doppelfunktionalität des Verfassungs -
be schwerde verfahrens ein gewisses Mass an Flexibilität innewohnt.56
Mit den entsprechenden Formeln steht dem Verfassungsgericht damit
ein ganz wesentliches Steuerungsinstrument zur Verfügung.57
151
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
kontradiktorischen Ausgestaltung sowohl des abstrakten Normenkontrollverfahrens als
auch des Verfassungsbeschwerdeverfahrens s.a. Wille, Normenkontrolle, S. 125, 128 f.
53 BVerfGE 79, 365 (367 f.).
54 So in BVerfGE 82, 109 (113).
55 So besonders deutlich in BVerfGE 98, 218 (242 f.); hierzu siehe vor allem Heinrich
Lang, Wo kein Kläger, da acht Richter – Zur Entscheidungsbefugnis des Bundes verfas -
sungs gerichts nach Antragsrücknahme, DÖV 1999, 624 ff.
56 Siehe auch Klein, DÖV 1982, 797 (801).
57 Siehe auch Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, a.a.O., Rn. 339 (S. 143 f.).
V. Zur Doppelfunktionalität des Verfassungsbeschwerde ver -
fahrens in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs
Mustert man nunmehr die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs im
Blick auf mögliche Anhaltspunkte für eine doppelfunktionelle Ausge -
stal tung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens durch, so findet sich
doch eine stattliche Anzahl von Entscheidungen, in denen das Gericht
das im Ausgangspunkt subjektive Rechtsschutzinstrument gewissen
«Objektivierungstechniken»58 unterworfen hat.
Obwohl der Staatsgerichtshof gelegentlich seine «grundsätzlich
strikte Antragsbindung»59 hervorhebt und insoweit eine gewisse Paral -
leli tät zur Entscheidungspraxis des österreichischen Verfassungsge richts -
hofs60 und dem schweizerischen Bundesgericht61 und der dort geltenden
Dispositionsmaxime hier erstellt, finden sich nicht selten Judi kate, in
denen der Staatsgerichtshof in seinen Entscheidungsgründen – zum Teil
weit – über den Einzelfall und den konkreten Antrags gegenstand bzw.
Beschwerdegrund hinausgreift:
Eine Variante besteht darin, nach Feststellung der Begründetheit
der Verfassungsbeschwerde noch über den Einzelfall hinausweisende
Über legungen (grundsätzlicher Art) anzustellen und dabei gegebenen-
falls auch Ratschläge an den Gesetzgeber zu formulieren. Ein Beispiel
hierfür62 ist die Entscheidung zur baugesetzlich vorgeschriebenen passi-
ven Nutzung der Sonnenenergie zur Beheizung und Belüftung neuer
privater Hallenbäder vom 24. April 1996.63 Nachdem der Staatsge richts -
hof die Verfassungsbeschwerde als begründet bezeichnet hat, sieht er
sich veranlasst, grundsätzliche Ausführungen zur «Institution des
Privateigentums» zu machen. In diesem Zusammenhang «warnt» er den
Gesetzgeber auch vor einer etwaigen Neuregelung, in der ein explizites
152
Wolfram Höfling
58 Begriff bei Peter Häberle, Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht,
JZ 1976, 377 (381).
59 So StGH 1995/25 – Urteil vom 23.11.1998, LES 1999, 141 (147).
60 Siehe dazu etwa Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Stark/
Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Bd. 1, 1986, S. 149 (158 f.);
fer ner Machacek, Verfahren vor dem VfGH und vor dem VwGH, a.a.O., S. 64.
61 Siehe hierzu etwa Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl.,
Rn. 1741 ff.; auch Walter Haller, Das schweizerische Bundesgericht als Verfassungs -
gericht, in: Stark/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, a.a.O., S. 179 (207).
62 Siehe ferner etwa StGH 1997/3 – Urteil vom 5.9.1997, LES 2000, 57 (62).
63 Siehe StGH 1996/29 – Urteil vom 24.4.1996, LES 1998, 13 ff.
Verbot des Baus neuer Hallenbäder enthalten wäre. Er habe zu beden-
ken, dass die das Eigentum einschränkenden Massnahmen nicht unver-
hältnismässig sein dürften. Unter Einbeziehung auch des Gleichheits -
satzes diskutiert er sodann mögliche Kompensationsregelungen und
Ansätze für eine differenzierende Regelung, die der Eigentumsgarantie
Rechnung tragen könnten.64
Vergleichbar verläuft der Argumentationsduktus im Urteil des
Staats gerichtshofs vom 16.12.1993 betreffend das Rechtshilfegesetz und
seine Beziehung zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen.65 Auch
hier sieht sich der Staatsgerichtshof nach Feststellung der Verfassungs -
widrig keit des angefochtenen Beschlusses des OGH veranlasst, den
«Fall wegen seiner grundlegenden Bedeutung und Folgewirkungen um-
fassend zu beurteilen».66 Dies geschieht, obwohl der Staatsgerichtshof
im Ergeb nis von einer amtswegigen Prüfung einer Verfassungs- bzw.
Kon ven tions widrigkeit der anzuwendenden Bestimmungen des RHG
Abstand nimmt. Dennoch «fand es (der Staatsgerichtshof) notwendig,
dem Interesse einer Klärung der mit der Anwendung des RHG aufge-
tretenen Rechtsunsicherheit im Rechtshilfeverfahren . . . seine Rechts an -
sicht . . . darzulegen».67
In einem anderen Fall vermerkt das Gericht zum Ende seiner
Ent schei dungsgründe zunächst zwar, auf weitere Grundrechtsrügen
brauche nicht mehr eingegangen zu werden, aber «immerhin sei ange-
merkt», dass im vorliegenden Fall von der Gemeindebehörde «zweifel-
los auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen» wor-
den sei.68
In der umgekehrten Variante gelangt der Staatsgerichtshof zwar zur
Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde, trifft indes weitere Fest -
stellungen grundsätzlicher Natur.69 Dies gilt etwa für eine Entscheidung
153
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
64 Siehe a.a.O. LES 1998, 13 (17).
65 Siehe StGH 1993/18 und 19 – Urteil vom 16.12.1993, LES 1994, 54 ff.
66 A.a.O., S. 57.
67 A.a.O., S. 59.
68 StGH 1997/8 – Urteil vom 4.9.1997, LES 1998, 253 (258). – Diese lapidare Feststellung,
die wohl durch den Sachvortrag des Beschwerdeführers veranlaßt war (s. a.a.O., S. 255)
läßt den prekären Grundrechtscharakter des Prinzips von Treu und Glauben unerör-
tert; dazu, auch mit Nachweisen aus der Judikatur des Staatsgerichtshofs und des
schweizerischen Bundesgerichts, Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung,
LPS 20 (1994), S. 225 ff.
69 Siehe auch Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, LPS 20 (1994), S. 36.
zur Problematik der Geschlechtergleichheit aus dem Jahre 1991,70 in der
sich das Gericht die Möglichkeit zu allgemeinen Ausführungen zudem
erst über den Weg einer äusserst grosszügigen Auslegung der Zulässig -
keits voraussetzungen einer rechtsgenüglichen Begründung der Verfas -
sungs beschwerde eröffnet.71
In diesem Zusammenhang ist ferner etwa die Entscheidung des
Staats gerichtshofs zum Strafregistergesetz und dessen Auslegung durch
den OGH zu verweisen.72 Auch hier hat die Verfassungsbeschwerde in
der Sache keinen Erfolg, was den Staatsgerichtshof indes nicht daran
hindert, allgemeine Überlegungen zu den Regelungen über beschränkte
Strafregistermitteilungen – auch rechtsvergleichend – anzustellen und
insbesondere die einschlägige Judikatur des OGH zu kritisieren. Diese
führe «zu einer bedenklichen Aushöhlung der Transparenz des Straf re -
gisters sowie zu einer unhaltbaren Benachteiligung von Straftätern, ge-
gen die eine relativ hohe unbedingte Geldstrafe verhängt wurde». Auch
könne entgegen der Auffassung des OGH «nicht ernstlich angenommen
werden», dass dessen Gesetzesinterpretation dem Willen des Gesetz -
gebers entspreche.73
Eine weitere Variante der «Objektivierungstechnik» im Verfas -
sungs beschwerdeverfahren betrifft die Konstellationen, in denen der
Staatsgerichtshof das Vorliegen einer Sachentscheidungsvoraussetzung
entweder im Wege grosszügiger Deutung bejaht74 oder gar auf das Vor -
lie gen eines bestimmten Zulässigkeitskriteriums verzichtet. Letzteres hat
der Staatsgerichtshof in einer neueren Entscheidung im Blick auf das
Erfordernis eines aktuellen Rechtsschutzinteresses getan.75 Zwar betont
das Gericht «das Erfordernis einer Beschwer bzw. eines aktuellen
Rechts schutzinteresses als Liquidationsvoraussetzung für die Ver fas -
sungs beschwerde».76 Andernfalls würde – bei objektiv fehlender Be -
schwerde – der Staatsgerichtshof in der aufgeworfenen Rechtsfra ge «fak-
154
Wolfram Höfling
70 StGH 1990/16 – Urteil vom 2.5.1991, LES 1991, 81 ff.
71 Siehe a.a.O., S. 82.
72 StGH 1996/46 – Urteil vom 5.9.1997, LES 1998, 191 ff.
73 A.a.O., S. 194 f. – Als weiteres Beispiel siehe, erneut das RHG betreffend, StGH 1995/8
– Urteil vom 24.April 1997, LES 1997, 197 (201 f.).
74 Siehe dazu StGH 1990/15 – Urteil vom 2.5.1991, LES 1991, 81 (82).
75 StGH 1997/40 – Urteil vom 2.4.1998, LES 1999, 87 ff.
76 A.a.O., S. 88.
tisch als Gutachterinstanz in Anspruch genommen».77 Auch für den Fall,
dass der dem Beschwerdeführer zugefügte Nachteil irreparabel sei, be-
stehe kein aktuelles Rechtsschutzinteresse mehr, und es fehle «in aller
Regel die Beschwerdelegitimation für eine Verfassungs be schwerde».78
Eine Ausnahme bestehe aber dann, wenn bei bestimmten Grundrechts -
ver letzungen eine Überprüfung durch das Verfassungs ge richt überhaupt
erst dann möglich sei, wenn das aktuelle Rechts schutz interesse schon
weggefallen sei. Das sei etwa denkbar im Zusammenhang mit der Ver -
wei gerung von Bewilligungen für Demonstrationen. «Indem hier eine
Ausnahme vom Erfordernis des aktuellen Rechtsschutz interesses ge-
macht wird, kann das Verfassungsgericht seine ‹verfassungsrechtliche
Leit funktion›79 auch in solchen Fallkonstellationen überhaupt wahrneh-
men. Insoweit besteht dann unabhängig vom weggefallenen Rechts -
schutz interesse des konkreten Beschwerdeführers ein öffentliches
Interesse an einer materiellen Prüfung der geltend gemachten Grund -
rechts verletzung».80 Mit dieser Formulierung hebt der Staatsgerichtshof
explizit die objektive Funktion des Verfassungsbeschwerdeverfahrens
hervor. Er weiss sich damit in Übereinstimmung mit einer entsprechen-
den Praxis des schweizerischen Bundesgerichts.81
Die vorstehend aufgeführten Beispiele zeigen deutlich, dass der
liech tensteinische Staatsgerichtshof durchaus von der Doppel funktiona -
li tät des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ausgeht. Zugleich aber wird
erkenn bar, dass das Gericht die objektive Funktion der Verfassungs be -
schwerde nicht zu Lasten der subjektiven Rechtsschutzfunktion über-
spielt – eine Konstellation, wie sie etwa das deutsche Bundesverfassungs -
gericht durchaus gelegentlich praktiziert.82
155
Die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzinstitut
77 A.a.O., S. 89, Bezugnahme auf Andreas Kley, Grundriß des liechtensteinischen
Verwaltungsrechts, 1998, S. 305 f.
78 A.a.O., S. 89, wiederum mit Bezugnahme auf Kley, a.a.O., der auf VBI 1994/1 LES
1994, 118 (119) verweist.
79 Unter Bezugnahme auf StGH 1995/20, LES 1997, 30 (38).
80 So StGH 1997/40 – Urteil vom 2.4.1998, LES 1999, 87 (89).
81 Siehe dazu die Nachweise bei Walter Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen
Beschwerde, 1994, S. 262 f.
82 Vgl.bereits oben.
VI. Schlussbemerkungen: Der liechtensteinische Staats ge -
richtshof «zwischen» dem deutschen Bundesverfas -
sungs gericht und dem schweizerischen Bundesgericht
Der liechtensteinische Staatsgerichtshof steht damit gleichsam «zwi-
schen» dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem schweizeri-
schen Bundesgericht. Das mag auch Ausdruck der grossen Kompetenz -
fülle sein, die den Staatsgerichtshof – ähnlich wie das deutsche Bundes -
ver fassungsgericht – im deutschsprachigen Verfassungsraum hervorhebt.
Hier manifestiert sich auch jene «verfassungsrechtliche Leitfunktion»,
die der Staatsgerichtshof selbstbewusst für sich reklamiert. Diese weist
im Verfassungsbeschwerdeverfahren über die subjektive Rechtsschutz -
funk tion des Instituts hinaus und findet gerade auch im Verhältnis zur
sogenannten Fachgerichtsbarkeit ihre Entsprechung in gewissen Objek -
ti vierungstendenzen,83 die den Staatsgerichtshof eben über eine blosse
Superberufungs-/Superrevisionsinstanz hinaushebt. Zu Recht betont
der Staatsgerichtshof immer wieder, er sei «gerade keine weitere Rechts-
und Tatsacheninstanz im Rahmen des jeweiligen vorangegangenen In -
stan zenzuges». Vielmehr sei das Verfassungsbeschwerdeverfahren ein
gegenüber den vorangegangenen Verwaltungs-, Zivil- oder Strafver fah -
ren «eigenständiges Verfahren».84
Und es bleibt zu hoffen, dass der liechtensteinische Staatsgerichts -
hof auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin kraftvoll
und unbeirrt85 seine Judikatur zum Wohle des Verfassungsstaates fort-
setzen wird.
156
Wolfram Höfling
83 Zu diesem Zusammenhang siehe auch Lang, DÖV 1999, 624 (628).
84 Paradigmatisch: StGH 1996/38 – Urteil vom 24.4.1997, LES 1998, 177 (180).
85 Vgl. auch jüngst die ernsten Überlegungen von Gerard Batliner, Der konditionierte
Verfassungsstaat, in diesem Band, S. 109 ff.
Abkürzungsverzeichnis
157
AVR Archiv des Völkerrechts
BBl Bundesblatt der Schwei ze -
rischen Eidgenossenschaft
BGE Entscheidungen des Schwei -
zerischen Bundesgerichts
BV Bundesverfassung der
Schwei zerischen Eidgenos -
senschaft
B-VG (Österreichisches) Bundes-
Verfassungsgesetz
BVerfGE Entscheidungen des
Deutschen Bundesver fas -
sungs gerichts
BVerfGG (Deutsches) Gesetz über das
Bundesverfassungsgericht
DÖV Die Öffentliche Verwaltung
DriZ Deutsche Richterzeitung
DVBl Deutsches Verwaltungsblatt
ELG Entscheidungen der Liech -
tensteinischen Gerichtshöfe
EMRK Europäische Konvention zum
Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten
EuGRZ Europäische Grundrechte
Zeitschrift
EWR Europäischer Wirtschafts -
raum
GOG Gerichtsorganisations-Gesetz
Jb Jahrbuch des Historischen
Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein
JöR n.F. Jahrbuch des öffentlichen
Rechts der Gegenwart
JZ (Deutsche) Juristenzeitung
LES Amtliche Liechtensteinische
Entscheidungssammlung
LG Landgericht
LAG Liechtensteinische Akade -
mische Gesellschaft
LGBl Landesgesetzblatt
LJZ Liechtensteinische Juristen-
Zeitung
LLA Liechtensteinisches Landes -
archiv
LNa Liechtensteiner Nachrichten
LPS Liechtenstein Politische
Schriften
LR Systematische Sammlung der
liechtensteinischen Rechts -
vor schriften
LV Verfassung des Fürstentums
Liechtenstein
LVG Gesetz über die allgemeine
Landesverwaltungspflege
NJW (Deutsche) Neue Juristische
Wochenschrift
NVwZ (Deutsche) Neue Zeitschrift
für Verwaltungsrecht
OG Obergericht
OGH Oberster Gerichtshof
ONa Oberrheinische Nachrichten
RHG Rechtshilfegesetz
StGH Staatsgerichtshof
STGHG Gesetz über den Staats -
gerichtshof
VBI Verwaltungsbeschwerde-
Instanz
VfGH (Österreichischer) Ver -
fassungsgerichtshof
VVDStRL Veröffentlichungen der
Vereinigung der Deutschen
Staatsrechtslehrer
VwGH (Österreichischer) Verwal -
tungs gerichtshof
ZSR Zeitschrift für Schweize ri -
sches Recht