J A H R B U C H
DES HISTORISCHEN V E R E I N S
FÜR DAS FÜRSTENTUM
L I E C H T E N S T E I N
B A N D 95
JAHRBUCH
DES HISTORISCHEN VEREINS
FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN
BAND 95
VADUZ, S E L B S T V E R L A G DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN, 1998
Zum Bild auf dem
Einband:
Anfangs Mai 1945 wird in
Schaanwald an der damals
grossdeutschen Grenze für
die französische Armee
die Situation markiert. Im
Bild vorne der liechtenstei-
nische Regierungsrat und
Landtagspräsident Anton
Frommelt mit schwarzem
Hut sowie Regierungsse-
kretär Ferdinand Nigg mit
breitem Hut. Etwas im
Hintergrund liechtenstei-
nische Polizisten mit
Karabinern sowie schwei-
zerische Grenzwächter
und Zivilisten.
Vorsatz:
Der Stacheldrahtverhau
zieht sich bei Kriegsende
von Schaanwald über die
Bahnlinie und quer durch
das Maurer Riet, entlang
der liechtensteinischen
Grenze. Blick gegen den
vorarlbergischen Weiler
Hub.
Auslieferung:
Historischer Verein für das
Fürstentum Liechtenstein,
Geschäftsstelle,
Postfach 626,
Messinastrasse 5
FL-9495 Triesen
Telefon 075/392 17 47
Telefax 075/392 19 61
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Spenden und Zahlungen:
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Redaktion:
Klaus Biedermann
Geschäftsführer des Histo-
rischen Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein
FL-9495 Triesen
Gestaltung und
Produktionsleitung:
Atelier Louis Jäger
Silvia Ruppen
FL-9490 Vaduz
Satz:
Gutenberg AG
FL-9494 Schaan
Lithos:
Fotolito Longo AG
1-39010 Frangart
Druck:
Hilty Buch- und
Offsetdruckerei Anstalt
FL-9494 Schaan
Buchbinder:
Buchbinderei Thöny
Inh. E. Lampert
FL-9490 Vaduz
Gedruckt auf
Hanno Art top silk,
chlorfrei, 135 g/m 2
Beide Fotos entstammen
der Bildsammlung aus
dem Liechtensteinischen
Landesarchiv:
Fürstentum Liechtenstein,
Kriegsereignisse an der
Grenze, Mai 1945.
Die Herausgabe dieses
Buches wurde grosszügig
gefördert durch finanzielle
Beiträge der Karl Mayer-
Stiftung und der Stiftung
Propter Homines.
© 1998 Historischer
Verein für das Fürstentum
Liechtenstein, Vaduz
Alle Rechte vorbehalten
Gedruckt in Liechtenstein
ISBN 3-906393-17-8
IV
Inhaltsverzeichnis
Der Weg der Liechtenstein-Galerie
von Wien nach Vaduz
Gustav Wilhelm (t)
«Am Rande der Brandung»
Kriegsende 1945 in Liechtenstein
Peter Geiger
Gottesfürchtige Rebellen aus Liechtenstein
Das bewegte Leben der Geschwister Nigg
in Triesen und in Afrika
Albert Eberle
Dr. med. Franz Xaver Gassner
1721/22 bis 1751
Rudolf Rheinberger
Ein Blick aus dem Fenster
Schloss Vaduz auf dem Porträt von
Franz Wilhelm I. von Hohenems-Vaduz
(1662)
Elisabeth Castellani Zahir
Die Mundart des Fürstentums Liechtenstein
Sprachformengebrauch, Lautwandel und
Lautvariation
Roman Banzer
Denkmalschutz in Liechtenstein:
Aus der Chronik des Jahres 1995
Hansjörg Frommelt
Rezensionen
Jahresbericht des Historischen Vereins
für das Fürstentum Liechtenstein 1995
Liechtensteinisches Landesmuseum 1995
Der letzte Flug der «Little Ambassador»
Stefan Näf
Der Historische Verein für
das Fürstentum Liechten-
stein verfolgt den Zweck,
die vaterländische Ge-
schichtskunde einschliess-
lich der Urgeschichte zu
fördern und die Erhaltung
der natürlichen und ge-
schichtlich gewordenen
liechtensteinischen Eigen-
art zu pflegen.
Art. 1 der Statuten des
Historischen Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein
Für den Inhalt der einzel-
nen Beiträge zeichnen die
Verfasserinnen und Verfas-
ser allein verantwortlich.
DER W E G DER
LIECHTENSTEIN-
GALERIE VON WIEN
N A C H VADUZ
GUSTAV WILHELM (t)
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Vorwort
ANTON WILHELM
Der Verfasser des folgenden Berichtes, mein Vater
Dr. Gustav Wilhelm, wurde am 17. Mai 1908 in
Wien geboren. Als Student war er an der Univer-
sität seiner Heimatstadt Wien seit 1926 inskribiert,
und zwar sowohl an der rechtswissenschaftlichen
Fakultät wie auch am kunstgeschichtlichen Institut.
Gustav Wilhelm beendete seine Studien 1933 mit
der Promotion zum Doktor der Rechte.
Sein Vater, Hofrat Dr. Franz Wilhelm, war Histo-
riker, Ministerialrat des Innenministeriums so-
wie Generalstaatsarchivar von Wien. Er betreute
damals sowohl die fürstlich-liechtensteinischen
Sammlungen als auch das Liechtensteinische
Hausarchiv. Auf Empfehlung seines Vaters trat Gu-
stav Wilhelm 1934 in die fürstlich-liechtensteini-
sche Verwaltung ein, wobei er der Abteilung für
Kunstsammlungen, Archiv- und Bibliothekswesen
zugeteilt wurde. Seit 1940 war Gustav Wilhelm Di-
rektor der fürstlichen Kunstsammlungen. Im Jahre
1945 übernahm er zusätzlich die Kabinettskanzlei
des Fürsten Franz Josef II. von Liechtenstein.
Im Alter von 65 Jahren beendete Gustav Wil-
helm 1973 seine Tätigkeit als Kabinettsdirektor;
sein Nachfolger in diesem Amt wurde (bis 1984)
Robert Allgäuer. Zwei Jahre später, 1975, übergab
Gustav Wilhelm auch seine Agenden als Galerie-
Direktor an seinen Nachfolger Dr. Reinhold Baum-
stark.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit fand Gustav
Wilhelm auch Zeit für wissenschaftliche Forschun-
gen und Publikationen im Bereich der Kunstge-
schichte und der Geschichte des Hauses Liechten-
stein. Sein sehnlichster Wunsch war es, sich ganz
der kunstgeschichtlichen Forschung widmen zu
können. Seine mit vielen verschiedenen Aufgaben
verbundene berufliche Tätigkeit gab ihm indessen
nur zeitweise dazu eine Möglichkeit. Nach der ge-
glückten Durchführung der Bergung der fürstlichen
Sammlungen während des Zweiten Weltkrieges
war es ihm ein besonderes Anliegen, mit Ausstel-
lungen in Luzern, Bregenz, Feldkirch und Vaduz
die Kunstwerke des Fürstenhauses der Öffentlich-
keit zu präsentieren.
Gustav Wilhelm verstarb am 8. Oktober 1995.
Der nachfolgende Bergungsbericht ist ein Aus-
zug aus einem handgeschriebenen Tagebuch. Das
Original ist derzeit nicht auffindbar. Die hier abge-
druckte Fassung fertigte mein Vater wenige Jahre
vor seinem Tod auf der Basis des inzwischen verlo-
ren gegangenen Manuskriptes an. Neu aufgefunde-
ne Manuskriptfragmente wurden von mir in den
Bericht wortgetreu integriert. Der Text wurde nöti-
genfalls durch erklärende Fussnoten ergänzt, an-
sonsten aber in der Originalfassung belassen. Für
die gute Zusammenarbeit bei der Aufbearbeitung
des Manuskriptes bedanke ich mich bei Klaus Bie-
dermann, Redaktor des Historischen Jahrbuchs.
3
Dr. Gustav Wilhelm, der
Verfasser des folgenden
Berichtes (um 1950)
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Aus dem Tagebuch
Als kostbares Behältnis für seine einzigartigen
Kunstsammlungen liess Fürst Johann Adam von
Liechtenstein1 um die Wende vom 17. zum 18. Jahr-
hundert durch die Architekten Domenico Martinei-
i i 2 und Gabriel de Gabrielis 3 nach den Plänen von
Enrico Zucalli einen prächtigen Palast in Wien
nahe der Minoritenkirche errichten.4 Dort blieben
die liechtensteinischen Kunstsammlungen rund
hundert Jahre lang. Zu Anfang des 19. Jahrhun-
derts überführte Fürst Johann I. von Liechtenstein
die Liechtenstein-Galerie in seinen Barockpalast 5
in der Wiener Vorstadt Rossau, die Galerie blieb
dort rund 130 Jahre. 6 Der schon im Wiener Stadt-
palais beobachtete Grundsatz des Gesamtkunst-
werkes wurde auch im Rossauer Palais weiter ge-
pflegt: Die Liechtenstein-Galerie wurde für die
Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie gehörte
jahrzehntelang zu einer der Hauptsehenswürdig-
keiten der Stadt Wien.
Bald nach dem Überfall der deutschen Truppen
auf Österreich und dem Anschluss Österreichs an
Deutschland bekam auch die Liechtenstein-Galerie
die neuen Machthaber zu spüren. Ohne irgendwie
an die Fürstliche Verwaltung herangetreten zu
sein, wurde einseitig von den deutschen Behörden
verfügt, dass die gesamte Galerie, wie sie derzeit in
dem Palais in der Rossau bestand, auf die «Reichs-
liste der unverzichtbaren Kunstgüter» zu setzen
sei, womit ein Ausfuhrverbot verbunden war. Die
juristischen Einwände der fürstlichen Verwaltung,
die vor allem darin bestanden, dass dieses Reichs-
gesetz auf das Privateigentum eines ausländischen
Staatsoberhauptes nicht anwendbar sei, wurden
ignoriert. Diese von den Nationalsozialisten erlas-
sene Verfügung sollte uns dann in den kommenden
Jahren noch sehr viele Sorgen bereiten.
Das grosse Malheur, das dann im nächsten Jahr
über die Galerie hereinbrach, war der Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges.7 Das, was man bisher als
die «Galerie Liechtenstein» bezeichnete, das Ge-
samtkunstwerk, das in der ganzen Welt als Kost-
barkeit bekannt war, musste aufgegeben werden,
und da das Deutsche Reich jede Ausfuhr auch nur
eines einzelnen Stückes verboten hatte, musste die-
ser ganze Konnex aufgelöst werden, jahrelang rei-
ste ich mit den Kostbarkeiten von Bergungsort zu
Bergungsort auf der Flucht herum, bis es doch
noch ganz wenige Minuten vor zwölf gelang, die
Bilder und Kunstwerke, teils illegal, nach Liechten-
stein zu bringen. 8
Die Strategie der Bergungsmassnahmen musste
sich stets der sich immer wandelnden Kriegslage
anpassen. Hätte man gleich anfangs des Krieges
nach Liechtenstein gehen können, wäre natürlich
alles viel einfacher gewesen. Das war uns aber ver-
boten. Und so musste ich jahrelang von einem
Schutzort zum anderen wandern, obwohl alle
Transporte infolge der Kriegswirtschaft immer
schwieriger wurden. In den ersten Kriegsjahren
war Niederösterreich und Mähren ja vor Bomben
sicher, da diese Länder ausserhalb der Reichweite
feindlicher Flieger lagen. Doch wurde einerseits
diese Reichweite immer wieder durch technische
1) Vogt (1990). S. 47. Johann Adam I. von Liechtenstein ("1657;
+ 1712) war ein grosser Kunstliebhaber. Er kaufte die Werke von
Rubens und van Dyck für die fürst l ichen Sammlungen.
2) Domenico Martineiii: italienischer Architekt (*1650 in Lucca:
t l 7 1 8 ebenda).
3) Gabriel de Gabrielis: Architekt (* 1671 in Rovereto/Trentino:
t l 7 4 7 in Eichstät t /Bayern).
4) Castellani (1993), S. 73. Der im Bericht von Gustav Wilhelm
genannte Palast an der Bankgasse 9 in Wien - auch «Bankgassen-
palais» oder «Palais Liechtenstein» genannt - wurde in den Jahren
1690 bis 1705 errichtet.
5) Erbaut in den Jahren 1696 bis 1705 von Domenico Martinclli . -
Zur Baugeschichte siehe Wilhelm (1977). S. 84-87.
6) Vogt (1990), S. 63. Unter Fürst Johann 1. (*1760; +1836) wurde
1810 die Galerie im Palais in der Rossau untergebracht. Dort blieb
sie bis 1940 und war für das interessierte Publikum zugänglich.
Unter Fürst Johann I. wurde die Zahl der Gemälde beinahe verdop-
pelt: Umfasste die Galerie bei seinem Regierungsantritt 840 Bilder,
so vergrösser te sich der Bestand bis zu seinem Tod auf 1630 Bilder.
7) Wilhelm (1977), S. 165: «War der erste Weltkrieg ohne jeden
Einfluss auf die Liechtensteingalerie vorübergegangen, so zeigte sich
bald nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges, dass dieser für den
Bestand der Galerie von sehr weittragender Bedeutung sein sollte.. .»
8) Die Rettung der fürst l ichen Kunstsammlungen wurde eigens im
Rechenschaftsbericht 1944 e rwähnt : «Eine grosse Arbeit und viel
Mühe verursachte der Regierung die Bergung des fürst l ichen Kunst-
besitzes von Wien nach Liechtenstein» (Rechenschaftsbericht 1944,
S.44).
5
Der Rubenssaal (Decius-
Mus-Saal) im Palais Liech-
tenstein in der Rossau;
Aquarell von R. v. Sillfried
(1902)
Landkarte mit den wich-
tigsten Ortschaften, die im
Bericht von Gustav Wil-
helm genannt werden. Es
sind zum Teil Bergungs-
orte, aber auch andere Ort-
schaften, welche Wilhelm
im Zuge seiner Bergungs-
arbeiten passierte
6
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Neuerungen vergrössert, andererseits kam durch
die Landungen der Alliierten in Italien und Frank-
reich sowie durch das Anrücken der russischen Ar-
mee Österreich immer mehr in die Gefahrenzone.8
Die erste Bergungsmassnahme innerhalb der
Galerie, zu der uns der heraufkommende Zweite
Weltkrieg veranlasste, wurde anlässlich der Sude-
tenkrise9 im Jahre 1938 durchgeführt. Im Sommer
des Jahres, als die Deutschen immer stärkere Aspi-
rationen auf das Sudetenland geltend machten und
die Tschechen sich auf einen völlig ablehnenden
Standpunkt stellten, erreichten uns Nachrichten,
dass die Tschechen weittragende Geschütze bei
Pressburg 1 0 in Stellung gebracht hätten, um bei
einer offensiven Massnahme der Deutschen Wien
unter Feuer zu nehmen. Ich führte damals die Ber-
gung in der Weise durch, dass die wertvollsten Bil-
der, soweit es das Format zuliess, ausgerahmt im
Galerie-Keller deponiert wurden. (Damals lebte
noch der alte Galerieverweser Schild, der diese
Arbeiten gemeinsam mit Oberoffizial Karl Schmöl-
lerl durchführte. 1 1 ) Jedes Bild wurde in weiches
Molino eingewickelt und in die Regale, zwischen
Aktenfaszikel, die als Polsterung bei schweren Er-
schütterungen des Hauses gedacht waren, einge-
stellt. Ebenso wurden die Eisenkästen des Liech-
9) Bevorstehender Einmarsch deutscher Truppen ins Sudetenland
(das damals noch deutschsprachige Gebiet im heutigen Tschechien).
10) Die 60 km östlich von Wien gelegene Stadt Pressburg, heute
amtlich Bratislava, ist Hauptstadt der seit dem 1. Januar 1993 unab-
hängigen Slowakei. 1918-1939 sowie 1945-1992 gehörte Pressburg
zur Tschechoslowakei.
11) Sowohl Schild als auch Schmöllerl waren Angestellte der fürst-
lich-liechtensteinischen Gemäldegaler ie (mündl. Mitteilung Anton
Wilhelm).
IM T E X T GENANNTE
ORTSCHAFTEN
O Hauptstadt
• Landeshauptstadt
übrige Ortschaften
Burg, Schloss
Kloster
Staatsgrenze
heutiger Zustand )
100 200 Km
Brünn
.Sternberg o»-
i
Butscliowitz ,
I* Eisgrub # '
I-elrish'p're'-Ä'' F ld be g
//•'
Klosterneuburg Uj
% Pressburg r - i -Ki « X . W i e n Giesshubl O r ^ , ' ' ^
O °
Amstetten Mödling
J Gailling
Lunz O S e e b e n s t e i n , . .
Ĉ s, Semmering %
7
tenstein-Archives als Depots benützt, ebenso der
Keller bei der Bibliothek. Nach dem «Münchner
Frieden» im September 1938 1 2 wurde die Bergung
wieder aufgehoben, die Galerie eingeräumt und
wieder öffentlich zugänglich gemacht. Aus dem
Schloss Feldsberg 1 3 in Mähren hatten wir die Kup-
ferstichsammlung, die im zweiten Stock des Schlos-
ses untergebracht war, nach Sternberg 1 4 in Nord-
mähren geborgen. Der Transport wurde per Bahn
durchgeführt, im Schloss Sternberg hatte man
einen trockenen Keller für diesen Zweck adaptie-
ren lassen.
Die Polenkrise, der bevorstehende Überfall
Deutschlands auf Polen, der am 1. September 1939
zum Zweiten Weltkrieg führen sollte, hatte sich
während des Augusts sehr verschärft. Wenn auch
diesmal der Gefahrenherd von Wien weiter ent-
fernt war, trugen wir uns trotzdem im August 1939
mit neuen Bergungsplänen. Damals bestand die
Idee, die Burg Liechtenstein bei Mödling in Nie-
derösterreich als Bilderdepot auszubauen. Dieses
starke Bauwerk wäre mit grösseren Eingängen zu
versehen gewesen, Klimaanlagen wären errichtet
worden, die Fenster- und Türöffnungen sollten
splittersicher verbaut werden. Dieser Plan musste
fallen gelassen werden, als eine beim Denkmalamt
veranlasste Erkundigung ergab, dass das Heer in
der Nähe der Burg eine Fliegerabwehrstellung er-
bauen wolle. Während in der Galerie die Bilder be-
reits für einen Abtransport vorbereitet wurden,
dachte man dann daran, einen grossen und ge-
wölbten Parterreraum im Palais Aiserbachstrasse 1 5
als Bergungsraum in Verbindung mit den Räumen,
die im Galeriepalais zur Verfügung standen, zu ad-
Schloss Feldsberg (Mäh-
ren) war ein geeigneter
Bergungsort, jedoch wur-
den die Parterre-Räume
1940 vom Militär be-
schlagnahmt
Auch auf Schloss Stern-
berg (Mähren) war fürst-
liches Kunstgut gelagert,
das jedoch 1944 verloren
ging
Pläne zur Errichtung eines
Depots in der Veste Liech-
tenstein bei Mödling muss-
ten storniert werden
8
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
aptieren. Die Bilder der zweiten Garnitur wollte
man nach Wartenstein (eine dem Fürsten gehörige
Burg am Semmering in Niederösterreich) bringen.
Damals dachte man ja lediglich daran, die Bilder
gegen Bewurf des Gebäudes mit Brandbomben zu
schützen, wodurch der Dachstuhl und eventuell der
oberste Stock abbrennen können. Der Dachstuhl
war allerdings feuersicher gestrichen, doch war
man skeptisch, ob das gegen Brandbomben helfen
würde.
Mit Beginn September, als der Krieg ausbrach,
deponierten wir die wertvollsten Bilder im Archiv-
keller und in den Eisenkästen des Archives im Ga-
leriepalais im 9. Wiener Bezirk. Plastik und Kunst-
gewerbe wurden in jenen Kellern untergebracht,
welche wegen ihrer grösseren Feuchtigkeit für Bil-
der ungeeignet waren. Der Fürst war gegen eine
Verbringung der Sachen in die Provinz gewesen.
Noch vor Mitte September wurden in den Schlös-
sern Feldsberg und Eisgrub 1 6 die dort vorhandenen
Porzellane in den Kellern deponiert. Die Bilder dort
blieben vorderhand noch an Ort und Stelle.
Am 14. September war Besprechung bei Dr. Ma-
der, dem mir befreundeten Direktor der Wiener
Gobelinmanufaktur, dessen gute Beziehungen zu
den deutschen Parteistellen bekannt waren. Diese
Beziehungen resultierten aus seinem Betrieb, der
damals fast nur mehr für Staatsaufträge arbeitete.
Ich bat ihn, zu untersuchen, ob und auf welche
Weise es möglich wäre, die Fürstlichen Sammlun-
gen in unserem Fürstentum zu bergen. Die Frage
war delikat, weil das Haus Liechtenstein aus sehr
vielfältigen Gründen den deutschen Machthabern
verdächtig war und die Gefahr bestand, dass man
einen von uns gestellten Antrag für eine Bergung in
Liechtenstein als Ausdruck des Misstrauens in die
Kriegsführung des Deutschen Reiches ausgelegt
hätte. Mader sondierte damals an verschiedenen
Orten, hatte aber keinerlei Erfolg.
So war unter dem Eindruck des Kriegsausbru-
ches Mitte September 1939 die Galerie ausgeräumt
und in der Wiener Vorstadt [im Palais in der Ross-
au] feuer- und splittersicher deponiert worden. Im
Winter stellte sich dann heraus, dass die bezoge-
nen Kellerräume doch nicht das geeignete Klima
aufwiesen, das für die Bilder erforderlich ist. Man-
gels des notwendigen Heizmaterials konnten wir
auch die grossen Archivräume nicht heizen und so
war die Feuchtigkeit bis gegen 90 Prozent gestie-
gen. Da sich inzwischen die Kriegslage nach dem
Sieg in Polen beruhigt hatte, ausserdem die Deut-
sche Wehrmacht die Lage damals technisch in der
Hand hatte, hoben wir am 4. Jänner 1940 die ge-
samte Bergung auf und die Galerie wurde wieder
eingeräumt und der Öffentlichkeit wieder zugäng-
lich gemacht.
Der Sommer 1940 hatte bewiesen, dass die
Hoffnungen Hitlers, noch einen Frieden zu bekom-
men, unberechtigt waren, da die Alliierten nun
eine Zähigkeit und Entschlossenheit bewiesen, die,
einige Jahre früher gezeigt, uns und sie vor der
ganzen Katastrophe bewahrt hätte, der wir nun
entgegeneilten.
Ebenfalls noch im Sommer 1940 nahm ich mei-
ne Bergungsbemühungen wieder auf. Der Fürst
stand auf dem Standpunkt, es sei das Beste, das
Schloss Feldsberg als grosses Depot auszubauen.
Am 18. September 1940 hatte ich eine Bespre-
chung im Kunsthistorischen Museum mit dem
Ersten Direktor Dr. Fritz Dworschak 1 7 und dem
Kustos Dr. Ludwig von Baldass 1 8, die mir damals
12) «Münchner Fr ieden»: deutsch-britische Nichtangriffserklärung
zwischen Hitler und Lord Chamberlain in München am 29. Septem-
ber 1938. Demzufolge sollte die damalige Tschechoslowakei die
deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens , Mährens und Schlesiens
r ä u m e n und an Deutschland abtreten.
13) Heute amtlich: Valtice; vgl. auch Ortsnamenliste am Schluss.
14) Heute amtlich: Sternberk; vgl. auch Ortsnamenliste am Schluss.
15) Ein Palais des Fürsten von Liechtenstein, in der Nähe des
Galeriepalais gelegen.
16) Heute amtlich: Lednice: vgl. Ortsnamenliste am Schluss.
17) Haupt (1991), S. 125: Fritz Dworschak (*1890; +1974), Kustos
des Wiener Münzkabinet ts , wurde von den Nationalsozialisten als
Kommissarischer Leiter des Kunsthistorischen Museums in Wien
eingesetzt.
18) Zum Kunsthistoriker und spä te ren Direktor der Gemäldegalerie
des Kunsthistorischen Museums Wien. Univ. Prof. Ludwig Baldass
(*1887; +1963) siehe: Haupt (1991), S. 106.
9
nahelegten, mich den staatlichen Bergungsmas-
snahmen anzuschliessen. Es mag hier die Frage
auftauchen, wie weit dieses Angebot ehrlich ge-
meint war und wie weit etwa damals schon die Ab-
sicht mitspielte, sich auf billige Art und Weise des
ganzen Komplexes der Liechtenstein-Galerie sei-
tens des Deutschen Reiches zu versichern. Diese
letztere Absicht war in den Jahren des Krieges
ganz deutlich sichtbar aufgetaucht, ich war aber
überzeugt, dass das Angebot des Kunsthistorischen
Museums vom 18. September 1940 auf völlig loya-
ler und kollegialer Basis erfolgte.
Der Plan, Feldsberg als Depot auszubauen, wur-
de zunichte, als am 20. September 1940 alle Par-
terreräume des Schlosses vom deutschen Militär
beschlagnahmt wurden. Damit war das ganze
Schloss und dessen weitere Umgebung für Sicher-
heitsmassnahmen unbrauchbar geworden und der
Fürst teilte mir am 9. Oktober mit, dass er mit mei-
nem seinerzeitigen Vorschlag, Wartenstein in
Niederösterreich als Depot auszubauen, einver-
standen sei. So fuhr ich am 29. November dorthin,
wir untersuchten das Schloss und stellten fest, dass
Dr. Fritz Dworschak
(1890-1974)
Ludwig Baldass
(1887-1963)
die gut gewölbten und auch heizbaren Parterreräu-
me des rechten Schlosstraktes als Bilderdepots
brauchbar wären. Um das wichtige Inventar der
Schlösser Feldsberg und Eisgrub zu schützen, hatte
Architekt Förster 1 9 in Feldsberg unter der Schloss-
kirche bereits einen grossen Keller mit sicherer
Decke ausbauen lassen, ferner über dem Kupfer-
stichkabinett, das sich im zweiten Stock des Schlos-
ses befand, eine Eisenbetondecke einziehen lassen.
In Eisgrub wurde ein geräumiger Keller ausgebaut.
Der Transport der Wiener Bestände nach War-
tenstein unterblieb in der Folgezeit, da der Fürst
am 19. Dezember meinte, man solle die ganze Ber-
gung bis zum kommenden Frühjahr verschieben.
Auch Dr. Bruno Grimschitz 2 0, mit dem ich die ganze
Frage am 9. Jänner 1941 besprach, war dieser An-
sicht. Immerhin galt es, nun schon alles vorzube-
reiten, damit bei Eintritt einer wärmeren Jahres-
zeit gleich mit den Transporten begonnen werden
könnte. Zu diesem Zweck interessierten mich
natürlich die Bergungsmassnahmen der staat-
lichen Sammlungen, und ich erhielt durch das Ent-
gegenkommen von Dr. Fritz Dworschak, dem Di-
rektor dieser Sammlungen auch die Bewilligung,
die staatlichen Depots, die streng geheim verwaltet
wurden, zu besichtigen.
Am 29. Jänner fuhr ich mit Fritz Dworschak
nach Gaming in Niederösterreich, um das ehemali-
ge Kartäuserkloster, welches als grosses Depot aus-
gebaut worden war, 2 1 zu sehen. Die weiten Räume
des Klosters, Prälatur, Refektorium und die grosse
Kirche standen für die Bilder des Kunsthistori-
schen Museums zur Verfügung. 2 2 Es war eine Zen-
tralheizungsanlage eingebaut worden, ebenso Vor-
richtungen für die Luftbefeuchtung. Ein eigenes
Büro mit einem ständig dort wohnenden wissen-
schaftlichen Beamten (Dr. Karl Pollhammer 2 3) und
einer Kanzleikraft war im Kloster stationiert, und
eine bewaffnete Wache sorgte für die Sicherheit
(dies, weil man sich damals sehr vor Sabotageak-
ten fürchtete).
Am nächsten Tag fuhren wir weiter ybbsauf-
wärts über den Lunzer See hinaus und dann süd-
lich nach Steinbach, einem enteigneten Besitz des
Barons Rothschild, wo nicht nur dessen schöne Bil-
10
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
der aufgehoben waren, sondern auch die Schätze
der beiden Wiener Schatzkammern und anderes
Kunstgewerbe.
Bei dieser mehrtägigen Reise wurde eingehend
die Frage durchgesprochen, ob und wie weit wir
uns der Bergung in Gaming anschliessen sollten.
Dafür sprach die überaus günstige Lage des Ortes,
der gegenüber Wartenstein immerhin durch die
Nähe des Semmeringpasses vielleicht einmal ge-
fährdet sein konnte.
Am 4. Februar fand eine Besprechung zwischen
dem Fürsten, dem Kabinettssekretär Dr. Rupert
Ritter 2 4 und mir statt, welcher als Grundlage mein
Memorandum diente. Der Fürst erklärte damals, er
wolle tunlichst alle Sammlungen, das ganze Archiv
und die Bibliothek geborgen haben, wozu ich be-
merken musste, dass dafür Gaming in Niederöster-
reich viel zu klein wäre. In den zur Verfügung ge-
stellten Räumen in Gaming konnte man zur Not die
ganze Galerie bergen, aber nicht mehr. Abermals
drängte sich so die Frage auf, ob man die ganzen
Sammlungen nicht vielleicht doch nach Vaduz brin-
gen könne, weil nur damit eine wirkliche Sicherheit
für die Bestände gewährleistet sei. Dabei war man
sich darüber einig, dass wir selbst nicht darum an-
suchen konnten, ich sollte aber nochmals abklären,
ob eine Möglichkeit bestünde, dass die Reichsre-
gierung selbst uns diese Form der Bergung, bei
allen Garantien unsererseits für eine spätere Rück-
führung, nahe legen würde.
Über diese Frage sprach ich zwei Tage später
mit Dr. Dworschak vom Kunsthistorischen Museum
in Wien, der mir versicherte, dass eine Bergung in
Liechtenstein gänzlich ausgeschlossen sei, er mein-
te, es sei überhaupt nicht daran zu denken, dass
das Reich uns ein solches Unternehmen gestatten
würde. Auf Grund dieser Unterredung stimmte der
Fürst einer Bergung in Gaming zu.
21) Rotter (1992), S. 602-608. Die Kirche der Kartause Gaming war
nach der Aufhebung des Klosters 1782 säkular is ier t worden; 1929
wurde sie - inzwischen im Besitz des Klosters Melk - wieder als Kir -
che eingeweiht, doch nur für wenige Jahre; denn schon am 18. März
1938 hatten SA-Männer - wenige Tage nach der nationalsozialisti-
schen Machtergreifung in Österreich - einen Zettel an das Tor der
Kartause geheftet mit der Aufschrift: «Dieses Gebäude befindet sich
im Besitz der Hitlerjugend. Der J u g e n d f ü h r e r des Deutschen Reiches:
Baidur v. Schirach.» Folglich wurden in der NS-Zeit in der Kirche so-
wie im Refektorium der Kartause die Bestände des Kunsthistorischen
Museums Wien eingelagert und zu diesem Zweck sogar eine Klima-
anlage installiert. - Ähnlich bei Haupt (1992), S. 617: Die Klosterkir-
che Gaming wurde durch Einzug einer Zwischendecke geteilt sowie
mit einer Zentralheizung und einer Befeuchtungsanlage versehen.
22) Vgl . Haupt (1991), S. 159 - 164. Die Kartause Gaming (Deck-
name «Schloss») und das (weiter unten im Text genannte) ehemals
Rothschildsche Jagdschloss Steinbach bei Göstling (Deckname
«Jagd») waren die wichtigsten Bergungsorte bei Kriegsbeginn für
das Kunsthistorische Museum Wien.
23) Vgl . Haupt (1991). S. 148, 159 und 272 sowie Haupt (1992),
S. 622. Kar l Pollhammer (*1886; +1947), Leiter der Abteilung
«Schlossmuseen» des Kunsthistorischen Museums in Wien, war seit
1940 Bergungsleiter in der Kartause Gaming (Niederösterreich).
1945 wurde er wegen seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP vom
Dienst suspendiert, blieb aber bis zu seinem Tod 1947 in Gaming.
24) Der aus Mauren stammende Dr. iur. Rupert Ritter (*1900;
+ 1975) war von 1939 bis 1946 Sekre tär der Fürst l ichen Kabinetts-
kanzlei. Vgl . auch JBL 94 (1997), S. 204.
Die Kirche des ehemaligen
Kartäuserklosters Gaming
in Niederösterreich, 1940
bis 1945 Bergungsort für
grosse Teile der fürstlichen
Sammlungen
19) Bausachvers tändiger fü r die Fürst l ich-Liechtensteinischen
Schlösser in Tschechien.
20) Haupt (1991), S. 127 und 268: Univ. Prof. Dr. Bruno Grimschitz
(*1892; +1964) wurde 1939 Direktor der Österreichischen Galerie
im Schloss Belvedere in Wien.
11
Am 13. Februar 1941 machte ich einen letzten
Rundgang durch die Galerie. Wenn ich auch da-
mals die Bergung nur als eine vorübergehende
Massnahme ansah und nicht ahnte, dass es das
Ende der Galerie in ihrer so einmaligen und kom-
plexen Erscheinung bedeutete, so war mir doch gar
nicht wohl dabei zumute und ich war sehr depri-
miert. Ich ging zu dem Bild der «Himmelfahrt Ma-
riens» von Peter Paul Rubens, welches damals
noch in dem wunderschönen Raum der Galerie
hing, und bat die Muttergottes um ihre Unterstüt-
zung bei dem bevorstehenden Bildertransport.
Tags darauf kam der Spediteur und wir began-
nen mit dem Verpacken der Bilder für den Trans-
port nach Gaming. Soweit es die Formate der Bil-
der zuliessen, wurden die Rahmen mit Bauschen
versehen und die Bilder in Kisten verpackt. Alle
grösseren Formate erhielten nur Bauschen und
wurden frei in die Möbelwagen gepackt. Die Be-
schaffung von Treibstoff für die Autos war damals
schon schwierig. 2 5 Ich habe aber die Beförderung
in Möbelwagen jener per Bahn vorgezogen, weil
wir dadurch mehrfaches Umladen ersparten.
Der erste Transport umfasste 164 Bilder der so-
genannten ersten Garnitur, also das Wertvollste,
was wir in der Galerie hatten. Wir trafen am 25. Fe-
bruar in Gaming ein und lagerten in der Kirche
und in der Prälatur ein. Als Bewacher unserer Sei-
te blieb mein Mitarbeiter Rudolf Pössl in Gaming.
Wieder in Wien angekommen, brachten wir weite-
re Bilder im Stiegenraum des Archives unter, der
sehr splittersicher im Kern des Gebäudes lag. Vom
8. bis 10. März richtete ich in Gaming die Bilder auf
Stellagen ein, es stellte sich heraus, dass dort noch
mehr Platz wäre, als ich gedacht hatte, und wir be-
gannen am 19. März in Wien weitere Bilder zu ver-
packen, welche schon am 26. März in Gaming ein-
trafen. Es waren 232 Gemälde und die Tapisserien
der Decius-Mus-Serie.2 6 Ende März 1941 war die
Galerie völlig ausgeräumt, was nicht in Gaming
war, befand sich in ebenerdigen Räumen sowie in
den Kellerräumen des Galeriepalais.
Gemessen an der Kriegslage war diese Bergung
den Umständen entsprechend. Nach der Besiegung
Frankreichs am 21. April 1940 hatte relative Ruhe
geherrscht, bis Hitler Anfang August dieses Jahres
die Luftschlacht über England begann, die sich ge-
gen Anfang des Jahres 1941 immer ungünstiger
entwickelte. Die Flugzeugverluste, welche die Deut-
schen über England erlitten, waren nicht mehr gut
zu machen, und die Schwäche der deutschen Luft-
waffe, die wesentlich mitbeteiligt war an dem ver-
lorenen Krieg, datiert von damals her. Für uns war
massgebend, dass damals mit der Bombardierung
der Städte begonnen wurde und dass über kurz
oder lang die deutschen Städte die Vergeltung wür-
den zu spüren bekommen. Wohl war für Wien und
Umgebung die Gefahr noch nicht so gross, weil die
Anflugstrecken für den Feind noch zu gross waren.
Damals im März 1941 stand ja noch die Afrika-
front, der Blitzsieg gegen Jugoslawien in der ersten
Aprilhälfte 1941 schob die deutsche Front wieder
weiter weg von unserer Heimat. Denn nur unter
dem jeweiligen Stand der Kriegsführung sind die
Bergungsmassnahmen zu beurteilen.
Ende März 1941 überraschte Direktor Fritz
Dworschak (vom Kunsthistorischen Museum in
Wien) und mich die Nachricht, dass das deutsche
Militär das Kloster Gaming als Lazarett bean-
spruchte. Es gab viel Aufregung und Laufereien,
Gutachten und Vorsprachen, aber schliesslich ge-
lang es doch - wie es scheint, vor allem durch das
Eintreten von Reichsleiter von Schirach 2 7 - , diese
Gefahr abzuwenden. Alle paar Wochen fuhr ich
nach Gaming, um den Zustand der Bilder zu kon-
trollieren, denn die Kirche war doch etwas feucht,
und es bedurfte der ständigen Obsorge, um Scha-
den abzuwenden. 2 8 Da der hohe Kirchenraum von
uns nicht geheizt werden konnte, spannten wir im
Winter durch die ganze Kirche in zirka fünf Meter
Höhe ein Velum und erzielten so ein sehr gutes Kl i -
ma. Schwieriger war es, im Sommer die Feuchtig-
keit zu bekämpfen.
A m 22. Juni 1941 erfolgte der Überfall Hitlers
auf Russland, dem am 11. Dezember desselben
Jahres die Kriegserklärung an die USA folgte, und
das Unheil nahm seinen Lauf. Im September 1941
wurde das Schloss Liechtenstein bei Mödling in
Niederösterreich vom Militär als Lazarett beschlag-
nahmt. Um die recht schöne Biedermeier-Möblie-
12
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
rung des Schlosses zu retten, richtete ich im Parter-
re Räume ein, in welche das Inventar des Schlosses
verstaut würde, ebenso die Bilder und Archivalien.
Hätte man damals geahnt, wie die Russen in die-
25) Benzin war alles für mili tärische Zwecke beschlagnahmt wor-
den. (Mündliche Mitteilung von Anton Wilhelm.)
26) Angefertigt nach Entwürfen von Peter Paul Rubens. Die Entwür-
fe befinden sich ebenfalls in der Galerie der Fürsten von Liechten-
stein.
27) Haupt (1991), S. 273: Baidur v. Schirach (*1907; +1974), deut-
scher Reichsstatthalter in Wien.
28) Vgl. Haupt (1992), S. 618: Zwar kontrollierten Wissenschaftler u.
Restauratoren des Kunsthistorischen Museums Wien die klimati-
schen Bedingungen und den Zustand der geborgenen Kunstschätze,
doch war der Schutz für die Kunstwerke hier auch nur ein relativer.
So war im Februar 1941 infolge Überhi tzung eines Ofens in einem
Nebengebäude des Klosters, welches zum Teil auch als Wohnraum
genutzt wurde, Feuer ausgebrochen. Das dadurch auch in den
benachbarten Bergungsräumen bedrohte Kunstgut konnte aber
glücklicherweise gerettet werden.
Inneres der ehemaligen
Klosterkirche in Gaming.
Zur Lagerung der Kunst-
werke wurde im Kirchen-
raum ein Zwischenboden
eingezogen
Auch der Dachboden der
Kirche in Gaming diente
zur Bergung der Kunst-
schätze. Der gotische Ori-
ginalzustand des Kirchen-
gebäudes ist hier erhalten
geblieben
13
sem Schloss nach der Eroberung hausen würden,
hätte man sich viel Arbeit sparen können.
Bei der sich langsam verschärfenden Kriegslage
machten die grossformatigen Rubensbilder Sorge.
Ihr Ausmass, besonders jenes der Himmelfahrt
Mariens, war so bedeutend, dass es schwer war,
ein Depot zu finden, und ausserdem das Problem
des Transportes bestand. Es kamen derzeit nur
Feldsberg und Eisgrub in Betracht, welche Schlös-
ser so grosse Eingangstore und Räume hatten, dass
man mit diesen Formaten hineinkam. Da diese Bil-
der eine alte Doublierung hatten - die Decius-
Mus-Serie war schon retoiliert2 9, als sie Ende des
17. Jahrhunderts gekauft wurde - war an ein Auf-
rollen der Bilder nicht zu denken. Wir deponierten
die Bilder vorläufig im September im Archiv und
trachteten einen Kulissenwagen vom Wiener
Staatstheater zu bekommen für den Transport
nach Feldsberg. Da diese Wagen aber nur für den
Stadtverkehr gebaut waren, blieb nichts anderes
übrig, als einen grossen Lastwagen der Firma
Bäuml 3 0 zu beladen, und wir fuhren so am 27. Sep-
tember 1942 los. Zum Glück gab es auf der Strecke
nach Feldsberg keine Unterfahrungen. Die Ladung
war aber so hoch, dass wir auch bei Wind nicht
fahren konnten, da die Gefahr bestand, der Wagen
würde umgekippt. Sooft wir sahen, dass ein Wind-
stoss kam, suchten wir hinter Alleebäumen Schutz,
deren es zum Glück auf dieser Strecke viele gab.
Der Decius-Mus-Zyklus wurde in Feldsberg im so-
genannten privaten Kino des Schlosses, die Him-
melfahrt von Rubens und die Anbetung von Guido
Reni 3 1 im Schloss Eisgrub deponiert.
Am 17. August 1942 fand der erste grössere
Luftangriff amerikanischer Flieger auf deutsche
Städte statt, als Antwort auf die Bombardierungen
von England. Ich musste nun fürchten, alles, was
noch in Wien war, aufs Land zu bringen. Die noch
in Wien befindlichen Tapisserien wurden am 4. No-
vember 1942 nach Gaming geführt, und am 12.
November brachte man die in Wien deponierten
Bilder in zwei Möbelwagen nach Feldsberg. Eben-
so wurden damals Archivalien und Bücher dorthin
gebracht. Die Schwierigkeiten wurden immer grös-
ser, und es war schon nicht mehr möglich, für die
Bilder Stellagen zu machen; jede Kiste war ein Pro-
Der deutsche Reichsstatt-
halter in Wien verfügte im
November 1942 die Aus-
lagerung der fürstlichen
Gemäldegalerie
z u Z / G K 6 6 8 8 / b / 4 2 .
D e r R e l d i s p o t t h o l t e r in tOien
IDlen, L, Re l t f thu lga f f e 2
A n das
F ü r s t l i c h L i e c h t e n s t e i n ' s c h o K u n s t r e f e r a t
W i e n
K s w i r d b e s t ä t i g t , d a s s d i e F ü r s t l i c h L i e c h t e n s t e i n ' s e h e
G e n ä l d e g a l e r i e i m S i n n e e i n e r W e i s u n g des F ü h r e r s vom M a i 1 9 4 2 vom
H e i c h s s t a t t h a l t e r i n ? / i e n a u f g e f o r d e r t i s t , i h r e B e s t ä n d e a n a u s w ä r -
t i g e n B e r g u n g s o r t e n umgehend z u b e r g e n .
D i e v o n d e r V e r w a l t u n g d e r F ü r s t l i c h L i e c h t e n s t e i n ' s e h e n
G e m ä l d e g a l e r i e g e t r o f f e n e n Massnahmen e r f o l g e n s o m i t ü b e r s t a a t l i c h e
A u f f o r d e r u n g .
W i e n , am 3 o . H o v e m b e r 1 9 4 2
l a A u f t r a g :
Reg. i « r u n g s t a t
1 4
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
blem, Holzwolle und Packmaterial nur mit sehr
guten Beziehungen zu bekommen. Auch die Frage
nach Benzin wurde immer brennender, und
schliesslich musste man zu jeder Fahrt eine beson-
dere Reiseerlaubnis besorgen. Die immer unsiche-
rer werdende Lage Wiens und Österreichs durch
die laufenden Misserfolge des Krieges zwangen
dazu, den Umfang des zu bergenden Kunstgutes
immer mehr auszudehnen, und so fasste ich auch
das wertvollere Inventar der Wiener Palais ins
Auge. Damit war die Notwendigkeit verbunden,
neue Bergungsdepots aufzutreiben, als welche aus-
ser Gaming nur die Fürstlichen Schlösser zur Ver-
fügung standen.
Im Herbst 1942 begann die entscheidende Wen-
dung des Krieges. Die Katastrophe von Stalingrad
im September, der alliierte Sieg bei El Alamein in
Afrika, am 8. November die erste Landung der
Westmächte in Afrika, und am 19. desselben Mo-
nates begann die erste grosse russische Gegen-
offensive als Folge von Stalingrad. Der Krieg be-
gann nun näherzurücken, die alliierten Luftbasen
und die Bombardierungen deutscher Städte nah-
men immer grösseren Umfang an.
Ende 1942 hatte ich bereits fünf örtlich vonein-
ander getrennte Depots, nämlich Gaming, Felds-
berg, Eisgrub, das Galeriepalais in Wien und das
Schloss Liechtenstein bei Mödling. Am 1. November
führte ich wieder Bilder nach Eisgrub, am 12. No-
vember Urkunden nach Feldsberg. Besonders Eis-
grub hatte ja unglaublich viel Raum für diese
Zwecke, solange man nicht mit direktem Beschuss
des Schlosses rechnen musste.
Die Schwierigkeit in der Planung bestand
hauptsächlich darin, dass man damals noch nicht
wusste, von welcher Seite Deutschland erobert
werden würde, ob von Westen oder Osten. Auch
hoffte man noch immer, dass eine rechtzeitige
Kapitulation der Deutschen das Land selbst, so wie
im Ersten Weltkrieg, von Kriegshandlungen ver-
schonen würde. Ein weiterer grosser Transport,
der grosse Bilder, Möbel, Tapisserien, Handzeich-
nungen, Teile der Haussammlung und die Brixner
Globen 3 2 enthielt, ging am 6. Jänner 1943 nach
Eisgrub. Einige Besorgnisse bereitete damals die
Befürchtung, dass durch eine eventuelle Sprengung
der Frainer Talsperre das Schloss Eisgrub über-
schwemmt werden könnte (eine ähnliche Kata-
strophe hatte sich im Reich bereits ereignet). Be-
rechnungen, die der fürstliche Bausachverständige
Architekt Förster in Eisgrub anstellte, ergaben
aber, dass in einem solchen Fall die Taya maximal
einen Meter steigen würde, was das Schloss noch
in keiner Weise berühren würde. Ein grosser Teil
des Familienarchives wurde am 26. Juni in Eisgrub
eingelagert und am 19. Juni in Feldsberg, weitere
Transporte von Büchern gingen am 6. September
nach Eisgrub und am 30. Oktober nach Feldsberg.
Der zunehmende Bombenkrieg zwang in dieser
Zeit dazu, das bereits des Inventars entblösste
Stadtpalais [im 1. Wiener Stadtbezirk] nun auch
noch des plastischen Innenschmuckes zu berau-
ben. Diese schrittweise Abmontage der Paläste hat-
te etwas äusserst Deprimierendes, ganz abgesehen
von den grossen Mühen, die diese Arbeiten verur-
sachten. In der Bankgasse wurden die grossen
Sandsteinplastiken der Sala Terrena und des Stie-
genhauses abgenommen und im Keller deponiert,
ebenso die Puttengruppen von Giuliani 3 3 , in den
Sälen wurden die grossen Bronzeluster demontiert.
Hier sollte sich bald zeigen, wie wichtig diese Ar-
beiten waren. Im Galeriepalais wurden die Plasti-
ken der Sala Terrena in die Keller gebracht.
Mit dem Mangel an Bergungsraum hatten nicht
nur wir zu kämpfen. Im Herbst 1943 wandten sich
mehrere staatliche Stellen an mich mit der Anfra-
ge, ob ich ihre Bestände zur Bergung übernehmen
29) Auf eine neue Leinwand über t ragen .
30) Die Speditionsfirma E. Bäuml führ te auch Transporte für das
Kunsthistorische Museum Wien durch, so im Winter 1944/45 den
Transport von Kunstgegens tänden ins Bergwerk nach Lauffen im
Salzkammergut. - Vgl . Haupt (1991). S. 161.
31) Guido Reni: italienischer Maler (*1 575 in Calvenzano; t l 6 4 2 in
Bologna).
32) Bei den «Brixner Globen» handelt es sich um alte Weltkugeln aus
dem 16. und 17. Jahrhundert.
33) Giovanni Giuliani (*1663; t l 7 4 4 ) : venezianischer Bildhauer,
hauptsächlich in Wien tätig.
15
könnte. Wir stellten dem Heeresmuseum und dem
Kriegsmarinearchiv den Spanischen Stall in Felds-
berg sowie dem Finanzarchiv und Hofkammer-
archiv Räume in Eisgrub zur Verfügung.
Viel Sorge und Arbeit machten mir damals auch
die vielen Privaten, die aus irgendwelchen echten
oder ad hoc konstruierten Beziehungen zum Hause
Liechtenstein mich täglich bestürmten, ihr Eigen-
tum zu bergen, gar nicht zu sprechen von den vie-
len wirklich Verwandten und Bekannten des Für-
sten, die man nicht abweisen konnte. Dabei mach-
te die Platzfrage weniger Kopfzerbrechen als das
grosse Problem der Transportschwierigkeiten. Die-
se privaten «Berger» haben bei uns schliesslich
grosse Verluste erlitten, da zu der Zeit, als ich
Feldsberg und Eisgrub vor den anrückenden Rus-
sen räumte, diese Bestände dort bleiben mussten,
da ich keinerlei für andere Leute verfügbare Lade-
fläche hatte und die Besitzer selbst sich keine
Wagen beschaffen konnten. So wurden wertvolle
Bestände von den Russen zerstört, ich denke be-
sonders an die schöne Sammlung alter spanischer
Teppiche und Meissner Tierfiguren des Grafen
Wilczek, die in Feldsberg blieben, und eine Anzahl
Bilder.
Im Sinne weiterer Dezentralisierung wurden
Ende 1943 in Seebenstein (Niederösterreich) Ber-
gungsräume im Talschloss am Fusse der fürst-
lichen Hochburg 3 4 ausgebaut, die am 3. November
mit den Holzplastiken aus der Galerie, mit Archiva-
lien, Möbeln, Kunstgewerbe und Bildern beschickt
wurden. Kaum war das untergebracht, wollten
staatliche Stellen das Schloss beschlagnahmen,
und es brauchte alle möglichen Unternehmungen,
um das abzuhalten. Neben Seebenstein wurde im
Jagdschlösschen Thalhof 3 5 ein guter Keller einge-
richtet, der am 15. Jänner 1944 mit Tapisserien,
Büchern und Möbeln eingeräumt wurde.
Das Leben des Leiters der Kunstsammlungen
entbehrte zu dieser Zeit bereits jeder Sesshaftig-
keit. Die durch die Gefahr des Bombenkrieges not-
wendige weitgehende Dislocation der Kostbar-
keiten brachte die Notwendigkeit des ständigen
Herumreisens mit sich, und die wachsende Schwie-
rigkeit, taugliche Verkehrsmittel zu bekommen,
machte die einfachsten Ortsveränderungen zu
einem immer mehr Zeit raubenden Problem. Als
im Frühjahr 1944 der Plan auftauchte, das in Mit-
telmähren [Tschechien] gelegene Fürstliche Schloss
Butschowitz 3 5 als neuen Bergungsort zu adaptie-
ren, war die Idee zu Anfang bestechend. Lag doch
dieser herrliche Renaissancebau mitten in einer
rein landwirtschaftlich genutzten Ebene, die kein-
erlei Anreiz zu einer Bombardierung bot. Doch
musste auch dieser Plan bald wegen der ungünsti-
gen, nach Osten völlig offenen strategischen Lage
fallen gelassen werden. Ausserdem zeichnete sich
damals schon mehr die Tendenz ab, das ganze Ber-
gungsgut nach dem Westen zu verlagern. Inzwi-
schen wurde noch in der Burg Liechtenstein bei
Mödling in Niederösterreich ein Depot eingerichtet.
Dieser Bau hatte ungemein feste Räume im Unter-
geschoss, die aber, da die ganze Burg auf einem
hohen Felsenriff gebaut ist, trocken waren. Sie
verlockten geradezu zu einer Bergung. Ich habe in
diesen Räumen Fliegerangriffe erlebt mit Bom-
beneinschlägen in nächster Nähe, die zeigten, wie
ungemein fest dieser Bau ist. Dorthin brachten wir
im Laufe des Frühsommers 1944 Bücher und Ar-
chivalien, die dann leider zum Teil verloren gingen,
weil die Möglichkeit, das Depot zu evakuieren,
nicht mehr bestand.
Die Ausreisesperre, die die deutschen Behörden
- wie berichtet - nach dem Überfall auf Österreich
über die Liechtenstein-Galerie verhängten, war für
uns sicher ein schwerer Schlag. Die Fürstliche Ver-
waltung verhandelte diesbezüglich durch ihre An-
wälte längere Zeit mit den deutschen Behörden,
doch ohne jeden Erfolg. Wie schwer diese Behinde-
rung wirklich war, stellte sich dann bald nach dem
Kriegsbeginn heraus. Die einzig normale Art der
Bergung des Kunstgutes hätte ja darin bestanden,
dass der Fürst - ein ausländischer Souverän - den
Kunstbesitz in sein Land gebracht hätte, das neu-
tral war und mit dem Dritten Reich keinerlei Pro-
bleme hatte. Aber dies war uns eben unmöglich ge-
macht worden. Alle von uns nach Kriegsbeginn
eingeleiteten Versuche, in dieser Frage weiter zu
kommen, erwiesen sich schliesslich als Fehlschlä-
ge. Im Frühjahr 1939 konnte ich Verbindung auf-
16
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
nehmen mit dem Reichsleiter der Ostmark, wie
damals Österreich genannt wurde, Baidur von
Schirach. Überraschenderweise erwiesen sich die
Gespräche als sehr positiv, und Schirach, ein kultu-
rell sehr aufgeschlossener Mensch, meinte, es sei
doch das Natürlichste, wenn der Fürst für die
Dauer des Krieges seine Schätze in sein neutrales
Land verbringen würde.
Hier ist darauf hinzuweisen, dass damals bereits
im Reiche eine grosse Konkurrenz bestand zwi-
schen der Partei, deren Exponent Schirach war,
und dem Reichssicherheitsdienst (SD), welch letz-
tere Stelle wenige Tage nach der Zusage Schirachs
die Bewilligung zurückzog. Nun waren wir soweit
wie bisher. Meine befreundeten Kollegen aus dem
Kunsthistorischen Museum in Wien organisierten
eine Intervention direkt bei Hitler, die aber im San-
de verlief. Der Häuptling des Reichssicherheits-
dienstes für die Ostmark war während des Krieges
Dr. Dellbrügge. Er residierte damals in dem herrli-
chen Hildebrandtpalais auf dem Ballhausplatz in
Wien, in dem grossen Saal, der seinerzeit das Büro
" des Fürsten Metternich war. Ihn besuchte ich wie-
derholt dort, um von ihm doch noch die Ausfuhrbe-
willigung zu bekommen. Die ersten Male zeigte er
sich noch verbindlich und höflich, doch bei mei-
nem letzten Besuch war er schon recht ungehalten
und meinte, wenn ich ihn noch einmal in dieser Sa-
che aufsuchen würde, würde er veranlassen, dass
ich an die Ostfront einrückend gemacht werde. Ich
wusste, dass ich diesen Mann zum letzten Male ge-
sehen hatte, und empfahl mich. Damals war das
schöne Palais schon durch Bomben stark zerstört,
und ich musste mich immer wieder wundern, wie
die Bonzen [des deutschen Reiches], in lauter
Trümmern amtierend, noch immer versuchten,
eine Siegeszuversicht auszustrahlen, an die schon
niemand mehr dachte. Für die Einstellung dieser
Leute ist es interessant, dass eben dieser Reichs-
kommissar Dellbrügge nach dem Kriegsende aus
einem Gefangenenlager an den Fürsten einen Brief
schrieb, worin er bat, der Fürst solle sich doch für
seine Freilassung einsetzen, in Anbetracht der
Mühe, die er sich vor Kriegesende um die Rettung
der Galerie erworben habe.
Am 6. Mai 1.943 hatte die letzte deutsche Armee
in Afrika kapituliert, am 10. Juli landeten die West-
mächte in Sizilien und lösten am 25. Juli den politi-
schen Umsturz in Italien aus. Die feindlichen Luft-
basen rückten immer näher, und es begannen im
November die grossen Luftangriffe auf die Reichs-
hauptstadt. Nun war jene Situation eingetreten, die
wir bei unseren Bergungen immer vor Augen hat-
ten: Der Luftkrieg bedrohte unsere Heimat. Die Ka-
pitulation in Italien hatte anderseits in uns die alte
Hoffnung neu gestärkt, die Führung werde, wenn
der Feind sich dem deutschen Boden nähern wür-
de, ebenfalls die aussichtslose Sache aufgeben. Wir
alle dachten damals nicht daran, dass man den
Krieg tatsächlich bis zur totalen Katastrophe fort-
setzen werde, und unsere Bergungsbestrebungen
waren lediglich auf den Schutz vor Luftangriffen
abgestellt. Erst als wir im Laufe des Jahres 1944
sahen, die deutsche Führung lasse es darauf an-
kommen, dass das ganze Land vom Feind über-
rannt werde, sah ich mich genötigt, unsere östlich
gelegenen Depots raschestens nach dem Westen zu
verbringen.
Je mehr die militärische Lage sich zugunsten
der Alliierten verlagerte, umso mehr wuchs bei mir
der Wunsch, das Eigentum des Fürsten in Vaduz si-
cher deponieren zu können, und es ist kennzeich-
nend für die «Götterdämmerungsstimmung» der
Nazis, dass uns die Stellen des Reiches in diesen
Bemühungen beharrlich entgegen waren. 1943
stand es fest, dass man von Seiten des Reiches je-
den Versuch, unsere Sachen nach Vaduz zu brin-
gen, verhindern würde. Der ständige Vorwand der
staatlichen Stellen war, man erzeuge in der Bevöl-
kerung durch eine derartige Aktion eine Panikstim-
mung, anderseits beweise man selbst sein Miss-
trauen in die deutsche Kriegsführung.
34) Meute ist Seebenstein nicht mehr in fürst l ichem Besitz. Zudem
musste das Talschloss dem Bau einer Wohnhäuse rg ruppe weichen.
35) Damals war das am Semmering gelegene Jagdschlösschen
Thalhof ein fürst l icher Besitz. Inzwischen ist es verkauft worden.
36) Heute amtlich: Bucovice; vgl. auch Ortsnamenliste am Schluss.
17
Aus diesen Gründen begann ich im Herbst des
Jahres 1943 inoffiziell kleinformatige Bilder im
Privatauto des Fürsten über die Grenze zu bringen.
Jetzt zeigte sich auch der Pferdefuss meiner ge-
meinsamen Bergung mit staatlichen Stellen in Ga-
ming, da ich sehr fürchten musste, das Wegholen
der kleinen und wertvollen Bilder aus dem Depot
werde Dworschak mit der Zeit auffallen. Ich begab
mich Ende September 1943 zu Dworschak und er-
klärte ihm, ich wolle das Bergungsgut in Gaming
etwas dezentralisieren, da mir dort zu viel wert-
vollstes Gut an einem Ort beisammen wäre. Ich
richte mir eben das Talschloss Seebenstein als
neues Depot ein und möchte deshalb von Gaming
Bilder wegbringen. Da grosse Transporte wegen
Auto- und Benzinknappheit nicht mehr durchzu-
führen wären, müsste ich die Dislokationen wert-
mässig durchführen, so zwar, dass ich hochwertige
kleinformatige Bilder wegnähme. Dworschak
machte mir keinerlei Schwierigkeiten, und ich
nahm so am 5. Oktober mit der grossen Lincoln
[Limousine] des Fürsten Bilder wie Leonardo da
Vinci 3 7 , van der Goes 3 8, Jacometto, Foucquet3 9, die
Kreuzigung Christi von Quinten Massys 4 0, das Bild
mit dem «heiligen Antonius und Paulus in der Wü-
ste» des flämischen Malers Jan de Cock 4 1 , den klei-
Hugo van der Goes: die Männerbildnis, dem Fran-
Anbetung des Jesuskindes zosen Jean Foucquet
durch die Hl. Drei Könige zugeschrieben
nen Memling 4 2 und den kleinen Ruisdeal 4 3 mit. In
den nächsten Tagen brachte der Fürst die Bilder
gut nach Vaduz. Unsere in Klosterneuburg verla-
gerten Tapisserien holte ich im Februar 1944 nach
Wien und sie gingen auf demselben Weg nach We-
sten. Nachdem einige Zeit verstrichen war, holte
ich am 19. April 1944 insgesamt 14 Bilder aus Ga-
ming, kleine Holländer, Rubensskizzen, Italiener
und das Frauenporträt von Rembrandt. 4 4
Die schon fast verzweifelte Kriegslage, die der
Frühling 1944 brachte - die Russen standen schon
in Polen, Rumänien und Bulgarien - veranlassten
mich, neuerdings mit staatlichen Stellen in Ver-
handlung zu treten, um eine Bergung in Liechten-
stein noch in letzter Minute durchzusetzen. Die bei-
den oben genannten Haupteinwände konnten zu
dieser Zeit nicht mehr gemacht werden, denn
kaum ein objektiver Mensch zweifelte mehr an der
deutschen Niederlage (wenn auch darauf die To-
desstrafe stand).
Ende April 1944 traf ich mit dem Sonderbeauf-
tragten der Ostmark für Bergungsfragen, Baron
von Berg zusammen, der sich auf meine Sondie-
rung völlig ablehnend verhielt und erklärte, allein
wolle er über solche Fragen gar nicht diskutieren.
So arrangierte ich am 18. Mai eine neue Unterre-
dung in Wien, bei der ausser Berg noch der Chef
des Denkmalamtes, Dr. Heribert Seiberl 4 5, anwe-
send war. Wir trafen uns in der Stallburg [in der
Hofburg von Wien]. Baron Berg hatte aufgrund un-
serer ersten Fühlungnahme die Sache bereits mit
dem Generalreferenten für Kunstangelegenheiten,
Hermann Stuppäck 4 6 , besprochen, dieser wieder
war damit zum Reichsleiter von Schirach gegan-
gen, welch letzterer abermals zu erkennen gab,
dass er die Sorgen des Fürsten verstehe. Nun stand
damals ein Besuch des Fürsten bei Baidur von
Schirach bevor und man wollte vorher nichts un-
ternehmen. Seiberl und Berg waren noch immer
sehr skeptisch und offerierten mir damals, ich kön-
ne mit meinem gesamten Bergungsgut in die Salz-
bergwerke bei Altaussee und Ischl im Salzkammer-
gut einziehen, wo zu dieser Zeit bereits ungeheure
Schätze beisammen waren. Man lud mich ein, die
Bergwerke zu besichtigen. Die Frage der Salzberg-
18
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
werke war mir nicht neu. Der Fürst war von An-
fang an gegen eine Unterbringung seiner Sachen
dort eingestellt, weil er noch immer hoffte, die Ge-
nehmigung für einen Transport nach Vaduz durch-
setzen zu können. Meine Bedenken hingegen wa-
ren anderer Art.
In den Bergwerken von Altaussee und Ischl, die
klimatisch ausgezeichnet geeignet waren und für
Bergungszwecke erstklassig eingerichtet worden
waren, befand sich vor allem Raubgut des deut-
schen Militärs. Dort waren alle die Bilder depo-
niert, die Hitler für sein Linzer Museum 4 7 auf mehr
oder minder merkwürdige Art «erworben» hatte,
dann viel von Juden beschlagnahmtes Gut, ferner
Kunstgut, das aus den eroberten Gebieten mitge-
nommen worden war und schliesslich das ganze
Kunstgut, das man beim Rückzug aus Italien mitge-
nommen hatte. Es schien mir sehr gefährlich, mit
den Bildern des Fürsten in diese unsaubere Gesell-
schaft zu gehen; denn es war natürlich, dass der
Feind bei Eroberung des Gebietes das gesamte
Kunstgut beschlagnahmen würde, und wer weiss,
wie man dann wieder zu seinen Sachen käme.
Kennzeichnend war ja auch der Umstand, dass es
auch Dr. Dworschak ablehnte, seine Bilder im
Altausseer Berg unterzubringen.
Ich teilte diese meine Bedenken auch am 18.
Mai den beiden Herren mit, die dagegen nichts We-
sentliches vorbringen konnten, sie meinten aber,
ich würde nie die Genehmigung bekommen, das
Fürstliche Kunstgut nach Liechtenstein zu bringen,
und so wäre das Salzbergwerk noch immer das Si-
cherste. Ich äusserte auch meine Bedenken wegen
einer Beschlagnahme der Bilder durch den Feind,
doch wollte man mich mit dem Hinweis beruhigen,
dass man die Bilder eines ausländischen Souveräns
sicher gleich herausgeben würde. Als ich meine
Zweifel äusserte, ob auch von den Russen ein sol-
ches Vorgehen zu erwarten sei, meinten sie, die
würden hoffentlich nicht bis Aussee kommen.
Ich gewann bei dieser Besprechung den Ein-
druck, dass die ganzen Leute um Schirach meinem
Projekt sehr ablehnend gegenüberstünden, mit
Ausnahme des Reichsleiters selbst. So besuchte ich
am nächsten Tag den mir gut bekannten Direktor
37) Das Bildnis der Ginevra da Benci von Leonardi da Vinci (floren-
tinischer Maler, *1452 in Vinci; +1519 bei Amboise in Frankreich).
38) Die Anbetung der Heiligen Drei Könige von Hugo van der Goes
(nieder ländischer Maler; t l 4 8 2 bei Brüssel).
39) Das Männerbi ldnis des f ranzös ischen Malers Jean Foucquet
(*1420 in Tours; +1477 oder 1481 ebenda).
40) Quinten Massys. f lämischer Maler (*1543 in Antwerpen; +1589
in Frankfurt a. M.).
41) Jan deCock ( t l529) .
42) Das kleine Bild von Hans Memling (nieder ländischer Maler,
"1433; +1494 in Brügge).
43) Die kleine Landschaft von Jakob van Ruisdael (niederländischer
Maler, *1628 in Haarlem; t l 6 8 2 in Amsterdam).
44) Kembrandt, Harmensz van Rijn (*1606 in Leiden; +1669 in
Amsterdam).
45) Haupt (1991), S. 129 und 274. DDr. Heribert Seiberl hatte sich
für die Sicherung von Kunstgütern in Wien engagiert. So hatte er
1939 den (erfolgreichen) Antrag von Museumsdirektor Dworschak,
in Wien eine zentrale Sammelstelle von (vornehmlich aus jüdischem
Besitz stammendem) beschlagnahmtem Kunstgut zu errichten, aktiv
unterstützt . Dieser Antrag war dann von der Wiener GESTAPO
gutgeheissen worden.
46) Hermann Stuppäck (*1903; +1988) war seit 1942 nationalsozia-
listischer Generalkulturreferent für die Museen. - Vgl. Haupt (1991),
S. 164, sowie Haupt (1992), S. 620.
47) Das von Hitler geplante Museum in Linz sollte «alles bisher Dage-
wesene an Inhalt, Grösse und Umfang über t ref fen». - Vgl. Haupt
(1991), S. 129.
19
der Waffensammlung des Kunsthistorischen Mu-
seums in Wien, Dr. Leopold Ruprecht 4 8, der angeb-
lich über beste Beziehungen zu Hitler selbst verfüg-
te. Dieser verstand sofort meine Sorgen und mein-
te, er sei überzeugt, wenn man sich diesbezüglich
direkt an Hitler wende, sei die Sache zu machen.
Die Leute um Schirach hätten doch nur die klein-
liche Sorge, altes Kunstgut könne Österreich verlas-
sen, und würden unsere Bestrebungen immer hin-
dern. Eine Behandlung durch den Wiener Gauleiter
Schirach sei nur zeitraubend, der Fürst könne das
nur über das Auswärtige Amt erledigen lassen. Am
31. Mai erstattete ich dem Fürsten Bericht über
diesen ganzen Komplex, wobei ich riet, den von
Ruprecht vorgeschlagenen Weg zu versuchen.
Vom 1. bis 5. Juni war ich in Altaussee und be-
suchte die riesigen Depots in den Salzbergwerken,
sicher der grösste Schatz der Weltgeschichte, der je
an einem Ort beisammen war. Näheres hierüber
erübrigt sich, da es in dem Büchlein von Pöchmül-
ler, «Weltkunstschätze in Gefahr» nachzulesen ist.
Wo es anging, zog ich Erkundigungen ein, über
Erfahrungen im Salzbergwerk, jede lautete anders,
niemand wusste etwas Positives. Dr. Gert Adriani 4 y
vom Kunsthistorischen Museum meinte, man kön-
ne Graphiken dort nicht unterbringen, Dr. Kall-
brunner wieder hatte erfahren, die Salzbergwerke
seien für Archivalien gut geeignet, nicht aber für
Bilder, besonders skeptisch äusserte sich Dr. A l -
phons Lhotsky 5 0 vom Kunsthistorischen Museum.
Inzwischen war die kriegerische Situation be-
reits so verzweifelt geworden, dass ich umgehend
daran gehen musste, die in Mähren gelegenen
Schlösser Feldsberg und Eisgrub zu räumen. Diese
beiden Schlösser lagen so weit östlich, dass sie bei
einem Fortschreiten der russischen Offensive (und
wer sollte diese stoppen?) bald direkt gefährdet
sein würden. Man könnte immerhin hier einwen-
den, dass es von Anfang an verfehlt war, dort
Depots einzurichten, dem gegenüber muss aber
darauf hingewiesen werden, dass, als ich Felds-
berg und Eisgrub als Depots einrichtete, sie ledig-
lich Schutz vor Fliegerangriffen auf Wien gewähren
sollten. Russland war damals noch eine mit
Deutschland befreundete Macht.
Das ganze umfangreiche Kunstgut musste nun
wieder von dort weggebracht werden. Hierbei be-
sonders erschwerend war die Knappheit von Ben-
zin und Eisenbahnwaggons. Die Hauptsorge galt
den grossformatigen Bildern, für die mir Dr. Dwor-
schak nun ein sicheres Depot im Stift Klosterneu-
burg bei Wien zur Verfügung stellte. Der Raum war
etwas feucht und wurde im Juni adaptiert. Wieder
begann der endlose Kampf um einen für diesen
Transport geeigneten Wagen, und es gelang
schliesslich, doch einen Kulissenwagen der Staats-
theater, der besonders fest gebaut war, aufzutrei-
ben. Immerhin wurde es Anfang Oktober, bis die
Sache so weit war. Vom 3. bis zum 5. Oktober
brachte ich aus Feldsberg und Eisgrub die grossen
Rubensbilder nach Klosterneuburg, dem Transport
schloss ich noch mehrere grosse Bilder aus Felds-
berg an, so dass insgesamt damals 25 Bilder im
Stift deponiert werden konnten.
Ein neuerlicher Versuch, das Schloss Warten-
stein in Niederösterreich, das inzwischen von der
Hitler-Jugend beschlagnahmt worden war, als Aus-
weichdepot zu bekommen, scheiterte. Ende Juni
kam der Fürst nach Wien und ich konnte am
28. Juni über den Stand der Bergungen Bericht er-
statten. Am gleichen Tag war er zum Essen bei
Reichsleiter von Schirach, und dort wurde die Fra-
ge eines Transportes des gesamten Kunstgutes
nach Liechtenstein besprochen. Abends teilte mir
der Fürst noch mit, dass Baidur von Schirach die-
sem Plan seine Zustimmung gegeben habe. Nun
schienen alle Sorgen und Schwierigkeiten schlagar-
tig beseitigt. Schirach hatte vorgeschlagen, ich solle
mich sofort mit den Herren des Denkmalamtes (Dr.
Seiberl), der staatlichen Bergung (Baron von Berg)
und des Kunsthistorischen Museums (Dr. Adriani)
wegen des Abtransportes der Sammlungen nach
Vaduz ins Einvernehmen setzen. Am 1. Juli war ich
mit Adriani beim Fürsten (die anderen Herren
waren nicht gekommen), und wir sprachen den
Transport nach Liechtenstein durch. Bald kam
aber die Enttäuschung. Schon zwei Tage später
teilte mir Dr. Seiberl auf meine Rückfrage mit, er
habe noch keinen diesbezüglichen Auftrag von
Herrn von Schirach, er persönlich sei aber über-
20
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
zeugt, Schirach habe mit seiner Genehmigung si-
cher seine Kompetenzen überschritten und es müs-
sten wohl noch Stellen in Berlin gefragt werden.
Ich persönlich bin überzeugt, dass Berg und Seiberl
sich gleich am 1. Juli, als sie von Schirachs Geneh-
migung erfuhren, an Berliner Stellen wandten, um
den Transport nach Vaduz zu hintertreiben.
Von 4. bis 7. Juli war ich in Feldsberg, wo ich
wieder eine Reihe kleinformatiger Bilder verpack-
te, um sie per Auto nach Vaduz gelangen zu lassen.
Die Machinationen, die gegen Schirachs Bewilli-
gung einsetzten, machten es mir eher unwahr-
scheinlich, dass eine offizielle Ausfuhr durchgesetzt
werden könne. Nach meiner Rückkehr nach Wien
fand ich die Lage unverändert. Gleich am 7. Juli
war ich bei Dr. von Berg, der vom Generalreferen-
ten Stuppäck über die Bewilligung Schirachs infor-
miert worden war. Ich hatte den festen Eindruck,
dass die Wiener Stellen - ausgenommen einzig das
Kunsthistorische Museum - eine Einheitsfront ge-
gen Schirach und seine Zusage bezogen hatten.
Schützenhilfe holten sie sich bei den Regierungs-
stellen, die gerne eine Gelegenheit ergriffen, um
dem Parteimann Schirach eins auszuwischen. Berg
teilte mir damals mit, dass mit der ganzen Angele-
genheit bereits der Regierungspräsident von Wien,
Dr. Dellbrügge, befasst sei. Dr. Adriani und Restau-
rator Hajsinek vom Kunsthistorischen Museum in
Wien, mit denen ich zwei Tage später die Frage
besprach, waren der Ansicht, dass die Zusage
Schirachs von Berg und Seiberl bewusst torpediert
würde.
Schirach war nicht zu erreichen, auch Dr. Dwor-
schak vom Kunsthistorischen Museum in Wien
konnte ich erst am 14. Juli sprechen. Er war der
Ansicht, dass ich mit der Zusage Schirachs allein
die Bilder nie über die Grenze bringen würde.
Schliesslich einigten wir uns dahin, dass die Fürst-
liche Kabinettskanzlei einen Brief an Dworschak
schreiben solle, in der sie die Sachlage ihm als dem
staatlichen Bergungsleiter schildern und um Aus-
fuhr nach Liechtenstein ansuchen sollte. Den Ent-
wurf dieses Schreibens legte ich tags darauf dem
Fürsten vor und übergab ihn am 17. Juli mit einer
Liste der in Liechtenstein zu bergenden Bilder an
Dr. Dworschak. Er wollte versuchen, mit diesem
Brief bei der Führerkanzlei etwas auszurichten
und diese mit dem Hinweis, dass eine Entschei-
dung einer Parteistelle von Staatsstellen torpediert
würde, auf unsere Seite zu bringen.
48) Haupt (1991), S. 124 und 134: Dr. Leopold Ruprecht war einer
der «wenigen Akademiker» , die «Begeisterung für den National-
sozialismus» zeigten (ebenda. S. 124). - Ruprecht begleitete Adolf
Hitler bei dessen Rundgang durch die Waffensammlung in der
Neuen Burg in Wien am 11. Juni 1939 (ebenda, S. 134, daselbst eine
Abbildung).
49) Haupt (1991), S. 124 und 265: Dr. Gert Adriani , ein deutscher
Kunsthistoriker, war seit 1938 am Kunsthistorischen Museum in
Wien tätig. 1943 wurde er dort Leiter der Gemäldegalerie .
50) Haupt (1991), S. 147: Univ. Prof. Alphons Lhotsky (*1903;+ 1968)
war «Haushis tor iker» des Kunsthistorischen Museums in Wien. Er
verfasste 1941/45 die Festschrift zur Feier des 50-jährigen Beste-
hens des Museums.
DDr. Heribert Seiberl,
Leiter des Denkmalamtes
in Wien. Er hintertrieb die
Bemühungen von Gustav
Wilhelm, für die Gemäl-
desammlung eine Ausfuhr-
genehmigung zu erhalten.
21
Einige Tage hörte ich nichts mehr, am 26. Juli
rief mich Dr. Berg an und ersuchte mich, nichts zu
unternehmen, es wolle mich demnächst Dellbrügge
zu sich bitten, um die Angelegenheit zu bespre-
chen. Diese Unterredung fand am 31. Juli am Ball-
hausplatz statt. Dellbrügge teilte mir mit, die ganze
Galerie sei auf die Reichsliste der ausfuhrverbote-
nen Bilder gesetzt worden. Schirach sei dadurch
für die ganze Angelegenheit nicht mehr zuständig
und seine dem Fürsten gegebene Zusage hinfällig.
Für die fürstlichen Sammlungen sei nun allein das
Reichsinnenministeriun zuständig und wir hätten
ein anfälliges Ansuchen um Bergung in Liechten-
stein beim Innenminister einzubringen. Am 14.
August sandte mir dann Dellbrügge einen Be-
scheid, in dem mitgeteilt wurde, dass die ganze Ga-
lerie mit Erlass vom 10. Juli auf die sogenannte
Reichsliste eingetragen worden sei, ein Rechtsmit-
tel gegen diesen Entscheid gebe es nicht. Kenn-
zeichnend für den ganzen Gang dieser Angelegen-
heit ist das Datum des 10. Juli, und es zeigt klar,
dass Seiberl und Berg, sowie sie von Schirachs Ge-
nehmigung erfuhren, diese durch das Reichsinnen-
ministerium konterkarieren liessen.
Ohne viel Hoffnung, nur, um wirklich alles unter-
nommen zu haben, richtete die Fürstliche Kabi-
nettskanzlei in Vaduz noch am 31. Juli eine Einga-
be ans Innenministerium, in der um Zustimmung
zu einer Bergung in Liechtenstein angesucht wur-
de. Es war ohne jeden Erfolg. Gegen Ende August
Das isoliert vom Kriegsge-
schehen gelegene Schloss
Moosham (Salzburg) war
von September 1944 bis
Februar 1945 Bergungsort
von fürstlichem Kunstgut
Der Bahnhof Mauterndorf
war Abgangsstation für
die aus Moosham abtrans-
portierten Kunstschätze.
Die Bahnwaggons fuhren
von hier direkt bis Schaan
MflUTERNDORFl
1-1
22
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
war Prinz Karl Alfred von Liechtenstein in Berlin
beim Innenministerium, wo man ihm mitteilte,
dass unser Ansuchen abgelehnt worden sei.
Parallel mit diesen zeitraubenden und schliess-
lich völlig negativen Unternehmungen ging die Ber-
gung weiter. Am 28. Juli führte ich einen beträcht-
lichen Teil des Herrschaftsarchives nach der Veste
Liechtenstein bei Mödling, es handelte sich um 611
Kartons (die alle verloren gehen sollten). Mich be-
schäftigte nun, da ich den Transport nach Liech-
tenstein nicht ausfahren konnte, ein neues grosses
Depot im Westen ausfindig zu machen. Ende Au-
gust schlug ich dem Fürsten das Schloss Moosham
der Grafen Wilczek im Salzburgischen Lungau vor,
ich sprach auch deswegen mit dem wilczekischen
Sekretär Michelfeit und fuhr am 4. September nach
Moosham, um das Schloss anzusehen. Es waren
wunderschöne Herbsttage, die mich darüber hin-
wegtäuschten, welches Gesicht diese Gegend im
Winter haben sollte. Die Burg von Graf Wilczek, re-
stauriert in demselben Geschmack wie seine Burg
Kreuzenstein bei Wien 5 1 , wenn auch nicht mit so
viel Geldaufwand, so doch nicht minder fest ge-
baut, liegt ungemein günstig, isoliert von allen
kriegswichtigen Anlagen. Auch ist der Tauernpass
so weit weg, dass er wohl keine Gefährdung für die
Burg darstellt. Die Zufahrt von der Bahnstation
Mauterndorf verläuft grösstenteils auf der breiten
Reichsstrasse, die dann auf ein allerdings schmales
Waldsträsschen rundet, dessen Unterbau weich ist.
Die Zufahrt von Mauterndorf bis zur Burg ist rund
vier Kilometer. Mit dem Mauterndorfer Spediteur
Steinlechner konnte ich noch alle Details der Zu-
führung absprechen. Nach Wien zurückgekehrt be-
sprach ich mit den Besitzern alles Notwendige und
erhielt die Zustimmung, die Burg als Depot einzu-
richten.
Als erstes sollte das Inventar des Schlosses
Sternberg (Mähren) nach Moosham gebracht wer-
den. Anfang August fuhr ich dorthin und stellte die
Bergungsliste zusammen, die allerdings ziemlich
umfangreich ausfiel. Bei dieser Gelegenheit war ich
auch in Gross-Ullersdorf, Neuschloss, Olmütz 5 2 und
in Butschowitz [alles Orte in Tschechien], wo ich
alles zu bergende Inventar bestimmte. Alle diese
nordmährischen Bergungen scheiterten aber
schliesslich daran, dass sich die Gutsverwaltungen
keinerlei Waggons verschaffen konnten für den Ab-
transport und ich alles erreichbare Wagenmaterial
für die Evakuierung meiner niederösterreichischen
und südmährischen Depots brauchte. In Wien er-
klärte sich die Spedition Gebrüder Weiss bereit, die
nordmährischen Schlösser zu evakuieren, konnten
aber dann diese Zusage nicht mehr einhalten. Die
Knappheit des rollenden Materials und die Gefähr-
dung der Transporte durch Fliegerangriffe - die
viel grösser war als jene der Strassentransporte -
hatte mich veranlasst, in Vaduz anzufragen, ob
man mir von dort etwas Benzin zur Verfügung
stellen könnte. Das erwies sich leider als nicht
möglich.
Ende August verpackte ich mit meinen Mitarbei-
tern in Sternberg, Feldsberg und Eisgrub Bilder
und Tapisserien, welche der Fürst wieder in sei-
nem Auto nach Vaduz mitnahm. So wuchs langsam
das Depot in Vaduz und ich hoffte nur, dass diese
Transaktionen nicht eines Tages aufkämen. Auch
aus Gaming liess ich noch die restlichen dort ver-
wahrten Tapisserien kommen, um sie nach Vaduz
weiterzuleiten. In Wien verpackten wir diese Sa-
chen in kleine Handkoffer oder machten Pakete,
die im Gepäckträger des fürstlichen Autos verstaut
werden konnten.
Inzwischen hat sich in Vaduz eine neue Situation
ergeben, von deren Entwicklung ich nichts wusste
und die in der Folgezeit meine Bergungspläne nach
Moosham weitgehend beeinflussen sollte. Der
51) Castcllani (1993), Band II, S. 5-30. Die Ruine Kreuzenstein bei
Wien wurde nach dem Vorbild der Burg von Eisenmarkt (Hunedoa-
ra) in Siebenbürgen - die ebenfalls (nach einem Brand 1854) wie-
deraufgebaut worden war - von 1874 bis 1912 in historisierenden
Formen wiedererrichtet: Es entstand eine «völlig anachronistische,
aber grandiose Inszenierung mittelalterlicher Ritterideale des
altadligen und reichen Sammlers Hans Graf Wilczek an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert, [ein] Querschnitt durch alle Stile und
Formen mittelalterlicher Bau- und Einrichtungskultur. Die Gestal-
tung und Ausstattung war von einer derartigen Fülle, dass jede
<echte> Burg bei weitem über t roffen wurde» (ebenda, S. 30). - Dass
Gustav Wilhelm diese Restaurierung eigens hervorhebt, belegt
wiederum sein kunst- und architekturgeschichtliches Interesse.
52) Heute amtlich: Olomouc: vgl. Ortsnamenliste am Schluss.
23
Fürst war - begreiflicherweise verstimmt über den
Fehlschlag der Aktion bei Schirach - nach Vaduz
gekommen, und hier war ihm von Seiten des da-
maligen Regierungschef-Stellvertreters Dr. Alois
Vogt ein Berliner Rechtsanwalt, Dr. Josef Steeg-
mann, empfohlen worden. Dieser hatte durch seine
Schweizer Frau Beziehungen nach Vaduz und soll-
te über erstklassige Verbindungen zum deutschen
Reichswirtschaftsministerium verfügen. Man trat
mit ihm in Verbindung. Dr. Steegmann schlug vor,
den gesamten Kunstbesitz in zwei Teile zu schei-
den, einerseits jenen, der auf der Reichsliste ge-
bunden war, und ferner alle anderen Sachen, die
dieser Bindung nicht unterworfen waren. Diesen
zweiten Komplex meinte er mit Hilfe des Reichs-
wirtschaftsministeriums zur Ausfuhr nach Vaduz
freizubekommen.
Von allen diesen Unternehmungen war ich in
Wien nicht informiert worden, und so platzte mit-
ten in unsere Transportvorbereitungen ein Schrei-
ben von Vaduz vom 10. September hinein, welches
schlagwortartig die neue Situation ahnen liess, und
ich wurde beauftragt, genaue Listen der beiden
Gruppen fürstlichen Eigentums anzulegen. Man
war damals in Vaduz sehr zuversichtlich, bald die
notwendige Bewilligung für den Abtransport der
Gruppe Zwei nach Vaduz zu bekommen. Für mich
bedeutete der Auftrag, die Listen anzufertigen, den
Verzicht auf jede weitere Bergungstätigkeit für
Wochen und da ich den guten Willen der deutschen
Bestätigung des deutschen
Statthalters in Wien, dass
die fürstlich-liechtenstei-
nische Gemäldegalerie in
das Verzeichnis der «na-
tional wertvollen Kunst-
werke» eingetragen wurde
und deshalb nicht expor-
tiert werden durfte
DER REICK:
Z/GK. 4662-b/44
TER IrJWIEN
(l2a)Wien, den 14.August 1944,
I.,Reltachulgaaae 2.
An die- '
Fürs t l .L iechtenate in 'ache Kabinettskanzlei Wien,
zu Händen des Leiters der Sammlungen des reg.Fürsten
von Llechatenetein Herrn Dr. W i l h e l m
W i e n . X X . .
Fürstengasse 1.
Ich bes tä t ige die bereits mündlich erfolgte Mitteilung,
dass der Herr Reichsmlnieter des Innern laut Beinein Erlaas vom 10. Ju-
l i 1944 die Füre t l ,Liechtens te in ische Gemäldegalerle In Wien in dafl
VerzelefaniB der national wertvollen Kunatwerke eingetragen hat.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass gemäss der Verord-
nung über die Auafuhr von Kunstwerken, RGBl. Hr. 236 vom 11.Dezember
1919 (Nr.7169j, die Verbringung der Galerie oder einzelner der zu
ihr gehörigen Kunstwerke i n das Ausland ohne Genehmigung dea Herrn
J
24
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Behörden unseren Bergungsmassnahmen gegen-
über schon zur Genüge kannte, hielt ich es für mei-
ne Pflicht, das Projekt Moosham weiter zu verfol-
gen. Ich sandte daher an Dr. Steegmann umgehend
eine ganz summarische Aufstellung über den Um-
fang der beiden Gruppen und schrieb an den Ka-
binettssekretär Dr. Ritter nach Vaduz am 14. Sep-
tember, dass ich für die Aufstellung genauer Listen
mehrere Wochen benötigen würde, was praktisch
den Stillstand jeder Bergungsarbeit bedeuten
müsste.
In diesen Tagen erlebte Wien die ersten schwe-
ren Bombenangriffe auf die Altstadt, und auch dies
liess mir die Durchführung der Transporte nach
Moosham äusserst dringlich erscheinen. Ich be-
sprach mich am 15. September mit den Prinzen
Georg, Heinrich und Ulrich von Liechtenstein, wel-
che auch meinen Standpunkt teilten. In Eisgrub
wurde mein Depot bereits verpackt, und die ersten
Waggons rollten Ende September von Feldsberg
und Eisgrub Richtung Moosham [Salzburg] ab.
Inzwischen meldete sich sehr dringlich Dr.
Steegmann und beharrte auf seinen Listen, ohne
die er die zu erwartende Bewilligung zur Ausfuhr
der zweiten Garnitur nicht erlangen könne. Der
Leiter der fürstlichen Bibliothek, Hofrat Dr. Bohat-
ta, der mit den Bergungsarbeiten nicht befasst war,
stellte inzwischen die Listen der Inkunabeln und
der Manuskripte zusammen.
Da die Eisenbahnen in Österreich damals schon
ein beliebtes Ziel für Bomber und Tiefflieger waren,
gelang es mir durchzusetzen, dass unsere Lastwag-
gons an Personenzüge angehängt wurden und
nicht an Lastzüge. Die letzteren liess man im Falle
eines Angriffes meist einfach stehen, während man
trachtete, Personenzüge bei Fliegergefahr tunlichst
in Tunnels oder Wälder zu verbergen. Es war da-
mals schon äusserst schwierig, Waggons für Trans-
porte zu bekommen. Immer wieder wurden zuge-
sagte Termine verschoben, und besonders in Felds-
berg war es damals ungemein schwer, für die
Transporte Waggons zu bekommen, weil jeder lee-
re Wagen vom Militär, das dort ringsherum sass,
weggenommen wurde. Ich versuchte deshalb, aus
dem Fürstlichen Wagenpark einen Holzgas-Traktor
mit Anhänger zur ständigen Verfügung zu bekom-
men, leider vergeblich, und es ist mir heute noch
nicht ganz erklärlich, warum das nicht möglich
war. Mit diesem Vehikel hätte ich das Depot aus der
Veste Liechtenstein [bei Mödling in Niederöster-
reich] in kürzester Zeit wegbringen können, viel-
leicht auch noch das Inventar von Sternberg.
Inzwischen hatte mir Dr. Berg mitgeteilt, das De-
pot Gaming werde voraussichtlich geräumt werden
müssen, da die Strasse über Gaming nach Lunz
eine militärisch wichtige Nord-Süd-Verbindung
werden könnte . 3 3 Das Kunsthistorische Museum
habe vor, seine Sachen nach Wien zu nehmen. Dem
widersetzte ich mich energisch und teilte Dr. Berg
mit, ich würde einen Abtransport aus Gaming nur
dann durchführen, wenn ich ein ordentliches De-
pot weiter im Westen bekäme. Ich teilte dies auch
den damals noch in Wien anwesenden Prinzen
Heinrich und Georg mit und ersuchte sie, eventuell
durch die Fürstliche Regierung irgendein Depot in
Vorarlberg auftreiben zu lassen, wohin ich mit den
Bildern gehen könne.
In Vaduz hatte man anscheinend alles auf eine
Karte gesetzt, dass nämlich Dr. Steegmann in Bälde
alle Bewilligungen bringen würde, und unternahm
leider in Vorarlberg nichts. Ich wandte mich des-
halb an Baron Hans Plach, den Besitzer der Burg
Fliess bei Landeck in Tirol, der auf meine Anfrage
nach einem freien Platz für ein Bergungsdepot
sehr nett reagierte und mich einlud, die Verhältnis-
se dort anzusehen. Seine Antwort datierte vom
24. Oktober, und es kam nicht mehr dazu, dass ich
mich hätte um dieses Depot bekümmern können.
Denn während unsere Waggons nach Moosham
rollten, kam nach Wien Flerr Adolf Ratjen, Mitin-
haber des Berliner Bankhauses Dellbrück, Schick -
53) Vgl. hierzu Haupt (1992). S. 620: «Das Jahr 1944 stand im
Zeichen grosser Umbergungsaktionen. Nach eingehenden Vorberei-
tungen begann man im Herbst 1944 mit der Auslagerung aus jenen
Bergungsorten, die als nicht mehr sicher genug galten. Wohlverpackt
und auf Lastwagen verladen wurden die wertvollen Objekte aus
Gaming nach Wien transportiert, von wo die Heise mit der Westbahn
ins Salzkammergut weiterging. Hier war der Kaiser-Franz-Josef-
Erzstollen in Launen bei Bad Ischl der für das Kunsthistorische
Museum [Wienl vorgesehene Bergungsort .»
25
ler und Co., der von Dr. Steegmann zu seinen Be-
mühungen beigezogen worden war. So verständ-
lich und auch erfolgreich diese Aktion von Dr.
Steegmann auch war, zu dieser Zeit bedeutete sie
für mich in Wien einen ungemeinen Arbeitszu-
wachs.
Bei seiner Abreise aus Wien Anfang September
hatte der Fürst mein Bergungsprogramm, das sich
damals hauptsächlich auf Moosham stützte, aus-
drücklich genehmigt und mir weitgehend freie
Hand gegeben. Ich hatte ausserdem das Denkmal-
amt und die Reichsstatthalterei mit dem Hinweis
darauf, dass sie mir eine Bergung in Vaduz verun-
möglicht hatten, veranlasst, mir mit Waggons und
Treibstoff sehr an die Hand zu gehen, weil sonst
unsere südmährischen Depots in Kürze in die Hand
des Feindes fallen würden, und hatte auch einige
Unterstützung von Seiten dieser Stellen. Nun erfuh-
ren diese Ämter Mitte Oktober von Dr. Steegmanns
und Ratjens Berliner Aktion und zeigten sich hier-
über sehr erbost, weil sie sich von mir an der Nase
geführt vorkamen. Ich hatte mit Baron Berg in der
halb zerschossenen Stallburg im 1. Wiener Bezirk
eine sehr temperamentvolle Unterhaltung, wobei
er vor Aufregung einen Magenkrampf bekam, und
auch der ebenfalls anwesende Dr. Seiberl war deut-
lich verschnupft. Beide drangen in mich, zu veran-
lassen, dass die Aktion des Dr. Steegmann sofort
abgestoppt würde. Sie standen stur auf dem Stand-
punkt, das liechtensteinische Kunstgut dürfe das
Gebiet der Ostmark nicht verlassen.
Aus dem Kreis der Angestellten der Fürstlichen
Verwaltung hatte ich mir mit der Zeit eine Anzahl
von Mitarbeitern zusammengestellt, der zwar klein
war, aber ausgezeichnet funktionierte und ohne die
die Bergungsarbeiten nicht durchzuführen gewe-
sen wären. Ein Teil davon wurde nun eingestellt,
um die für Berlin notwendigen sehr umfangreichen
Listen zusammenzustellen. Nur durch deren nie er-
lahmenden Arbeitsgeist war es möglich, diese gan-
zen Aufzeichnungen für Dr. Steegmann doch noch
fertig zu bekommen.
In Moosham [Salzburg] waren am 26. Oktober
vier Waggons ausgeladen und deponiert worden.
Mit Ausnahme des Umladens in Unzmarkt auf an-
dere Waggons (das notwendig war, weil die Strecke
Unzmarkt - Mauterndorf eine andere Spurweite
hatte) ging die Sache relativ gut. Spediteur Stein-
lechner besorgte sehr verlässlich am Bahnhof in
Mauterndorf das Ausladen und den Transport mit
dem Auto nach Moosham. Dort waren polnische
Zwangsarbeiter, welche die Bilder und Kisten auf
den sehr langen und umständlichen Wegen in die
Depoträume trugen. Einige Kisten Feldsberger
Weines, die ich dort mit den Bildern hatte ver-
packen lassen, und Zigaretten, die ich mir aus
Vaduz besorgt hatte, erleichterten viele Schwierig-
keiten.
Die Bilder wurden vor dem Schloss ausgeladen
und mussten teils in Schubkarren und teils hän-
disch in die Depoträume gebracht werden. Besorgt
um das kostbare Gut, verfolgte ich vor dem Wagen
und auf dem Weg zum Schloss die schwierige Wei-
terbeförderung. Einmal drohte ein Arbeiter, der ein
grosses, mangels an verfügbarem Material nur not-
dürftig verpacktes Gemälde über seinen Kopf
stemmte, zu stürzen. In meiner Vorstellung sah ich
den Ärmsten mit durchbrochenem Leinwandbild,
den Rahmen als Halskrause auf den Schultern, zu
Boden fällen. In letzter Minute konnten ihn helfen-
de Hände aber stützen. Trotz mehrerer ähnlicher
Momente wurden die Bilder schadlos an diesem
Tag gelagert.
Nach meiner Rückkehr von Moosham nach
Wien hatte ich im fürstlich-liechtensteinischen
«Bankgassenpalais» im 1. Bezirk eine Unterredung
mit Flerrn Ratjen, den ich damals kennenlernte,
welcher Besprechung die Prinzen Georg und Hein-
rich und der Spediteur Herr Weiss beiwohnten.
Ratjen teilte mit, dass die Ausfuhrbewilligung für
die zweite Garnitur in den nächsten Tagen zu er-
warten sei, er regte an, das Mooshamer Depot so-
fort zu räumen und nach Feldkirch zu bringen. Ich
stellte mich auf den Standpunkt, dass man mit
einer Weitersendung des Mooshamer Bergungsgu-
tes bis zur Vorlage der Ausfuhrbewilligung zuwar-
ten müsse. In Anbetracht der Schwierigkeit des Ab-
transportes nach dem Westen schlug ich vor, man
solle aus Vaduz eine Schleppmaschine mit Anhän-
ger beschaffen, womit der Transport ohne Umla-
26
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
den direkt über den Tauernpass durchgeführt wer-
den könne. Ratjen meinte, aus Vaduz könne man
nur Eisenbahnwaggons, aber keine Motorfahrzeu-
ge erwarten.
Die beiden Prinzen, mit denen ich nach Weg-
gang Ratjens die Sachlage noch besprach, waren
der Ansicht, ich solle die Bergung nach Moosham
fortsetzen, die Möglichkeit eines Transportes nach
Vaduz schien noch recht ungewiss, die Situation im
Osten Österreichs wurde aber von Tag zu Tag un-
haltbarer. Damals wurde in Vaduz auch, da man
die Unwahrscheinlichkeit, eine Ausfuhrbewilligung
für die erste Garnitur zu bekommen, scheinbar
richtig einschätzte, der Plan erwogen, diesen Be-
stand nach der Bodenseeinsel Reichenau bringen
zu lassen. Das auf der Insel gelegene Schloss Kö-
nigsegg gehörte dem bekannten Ziehharmonika-
fabrikanten Hohner, der Beziehungen nach Vaduz
hatte und sein Haus gerne für diesen Zweck bereit-
stellte. Man dachte dabei in Vaduz daran, dass es
möglich sein sollte, im Zeitpunkte der Gefahr die
Bilder über den See in die Schweiz zu transportie-
ren - eine Idee allerdings, die ins Gebiet der Phan-
tasie gehörte, wie ich bald an Ort und Stelle fest-
stellen sollte.
Am 11. Oktober hatte Dr. Steegmann in Berlin
beim Innenminister angesucht, die zweite Garnitur
in Vaduz bergen zu können, während er schon da-
mals für die Bilder der Reichsliste unter anderem
die Insel Reichenau als Bergungsort nannte. Das
Reichswirtschaftsministerium hatte bereits für die-
se ganze Angelegenheit Ratjen als Reichstreu-
händer bestimmt, welche Verfügung Steegmann
durch seine guten Beziehungen durchgesetzt hatte.
Die Bewilligung, diese sogenannte zweite Garnitur
nach Liechtenstein zu bringen, erfolgte am 7. No-
vember und man liess von Vaduz aus bereits
Schweizer Waggons nach Wien und Feldsberg ab-
rollen. Ratjen stand nun vor der Notwendigkeit,
sich mit den Herren der Reichsstatthalterei in Wien
ins Einvernehmen zu setzen, und kam am 1. No-
vember mit Dr. Dellbrügge, Dr. Seiberl und Dr. Berg
zusammen. Wie erwartet, begrüssten ihn die Her-
ren keineswegs freundlich, und der Ausgang der
Unterredung war recht negativ. Für uns war die
Tatsache der Bestellung Ratjens als Reichstreuhän-
der für die Ausfuhr von grösstem Wert, denn da-
durch waren alle uns ungünstig gesinnten staat-
lichen Stellen von einer Kontrolle meiner Ausfuh-
ren praktisch ausgeschlossen.
Die Wiener Stellen waren über die ganze von
Dr. Steegmann unternommene Aktion sehr erbit-
tert, weil ihnen dadurch praktisch die Kontrolle
über den ganzen fürstlichen Besitz entzogen wur-
de. Man wollte von mir Aufklärungen haben, und
ich rief Dellbrügge an und erklärte ihm, jederzeit
mit Auskünften zur Verfügung zu stehen. Diese Be-
sprechung fand am 2. November bei Dellbrügge
statt, der damals nicht mehr in dem prunkvollen
Büro Metternichs am Ballhausplatz sass, da dieses
damals bereits von Bomben zerstört war. - Ich ver-
suchte, seine Bedenken gegen unsere Bergungs-
massnahmen zu zerstreuen, legte ihm klar, dass
ich ja durch die Kriegslage gezwungen werde, mei-
ne sämtlichen Depots nach dem Westen zu verle-
gen und das Anbot des Staates, als neues Depot die
Salzbergwerke zu benützen, aus grundsätzlichen
Bedenken nicht annehmen könne. Dellbrügge war
recht unzugänglich, äusserte, er wolle von der
ganzen Bergung nach Liechtenstein am liebsten
nichts mehr hören, und liess durchblicken, man
werde mich zum Wehrdienst einberufen und die
Durchführung unserer Transporte selbst in die
Hand nehmen.
Die Einberufung zur deutschen Wehrmacht hing
ja schon seit einigen Jahren über meinem sorgege-
plagten Haupt. Wir hatten einen deutschen Gene-
ral, der das Wehrersatzkommando in Wien leitete
und der, sehr zum Glück, ein begeisterter Jäger
war. Ein bis zweimal im Jahr wurde er von unserer
Wiener Verwaltung nach Feldsberg eingeladen, um
einen besonders guten Hirschen zu schiessen. Zwei
höhere Offiziere kamen immer mit. Ich lernte da-
mals viel von den norddeutschen Trinksitten. Be-
sonders originell fand ich es, dass ich als Gastgeber
im grossen Marmorsaal des Schlosses Feldsberg
bei dem feierlichen Abendessen, wenn ich das Glas
erhob, den Gästen tiefernst in die Augen blicken
musste, dann schlugen alle, sitzend, unter dem
Tisch die Fersen aneinander und man trank mit
27
ebenso ernster Miene. Es war ganz unmöglich, ein-
fach Prost zu sagen; denn das machten doch nur
die «schlappen Ostmärker», wie deutsche Zungen
uns Wiener damals gerne nannten. Eines Tages
teilte der General mir mit, er sei jetzt woanders
hinversetzt worden, er könne mich leider nicht
weiter vom Militär frei halten. Und so erreichte
mich dann doch im Spätherbst 1944 während des
Kurzbesuches daheim in Niederösterreich die
schriftliche Einberufung, welche ich zerriss, um
mich bei einer behördlichen Befragung auf den
Nichterhalt eines solchen Schreibens ausreden zu
können.
In der Nacht noch schnürte ich meinen Ruck-
sack im Bewusstsein, meine Familie und mein Hei-
matdorf in Niederösterreich so bald nicht wieder
zu sehen und fuhr in der Morgendämmerung nach
Wien und mit der Westbahn Richtung Feldkirch.
Diese Fahrt dauerte damals zwei Tage, da die
Bahntrassee wiederholt von den Fliegern zerstört
war und man mit kleinen Bauernwagen transpor-
tiert wurde bis dort, wo die Schiene wieder intakt
war. In Vaduz erhielt ich dann liechtensteinische
Papiere.
Tags darauf fuhr ich mit Ratjen über Bregenz
nach Konstanz, wo wir mit Dr. Vogt aus Vaduz und
mit Dr. Hohner zusammentrafen. Mit dem letzteren
fuhr ich dann nach der Insel Reichenau. Das
Schloss Königsegg war für die Unterbringung des
Gaminger Bestandes wohl geräumig genug, klima-
tisch war es allerdings recht feucht. Mir machte
ausserdem auch der Umstand Sorgen, dass man
auf der Reichenau wie in einer Mausefalle sass, da
die Insel nur mit einer kleinen Brücke mit dem
Festland verbunden war.
Dieser Bedenken wegen benützte ich auf der
Rückfahrt meinen Aufenthalt in Feldkirch, um mich
nach einer anderen Bergungsmöglichkeit umzuse-
hen. Die dortige Vertretung der Speditionsfirma
Weiss unterstützte mich in diesem Bemühen. Ich
sah mir die Schattenburg an, die mir wegen des
vielen Holzwerkes recht feuergefährlich schien.
Der Feldkircher Bürgermeister war sehr entgegen-
kommend und hätte mir die Burg wohl zur Verfü-
gung gestellt. Ich fuhr dann noch nach Hohenems,
besichtigte dort den Palast des Marcus Sitticus, der
sehr geräumig ist und auch hohe Tore und Türen
besitzt. Beim Hohenemser Bürgermeister, zu dem
ich dann ging, um mich wegen der Unterbrin-
gungsmöglichkeit im Palast zu erkundigen, wurde
mir mitgeteilt, er habe eben von der Feldkircher
Kreisbehörde die Anweisung bekommen, mir eine
Unterbringung von Kunstgut nicht zu gestatten.
Sofort besuchte ich diese Behörde in Feldkirch, die
sich wieder hinter einer Anordnung, die sie angeb-
lich vom Reichsverteidigungskommissariat bekom-
men habe, verschanzte. Vermutlich hatten die Wie-
ner Behörden bereits Befehl gegeben, mir in der
Nähe der Grenze kein Depot zukommen zu lassen.
Heute muss ich sagen, dass es ein wahres Glück
war, in Hohenems nicht unterzukommen. Denn in
diesem Schloss verbrannte zirka fünf Jahre später
der Grossteil der Gemäldesammlung des Grafen
Lanckoronski infolge eines schadhaften Kamins. -
In Feldkirch traf ich dann den Fürsten, dem ich
über Reichenau und meine Erfahrungen in Vorarl-
berg berichtete.
Aus dem Westen wieder nach Wien zurückge-
kehrt, war ich am 11. November nochmals bei Re-
gierungspräsident Dr. Dellbrügge, um mit ihm über
die durch die Ausfuhrbewilligung für die zweite
Garnitur geschaffene neue Lage zu beraten. Als ich
die Frage aufwarf, was nun mit der Galerie gesche-
hen solle, waren sowohl Dellbrügge als auch Sei-
berl, der der Besprechung beiwohnte, sehr ableh-
nend und verwiesen mich auf das Salzbergwerk in
Lauffen. Neben der Galerie wollten sie auch die
Ausfuhr der graphischen Sammlung unter keinen
Umständen gestatten. Schliesslich erreichte ich,
dass die Galerie in zwei Teile geschieden wurde, in
einen wertvollsten, der keinesfalls das Gebiet des
ehemaligen Österreich verlassen dürfe, und einen
weniger wertvollen Teil, der ausserhalb Österreichs
gebracht werden dürfe, wobei es kennzeichnend
für die damalige Lage war, dass die Herren erklär-
ten, ob nach Deutschland oder Liechtenstein sei
ihnen gleich. Man erwartete vom Fürsten nur eine
bindende Erklärung über den Zeitpunkt der Rück-
führung, keinerlei andere Garantien wurden ge-
fordert.
28
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Dieses Ergebnis teilte ich dem Fürsten und Dr.
Steegmann mit und liess in Feldsberg die Möbel
des Schlosses verpacken. Steegmann kam am
15. November mit Ratjen nach Wien und besuchte
alle in Betracht kommenden staatlichen Stellen,
ohne greifbaren Erfolg. Seine Interventionen
dauerten bis zum 22. November.
Anlässlich der Durchführungsbesprechungen
für die Bergung der zweiten Garnitur in Vaduz war
vereinbart worden, dass das Kunsthistorische Mu-
seum bestimmen sollte, welche für Österreich be-
sonders wichtigen Bestände von dieser Bergung
auszuschliessen wären. Zu diesem Zweck kam ich
am 24. November im Kunsthistorischen Museum
mit Dr. Dworschak, Seiberl, Berg und Strohmer zu-
sammen, die diesmal sehr entgegenkommend wa-
ren (wie übrigens die Herren des Kunsthistori-
schen Museums immer). Man bestimmte die gross-
formatigen Bronzen, an deren Transport ich wegen
des Gewichtes gar nicht denken konnte, als ge-
sperrt, ferner die Decius-Mus-Teppiche (die bereits
in Vaduz waren) und das Silberrelief Erzherzog
Maximilians, welches sich auch bereits in Liechten-
stein befand.
Für mich persönlich wurde es wegen der Gefahr
eines Zugriffes des Militärs nun Zeit, selbst an den
Übertritt ins Ausland zu denken. Zu diesem Zweck
besorgte mir Dr. Steegmann in Berlin einen zur
Ausreise gültigen Reisepass (ein Papier, das man
damals überhaupt nicht mehr bekam), damit ich,
sowie ich zum Militärdienst einberufen würde, wo-
mit nach den Äusserungen Dellbrügges stets zu
rechnen war, sofort nach Liechtenstein fahren kön-
ne. Diese Einberufung erhielt ich, wie bereits er-
wähnt, bald nachher.
Die Transporte von Feldsberg und Eisgrub nach
Vaduz stockten vor allem daran, dass man mich
von Vaduz aus mit Packmaterial völlig ungenügend
versorgte und ich mir das Notwendige unter stän-
dig steigenden Schwierigkeiten beschaffen musste.
Auch die Waggons stockten plötzlich wieder. Vom
6. bis 8. Dezember war ich in Feldsberg, um die
Verpackung zu beaufsichtigen. Steegmann hatte
mir von Berlin aus zehn Waggons versprochen, die
mir die Reichsbahn zur Verfügung stellen sollte.
Bei meiner Rückkehr von Feldsberg erfuhr ich,
dass die SS das Fürstliche Talschloss Seebenstein
beschlagnahmt hatte, und am 12. Dezember war
ich draussen und führte das dort geborgene Gut
nach Wien. Inzwischen bereitete ich den Spediteur
Steinlechner in Mauterndorf [Salzburg] darauf vor,
dass ich Moosham räumen würde, und bat ihn, zu
sondieren, ob ich das Bergungsgut nicht über den
Radstätter Tauernpass führen und dann in Radstatt
verladen könne. Dieser Weg, der sich leider nicht
als gangbar erwies, hätte mir einen Umweg von
300 km erspart.
Anders als der hier abge-
bildete schwer beschädigte
kaiserliche Imperialwagen
überstand der Goldene
Wagen des Fürsten Joseph
Wenzel den Krieg in un-
versehrtem Zustand.
29
Am 16. Dezember hatte ich nun tatsächlich von
der Reichsbahn fünf Waggons bekommen, zwei
nach Feldsberg, zwei nach Eisgrub und einen nach
Wien. Sie wurden dort beladen und rollten bald
nach Vaduz ab. Damals verlud ich in Feldsberg
unter anderem den Goldenen Wagen und zwei an-
dere schöne Kutschen. Langsam langten auch aus
Vaduz die Schweizer Waggons ein, und ich konnte
die Depots Feldsberg und Eisgrub räumen. Sehr
am Herzen lag mir nun schon Sternberg und die
Veste Liechtenstein, die ich aber wegen der völli-
gen Unmöglichkeit, Lastautos zu bekommen, nicht
ausräumen konnte.
Mitte Dezember hatte ich aus Wien den Haupt-
teil des Kunstgewerbes der fürstlich-liechtensteini-
schen Sammlungen in einem Waggon versandt, aus
Feldsberg waren zwei Waggons mit Möbeln, Bil-
dern und Aquarellen abgerollt, Ende Dezember
gingen weitere Waggons mit Material aus der
Bankgasse, Aiserbachstrasse und Rossau nach
Schaan ab. Da die Transportwege schon äusserst
unsicher waren, mussten wir jeden Waggon verfol-
gen und evident führen, bis er in Vaduz ankam. Ich
telegraphierte die Abreise und Vaduz bestätigte mir
die Ankunft.
Ende Dezember 1944 waren ungefähr zehn
Waggons von Wien nach Feldkirch respektive
Schaan abgegangen. Die immer steigende Schwie-
rigkeit, Lastautos zu bekommen, hatte es bisher
unmöglich gemacht, die Depots von der Veste
Liechtenstein und von Sternberg zu bergen. Graf
Strachwitz, der Ende Dezember nach Vaduz fuhr,
versprach mir, einen Traktorenzug zu besorgen.
Auch versuchte ich in Wien mit der Speditionsfir-
ma Schenker, zu der ich Beziehungen hatte, zu ver-
handeln, um ein Lastauto für die Evakuierung der
Veste Liechtenstein zu bekommen. Davon erfuhr
die Konkurrenzfirma Gebrüder Weiss, deren Besit-
zer anfangs Jänner 1945 mit dem Fürsten in Feld-
kirch sprach, worauf ich von Seiner Durchlaucht
den Auftrag bekam, nur die Firma Weiss zu benut-
zen und mit Schenker nicht zu verhandeln. Ausser-
dem teilte mir damals der Exponent der Firma
Weiss mit, dass der von mir durch Graf Strachwitz
angeforderte Traktorenzug bereits unterwegs war.
Was eigentlich los war, habe ich nie erfahren. Der
Lastautozug kam nie (wurde auch nie wegge-
schickt), die Firma Weiss konnte weder die Veste
Liechtenstein noch Sternberg evakuieren und das
schöne Inventar von Sternberg ging ebenso verlo-
ren wie das Depot der Veste Liechtenstein, das in
wenigen Monaten die Russen übernahmen.
Das Denkmalamt war über die Transporte nach
Liechtenstein keineswegs erfreut, sah aber ein,
dass es sie nun nicht mehr verhindern könne. Von
Baron Berg erhielt ich einen Ende Jänner datierten
Brief, in dem er verschiedene Formalfehler bemän-
gelte, von deren Einhaltung ich mich deshalb im-
mer drücken musste, weil sonst hervorgekommen
wäre, dass ich so manches, was ausfuhrverboten
war, nach Vaduz sandte. Die jeweiligen Packlisten
der Waggons sollten vor dem Abtransport von den
zuständigen Gaukonservatoren vidiert werden,
was schon rein praktisch unmöglich war, denn die
Packlisten standen immer erst dann fest, wenn der
Waggon fertig beladen war. Da konnte man ihn
dann nicht stehen lassen, bis ich das jeweilige
Visum der staatlichen Stellen bekommen hatte,
sonst wäre die Hälfte des Bergungsgutes durch
Bombenangriffe zugrunde gegangen. Von Moos-
ham z.B. hätte ich jeweils zum Gaukonservator
nach Salzburg fahren müssen, was eineinhalb Tage
dauert.
Soviel mir derzeit noch erinnerlich ist, - die mei-
sten Notizen über meine persönlichen Reisen feh-
len - fuhr ich gleich nach Neujahr 1945 nach
Vaduz, um dort nach der Unterbringung des Ber-
gungsgutes zu sehen. Mein Mitarbeiter Schmöllerl
war inzwischen soweit informiert, dass er die wei-
ter einlangenden Waggons beladen und absenden
konnte. Meine Anwesenheit war in Wien ausser-
dem aus zwei Gründen nicht mehr wünschenswert.
So sollte ich für die Stellen des Denkmalamtes nicht
mehr erreichbar sein, da man einerseits ahnte,
dass ich die Ausfuhrbewilligung überschritten hat-
te, ausserdem drängte man zu diesem Zeitpunkt
bereits energisch darauf, dass ich mein Gaminger
Depot in das Salzbergwerk nach Lauffen bei Ischl
bringe, wohin auch die Bestände des Kunsthistori-
schen Museums aus Gaming bereits abgegangen
30
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
waren. Gegen diese Überführung verwahrte ich
mich ausdrücklich dem Denkmalamt gegenüber.
Meine Absicht war, diese Bestände doch noch nach
der Reichenau bringen zu können, und ich drang in
Dr. Steegmann, diese Bewilligung, der sich Wien
mit aller Macht widersetzte, so rasch als möglich
zu beschaffen. Der wieder konnte eben auch nicht
zaubern, und bei dem allgemeinen Zerfall [des
deutschen Reiches], der damals besonders in Ber-
lin bereits fühlbar war, ging alles riesig langsam.
Der Aufenthalt in Vaduz war ein reiner Genuss
(denn hier herrschte Frieden, in Österreich dage-
gen Krieg), die Reise allerdings weniger. Unterwegs
gab es immer die üblichen Aufenthalte bei Flieger-
angriffen, dann fortwährendes Umsteigen und lan-
ge Wanderungen über zerstörte Teile des Schienen-
stranges. In Vaduz war ich mit der Deponierung
des Bergungsgutes beschäftigt und mit dem Aus-
bau weiterer Depots.
Ende Jänner 1945 fuhr ich wieder nach Wien,
um nun das in Moosham deponierte Kunstgut nach
Liechtenstein zu bringen. In Wien hielt ich mich
nur vorübergehend auf, auch daheim in Nieder-
österreich durfte ich mich bei Tageslicht nicht
mehr zeigen, weil man mich schon zum Volkssturm
einberufen hatte. Bei einer Verhaftung durch deut-
sche Behörden, für die ich als Deserteur galt, hätte
mir aller Wahrscheinlichkeit nach die standes-
rechtliche Erschiessung gedroht. Daher war der
abgelegene Ort Moosham ein angenehmer Aufent-
halt. In Wien war schon alles derart schwierig und
desorganisiert, dass jede Arbeit bald unmöglich
wurde.
Am 25. Jänner kam ein Telegramm aus Vaduz,
dass die von mir in Mauterndorf benötigten Wag-
gons abgegangen wären. Da Zivilpersonen nur
mehr mit besonderer Genehmigung reisen durften,
musste die Kabinettskanzlei für mich und Schmöl-
lerl um eine derartige Bewilligung ansuchen. Dies
wurde erst einmal am 26. Jänner abgelehnt, ich
suchte dann die Reise mit Auto durchzuführen, was
sich auch nicht machen liess, schliesslich bekamen
wir doch noch eine Bewilligung für die Eisenbahn
und fuhren am Montag, den 29. Jänner, ab. Mit uns
fuhren Flans Lechner von der Speditionsfirma und
zwei Packer. In Unzmarkt fanden wir schon vier
Schweizer Möbelwagen auf Schweizer Loren ver-
laden vor, die Möbelwagen wurden eben auf die
Loren der Schmalspurbahn umgeladen.
Diese Fahrt und der Aufenthalt in Mauterndorf
wird mir deshalb stets in Erinnerung bleiben, weil
damals alles passierte, was sich unserem Unter-
nehmen nur entgegenstellen konnte. Ich habe nie
mehr eine derartige Anhäufung von Widrigkeiten
und Hindernissen erlebt wie bei dieser Expedition.
Schon in Unzmarkt teilte mir der Bahnhofvorstand
mit, er könne die Schweizer Loren, aufweichen die
Möbelwagen gekommen waren, nicht stehen las-
sen, bis die beladenen Möbelwagen aus Mautern-
dorf wieder zurück nach Unzmarkt kämen, da dies
verboten sei. Für mich hiess das, wenn meine Mö-
belwagen beladen in Unzmarkt einträfen, stünden
dort keine Loren für den Weitertransport zur Verfü-
gung und das Bergungsgut käme in Gefahr, bom-
bardiert zu werden. (Gerade am Vortag war der
Bahnhof von Unzmarkt von Tieffliegern stark be-
schossen worden.) Ich stellte dem Bahnhofvor-
stand dies alles vor und erreichte schliesslich, dass
er mir versprach, das Möglichste zu tun, dass im-
mer eine Lore für mich bereitstehen sollte. Ich
muss auch sagen, dass er seine Zusage immer brav
gehalten hat und ich diesbezüglich keine weiteren
Schwierigkeiten hatte.
Spät abends kamen wir in Mauterndorf an, und
am nächsten Vormittag verging viel Zeit mit ver-
schiedenen Telefonaten. Das Zollamt in Judenburg
musste erst die Schweizer Waggons freigeben, ich
ersuchte um Beistellung eines Zöllners, der die be-
ladenen Möbelwagen gleich plombieren könne. Die
Reichsbahndirektion in Villach teilte mir mit, dass
sie mir meine Schweizer Loren, gleich nachdem die
Möbelwagen auf die Schmalspurbahn umgeladen
wären, wegnehmen müsse. Ausserdem machte
man mich darauf aufmerksam, dass ich diese Wa-
gen nicht nach dem Ausland aufgeben könne, weil
eine allgemeine Auslandsperre bestehe. Ich könne
sie aber auch nicht nach Feldkirch aufgeben, weil
dazu eine besondere Bewilligung, die ich nicht hät-
te, nötig sei. Das alles zusammengenommen be-
deutete, dass ich in Mauterndorf überhaupt nichts
31
unternehmen könne. Wir entschlossen uns aber
doch, die Möbelwagen einmal zu beladen und woll-
ten dann sehen, wie die Sache weiterginge. Noch
vormittags wanderten wir nach Moosham und
stellten fest, dass jene zirka 1200 Meter lange
Waldstrasse, die die Burg mit der Reichsstrasse
verbindet, so tief verschneit war, dass ein Trans-
port ausgeschlossen ist.
Nach Mauterndorf zurückgekehrt, besprach ich
die Räumung der Burg mit Steinlechner, der mir
nach Kräften an die Hand ging. Ich konnte für uns
einen Schneepflug beschaffen für den nächsten Tag
und ich bekam auch Hilfskräfte zum Beladen. Diese
Helfer bekamen wir aus einem Reichsarbeits-
dienstlager in der Nähe der Burg, wo wir Besuch
machten und wo man uns gut entgegenkam. In
Moosham musste ich leider feststellen, dass meine
dort im Burgverliess deponierte Weinreserve weg
war. Ich hatte diesen Wein für die Hilfskräfte mitge-
nommen, da man damals mit Spirituosen noch
recht viel erreichen konnte. Vier Kisten voll Felds-
berger Weines hatte ich im Herbst im Burgverliess
versteckt, die waren aber bei der grossen Kälte auf-
gefroren und so den Schlossbewohnern aufgefal-
len. So hatten sie meinen schönen Wein bis auf
einen kleinen Rest ausgetrunken.
Abends kamen noch zwei Möbelwagen in Mau-
terndorf an. Dann erschien Steinlechner und teilte
uns mit, dass der Schneepflug nicht um sieben,
sondern erst um 9 Uhr morgens beginnen könne.
Auch der angeforderte Zollbeamte käme nicht.
Nachmittags hatte es zu schneien begonnen,
und als wir am 31. Jänner früh aufwachten,
schneite es noch immer weiter. Schon erschien
auch Steinlechner mit der Nachricht, der Schnee-
pflug der Reichsstrassenverwaltung dürfe privat
nicht verwendet werden, da er für die Freihaltung
des Tauernpasses benötigt würde. Ich telefonierte
darauf nach Radstadt mit dem Strassenmeister,
von dem ich erfuhr, er habe nur einen Schmal-
pflug; er dürfe es nicht riskieren, ihn auf einer Pri-
vatarbeit etwa zu beschädigen. Für heute sei er
übrigens schon mit Arbeit versehen. Meinen Vor-
schlag, ich würde den nötigen Brennstoff ersetzen,
entgegnet er, das Gerät sei überhaupt nicht zu er-
setzen, wenn es beschädigt würde. Mein Vor-
schlag, mir Schneeschaufler zur Verfügung zu
stellen, wurde wegen Personalmangel abgelehnt.
Als letzten Ausweg nahm ich Leute vom Reichs-
arbeitsdienst, die uns den Waldweg ausschaufeln
sollen. Das bedeutete allerdings ziemlichen Zeit-
verlust.
Am 31. Jänner um die Mittagszeit kam der Zoll-
beamte, mit dem ich eine lange Unterredung
wegen der Abfertigung der einzelnen Transporte
hatte. Er war umgänglich und erklärte sich bereit,
die Möbelwagen zu plombieren. Nachmittags fuhr
ich mit Steinlechner zur Waldstrasse, die Arbeit
der Schneeschaufler war gänzlich ungenügend,
und wir besorgten weitere Hilfskräfte für den näch-
sten Tag. Abends begann es zu regnen; zwei wei-
tere Möbelwagen kamen aus Unzmarkt an.
Am nächsten Tag, Donnerstag, den 1. Februar
1945, war Tauwetter eingetreten, für diese Gegend
eine grosse Ausnahme in dieser Zeit, für meine
Transporte recht erschwerend, denn nun wurde
der Schnee schwer und die Schneeschaufler arbei-
teten langsamer. Diese Arbeit ging so schleppend,
dass ich mit den Packern mitschaufelte, bis die
Fahrbahn frei war. Mit Zigaretten mietete ich den
ob der Burg wohnenden Bauern Gappmeier, dass
er mit seinen Ochsen und Kühen den Transport des
Bergungsgutes von der Burg bis zur Reichsstrasse
auf Schlitten übernahm. Denn durch den Regen
war der Schnee so aufgeweicht, dass Steinlechner
trotz des Ausschaufeins sich nicht getraute, die
Waldstrasse mit seinen schweren Lastautos zu be-
fahren. Abends regnete es und alles wurde noch
trostloser.
Freitags, den 2. Februar 1945, begann die Eva-
kuierung der Burg. Wir führten das Bergungsgut
auf Gappmeiers Schlitten, auf die wir für diesen
Zweck einen Aufbau gezimmert hatten, bis zur
Reichsstrasse, dort mussten die Sachen in dem
nassen Schnee, den wir notdürftig mit Brettern
deckten, gelagert werden und Steinlechner verlud
sie auf seinen Lastwagen. Er brachte mit seinem
Auto die Sachen nach Mauterndorf, wo am selben
Tag noch ein Möbelwagen beladen und abgesendet
werden konnte. Trotz des Einspruches der Reichs-
32
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
bahndirektion in Villach war es möglich, die Wag-
gons bis nach Schaan-Vaduz aufzugeben, wohl des-
halb, weil der Bahnhof Schaan-Vaduz noch ein
Bahnhof der deutschen Reichsbahn war und die
Mauterndorfer nicht wussten, dass er bereits auf
dem Gebiet des Fürstentums lag. Es schien die
Sonne, und wir hofften, dass der Waggon über
Unzmarkt hinausrollen würde und der dortige
Bahnhofvorstand seine Zusage halten könne. Sehr
brav waren die Leute des Reichsarbeitsdienstes,
meist junge Polen, Zwangsarbeiter, die das Ber-
gungsgut durch die sehr weitläufige Burg heraus-
trugen zu den Schlitten.
So ging es auch am nächsten Tag weiter, es gab
manches Missgeschick, so platzten die meisten
Verschläge mit den Kupferstichen und die Mappen
lagen im Schnee, eine Kiste mit Archivalien des Fa-
milienarchives zerbarst, als sie einem der Polen
auskam und über die Stiegen in den Burghof hin-
untersprang. Aus dem rinnenden Schnee musste
alles wieder zusammengesammelt und getrocknet
werden. Sonntag mussten wir rasten, ob wir woll-
ten oder nicht, es war herrliches sonniges Wetter.
Montag früh war Steinlechners Auto defekt und wir
konnten erst mit ziemlicher Verspätung anfangen.
Inzwischen waren natürlich in Mauterndorf die
am Bahnhof stehenden Schweizer Möbelwagen
aufgefallen, und das war nicht gut. Die Leute in
Mauterndorf hatten zu viel Kombinationsgabe, und
da die Burg in Mauterndorf dem Reichsmarschall
Göring gehörte, entstand bald das Gerücht, dass
dieser seinen Besitz nach der Schweiz abtranspor-
tiere, bevor der Feind komme. Etwas Unangeneh-
meres hätte nicht passieren können, wenngleich
wir im Moment nur darüber lachten. Eine Fuhre
Bilder hatten wir eben in Mauterndorf eingeladen,
als der Bahnhofvorstand aufgeregt zu uns kam mit
einer Depesche des Landrates von Tamsweg fol-
genden Inhaltes:
«Der Gauleiter von Salzburg als Reichsverteidi-
gungskommissär hat per sofort jeglichen Abtrans-
port von Wagen mit Gut aus Fürst Liechtenstein-
schem Besitz vorderhand verboten. Es sind daher
die noch abzutransportierenden Waggons nicht ab-
zufertigen. Tamsweg, 5. 2.1945.»
Steinlechner wurde zum Fahrbereitschaftsleiter
nach Tamsweg vorgeladen, um Auskunft über die
Durchführung der Transporte zu geben. So stand
ich nun ohne jedes Motorfahrzeug nur mit meinen
Ochsenschlitten da. Ich liess die Schlitten weiter
von den Polen beladen und zockelte nun auf diese
langsame Weise den langen Weg bis zum Bahnhof
Mauterndorf, wo ich meinen Wagen ohne Stein-
lechners Hilfe fertig belud. Es war klar, dass es so
nicht weitergehen konnte; denn ich hatte den
ganzen halben Tag hindurch nur drei Ochsenschlit-
ten nach Mauterndorf gebracht. So fuhr ich diens-
tags früh mit Steinlechner nach Tamsweg zum
Landrat. Zwischen Schneewänden, die so hoch wa-
ren wie der Autobus, schwankte der überfüllte
Wagen dahin. Selbst für diese kurze Fahrt war eine
Fahrbewilligung notwendig gewesen.
In Tamsweg teilte uns Dr. Simel mit, dass die Be-
völkerung der ganzen Umgebung sehr aufgebracht
sei über meine Transporte, weil sie dachten, ich
führe sie für den Reichsmarschall Göring durch,
der wegen der verzweifelten Kriegslage davonlau-
fen wolle. Ausserdem habe man auf den herr-
schenden Waggonmangel hingewiesen und ver-
langt, man solle meine Waggons beschlagnahmen
und damit Lebensmitteltransporte durchführen. Es
habe eine Konferenz der Bürgermeister des Bezir-
kes stattgefunden, wo auch die Ansicht vertreten
wurde, Graf Wilczek flüchte sein Eigentum ins
Ausland. Der Kreisleiter habe die Situation dem
Gauleiter gemeldet, der darauf das dem Bahnhof-
vorstand übersandte Verbot erliess. Nur beim Gau-
leiter in Salzburg sei eine Aufhebung des Verbotes
zu erwirken. Ich wies daraufhin, dass nur unbedeu-
tende Reste mehr in Moosham lagerten, zeigte alle
meine amtlichen Dokumente und erhielt schliess-
lich die Bewilligung, die Möbelwagen fertig zu bela-
den. Auch die Zollplomben durften noch angelegt
werden. Wegen des Absendeverbotes müsse ich
aber mit dem Regierungspräsidenten von Salzburg
sprechen, sonst blieben meine beladenen Möbel-
wagen eben in Mauterndorf stehen.
Inzwischen hatte sich bereits der Bahnhofvor-
stand von Unzmarkt gemeldet: Er frug an, wann
meine Möbelwagen kämen, er habe heimlich Loren
33
bereitgestellt, die er aber anderweitig verwenden
müsse, wenn die Möbelwagen nicht ankämen. Ich
war so gerührt über dieses Entgegenkommen, dem
einzigen einer amtlichen Stelle, dass ich die rest-
lichen Weinflaschen und Zigaretten verpackte und
dem Bahnhofvorstand nach Unzmarkt schickte mit
der Nachricht, die Möbelwagen würden umgehend
abgesendet werden. Nachmittags rief ich den Re-
gierungsspräsidenten Dr. Laue in Salzburg an, schil-
derte die Situation, und er sicherte mir zu, mit dem
Gauleiter sprechen zu wollen. Abends erreichte
mich im Hotel Steinlechner, wo ich mir mit den
Packern Zeit und Ärger mit Kartenspielen vertrieb,
die Nachricht, der Gauleiter habe das Abferti-
gungsverbot zurückgezogen.
Am nächsten Tag schneite es wieder. In Moos-
ham erfuhren wir, der Reichsarbeitsdienst werde
heute vereidigt und arbeite deshalb nicht. Auch der
Bauer Gappmeier hatte andere Arbeit und wir sas-
sen den ganzen Vormittag missmutig herum. Nach-
mittags kam der Betrieb doch wieder in Schwung
und wir konnten endlich die Räumung des Depots
beenden. Tags darauf, am 9. Februar, fuhren wir
wieder nach Wien.
Während ich in Moosham weilte, wurden in
Wien weitere Waggons beladen, diesmal vorwie-
gend Archivalien und Bücher. Am 10. Februar war
ich wieder in Wien und erfuhr, dass das Denkmal-
amt (Dr. Berg) bereits sehr unangenehm wurde, da
die Vereinbarungen von uns nicht strikte eingehal-
ten worden waren. Ich fürchtete, dass man mir die
weitere Ausfuhr sperren würde. Wegen Evakuie-
rung des Depots der Veste Liechtenstein verhan-
delte ich mit der Spedition, da die Telefonverbin-
dung in Wien nicht mehr klappte, schrieb ich am
13. Februar an die Gebrüder Weiss, man solle so-
fort ein Lastauto zur Burg senden und das dortige
Bergungsgut nach Wien bringen. Weiss teilte mir
umgehend mit, dass es unmöglich sei, ein Lastauto
noch zu beschaffen, er könne den Transport aus
der Veste Liechtenstein nicht übernehmen.
Inzwischen war Dr. Berg wegen Transportes
meines Gaminger Depots ins Salzbergwerk nach
Lauffen sehr dringlich geworden. Ich liess ihm
durch meinen Mitarbeiter Schmöllerl mitteilen,
dass ich für kurze Zeit abwesend sei, er möge mit
dem Transport auf jeden Fall warten, bis zu meiner
Rückkehr. Mir ging es darum, diese Verbringung
auf jede mögliche Weise solange zu verzögern, bis
Dr. Steegmann die Bewilligung für eine Verlage-
rung von Gaming nach der Insel Reichenau erhal-
ten hatte.
Zu dieser Zeit hatte sich nun in Wien auch die
Devisenstelle [Zollbehörde] gemeldet, welche fest-
stellen wollte, ob ich den Umfang der zur Ausfuhr
bewilligten Gegenstände nicht überschritten hatte.
Dies geschah vermutlich auf Intervention des staat-
lichen Denkmalamtes, welches nun auf dem Um-
weg über diese Behörde versuchte, meine Trans-
porte zu verhindern.
Am 19. Februar fuhr ich - nach einem kurzen
Aufenthalt in meinem Heimatdorf Giesshübl in Nie-
derösterreich - nach Vaduz, um dort die Einlage-
rung des Bergungsgutes aus Moosham, welches
inzwischen in Vaduz eingetroffen war, durchzu-
führen. Auch musste ich weg, da man in der
Reichsstatthalter ei in Wien erfahren hatte, dass ich
aus Moosham verbotene Bestände ausgeführt hat-
te. Nun war gedacht, dass ich in Vaduz blieb, bis
die Verhandlungen wegen der restlichen Ausfuhr
abgeschlossen wären, und dann erst wieder nach
Wien käme, um den Rest zu bergen.
Ich dachte, in spätestens vierzehn Tagen wieder
daheim zu sein. Es ist natürlich leicht und billig, im
Nachhinein von Ahnungen zu sprechen, doch erin-
nere ich mich genau eines deutlichen Gefühles bei
dem Abschied von meiner Familie, dass diesmal
nicht alles glatt gehen sollte. Mir versuchte ich, dies
auszureden, den anderen gegenüber verschwieg
ich es gänzlich. Auf einem Lastauto, das eben zur
Verfügung stand, fuhr ich ab, und es war ein na-
menlos wehes Gefühl, wie meine Heimat und die
winkenden Lieben hinter mir verschwanden und
versanken. Die Reise nach Vaduz war schon äus-
serst beschwerlich. Ich legte die Strecke nur zum
Teil mit der Bahn zurück, teils musste ich wegen
Zerstörung von Brücken und Schienen Lastautos
benutzen, manchmal wieder Leiterwagen oder
Strecken zu Fuss gehen. Am zweiten Tag abends
war ich in Vaduz.
34
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
In Vaduz herrschte grosse Betriebsamkeit, Wag-
gon um Waggon rollte an, das Schloss glich einem
grossen Depot, und Kisten türmten sich auf Kisten.
Ich konnte vorderhand nicht nach Wien zurück-
kehren, da ich unmittelbar vor meiner Abreise die
Einberufung an die Front, die mir Dellbrügge
schon lange versprochen hatte, bekam. Als ich am
20. Februar in Feldkirch ankam, hatte ich noch
den mir bekannten dortigen Gestapochef Kriener
besucht, um herauszubekommen, ob er von meiner
Einberufung schon benachrichtigt worden sei.
(Denn aus dem Zug heraus wollte ich mich doch
nicht verhaften lassen.) Sehr erleichtert stellte ich
damals fest, dass Kriener noch nicht informiert
war. Wenige Tage später, als ich ihn dann einmal
zufällig in Vaduz traf, war er allerdings bereits voll
im Bilde. Nun musste ich vorderhand in Vaduz blei-
ben und hoffen, wenn es galt, die Bestände aus
Gaming zu holen, bei den Deutschen durchzukom-
men.
Von meinem Mitarbeiter Schmöllerl aus Wien
erfuhr ich brieflich in Vaduz, dass Dr. von Berg im-
mer mehr wegen des Transportes der Gaminger
Bestände nach Lauffen drängte und dass Schmöl-
lerl es schliesslich auch nicht mehr verhindern
konnte, dass dieser Transport ins Bergwerk von
Lauffen bei Ischl im Salzkammergut gegen unseren
Willen durchgeführt wurde. Die Verbringung der
Gaminger Bestände nach Lauffen fand am 27. Fe-
bruar 1945 statt.
Aus Feldsberg und Eisgrub [Tschechien] wurden
weiter Waggons nach Vaduz abgesendet, leider er-
wies sich die Räumung der Veste Liechtenstein
[Niederösterreich] als nicht durchführbar. Auch mit
der Devisenstelle [Zollbehörde in Wien] hatte sich
meine Wiener Kanzlei herumzuschlagen, die im-
mer nachdrücklicher auf Übergabe der Ladelisten
drängte. Auch das Denkmalamt wollte noch Gra-
phikmappen durchsehen, um das für Österreich In-
teressante von einer Ausfuhr auszuschliessen. Die-
se Mappen waren zu der Zeit schon alle in Vaduz.
Durch die Schweizer Bundesbahn sandte ich
noch Anfang März einen Waggon nach Sternberg
[Tschechien] zur Räumung des dortigen Depots,
der aber unterwegs verschollen ist. Ich verhandelte
auch mit den schweizerischen Bahnwerkstätten
wegen eines Tiefladewagens, mit welchem ich die
grossformatigen Bilder aus Klosterneuburg holen
wollte. Leider dauerte aber die Adaptierung der
Wagen so lange, dass es nicht mehr zu dieser Fahrt
Ein Tiefladewagen der
SBB, wie er zum Transport
von fürstlichem Kunstgut
von Mauterndorf (Salz-
burg) nach Schaan (Liech-
tenstein) eingesetzt wurde
35
Der Autobus der Gebrüder In einem Telegramm an
Ritter in Mauren. Mit seine Mitarbeiter in Wien
diesem Fahrzeug sowie kündigt Gustav Wilhelm
einem Lastwagen mit die Ankunft von Trans-
Anhänger fuhren Andreas portfahrzeugen an
und Franz Ritter mit Gu-
stav Wilhelm Ende März
1945 nach Lauffen und
Gaming, um die dort
verbliebenen Kunstwerke
nach Liechtenstein zu
holen
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kam. Das Klosterneuburger Depot hat aber die
Eroberung durch die Russen unversehrt überstan-
den, und ich konnte diese Bilder im Jahre 1948 an-
lässlich einer Luzerner Ausstellung nach Vaduz
bringen.
Am 21. März erteilte der Reichsstatthalter von
Wien die Bewilligung, die Bestände aus dem Berg-
werk in Lauffen bei Ischl sowie die in Gaming
wegen ihrer Grösse zurückgebliebenen Bestände
auf die Insel Reichenau bringen zu können.
Während ich in Vaduz auf das Eintreffen dieser Ge-
nehmigung wartete, hatte ich die Fahrt nach Nie-
derösterreich organisiert. Ein Vaduzer Autobus-
unternehmer hatte sich bereit erklärt, diese Fahrt
zu unternehmen, und wir hatten bereits Vorberei-
tungen getroffen, als er mir unter dem Eindruck
der Ereignisse in Österreich aus Angst mitteilte, er
wolle doch nicht fahren. Damals hatten die Russen
Budapest bereits erobert, waren in wenigen Tagen
nach Wiener Neustadt gekommen und stiessen ge-
gen Wien vor.
Es gelang dann dem Kabinettssekretär Dr. Ritter,
Verwandte von ihm aus Mauren für diese Fahrt zu
gewinnen, Andreas und Franz Ritter.5 4 Andreas
montierte aus einem grossen Autobus die Sitze her-
aus, Franz stellte einen grossen Lastwagen mit An-
hänger bereit. Wir beluden die Wagen mit Lebens-
mitteln, in den Autobus bauten wir ein Radio ein
zum Abhören der Luftlagemeldungen, Lastwagen
und Anhänger wurden mit leeren Kisten zur Ber-
36
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
gung der Kunstwerke beladen, und wir waren ab-
fahrbereit, als die Bewilligung eintraf.
Am Mittwoch in der Karwoche, den 28. März
1945, fuhr ich um % 4 Uhr nachmittags in Mauren
ab. Ich drängte sehr auf diese Abreise; denn der
Unternehmungsgeist der Schofföre begann sich be-
reits wieder zu verflüchtigen, am Dorfplatz in Mau-
ren standen unsere grossen Autos, daneben zahl-
reiche Mitbürger, die sich in Vermutungen über das
Schicksal dieser Fahrt ergingen, anwesend waren
auch die weinenden Frauen der Schofföre mit allen
ihren Kindern, und ich war tatsächlich froh, als wir
abfuhren. Ich erinnere mich noch des dicken Tier-
arztes Dr. Matt 5 5, der sehr interessiert alle Vorbe-
reitungen verfolgte und mit Ratschlägen würzte.
Den weinenden Frauen versuchte er, Trost zu spen-
den dadurch, dass er immer wieder erklärte, er
würde sofort mitfahren, immer wieder rief er ihnen
zu: «No ned jammera», er strahlte über das ganze
Gesicht über die Sensation des Auszuges.
Eben hatte uns die Nachricht erreicht, dass die
Russen im Anmarsch auf Wien begriffen seien, und
es war für mich höchste Zeit, das Depot im Berg-
werk von Lauffen auszuräumen. In Dornbirn ka-
men wir um 20 Uhr durch, hatten dort noch eine
Besprechung mit einem Grafen Teleki, dessen Frau
wir bei der Rückfahrt aus Salzburg mitnehmen
sollten. Durch Bregenz und das Allgäu fuhren wir
nach München, welche Stadt wir um 3 Uhr mor-
gens erreichten. Sie bot einen grauenvollen, ausge-
brannten und ruinösen Eindruck, so dass ich mich
in ihr gar nicht mehr auskannte. Von der Frauen-
kirche fehlte ein Turm, am Hauptbahnhof, in den
ich hineinschaute, lag in der grossen Halle die
ganze Eisenkonstruktion des Daches auf den Schie-
nen. Ich dirigierte die Wagen durch die Stadt, aber
es passierte mir mehrmals, dass eine Strasse sich
plötzlich auf die Enge eines Feldweges verlor, da
die ganzen Häuser eingestürzt waren und auf der
Strasse lagen. Das schöne Rathaus war aufgerissen
und ausgebrannt, es sah im Mondschein gespen-
stisch aus.
Bei München erreichten wir die Autobahn, die
allerdings wegen Schnee nur auf einer Seite be-
fahrbar war. Nun ging es flott weiter. Stunde um
Stunde verrann bei dieser nächtlichen Fahrt, vor
mir hatte ich einen Radioapparat montiert und
hörte stündlich die Nachrichten über Einflüge von
feindlichen Flugzeugen an, um rechtzeitig in Dek-
kung gehen zu können. Die anderen Nachrichten
besagten mir nichts Gutes, die Russen waren in
Ungarn im Vordringen. Gegen 5 Uhr morgens blie-
ben wir stehen. Wir legten uns im Autobus in den
Kleidern auf Packdecken hin und schliefen eine
Stunde.
Am nächsten Morgen (Gründonnerstag, 29. März
1945) erreichten wir gegen 9 Uhr bei Sonnenschein
Salzburg. Das Hotel, in dem die Gräfin Teleki abzu-
holen war, existierte nicht mehr, es war zur Gänze
weggebombt. Ich konnte nicht, lange nach ihr su-
chen, denn ich wollte mich bei hellem Tag nicht viel
zeigen, einerseits wegen der ständigen Fliegerge-
fahr, anderseits wegen des deutschen Militärs, wel-
ches mich bereits suchte.
Wir fuhren weiter gegen Ischl und trafen vor
dem Bergwerk in Lauffen um 10 Uhr 50 ein. Ich er-
fuhr, dass vom Kunsthistorischen Museum nur
Herr Franz Sochor 5 6, der technische Restaurator,
anwesend sei, er war eben in den Berg eingefahren
und ich liess ihn telefonisch rufen. Ich teilte ihm
den Grund meiner Ankunft mit, den er wohl voll
verstand und billigte, er war sich anfangs aber
nicht recht klar darüber, ob er meine Sachen her-
ausgeben könne oder nicht. Ich zerstreute die Be-
denken, und wir vereinbarten, dass sofort mit dem
Beladen des Lastwagens und des Anhängers be-
gonnen würde. Sochor kannte ich bereits seit Jah-
ren. Er bestätigte das, was ich bereits wusste, dass
54} Bei Andreas und Franz Ritter handelte es sich nicht um blosse
«Verwandte»; es waren beides (jüngere) Brüder von Kabinettssekre-
tär Rupert Ritter. - Vgl. auch Marxer (1978), S. 156: Franz Ritter
(*1902; t l 9 7 7 ) , Andreas Ritter (*1905; t 1979).
55) Dr. med. vet. David Matt (*1897; t l 9 6 5 ) . - Vgl. Matt (1939).
S. 282. - Ebenso Marxer (1978), S. 112. (Hier auch ein Foto von
Tierarzt David Matt.)
56) Haupt (1991), S. 161. Franz Sochor war - zusammen mit Josef
Hajsinek - im Früh jah r t945 Assistent von Bergungsleiter Viktor
Luithlen in Lauffen. Innert weniger Monate wurden 22 Waggons mit
fast 8000 Kunstgütern im verzweigten Stollennetz des Salzberg-
werks in Lauffen untergebracht.
37
Deponierung von Bildern
im Stollen des Salzberg-
werkes von Lauffen bei
Bad Ischl. Die Überfüh-
rung von fürstlichen Bil-
dern aus Gaming nach
Lauffen im Februar 1945
erfolgte in Abwesenheit
und ohne Zustimmung von
Gustav Wilhelm. Der
Grossteil der hier gelager-
ten Bilder stammte indes
aus dem Kunsthistori-
schen Museum Wien. Ganz
im Hintergrund ist in hel-
lem Kittel Museumsrestau-
rator Prof. Josef Haisinek
zu sehen.
die Überführung der fürstlichen Bilder von Gaming
in das Salzbergwerk von Lauffen während meiner
Abwesenheit in Liechtenstein eine private Eskapa-
de von Dr. Berg, dem deutschen Sonderbeauftrag-
ten der Ostmark für Kulturgüter im Denkmalamt,
gewesen sei, dass Dr. Berg sich dieser eigenmäch-
tigen Massnahme wiederholt gerühmt hätte. Die
fürstlichen Bilder lagen tief im Berg, und Sochor
teilte mir mit, dass man Vorbereitungen traf, um
die Stolleneinfahrt bei Herannahen des Feindes zu
sprengen. Welche Katastrophe hätte das für viele
der dort aufbewahrten Kunstschätze bedeutet!57
Man fuhr mit einer kleinen Förderbahn unge-
fähr eine Viertelstunde in den Berg hinein, dann
kam ein Aufzug, mit dem es in die Höhe ging, und
oben begannen die Stollen, in denen die Bilder
steckten. Es war also eine recht zeitraubende Ar-
beit, die grosse Anzahl von Bildern aus dem Berg
herauszubekommen. Bei Durchsicht der Lagerliste
sah ich, dass eine Anzahl der wertvollsten Bilder
wegen ihrer Grösse in Gaming geblieben waren,
darunter die Rubenssöhne, das grosse Männerpor-
trät von Frans Hals, die vier grossen Canale, die
Orgelflügel von Rubens und andere Bilder, die ich
unbedingt haben musste. Es war also notwendig,
die Partie zu teilen. Den Lastwagen mit Anhänger
liess ich beim Bergwerk, mietete mir eine Anzahl
der Bergknappen, die für Zigaretten und Kondens-
milch sofort zu haben waren. Diese mussten die
Bilder aus dem Berg herausholen, von einem Bau-
ern mietete ich einen nahen leerstehenden Stall,
dorthinein waren die Bilder zu deponieren, und
soweit es die Grösse zuliess, waren sie gleich in
die vorhandenen Kisten zu verpacken. Mit den
38
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Einlagerung von Gemäl-
den aus dem Bestand des
Kunsthistorischen Mu-
seums Wien im Berg-
werksstollen von Lauffen.
Der Mann mit Hut ist Ber-
gungsleiter Viktor Luithlen
Die Stollen des Salzberg-
werks in Lauffen mussten
für die Bergung von
Kunstgut massiv ausge-
baut werden
Kisten konnten der Lastwagen und der Anhänger
gleich geladen werden. Was nicht in die Kisten
hineinging, sollte im Stadel der Grösse nach ge-
schichtet werden.
Ich selbst fuhr mit dem anderen Auto [Autobus]
und Schofför am gleichen Tag um 12 Uhr 30 ab in
Richtung Gaming [Niederösterreich]. Es war schon
sehr schwer, auf den Strassen vorwärts zu kom-
men, denn uns entgegen strömte, die ganze Stras-
senbreite ausfüllend, der Strom der Flüchtlinge aus
Ungarn. Es war ein erbärmlicher Anblick, wie
Greise, Frauen und Kinder, meist zu Fuss, ihren
jämmerlichen Hausrat auf alten Kinderwägen und
Schubkarren mit schleppend, dahinwankten. Mit
grosser Besorgnis dachte ich an meine Familie in
Niederösterreich, die vielleicht ein sehr ähnliches
Schicksal auf die Strasse gehetzt hatte. Was moch-
ten sie jetzt wohl machen? Nicht nur dieser Flücht-
lingszug verzögerte unsere Fahrt erheblich, son-
dern auch die zahlreichen Zerstörungen der Stras-
sen, die zu zeitraubenden Umfahrungen auf letzt-
klassigen Strassen zwangen. Immer wieder wur-
den wir auch von Streifen der Militärpolizei (Feld-
gendarmerie) angehalten und mussten uns auswei-
sen. Um 3 Uhr nachmittags waren wir in Lambach,
57) Ebenda. Im Apr i l 1945 spitzte sich die Situation an den Ber-
gungsorten im Salzkammergut dramatisch zu. In Bad Aussee zum
Beispiel konnte die von den Nationalsozialisten angeordnete Spren-
gung des dortigen Bergwerks noch in letzter Minute verhindert
werden. Hermann Stuppäck (Kulturreferent der Wiener Statthalterei)
war - ebenfalls im Apr i l 1945 - nach Lauffen gereist, um den Befehl
Baidur von Schirachs mitzuteilen, demzufolge das Depot in Lauffen
unverzüglich ge r äumt und an einen sicheren Ort im Westen abtrans-
portiert werden musste.
39
wo wir bei einer Liechtensteinerin, die dort ein
Gasthaus hatte und mit dem Schofför verwandt
war, kurz Rast machten.
Dann ging es durch Linz und durch das zerstör-
te Amstetten, weiter südlich durch Scheibbs nach
Gaming, wo wir um 19 Uhr eintrafen. 5 8 Die Beam-
ten und das Wachpersonal der Kartause, mir im-
mer als stramme Nazi bekannt, fand ich in trauri-
ger Verfassung vor. Wie einen Geist sahen sie mich
an, als ich mit meinen liechtensteinischen Wagen
plötzlich auftauchte, und sie wären am liebsten alle
mit mir gekommen. Man spürte in ihren Gesichtern
die deprimierte Endkriegsstimmung. Vom Gast-
haus, wo sie beim kargen Essen versammelt wa-
ren, fuhren wir gleich ins Kloster und beluden im
Hof bei langsam beginnendem Schneetreiben den
Autobus durch das geöffnete Dach mit den grossen
Bildern, zwanzig an der Zahl, wie das Doppelpor-
trät der Söhne von Peter Paul Rubens, die Orgelge-
häuseflügel von Rubens, das monumentale Bildnis
des Willem van Heythuysen von Franz Hals 5 9 , die
grossen Bilder von Antonio Canale 6 0 und andere.6 1
Im grossen Saal der Kartause nahmen wir von
unseren aus Liechtenstein mitgebrachten Vorräten,
die von einigen dort anwesenden Wachpersonen
sehr bewundert wurden, das Nachtessen ein. Ich
nahm nun in ganz anderer Art Abschied vom Klo-
ster, als wir vor Jahren gedacht hatten. Ich hatte
Peter Paul Rubens: die
Söhne des Künstlers.
Aufgrund seiner relativen
Grösse wurde das Bild
nicht in den Bergwerks-
stollen von Lauffen über-
führt. Es verblieb bis Ende
März 1945 in Gaming
hier viele schöne Stunden erlebt, dieser Raum war
mir irgendwie das Sinnbild meines jahrelangen,
ruhelosen Bergungslebens. Hier hatte ich den Tod
meines Vaters erfahren müssen. Immer wieder
hatte ich in den Jahren gehofft und mit meinen
Kollegen vereinbart gehabt, einige Tage hier auszu-
ruhen, nie war es dazu gekommen. Grosse Pläne
hatten wir schon vor für den Tag, an dem wir wie-
der von hier wegfahren könnten und unsere Sa-
chen in den Galeriepalast nach Wien brächten.
Nun war alles so ganz anders gekommen, die Hei-
mat war Kriegsschauplatz und wir auf der Flucht,
wieder einmal weiter. Meinen ursprünglichen Plan,
von hier aus noch meine Frau mit den beiden klei-
nen Söhnen, welche im entlegenen fürstlichen
Jagdschloss Thalhof am Semmering vor den heran-
nahenden Russen Schutz suchten, abzuholen,
musste ich wegen der Unsicherheit der Strassen
und wegen des Vorrückens der Russen fallen las-
sen. Man konnte nicht mehr mit Sicherheit feststel-
len, wie weit die Russen vorgedrungen waren. Ein
Versuch, eine telefonische Verbindung mit meiner
Familie am Thalhof herzustellen, misslang, und
wir fuhren um 23 Uhr westwärts. Wenige Wochen
später wurden die in der Kartause von Gaming zu-
rückgebliebenen Kunstgegenstände anderer Eigen-
tümer von den Russen zum Grossteil zerstört . 6 2
Kaum hatten wir die Westbahnstrasse erreicht,
trafen wir wieder auf grosse Flüchtlingskarawa-
nen, die in endloser Zeile die Strasse entlang wan-
derten. Zum Unterschied mit der Herfahrt war
diesmal der Anblick nur noch erbarmungswürdi-
ger: Es schien, dass hier schon ein grosser Teil der
Wiener Flüchtlinge darunter waren. Meist Frauen
und Kinder, schleppten sie sich weiter, die wenigen
Habseligkeiten teils in Binkeln am Rücken schlep-
pend, teils in kleinen Wägelchen mit sich ziehend,
von Zeit zu Zeit Hessen sie sich am Strassenrand
nieder, um zu rasten. Immer und immer wieder
streckten sich uns flehende Hände entgegen, arme
Menschen, die mitgenommen werden wollten, ich
konnte mich jedoch in Anbetracht des kostbaren
Gutes, das ich geladen hatte, nicht entschliessen,
jemand in den Wagen hinein zu nehmen. Stunde
um Stunde in der Nacht verrann, gleichmässig rüt-
40
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
telte der Wagen. Mein Schofför war ein recht ge-
sprächiger Herr, der ständig Unterhaltung wünsch-
te. Ich seihst war in einer tief deprimierten Verfas-
sung, so dass mir jedes Wort widerlich war. Mit
allen Gedanken war ich bei meinen Lieben, um sie
und ihr ungewisses Schicksal kreiste mein ganzes
Denken und Beten. Und dabei musste ich die ba-
nalsten Gespräche führen, meist wusste ich gar
nicht, worauf ich antwortete.
In der Nacht war das Vorwärtskommen noch
schwieriger als untertags, weil in der Nacht die
Truppenverschiebungen vorgenommen wurden. Es
gab auch eine unangenehme Auseinandersetzung,
bei der es hätte passieren können, dass man uns
die Bilder abgeladen und den Wagen weggenom-
men hätte. Denn unser Autobus fiel schon von wei-
tem auf, weil er gut imstande war. Die Wagen,
denen man normalerweise begegnete, waren nur
mehr Ruinen.
Wohl aus diesem Grund zwang uns plötzlich ein
auf der Landstrasse auftauchendes deutsches Mi-
litärauto zum Anhalten. Nach Überprüfung meiner
Ausweispapiere gab man mir zu verstehen, dass
der Autobus einstweilen beschlagnahmt sei, da
man diesen möglicherweise für militärische Trup-
penzwecke verwenden müsse. Mein Einwand, dass
es sich bei dem Wageninhalt um Bergungsgegen-
stände handelt, die man vor einem möglichen An-
griff alliierter Streitkräfte schützen wolle, machte
keinen Eindruck. Man forderte mich auf, dem M i -
litärauto nachzufolgen. Über eine Nebenstrasse ge-
langten wir zu einem bewaldeten Militärzeltplatz,
wo ein grosses Holzfeuer brannte. Abseits davon
stellten wir unseren Autobus ab und warteten, wie
man uns befohlen hatte, vor diesem. Sollte dies das
Ende der Bergungsaktion bedeuten? Das dachte
ich mit banger Sorge. Nach all den unangenehmen
Überraschungen in der Zeit dieses mehrjährigen
Bildertransportes war mir diese Befürchtung schon
sehr vertraut geworden.
Im Zeltlager der Wehrmacht herrschte - wie wir
sofort bemerkten - eine feuchtfröhliche Stimmung.
Die vom Schnaps- und Bierkonsum angeheizten
Wehrmachtsleute liessen in meiner Vorstellung
eine Endkriegssituation einer verlierenden Streit-
macht erkennen. Das Näherrücken des Endes der
Kriegswirren war zu diesem Zeitpunkt bereits
spürbar. Während ich sehr besorgt über einen Aus-
weg für den Bildertransport nachdachte, flüsterte
Schofför Ritter mir ins Ohr: «Hier sind doch alle
schon betrunken. Verschwinden wir einfach mit
dem Autobus».
In meinen schlimmsten Befürchtungen für alles
weitere stimmte ich seinem Vorschlag zu. Wir be-
stiegen den Wagen und hofften, dass das startende
Geräusch des Motors niemandem auffallen würde.
Unbemerkt konnten wir das Lager verlassen. Wir
erreichten die Landstrasse und fuhren mit grosser
Geschwindigkeit weiter. Erst nach einiger Zeit be-
ruhigten sich unsere Gemüter, nachdem wir uns
sicher glaubten, dass kein Wehrmachtsauto uns
nachfolgte.
Um 4 Uhr 45 schalteten wir eine Schlafpause
von zwei Stunden ein und kamen am Karfreitag
(30. März 1945) um 8 Uhr 15 in Lauffen wieder an.
58) Vgl. Haupt (1992), S. 620: «Die Ereignisse im März und Apr i l
1945 waren an Hektik und Dramatik kaum zu überbieten. A m 29.
März erschien der Direktor der fürst l ich-l iechtensteinischen Kunst-
sammlungen, Dr. Gustav Wilhelm, in Gaming und veranlasste den
Abtransport der hier geborgenen liechtensteinischen Gemälde und
Gobelins in Richtung Bad Ischl. In den folgenden Tagen gingen fünf
Bergungs räume und der grosse Turnsaal verloren. Sie wurden vom
Heeresoberkommando für die Einquartierung von Flüchtlingen
beschlagnahmt und am 5. Apr i l auch schon bezogen. Für die Ver-
lagerung des Bergegutes ... standen ganze 24 Stunden Zeit zur
Verfügung.»
59) Frans Hals: n ieder ländischer Maler (*1580 in Antwerpen; f l 6 6 6
in Haarten).
60) Antonio Canale: venezianischer Maler (*1697 in Venedig; 11768
ebenda).
61) Mit diesem Abtransport aus Gaming kam Gustav Wilhelm dem
Räumungsbefehl des dortigen Kunstdepots durch die Nationalsoziali-
sten zuvor - Vgl. Haupt (1991), S. 161: Die in Gaming eingelagerten
928 Gemälde des Kunsthistorischen Museums Wien wurden in aller
Eile auf Lastwagen gepfercht, die dann am 25. Apr i l 1945 in Bad
Ischl eintrafen.
62) Haupt (1992), S. 621 f. - A m 23. Mai 1945 hatten russische Sol-
daten die Bergungsräume in Gaming besetzt und zahlreiche Kisten
aufgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich immer noch grosse
Bestände des Kunsthistorischen Museums Wien hier. Bis zum end-
gültigen Räumungsbefehl vom 29. Juli 1945 hatten hier einquartierte
russische Soldaten bereits zahlreiche Kunstwerke zerstört .
41
Dort war inzwischen der Chefrestaurator vom
Kunsthistorischen Museum Wien, Josef Hajsinek,
eingetroffen (wenigstens ein Mensch, mit dem man
sprechen konnte!). Die Knappen hatten brav gear-
beitet. Die Bilder waren, wie ich vor meiner Weiter-
fahrt nach Gaming veranlasst hatte, zur Gänze aus
dem Bergwerk herausgebracht und inzwischen in
dem von mir gemieteten Schuppen deponiert wor-
den, der an der Strasse stand. Meine Kisten, die ich
aus Vaduz mitgebracht hatte, waren während der
Nacht, in der ich in Gaming zu tun hatte, im Freien
stehen gelassen worden. Es hatte geregnet und sie
waren weitgehend durchnässt. Ich liess sie, so gut
es ging, an einem Ofen trocknen, und wir beluden
nun die beiden Wagen. Es dauerte den ganzen Tag.
Abends zogen wir über die Dächer unserer Wägen
zwei grosse Liechtenstein-Fahnen und fuhren um
18 Uhr mit den beiden Autos ab. Bald nachher gab
es einige Pneudefekte zu reparieren, und wieder
ratterten wir Stunde um Stunde durch die Nacht.
Einige Flaschen Schnaps und Wein munterten uns
von Zeit zu Zeit auf, recht schlimm war die Fahrt
auf der Autobahn, da diese Strasse ungemein ein-
schläfernd wirkte. Da war es notwendig, die Unter-
haltung nicht einschlafen zu lassen, da sonst der
Fahrer eingeschlafen wäre.
Nachts machten wir eine Schlafpause, auf die
die Schofföre drängten. Viel kam dabei nicht her-
aus, da wir wegen der vollbeladenen Wagen nur
sitzen konnten und so fuhren wir nach dreiviertel
Stunden wieder weiter. Am späten Vormittag, als
wir gegen Memmingen kamen, fing ich im Rund-
funk eine Meldung auf über Einflug feindlicher
Fliegerverbände nach Südwestdeutschland. In
einem Wald stellten wir die Wägen auf Seitensträss-
chen, getrennt voneinander, ein. Die Dächer und
Fenster bedeckten wir mit Ästen und warteten ab.
In grosser Höhe sichteten wir einen Verband von
Fliegern, hörten dann Abwehrfeuer aus der Nähe
und Bombeneinschläge, die aber recht weit weg
waren. Ein einzelnes Flugzeug löste sich vom Ver-
band und kam auf uns nieder, flog aber weiter, da
es uns wohl nicht bemerkte, dann hörten wir Bord-
waffen. Die Fahrer schliefen, ich sass auf einer
kleinen Waldwiese, blickte über das wellige Land
des Allgäus und dachte an zuhause, wo meine Lie-
ben wohl immer noch auf mich warteten. Der Fürst
hatte mir versprochen, mir gleich nach Erledigung
des Transportes ein Personenauto zur Verfügung
zu stellen, damit ich meine Familie noch holen
könnte. Jetzt erkannte ich, dass es wohl auch dazu
zu spät werden würde. Lange noch sassen wir im
sonnigen Wald auf den Baumstrünken und warte-
ten. Gegen 15 Uhr 40 wurde der Abflug des Ver-
bandes aus Deutschland gemeldet und wir setzten
unsere Reise fort.
Am Karsamstag, 31. März 1945, abends um 19
Uhr 20 trafen wir beim Strassenzollamt Feldkirch-
Tisis ein. In der kürzesten Zeit zeigte es sich, dass
das deutsche Zollamt bereits über unseren Trans-
port unterrichtet war und ihn nicht durchliess.
Meine Schofföre wollten aber zu Ostern daheim
sein, und ich hatte es ihnen versprochen. So stell-
ten wir die beladenen Wagen hart an der Grenz-
linie, die damals mit Stacheldrahtverhauen ge-
schützt war, ab. Ich forderte von Vaduz Polizisten
an, die die Wagen über die Feiertage bewachen
sollten, wir telefonierten um ein Taxi und fuhren
nach Liechtenstein.
Ostersonntag und Montag berichtete ich dem
Fürsten über die durchgeführten Transporte und
meine weiteren Pläne. Ich sah ein, dass ich mit den
Bildern nicht über die Grenze käme, da die deut-
schen Zollbehörden dahin informiert waren, den
Transport keinesfalls durchzulassen. Ich musste
vorerst einmal nach der Insel Reichenau fahren,
von dort würde man sehen, wie es weiterging.
Ostermontag abends traf ich meine Schofföre wie-
der an der Grenze und wir fuhren um 19 Uhr ab in
Richtung Reichenau. In diesem Grenzgebiet war
die Strasse voll von Streifen der Feldgendarmerie,
immer wieder wurde man angehalten, musste Aus-
kunft geben über Ladung und Fahrziel. Für mich,
der ich meiner Einberufung nicht Folge geleistet
hatte, waren das immer recht unangenehme Mo-
mente.
Wir fuhren über Meersburg und Radolfzell. Vom
Festland führt auf die Insel Reichenau ein Damm,
der in eine Brücke einmündet. Als wir in der Nacht
über diese Brücke kamen, sah ich dort zirka zehn
42
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
Personen beschäftigt, darunter den Bürgermeister
der Insel. Ich stieg aus und begrüsste ihn und er-
fuhr im Gespräch, dass man die Brücke zur Spren-
gung herrichte. Man wollte, wenn die Franzosen
kämen, die Brücke in die Luft jagen und die Insel
verteidigen. Die Alliierten standen damals bereits
im Schwarzwald. Ich fuhr weiter zum Schloss Kö-
nigsegg des Dr. Hohner, und mir war klar, dass ich
versuchen musste, raschenstens mit den Bildern
wieder von der Insel wegzukommen, sonst sass ich
in einer Mausefalle. Alle meine anfänglichen Be-
denken, als das Projekt Reichenau in Wien auf-
tauchte, bekamen nun Gestalt und Wirklichkeit.
Die seinerzeit in Wien mir gegenüber geäusserte
Idee, bei Gefahr die Bilder auf Kähnen über den
See in die Schweiz zu führen, wirkte an Ort und
Stelle nur mehr lächerlich. Auf Königsegg traf ich
Herrn Ratjen, dem ich von der Vorbereitung zur
Brückensprengung erzählte. Ich wollte die Bilder
nur dann ausladen, wenn ich einen hier stationier-
ten Lastwagen zur Verfügung bekäme, mit dem ich
jederzeit binnen kürzester Frist mit den Bildern
wieder abfahren könnte. Ratjen seinerseits drängte
darauf, nun einmal hier auszuladen, was ich ver-
stand. Auf seine Intervention hatte Dr. Hohner uns
sein Schloss als Bergungsort zugesagt, welch letzte-
rer wohl froh war, unser Anbot zu bekommen, da
so sein Haus frei blieb von anderweitiger, viel un-
angenehmerer Bequartierung. Der Bürgermeister
von Reichenau war aber schon misstrauisch ge-
worden, weil die Bilder so lange nicht kamen, und
Ratjen meinte mit Recht, wenn ich jetzt gleich wie-
der mit den Bildern abführe, käme der ganze
Schwindel heraus.
Am nächsten Tag, den 3. April 1945, fuhren Rat-
jen und ich mit dem Personenauto nach Trossingen
zu Dr. Hohner, um mit diesem die Frage eines Ab-
transportes der Bilder von Reichenau zu bespre-
chen und um ihn um ein Lastauto zu ersuchen.
Dr. Hohner und sein Rechtsanwalt (es war sein
Schwiegersohn) erklärten mir in Trossingen, er
könne die Bilder von der Reichenau nicht mehr
weglassen. Wenn ich mit den Bildern wieder ab-
führe, müsse er dies den staatlichen Stellen mel-
den, um nicht seinerseits etwa dafür haftbar ge-
macht zu werden. So gross war damals noch die
Furcht vor den Nazis. Er fürchtete, für die «Ver-
schleppung» der Bilder zur Verantwortung gezogen
zu werden. Wir verhandelten den ganzen Nachmit-
tag, übernachteten und einigten uns tags darauf
in der Art, dass ich im Schlösschen ein «symboli-
sches» Bilderdepot lassen solle. Mit dem Rest solle
ich wieder wegfahren, man werde hievon niemand
benachrichtigen. Für den Abtransport der auf der
Reichenau verbleibenden Bilder wolle Hohner mir
einen Lastwagen zur Verfügung stellen.
Als wir aber am 4. April mittags von Trossingen
abfuhren, kam eben die Nachricht, dass der von
Hohner angebotene Lastwagen soeben von Tiefflie-
gern in Brand geschossen worden sei. Auf dem
Heimweg wurden wir selbst von zwei Tieffliegern
angegriffen, wir rannten um unser Leben in einen
nahen Wald und zum Glück wurden weder wir
noch unser Auto getroffen.
Für uns war bei den Verhandlungen mit Dell-
brügge ja die Tatsache, dass Hohner uns seinen
Besitz auf der Reichenau als Depotraum zur Verfü-
gung gestellt hatte, sehr wichtig, und Ratjen meinte
sicher mit Recht, dass man Hohner nun nicht so
arg bloss stellen dürfe. So hatte ich mich zu diesem
demonstrativen Depot entschlossen.
Die Schofföre und die unentladenen Autos hatte
ich im Hofe des Schlösschens stehen lassen, und
am 4. April luden wir 165 zweitrangige Bilder aus
und stellten sie im Schloss auf. Mit dem wertvoll-
sten Rest hoffte ich noch irgendwie nach Vaduz
durchzukommen. Abends fuhr ich ab. Dr. Hohner,
der anwesend war, zeigte sich begreiflicherweise
nicht sehr freundlich. Leider flog mein Manöver
schon bei der Brücke auf. Dort arbeiteten noch im-
mer Leute an der Vorbereitung für die Sprengung,
und unglücklicherweise war der Bürgermeister
auch dabei. Der sah sofort, dass die Wagen noch
beladen waren, und der Einwand, dass im Schloss
zu wenig Platz gewesen wäre, überzeugte ihn kei-
neswegs. Erfahrungen der nächsten Tage machten
auch die Annahme sehr wahrscheinlich, dass er
die Grenzstellen informiert habe, man werde ver-
suchen, mit den Bildern über die Grenze zu ent-
kommen.
43
Da es aufgrund dieser Annahme geboten schien,
einige Tage mit der ganzen Ladung unterzutau-
chen, fuhren wir nach Meiningen, einem kleinen,
abseits gelegenen Ort in der Feldkircher Rhein-
ebene, wo die Schwiegereltern des Schofförs Ritter
einen Hof hatten. Es ging denselben Weg zurück,
den wir herkamen, fast schien es schon, dass ich
ewig mit meinen Bildern rund um den Bodensee
wandern sollte. Wieder der alte Trott, von Streifen
angehalten, wieder weitergelassen, einmal wollte
man uns auf ein Kommando bringen, doch fuhr ich
ihnen davon. Am 5. April um zwei Uhr früh kamen
wir am Bauernhof in Meiningen an. Gross war die
Freude des alten Bauernpaares, den Schwieger-
sohn zu sehen. Wir wurden reich bewirtet mit gu-
tem Most und starkem Schnaps.
Beim Hof in Meiningen gab es grosse Scheunen,
in die wir die Autos unterstellen konnten. Auf Not-
lagern schliefen wir anschliessend ausgezeichnet.
Da man nun wusste, wie schwierig es wäre, über
die Grenze mit den Bildern zu kommen, tauchte
auch der Plan auf, sich in dieser einsamen Gegend
einzuquartieren und dort mit den Bildern das
Kriegsende abzuwarten. Die Verhältnisse auf der
Insel Reichenau hatten gezeigt, dass es undurch-
führbar sei, im Moment der Gefahr per Schiff mit
den Bildern in die Schweiz zu fahren. Hier in Mei-
ningen war die Situation doch eine ganz andere. In
der Nähe befand sich eine Rheinbrücke, die in die
Schweiz führte und die man vielleicht für eine
Der Bahnhof in Feldkirch
auf einer alten Ansichts-
karte. Alle von Österreich
nach Liechtenstein mit der
Bahn gehenden Güter pas-
sierten diese Bahnstation
Flucht benutzen konnte. Allerdings waren die bei-
den Scheunen, in welchen die Autobusse standen,
aus Holz gebaut und recht feuergefährlich.
Der Versuch, in der nahe bei Meiningen gelege-
nen Fabrik das Textilunternehmens Gohm unterzu-
kommen, schlug fehl, weil das Areal bereits von
der NS Partei beschlagnahmt war. Nun fuhr ich
nach Feldkirch, um zu sehen, ob die Schattenburg
als Depot verwendet werden könnte. Weitgehendes
Entgegenkommen beim Feldkircher Bürgermeister,
doch schien die Schattenburg recht feuergefähr-
lich. Anschliessend sah ich mir in Hohenems den
Palast an, der doch viel bessere Unterbringungs-
möglichkeiten besass. Beim Hohenemser Bürger-
meister erfuhr ich dann, dass er von der Feldkir-
cher Kreisbehörde die Anweisung erhalten hatte,
mir im Palast oder anderswo eine Einlagerung
nicht zu gestatten. Das Feldkircher Kreisamt, das
ich nun anschliessend besuchte, verschanzte sich
hinter einen vom Reichsverteidigungskommissariat
erhaltenen Befehl. Wahrscheinlich war es doch so,
dass der Bürgermeister von Feldkirch gemeldet
hatte, dass ich nur wenige Bilder im Schloss depo-
niert hatte, und alle anderen wieder mitnahm.
Mit diesen negativen Ergebnissen fuhr ich wie-
der nach Meiningen zurück und machte einen letz-
ten Versuch, nach dessen Scheitern mir nichts
anderes übrig bleiben würde, als nach der Insel
Reichenau zurückzufahren. Ich telephonierte nach
Bregenz mit dem Chef der Speditionsfirma Gebrü-
F E L D K I R C H 'Vorarlberg). - Bahnhof.
44
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
der Weiss, mit denen ich seit Jahren zusammenar-
beitete und beredete ihn schliesslich, mir einen
Eisenbahn-Lastwaggon für einen Tag zur Verfü-
gung zu stellen. Nach längerem Hin und Her sagte
er zu, einen Waggon bis Mittag bereitzustellen. Das
bedeutete faktisch die Rettung des ganzen Trans-
portes.
Wir fuhren nun wieder mit unseren Autobussen
nach Bregenz, wo tatsächlich der leere Waggon
schon auf uns wartete. Am Bahnhofzollamt zeigte
ich die Ausfuhrbewilligung für den Hausrat des
Fürsten und teilte mit, dass ich zwei Busse voll
Hausrat hier habe und diese ins Fürstentum führen
müsse. Die Listen der bewilligten Sachen seien
beim Zollamt in Feldkirch, und ich schlug vor, dass
das Zollamt Bregenz die beladenen Waggons ver-
siegeln und gleich bis zum Bahnhof Schaan aufge-
ben solle. Das wollten sie anfangs nicht. Einerseits
war man am Zollamt froh, die Zollabhandlung
nicht selbst machen zu müssen, da den Beamten
die umständliche Manipulation mit den Listen und
Separatbewilligungen unangenehm war. Dem Vor-
schlag, doch in Feldkirch am Bahnhof die Zoll-
beschau zu machen, setzte ich entgegen, dass das
infolge des Personalmangels länger dauern könne
und die Gefahr einer Bombardierung bestünde.
Das fand man dann plausibel, ich musste eine
Erklärung unterschreiben, worin ich namens der
Fürstlichen Regierung zustimmte, dass die deut-
schen Behörden diesen Waggon in Liechtenstein
zollabhandeln dürfen. Am Bahnhof hatte Weiss in-
zwischen eine Anzahl polnischer Kriegsgefangener
bereitgestellt, die nun über Mittag bei strahlender
Sonne den Waggon beluden. Das machte allerdings
mehr Aufsehen, als uns lieb war, denn die Bilder
leuchteten zwischen den öden Balken in all ihrer
Schönheit, dass alles, was vorbei kam, stehen
blieb. Dann wurde der Waggon versiegelt und nach
Buchs aufgegeben, wir fuhren mit den leeren Auto-
bussen nach Vaduz, wo wir um 11 Uhr abends ein-
langten. Ich konnte dem Fürsten noch melden,
dass die Galerie im Lande sei.
Um die mir schriftlich zugesagte Zollabhandlung
im Schloss kamen wir nun doch nicht herum. Bei
der am nächsten Tag im Schloss stattfindenden Be-
sprechung einigte man sich dahin, die Bilder im
Schloss zu deponieren und dann - unter falscher
Deklaration - sie als die zur Ausfuhr frei gegebenen
Bilder der zweiten Garnitur abzuhandeln; denn
merkwürdigerweise hatten die deutschen Behör-
den auf der Liste der zur Ausfuhr frei gegebenen
Bilder die bereits nach Liechtenstein ausgeführten
Gemälde nicht abgestrichen. Es wurde folgender
Modus procedendi beschlossen. Morgen früh,
wenn die deutschen Zollbehörden nach Buchs ka-
men, würde ihnen dort der Kabinettssekretär Dr.
Ritter mitteilen, ich sei gleich wieder nach dem
Osten abgereist, um weitere Sachen zu holen, und
da nur ich die Bilder kenne, müsse man die Zollbe-
schau bis zu meiner Rückkehr verschieben. Die Bil-
der sollte man unter Zollbegleitung ins Schloss
Vaduz bringen und in einem Raum deponieren,
den der deutsche Zoll bis zu meiner Rückkehr ver-
siegeln solle.
Ich wusste im Schloss Vaduz einen Raum, der
nur einen Zugang hatte, in dem man aber durch
die Decke vom Dachboden aus einsteigen konnte.
Es ist das die spätere Kabinettskanzlei, und dort
wurde die Einlagerung durchgeführt. Mehrere
Nächte stieg ich nun durch den Dachboden mit
einer Leiter in diesen Raum hinunter, verhängte die
Fenster, damit man vom Dorf aus kein Licht sah
und musste nun die ganzen Bilder umnummerie-
ren. Von jedem Bild wurden die Tafeln mit Galerie-
nummer und Künstler abgenommen, nach dem
Sujet festgestellt, für welche Bilder der bewilligten
zweiten Liste man das Bild ausgeben könnte und
dann die entsprechende neue Nummer angebracht.
So wurde das Männerbildnis von Franz Hals als
Fürst Johann Adam deklariert und das Kinderbild-
nis Kaiser Maximilians II. von Bartel als Hofzwerg.
Die Zollkontrolle ging dann, wie erwartet, glatt vor
sich. Die Zöllner verstanden von Bildern natürlich
nichts und strichen alles ab, was ich ihnen angab.
Nur bei einem Bild gab es ein kleines Aufsehen, es
war ein Ruisdael, den ich als «Bocche di Cattaro»
von Gurlitt deklariert hatte. Einer der Zöllner er-
innerte sich daran, dass er im Ersten Weltkrieg
dort stationiert war und wollte das Bild genau an-
schauen. Er war sehr verwundert und auch von
45
meinem Einwand, das sei eben ein altes Bild und
früher habe es dort ganz anders ausgeschaut, war
er nicht ganz befriedigt.
Nach dem Muster dieses Transportes holte ich
nun auch noch die in Reichenau verbliebenen Bil-
der ab. In Feldkirch wurde ein Buswaggon bereit-
gestellt, am 19. April 1945 fuhr ich mit einem Auto-
bus um 2 Uhr ab und wir kamen um 'A 6 Uhr auf
der Insel an. Hier war schon alles recht desorgani-
siert, die Franzosen waren im Anmarsch und wir
hatten höchste Eile. Schofför Ritter und ich began-
nen sofort zu beladen, welchem Vorgehen sich Dr.
Hohner sehr widersetzte, weil er jetzt einsah, dass
man ihn etwas an der Nase herumgeführt hatte.
Gegen 9 Uhr abends waren wir fertig und fuhren
gleich wieder ab. Über Radolfzell, das am nächsten
Tag schon von den Franzosen in Brand geschossen
wurde, fuhren wir wieder um den Bodensee herum
bis nach Meiningen, wo wir um 3 Uhr nachts ein-
trafen und bis lA 6 Uhr schliefen. Früh fuhren wir
nach Feldkirch, beluden den Waggon, der dann
versiegelt wurde, und wir fuhren mit dem leeren
Autobus nach Vaduz. Der Waggon kam bald nach
und konnte noch am selben Tag entladen und in
den versiegelten Raum im Schloss Vaduz deponiert
werden. Auch diese Bilder wurden in der kommen-
den Nacht von mir umnummeriert und die Zoll-
beschau am 21. April 1945 durchgeführt. Damit
war die Bergung der Galerie abgeschlossen.
Barthel Beham: Kinder-
bildnis von Kaiser Maximi-
lian II. (*1527; t 1576).
Um nicht den Argwohn
der deutschen Zollbehör-
den zu wecken, wurde es
als «Hofzwerg» deklariert.
Nicht nur für Bilder und
Gegenstände, sondern
auch für viele Menschen
waren Tarnung und Ver-
schleierung der wahren
Identität notwendige Über-
lebensstrategien im Krieg.
46
DER WEG DER LIECHTENSTEIN-GALERIE VON WIEN
NACH VADUZ / GUSTAV WILHELM
ORTSNAMEN
Deutsch Tschechisch
Butschowitz
Eisgrub
Feldsberg
Olmütz
Sternberg
Bucovice
Lednice
Valtice
Olomouc
Sternberk
QUELLEN-
UND LITERATUR-
VERZEICHNIS
Castellani (1993)
Elisabeth Castellani Zahir:
Die Wiederherstellung von
Schloss Vaduz 1904 bis
1914. Burgendenkmalpfle-
ge zwischen Historismus
und Moderne. Zwei Bände.
Vaduz, Stuttgart, 1993.
Haupt (1991)
Haupt, Herbert: Das
Kunsthistorische Museum.
Die Geschichte des Hauses
am Ring. Hundert Jahre
im Spiegel historischer
Ereignisse. Wien, 1991.
Haupt (1992)
Haupt, Herbert: Die Ber-
gung von Kunstgütern in
der Kartause Gaming wäh-
rend des Zweiten Welt-
kriegs. In: Hildebrand,
Walter: 650 Jahre Kartau-
se Gaming. Gaming, 1992,
S. 617-622.
Hildebrand (1992)
Hildebrand, Walter (Hrsg.):
650 Jahre Kartause Ga-
ming. Vielfalt des Heilens.
Ganzheitsmedizin. (Kata-
log zur Ausstellung in der
Kartause Gaming vom
8. Mai bis 31. Oktober
1992). Gaming, 1992.
Marxer (1978)
Marxer, Adolf: Familien-
Stammbuch der Bürger
von Mauren-Schaanwald.
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Matt (1939)
Matt, Gustav Alfons:
Familiengeschichte der
Matt. Ein «freyes» Walser-
geschlecht. 4. Band.
Zug-Oberwil, 1939.
Rechenschaftsbericht
(1944)
Rechenschaftsbericht
der fürstlichen Regierung
an den hohen Landtag.
Vaduz, 1945.
Rotter (1992)
Rotter, Erwin: Die Kar-
tause Gaming im Eigen-
tum des Stiftes Melk
1915-1983. In: Hilde-
brand, Walter (Hrsg.):
650 Jahre Kartause Ga-
ming. Gaming, 1992,
S. 599-608.
Vogelsang (1996)
Vogelsang, Henning K.:
Eine Beute, die Nazis wie
Siegern verlorenging.
In: Liechtensteiner Vater-
land, 11. Oktober 1996,
S.9.
Vogt (1990)
Vogt, Paul: Brücken zur
Vergangenheit. Ein Text-
und Arbeitsbuch zur liech-
tensteinischen Geschichte
17. bis 19. Jahrhundert.
Vaduz, 1990.
Wilhelm (1977)
Gustav Wilhelm: Die Für-
sten von Liechtenstein und
ihre Beziehungen zu Kunst
und Wissenschaft. In:
Liechtensteinische Kunst-
gesellschaft 1976. Vaduz,
1977, S. 9-165.
47
BILDNACHWEIS
S. 4: Anton Wilhelm privat
S. 6 oben links und rechts,
S. 8: LLA
S. 6 unten, S. 18, S. 19.
S. 40 und S. 46: Fürstliche
Kunstsammlungen, Vaduz
S. 7: Landkarte erstellt
aufgrund einer Skizze von
Klaus Biedermann
S. 10: Haupt (1991), S.125
links und S. 206
S. 11, S. 13 links, S. 21,
S. 22, S. 38 und S. 39:
Österreichisches Bundes-
denkmalamt, Wien
S. 13 rechts: Haupt (1991),
S. 162
S. 14, S. 24, S. 35, S. 36
rechts und S. 44: Fürst-
lichdiechtensteinisches
Hausarchiv, Wien
S. 29: Haupt (1991), S. 149
S. 36 links: Irene Matt,
Schaan
48
«AM R A N D E
DER BRANDUNG»
K R I E G S E N D E 1945 IN L I E C H T E N S T E I N
P E T E R GEIGER
50
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
EINLEITUNG*
Heute - 29. A p r i l 1995 - auf den Tag genau vor
50 Jahren, am 29. A p r i l 1945, war Sonntag, es
herrschte kaltes Nordwindwetter, in den Bergen lag
der Schnee weit herab. 1 Im Kloster St. Elisabeth in
Schaan wurde abends u m 8 U h r eine öffent l iche
Anbetungsstunde f ü r den Frieden gehalten, wie
schon sechs Jahre lang jeden Abend seit Kriegs-
beginn. 2 A n jenem Tag zogen in M ü n c h e n die A m e -
rikaner ein. F r a n z ö s i s c h e Truppen besetzten Fr ied-
richshafen und stiessen auf Bregenz vor. Die so-
wjetischen Truppen umschlossen Ber l in . Tags zu-
vor hatten die Amer ikaner Dachau befreit, in Ober-
italien Partisanen Mussol in i erschossen und aus-
gehäng t . A m 29. A p r i l , vor heute 50 Jahren, wurde
in Liechtenstein der Landtag neu g e w ä h l t . 3 Derwei l
campierten i m bayrischen Oberstaufen vor der vor-
arlbergischen Grenze die Reste von Holmstons na-
tionalrussischer Wehrmacht-Armee, 4 und in Feld-
k i rch regten sich P läne zur Verteidigung der Stadt
wie zum Sturz der dortigen NS-Machthaber. A n der
Grenze in Schaanwald stauten sich die F lüch ten -
den. M a n musste in Liechtenstein noch beim Zu-
sammenbruch des Dritten Reiches damit rechnen,
dass der Kr ieg ü b e r g r e i f e . A m Tag nach dem
29. A p r i l , am 30. A p r i l , beging Hitler Selbstmord.
Wenige Tage darauf war der Kr ieg in Europa vor-
bei: A m 1. M a i nahmen die Franzosen Bregenz, a m
2. M a i beschossen sie Götzis, wo am Kummenberg
noch deutscher Widerstand geleistet wurde, a m
3. M a i langten sie in Feldkirch an. In der Nacht zu-
vor, vom 2. auf den 3. M a i , trat Holmstons Russen-
truppe in Schellenberg nach Liechtenstein über .
Die Deutschen zogen aus Feldki rch kampflos ab,
nach Sprengung der F e l s e n a u b r ü c k e , die f r a n z ö s i -
schen Panzer rollten ü b e r Tisis und M a r i a Grün
nach Frastanz, Bludenz und dem Ar lberg zu, wo
am 4. und 5. M a i noch K ä m p f e stattfanden. A m
7/8. M a i erfolgte bekanntl ich die deutsche Gesamt-
kapitulation. Der Kr ieg in Europa war vorbei; in
Ostasien endete der Weltkrieg erst am 2. Septem-
ber. Fü r Liechtenstein war der Kr ieg mit dem A b -
zug der Wehrmacht aus dem Grenzgebiet bereits
am 3. M a i 1945 zu Ende . 5
*) Referat, gehalten am 29. Apr i l 1995, anlässlich des Gedenkens
50 Jahre Kriegsende in Europa, an der Jahresversammlung des
Historischen Vereins für das Fürs ten tum Liechtenstein im Gemein-
desaal Ruggell. Der Redetext ist durch Fussnoten ergänzt , um
Quellen und Literatur nachzuweisen. Ebenso sind Bilder eingefügt;
für deren Beschaffung dankt der Verfasser Herrn lic. phil. Klaus
Biedermann.
1) Vgl. Liechtensteiner Volksblatt (nachfolgend LVolksblatt), 3. Mai
1945.
2) LVolksblatt, 2. Sept. L939: «In Gefahr» (Eingesandt). - Mündliche
Mitteilung von Schwester Alma Spieler, Kloster St. Elisabeth,
Schaan, an den Verfasser. - Alma Spieler: Wenn das Weizenkorn
stirbt. Die Geschichte der Anbeterinnen des Blutes Christi. Provinz
Schaan. Liechtenstein, 1908-1991. Freiburg/CH 1991, S. 256.
3) Rechenschafts-Bericht der fürst l ichen Regierung an den hohen
Landtag für das Jahr 1945, Vaduz 1946 (nachfolgend Rechenschafts-
bericht 1945). - Paul Vogt: 125 Jahre Landtag. Vaduz 1987, S. 211.
4) Peter Geiger/Manfred Schlapp: Russen in Liechtenstein. Flucht
und Internierung der Wehrmacht-Armee Holmstons 1945-1948.
Vaduz, Zürich 1996, S. 21, 283-285.
5) Thomas Fleming/Axel Steinhage/Peter Strunk: Chronik 1945, Tag
für Tag in Wort und Bild, 4. A u l l . Güters loh/München 1994, S. 60 ff.
- Dietlinde Löfflet': Das Ende der deutschen Herrschaft und die
Befreiung Vorarlbergs durch die Franzosen. In: Gerhard Wanner
(Hrsg.): 1945 - Ende und Anfang in Vorarlberg, Nord- und Südtirol.
Lochau 1986, S. 9-23. - LVolksblatt, Apr i l /Mai 1945, und Liechten-
steiner Vaterland (nachfolgend LVaterland), Apr i l /Mai 1945. -
Peter Geiger: Liechtenstein bei Kriegsende 1945. In: Endlich Friede.
Kriegsende 1945 in der Bodenseeregion. Vorarlberg, Süddeutsch-
land, Ostschweiz, Fürs ten tum Liechtenstein. Rorschach 1995,
S. 59-66. - Gerhard Wanner: Vorarlberg 1945, Kriegsende und
Befreiung, Feldkirch 1996.
51
Mussolini, von Partisanen
erschossen, 28.April 1945,
Mailand
Das 50 - j äh r ige Gedenken des Kriegsendes bietet
uns Anlass , auf jene Zeit z u r ü c k z u s c h a u e n . Im Fo l -
genden darf ich Ihnen durch Fakten, Episoden und
Z u s a m m e n h ä n g e jene Monate, Wochen und Tage
vor, w ä h r e n d und nach dem Kriegsende schildern.
Dabei verzichte ich auf Bilder, diese k ö n n e n Sie in
der gestern in Vaduz e r ö f f n e t e n Ausstellung «End-
l ich Fr iede!» in Ruhe betrachten. Die hier vorzule-
genden Fakten und Episoden sprechen f ü r sich. Sie
sind aus F o r s c h u n g s t ä t i g k e i t gewonnen, beruhen
auf Quellen aus verschiedenen A r c h i v e n 6 und auch
auf Zeitzeugeninterviews. 7 Zeitzeugen, Personen,
welche jene Zeit selber bewusst erlebt haben, also
die heute gegen 6 0 - J ä h r i g e n und Äl te ren , leben
viele mit uns und sitzen auch zahlreich hier: Sie
haben je in ih rem Lebensbereich unmittelbarere,
detailliertere Anschauung und Er fahrung gewon-
nen. Ihnen mag das hier Vorgetragene Anregung
zum Er innern und weiteren E r z ä h l e n sein.
In einem ersten Teil sollen die Verhä l tn i s se in
der Schlussphase des Krieges gezeigt werden, in
einem zweiten die n ä h e r e n Vorgänge in den Tagen
bei Kriegsende, in einem dritten Teil die ersten
Friedenstage und in einem vierten Teil Entwicklun-
gen danach. Die Bereiche erstrecken sich etwa von
der Kriegswirtschaft ü b e r Grenzsicherung, Innen-
und Aussenpoli t ik bis zu Themen wie Russeninter-
nierung und Entnazif iz ierung. Aufgabe des Histor i -
kers ist es, die komplexe geschichtliche Wi rk l i ch -
keit zu untersuchen, anschaulich darzulegen, Ver-
k n ü p f u n g e n und Relationen zu zeigen, e r k l ä r e n d
das Geschehen dem Verstehen zu ö f fnen . Liechten-
stein lag « a m Rande der B r a n d u n g » 8 des Zweiten
Weltkrieges.
6) Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz (LLA). - Schweizerisches
Bundesarchiv, Bern (BA Bern). - Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz).
- Berlin Document Center (BDC), heute Zweigstelle des deutschen
Bundesarchivs, Berlin. - Hausarchiv der Regierenden Fürs ten von
Liechtenstein. Schloss Vaduz (HA Schloss Vaduz).
7) Zeitzeugen-Interviews des Verfassers, geführ t zwischen 1988 und
1996.
8) LVolksblatt. 9. Mai 1945, S . l .
52
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
KZ-Häftling nach der
Befreiung
53
Fürst Franz Josef II. auf
Schloss Vaduz, regierend
ab 1938
Dr. Josef Hoop, Regie-
rungschef 1928 bis 1945
Pfarrer Anton Frommelt,
Landtagspräsident
1928-1945, Regierungs-
chef-Stellvertreter
1933-1938, ständig amtie-
render Regierungsrat
1938-1945
Gesellschaft auf Schloss
Vaduz, v.l.n.r.: Dr. Alois
Vogt, Regierungschef-
Stellvertreter 1938-1945,
Dr. Rupert Ritter, Kabi-
nettssekretär des Fürsten,
Gräfin Louisanne von
Galen geb. von Liechten-
stein, Regierungschef
Dr. Josef Hoop, Prinz Dr.
Eduard von Liechtenstein
IN DER L E T Z T E N KRIEGSPHASE
Liechtenstein hatte seine Kriegswirtschaft vol ls tän-
dig mit jener der Schweiz koordiniert . Die eidge-
n ö s s i s c h e n Erlasse wurden einfach ü b e r n o m m e n .
So etwa auch die schweizerischen Rationierungs-
marken. Wie in der Schweiz musste in Liechten-
stein bis 1945 Mehranbau von Lebensmitteln zwin -
gend betrieben werden. Liechtensteinische Bäcker,
welche verbotenerweise Frischbrot auslegten, oder
H ü h n e r b e s i t z e r , welche nicht die vorgeschriebene
A n z a h l Eier ablieferten, wurden von schweizeri-
schen Organen gebüss t . M a n sammelte, auch 1945,
Altstoffe: Metalle, Papier, Lumpen, G u m m i , Tuben,
Knochen. Ma ikä fe r wurden f ü r D ü n g e r verwertet.
Wi ld f rüch t e und Tannzapfen wurden gesammelt.
Statt Motorfahrzeugsteuer wurde ein Benzinzu-
schlag erhoben, soweit ü b e r h a u p t noch gefahren
werden durfte. F ü r Traktoren, die mit Holzgasge-
nerator a u s g e r ü s t e t wurden, gab der Staat Dar-
lehen und 20 Prozent Subvention. Im Jahre 1944
liess die Regierung Kochkurse d u r c h f ü h r e n , f ü r
trotz Rationierung gesundes und gutes Kochen.
Wegen Wohnungsnot war ein Mieterschutz einge-
f ü h r t . Wie in der Schweiz herrschte seit November
1940 Verdunkelungspflicht . Sie wurde nur an
h ö c h s t e n Feiertagen und zum F ü r s t e n g e b u r t s t a g
aufgehoben. 9
B e i m N ä h e r r ü c k e n des Luftkrieges ergriff die
Regierung ab 1943 Vorsorge f ü r den Fa l l von B o m -
bardierungen und Kriegshandlungen. Luftschutz-
sirenen wurden installiert, eine i n Vaduz bei Jenny
& Spoerry, eine auf dem Dach der Presta, sie waren
mit der Zentrale in Buchs verbunden. Die Estriche
wurden e n t r ü m p e l t , damit bei einer Bombardie-
rung weniger brenne. Im Dezember 1944 fanden
B r a n d b e k ä m p f u n g s k u r s e f ü r Feuerwehr, Pol izei
und G e m e i n d e b e h ö r d e n statt, i m Rathaussaal in
Vaduz und i n der « E i n t r a c h t » in Eschen . 1 0
Regierung und Ärz te trafen mit dem Spital
Grabs vorsorgliche Absprachen. Landesphysikus
Risch liess sich beim Schweizerischen Roten Kreuz
i n Bern instruieren. Bis z u m M ä r z 1945 - die A m e -
r ikaner ü b e r s c h r i t t e n bei Koblenz den Rhein -
hatten die Ärz te in allen elf Gemeinden Samariter
54
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
und Samari ter innen ausgebildet, zusammen etwas
ü b e r hundert. 17 Sortimente Verbandsmater ial
und Medikamente (mit je 50 Morphium-Ampul len)
lagen bereit. Schreinermeister Alois N ä s c h e r z im-
merte zwölf « K a t a s t r o p h e n k o f f e r » . Ebenso hatte
die Regierung zehn Tragbahren gekauft. Diese und
die Katastrophenkoffer wurden in den P f a r r h ä u -
sern bereitgestellt. 1 1 Nach dem Kr ieg wurden sie
dem Spital Fe ldki rch geschenkt. 1 2
Ab Herbst 1944 kennzeichnete man auch g rös -
sere G e b ä u d e und die Landesgrenze zu Vorar lberg
i n den Farben Gelb-Rot, so in Ruggell das Schul-
haus, i n Schellenberg das Kloster, in Vaduz M a r i a -
num und Jenny & Spoerry-Fabrik. Die Gemeinde
Eschen liess Erkennungstafeln von 7 Vi auf 7 Vi m
anfertigen, u m sie horizontal auszulegen. 1 3
1944 wurden alle Liechtensteiner i m Aus land
aufgefordert, sich bei den schweizerischen K o n -
sulaten immatr ikul ieren zu lassen; jenen aller-
dings, welche h o c h v e r r ä t e r i s c h gehandelt hatten,
sollten Eintragung und Schutz verweigert wer-
den . 1 4 Die schweizerischen Vertretungen i m deut-
schen Reichsgebiet brachten in den letzten
Kriegsmonaten an H ä u s e r n von Liechtensteinern,
so auch des F ü r s t e n h a u s e s , Schutzbriefe an, damit
sie nicht von den alliierten Besatzungstruppen in
Beschlag genommen w u r d e n . 1 5
A u f aussenpolitischem Felde liess F ü r s t F ranz
Josef II. auf eigene Initiative die seit 1933 geschlos-
sene Gesandtschaft in Bern 1944 w i e d e r e r ö f f n e n ,
ab Dezember war sie in Betrieb, zum G e s c h ä f t s t r ä -
ger ernannte der F ü r s t seinen Bruder, Prinz Hein-
r ich. Die G e s a n d t s c h a f t s e r ö f f n u n g hatte der F ü r s t
gegen den Wil len der gesamten Koali t ions-
regierung Hoop-Vogt-Frommelt-Hasler, der beiden
Parteien Fortschrittliche B ü r g e r p a r t e i (FBP) und
Vate r l änd i sche Union (VU) und des gesamten
Landtages e ingefäde l t und durchgesetzt. Hinter
den Kulissen spielte sich i m Herbst 1944 eine veri-
table liechtensteinische Staatskrise ab. Regierung
und Landtag gaben nach. Dem F ü r s t e n ging es dar-
um, ü b e r die Gesandtschaft f ü r die Nachkriegszeit
wieder mehr Einfluss auf die Aussenpoli t ik neh-
men und direkter die Interessen des Landes wie
des Hauses wahren zu k ö n n e n . Die Regierung, der
Landtag und die Parteien dagegen wollten die
pragmatischen und effizienten direkten D r ä h t e
nach Bern und zu den vielen e i d g e n ö s s i s c h e n Ver-
waltungsstellen nicht gekappt sehen. Der Kompro-
miss bestand darin, dass künf t i g die wichtigen
Angelegenheiten ü b e r die Gesandtschaft gingen,
V e r w a l t u n g s g e s c h ä f t e aber nach wie vor i m direk-
ten B e h ö r d e n k o n t a k t abgewickelt wurden. Mit dem
neuen G e s c h ä f t s t r ä g e r bezweckte der F ü r s t auch,
dass die All i ier ten, baldige Sieger, eine von den
Kriegsverwicklungen u n b e r ü h r t e Stelle und Person
als Anlaufstelle des F ü r s t e n t u m s vor fanden . 1 6
Liechtenstein wurde ab Februar 1945 aussen-
politisch auch betroffen durch die schweizerischen
Verhandlungen mit den All i ier ten, welche mit dem
Namen des amerikanischen C h e f u n t e r h ä n d l e r s
Currie verbunden sind. Eine amerikanisch-eng-
l i s ch - f r anzös i sche Delegation unter Currie weilte
i m Februar und A n f a n g M ä r z 1945 i n Bern. Sie for-
derte von der Schweiz, dass diese erstens sofort
jeden Export nach Deutschland einstelle, zweitens
jeden deutschen Transit durch die Schweiz nach
deutsch besetztem Gebiet - sprich Oberitalien - un-
terbinde und drittens die Resolution VI von Bretten
Woods anwende, n ä m l i c h verhindere, dass deut-
sches Raubgut, Gold, Geld und anderes V e r m ö g e n
i n und durch die Schweiz verschoben oder hier f ü r
die Nachkriegszeit versteckt und den All i ier ten so-
wie den f r ü h e r e n E i g e n t ü m e r n entzogen werde.
Der Bundesrat sperrte am 16. Februar 1945 alle
9) Akten im LLA.
10) LLA RF 220/187. 227/274.
11) L L A RF 220/187.
12) L L A RF 228/48.
13) L L A RF 220/187.
14) L L A RF 221/412.
15) LLA RF 221/160.
16) L L A RF 227/228.- LLA. L Landtags-Protokoll (LT-Prot.) vom
7. und vom 14. Dez. 1944. - Rechenschaftsbericht 1944, S. 44. -
Rechenschaftsbericht 1945, S. 44 f.
55
Der Schweizer Diplomat
Minister Dr. Walter Stucky
vertritt in den Verhand-
lungen mit den Alliierten
1945/46 auch Liechten-
stein
Prinz Heinrich von Liech-
tenstein (Mitte) wird im
Dezember 1944 Geschäfts-
träger in Bern; hier mit
Ferdinand Nigg (links),
Regierungssekretär, ab
September 1945 Regie-
rungschef-Stellvertreter,
und mit Alexander Frick,
Regierungschef ab Sep-
tember 1945 bis 1962
Fürstin Gina von Liechten-
stein mit dem am 14. Feb-
ruar 1945 geborenen
Erbprinzen, dem heutigen
Fürsten Hans-Adam II.
deutschen Guthaben in der Schweiz . 1 7 A m Vortag
rief das E i d g e n ö s s i s c h e Politische Departement
(EPD) Regierungschef Hoop dringend nach Bern .
Hoop nahm Dr. Vogt und G e s c h ä f t s t r ä g e r Pr inz
He in r i ch mit. Legationsrat Stucki informierte sie
vertraulich ü b e r die alliierten Forderungen. Die
Al l i ier ten verlangten von A n f a n g an, dass Liechten-
stein die selben Massnahmen wie die Schweiz
treffe: Blockierung der deutschen V e r m ö g e n und
Verhinderung von deren Verschieben und Verstek-
ken w a r conditio sine qua non, unabdingbar f ü r
weitere alliierte Verhandlungen mit der Schweiz.
Dieser - und auch Liechtenstein - ging es u m dr in-
gend benö t ig te Zufuhr von Lebensmitteln und
Kohle und u m Aufhebung der « S c h w a r z e n Lis ten».
Die Liechtensteiner, welche Reaktionen des noch
k ä m p f e n d e n Deutschen Reiches f ü r c h t e t e n , frag-
ten, was e in t r ä t e , wenn Liechtenstein abseits der
Regelungen bliebe. Minis ter Stucki erwiderte,
« d a s s dann die Schweiz zur Aufgabe der Wirt-
schaftsbeziehungen mit Liechtenstein gezwungen
w ü r d e » , was in k ü r z e s t e r Zeit die schwersten Ver-
sorgungsfolgen h ä t t e . Im Klartext: Der Zollvertrag
w ü r d e suspendiert, Liechtenstein a b g e s c h n ü r t ,
ohne Nahrungs- und Energieversorgung von aus-
sen, und zwar ü b e r das Kriegsende hinaus. Die
Liechtensteiner, Hoop, Vogt und Pr inz Heinr ich ,
k ü n d i g t e n ihre Antwor t f ü r den folgenden Tag an . 1 8
Sogleich besprachen sie sich in Zür ich mit dem
F ü r s t e n . Dieser ä u s s e r t e Bedenken, dass Deutsch-
land Repressalien gegen seinen Besitz ergreifen
k ö n n t e , hiergegen k ö n n t e das schutzlose Liechten-
stein sich nicht wehren. Der F ü r s t w ü n s c h t e daher
von den Al l i ie r ten eine E r k l ä r u n g zu verlangen, in
welcher sie sich zur Wiedergutmachung von Schä-
den, welche Deutschland Liechtenstein eventuell
z u f ü g e n w ü r d e , verpflichteten. Die Regierungsver-
treter Hoop und Vogt hielten eine solche Verpf l ich-
tung der Al l i ier ten indes f ü r ausgeschlossen. Es gab
nichts anderes als einzulenken. Nach Diskussion
mit dem F ü r s t e n und Beschluss der Regierung wur-
de in einer Note vom 16. Februar dem E P D mitge-
teilt, dass Liechtenstein sich allen schweizerischen
Vereinbarungen mit den Al l i ie r ten anschliesse.
Pr inz Heinr ich hatte bei der Ü b e r g a b e i m Poli t i -
56
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
sehen Departement die Erwar tung Liechtensteins
zu ä u s s e r n , dass die Al l i ier ten bei einer allfälligen
Wiedergutmachung von deutschen Repressalien
g e g e n ü b e r fü r s t l i chem Gut behilfl ich sein sollten.
Und Regierungschef Hoop liess Stucki wissen,
Liechtensteins Beitritt zu den Verhandlungsergeb-
nissen solle als « a u s dem Zollvertrage e r f l i e s send»
dargestellt werden . 1 9 Der Bundesrat beschloss, wie
e r w ä h n t , am selben Tag, 16. Februar, die Sperrung
aller deutschen Guthaben in der Schweiz und ver-
bot den An k au f deutschen Goldes. Das selbe galt
sogleich fü r Liechtenstein. 2 0 Im Sommer 1945 kol-
portierte ein britischer Journalist, der Liechten-
stein besuchte, dann in einem englischen Ar t ike l
das Gerücht , in Vaduz seien Besitzer deutscher
Guthaben aus eingeweihten Kreisen vorgewarnt
worden; in Koffern habe man noch rechtzeitig Gold
und Werte abgezogen. 2 1
Die Regierung hatte im Winter vor dem Kriegs-
ende vieles andere zu tun. Die Evakuierung der
fü r s t l i chen K u n s t g ü t e r aus Wien beziehungsweise
von den Auslagerungsorten wurde an die Hand ge-
nommen . 2 2 Regierungschef-Stellvertreter Dr. Vogt
reiste zu diesem Zwecke noch im November 1944
fü r eine Woche nach Berl in , um zu verhandeln.
Deutsche Reichsstellen stemmten sich gegen eine
Ausfuhr der fü r s t l i chen Sammlung, wei l ein be-
t r äch t l i che r Teil als «Re ichsku l tu rgu t» Gross-
deutschland nicht verlassen sollte. Schliesslich ge-
nehmigte man die v o r ü b e r g e h e n d e Auslagerung
nach Westen, teils auf die Insel Reichenau, teils ins
F ü r s t e n t u m . Mi t grossem A u f w a n d , G ü t e r w a g e n ,
Lastwagen und etlichen Tricks konnte schliesslich
alles ins Land gebracht werden. Beteiligt waren -
neben Dr. Vogt und Dr. Hoop - Dr. Gustav Wi lhe lm,
Graf Ar tu r Strachwitz, Schwager des F ü r s t e n 2 3 , der
Berl iner Bankier Ado l f Ratjen und der Berl iner
Jurist Dr. Josef Steegmann. 2 4 Einreise bei Kriegs-
ende, Aufenthalt in Liechtenstein und fü r s t l i ches
E h r e n b ü r g e r r e c h t waren Ratjens und Steegmanns
L o h n . 2 5
A m 14. Februar auch wurde im F ü r s t e n h a u s
Erbpr inz Johannes A d a m Pius, der heutige Für s t
Hans-Adam IL, geboren. Anfang März wurde er bei
Schneetreiben in Vaduz getauft, Pate war der neue
Papst Pius XII., er sandte als Stellvertreter Nuntius
Bernard i . 2 f i
Ende Februar, die Rote Armee stand in Ungarn,
wurde vom F ü r s t e n und der Regierung auch die
Evakuierung der Mitglieder der fü r s t l i chen Famil ie
aus Wien und Umgebung veranlasst, mit einem
Omnibus von Frommelt , Vaduz, und einem Lastwa-
gen samt A n h ä n g e r von Gerster, Vaduz. Unterwegs
gerieten sie in Fliegerbeschuss, stiessen auch A n -
fang M ä r z i m Schnee nahe Salzburg noch mit
einem Fahrzeug der Wehrmacht zusammen. Der
Lastwagen musste abgeschleppt werden. Sie er-
reichten - wenige Tage nach der Erbprinzentaufe -
am 12. März Feldkirch, sieben Wochen vor Kriegs-
ende. Eine mitfahrende Person wurde von der
Gestapo noch aus dem Bus geholt. 2 7 A n dem Tag
wurde in Wien der Stephansdom durch Bomben
17) Bundesratsbeschluss vom 16. Febr. 1945 über die vorläufige
Regelung des Zahlungsverkehrs zwischen der Schweiz und Deutsch-
land, Eidgenössische Gesetzessammlung, 1945. Nr. 8, S. 85-90. -
Heinz K. Meier: Friendship under Stress. U.S.-Swiss Relations
1900-1950. Bern 1970. S. 339 IT. - Daniel Frei: Das Washingtoner
Abkommen von 1946. Ein Beitrag zur Geschichte der schweizeri-
schen Aussenpolitik zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kal-
ten Krieg. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 19/1969/3,
S. 567 ff. - Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutra-
lität, Bd. VII, Dokumente 1939-1945. S. 361-382. - Documents
Diplomatiquos Suissos, Diplomatische Dokumente der Schweiz.
Documenti Diplomand Svizzeri 1848-1945, Vol. 15 (1943-1945).
Bern 1992, S. 883 ff.
18) LLA RF 229/418.
19) Ebenda.
20) Der Bundesratsbeschluss vom 16. Febr. 1945 (siehe oben
Anm. 17) schloss in Art. 12 Liechtenstein ausdrücklich mit ein.
21) LLA RF 230/478.
22) Siehe den Bericht von Gustav Wilhelm in diesem Band.
23) Graf Artur Strachwitz: Wie es wirklich war. Erinnerungen eines
Achtzigjährigen. Dümeln 1991, S. 337-347.
24) LLA RF 226/69, 227/199. 229/91.
25) LLA RF 226/69. - Strachwitz, s. oben Anm. 23. - HA Schloss
Vaduz. Korrespondenz Kabinettskanzlei 1945/27, 1944/87.
26) Robert Allgäuer/Norbert Jansen/Alois Ospelt: Liechtenstein
1938-1978. Bilder und Dokumente. Vaduz 1978, S. 110 f.
27) LLA RF 226/69. 227/199, 228/59. - LLA J 408/197. - «Fahrt-
bericht» 27. Febr. - 13. März 1945 von Eugen Frommelt, HA Schloss
Vaduz. Korrespondenz Kabinettskanzlei 1945/ad 4.
57
Evakuierung der Mitglie-
der des Fürstenhauses aus
Wien, März 1945
Der angeschossene ame-
rikanische Jäger P51
Mustang, am 22. Februar
1945 zwischen Schaan
und Buchs südlich der
Eisenbahnbrücke im Rhein
notgelandet, wird ans
liechtensteinische Ufer ge-
schleppt und später in
Dübendorf verschrottet
Der Pilot des am 22. Feb-
ruar 1945 im Rhein bei
Schaan notgelandeten
Jagdflugzeugs: US Second
Lieutenant Robert F. Rho-
des, geb. 1922 in Indiana-
polis, Aufnahme von 1943
schwer b e s c h ä d i g t und k a m Anne Frank i m K Z
ums Leben . 2 8
A u c h A n f a n g M ä r z 1945 r ü c k t e n noch 30 f re i -
wil l ige Liechtensteiner von Vorar lberg aus ins letz-
te deutsche Aufgebot, den «Volkss tu rm», ein. Ü b e r
60 weitere Freiwil l ige aus Liechtenstein waren be-
reits auf deutscher Seite in den Kr i eg gezogen, die
meisten in die Waffen-SS. Die 30 Volkssturm-Leute
wurden i m März 1945 in Südt i ro l vier Wochen lang
mi l i t ä r i sch ausgebildet, 18 kamen i m A p r i l schon
nach Liechtenstein zu rück , weitere gerieten in
Oberitalien bei Kriegsende in Gefangenschaft. Zu -
sammen waren aus Liechtenstein rund 100 Fre i -
willige in den Hit lerkr ieg gezogen, acht oder neun
gefallen oder verschollen. Aus Liechtenstein mus-
sten auch Deutsche und Öster re icher , zusammen
etwa 120, in den Kr i eg e i n r ü c k e n . Eine Reihe von
ihnen sind gefallen, so Norbert M ä h r aus Vaduz
oder Wil ly Vonbun aus Schaan. F ü r Vonbun fand
noch am 25. Februar 1945 die sogenannte «Kreuz-
s teckung» , das symbolische B e g r ä b n i s , auf dem
Schaaner Fr iedhof statt. 2 9
Drei Tage vorher, a m 22. Februar 1945, w a r ein
ü b e r dem Allgäu angeschossener amerikanischer
Jagdflieger mit knapper Not bei Schaan oberhalb
der E i s e n b a h n b r ü c k e auf einer Kiesbank i m Rhein
gelandet. E r w a r in M a d n a nahe Ancona i n Süd-
italien gestartet, hatte Bomber-Geleitschutz und
danach i m Raum Augsburg Tieffliegerangriffe auf
Verkehrsanlagen geflogen. Pilot und Maschine
wurden den Schweizer B e h ö r d e n ü b e r g e b e n . Der
Pilot Robert F. Rhodes war damals 21'A Jahre alt.
(Der Referent konnte ihn mit Hilfe von Stefan Näf
i m Herbst 1994 lebend in Indianapolis a u f s p ü r e n .
Rhodes ist nach Liechtenstein eingeladen worden
und hat am Montagabend, 1. M a i 1995, i m Rat-
haussaal Vaduz der Öffent l ichkei t als Zeitzeuge be-
richtet .) 3 0 Die Al l i ier ten f ü r c h t e t e n in den letzten
Kriegsmonaten einen Rückzug deutscher Kräf te in
eine Alpenfestung in Vorar lberg und Ti ro l . Daher
wurde die deutsche Infrastruktur durch Bombar-
dierungen noch mögl i chs t massiv getroffen. A m
Tag, da Rhodes bei Schaan niederging, waren Tau-
sende alliierter Flugzeuge i m Einsa tz . 3 1
58
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
Rasch n ä h e r t e sich nun auch der Landkr i eg . 3 2
Die liechtensteinische Regierung fragte am 14. Feb-
ruar 1945 die Schweiz u m V e r s t ä r k u n g des Grenz-
schutzes an. M a n werde das Anl iegen p r ü f e n , hiess
es in Bern. E i n F l ü c h t l i n g s a n d r a n g stand zu er-
war ten . 3 3
Im März beauftragte die Regierung das Bauamt,
P läne fü r F l ü c h t l i n g s b a r a c k e n zu besorgen, so wie
sie die Schweiz schon erstellte. Der «Liechtens te i -
nische Car i tas -Vere in» , der «Volksverein Vaduz»
und der « L a n d e s v e r b a n d der Frauen und T ö c h t e r »
taten sich i m März zusammen, um die «Flücht -
lings- und Nachkr iegsh i l fe» zu organisieren. Meh-
rere Frauen und T ö c h t e r hatten i m Januar in L u -
zern an einem entsprechenden Schulungskurs teil-
genommen. Die Regierung künd ig t e eine Geld-
sammlung an. Pfarrer Tschuor sammelte «Bom-
b e n f ü n f e r » f ü r jeden Tag der Kriegsverschonung
des Landes . 3 4
DIE L E T Z T E N WOCHEN UND TAGE IM KRIEG
A u f den 6. A p r i l endlich lud das Politische Departe-
ment zu einer Besprechung von F lüch t l i ngs f r agen
nach Bern. Dr. Hoop, Dr. Vogt und Prinz Heinr ich
nahmen teil. Das Wichtigste wurde geklär t : Die
Schweiz f ü h r t e wie schon i m Kr ieg auch f ü r Liech-
tenstein die ganze Flücht l ingspol i t ik . Die Schweiz
ü b e r n a h m die Flücht l inge , ü b e r Aufnahme ent-
schieden die schweizerischen Organe, die Grenzsa-
ni tä t lag in Buchs, wo ein Lager eingerichtet wurde.
Fü r die G r e n z ü b e r w a c h u n g wurde ein Stachel-
drahtverhau in Aussicht genommen. Eine Grenzsi-
cherung durch schweizerische Armeetruppen, wie
sie Liechtenstein g e w ü n s c h t hä t t e , wurde abge-
lehnt, ebenso, zu diesem Zeitpunkt noch, A n f a n g
A p r i l , eine G r e n z w a c h t v e r s t ä r k u n g .
Einige Tage darauf, am 9. A p r i l , besprachen sich
Dr. Hoop und der Fürs t : Wie sollte man die rück-
kehrenden liechtensteinischen Nationalsozialisten
behandeln, vorab die Putschisten von 1939? Ver-
haften? Oder zu rück ins Reich schicken? F ü r s t und
Hoop Hessen die Frage offen. Sie erwogen auch,
mehr Maschinenpistolen f ü r die Polizei anzuschaf-
fen sowie fü r die Grenzorgane Deckungsbauten zu
errichten.
A m 15. A p r i l wurde auf den K i r c h e n p l ä t z e n ver-
lautbart, M ä n n e r von 20 bis 40 Jahren k ö n n t e n
sich als Hilfspolizisten melden. Die Hil fspol izei be-
trug schliesslich 52 Mann , mit der r e g u l ä r e n Polizei
waren es 60 M a n n . Die Regierung liess sie impfen,
nachdem in Fe ldki rch ein töd l icher Scharlachfal l
auftrat.
A m 17. A p r i l fand bei der Regierung eine hoch-
ka rä t i ge Besprechung ü b e r Grenzschutzmass-
nahmen statt. Dabei waren unter anderem Für s t
F ranz Josef, Regierungschef Hoop, Regierungschef-
Stellvertreter Vogt, Wachtmeister Brunhart , von
schweizerischer Seite Zolldirektor Spitz, Grenz-
wacht-Oberstleutnant Dr. Wyss und weitere Offizie-
re. Beschlossen wurde: Der Maschinenpistolenbe-
stand der Polizei w i r d von 6 auf 15 e r h ö h t . Der
Grenze entlang w i r d von Ruggell bis zum Maurer-
berg ein Stacheldrahtverhau angelegt. Anschlies-
send besichtigte man gemeinsam vom Schellen-
berg aus die Grenze. A m Abend besprach man
alles mit den U n t e r l ä n d e r Gemeindevorstehern.
Anderntags ergingen die A u f t r ä g e zum Bau des
Verhaus. Der Grenze entlang musste ein Streifen
von 10 m Breite unbepflanzt bleiben. Die Regie-
28) Fleming/Steinhage/Strunk (s. oben Anm. 5), S. 42.
29) Verschiedene Akten im LLA. - LVolksblatt und LVatorland 1939
bis 1945. - <Der Umbruch», 1940 bis 1943 (Original im L L A , Kopie
Liechtensteinische Landesbibliothek, Vaduz).
30) Kontakte und Gespräche des Verfassers mit Robert F. Rhodes,
Indianapolis. 1994 und 1995. - L L A RF 229/341. - Stefan Näf: Der
letzte Flug der «Little Ambassador» , Mustang landet im Rhein bei
Buchs. In: Cockpit, August 1995, S. 32-34. - Karl-August Kaiser:
Vor 50 Jahren: Notlandung eines amerikanischen Jagdflugzeugs im
Rhein bei Schaan. In: Terra plana, 2/1995, S. 43-45. - Siehe den
Beitrag von Stefan Näf im vorliegenden Band.
31) Fleming/Steinhage/Strunk (s. oben Anm. 5), S. 36.
32) Endlich Friede, Kriegsende 1945 in der Bodenseeregion. (Mit
Beiträgen von Benito Boari, Erwin Fitz, Peter Geiger, Ruedi Herzog,
Jü rgen Klöckler, Eva Moser. Louis Specker, Gert Zang.) Rorschach
1995. Begleitpublikation zur Gedenk-Ausstellung «Endlich Friede!»
1945/1995, gezeigt auch in Vaduz Apri l-Juni 1995.
33) LLA RF 230/43.
34) Ebenda.
59
3nfoIge ber eingetretenen (Ereigniffe fmb bie ITlitglieber ber
fürftlidjen Regierung mit Angelegenheiten lebensroicrjtigfter Hatut
ooüauf in 21nfpruct? genommen.
Die Seoölferung » irb besfyalb gebeten, bas Dorbringen min>
berroictjriger Angelegenheiten bis auf weiteres $u oerfdjieben unb
bringenbe $äüe möglidjft fctjriftlid? bei ber Hegierung an3ubrin-
gen.
Dabus, am 23. 2IpriI (9̂ 5.
^ürftlicfye Regierung:
gej. D r . f joop .
Die Regierung ist rund um
die Uhr in Anspruch ge-
nommen. Liechtensteiner
Vaterland, 25. April 1945
Liechtensteinischer Sta-
cheldrahtverhau, errichtet
kurz vor Kriegsende an
der grossdeutschen Gren-
ze von Ruggell bis Schaan-
wald
Andrang am 3. Mai 1945
an der Grenze Schaan-
wald-Tisis, wenige Tage
vor dem Waffenstillstand
rung e r ö f f n e t e einen Kredi t von 500 000 Franken
bei der Schweizerischen Volksbank . 3 5
A n diesem Tag fand m a n i n der G r e n z r ü f e a m
Maurerberg die Leiche eines 2 5 - j ä h r i g e n Deser-
teurs aus Rankwei l . M a n begrub ihn in M a u r e n . 3 6
Die Regierung rief zu F l ü c h t l i n g s s p e n d e n auf.
Der Jungmannschaftsverband, die Pfadfinder sam-
melten. Die Bevö lke rung wurde per Zeitung gebe-
ten, die Regierung nur noch i n dringenden Fäl len
und nur schrif t l ich anzugehen, da sie durch «le-
benswich t ig s t e» Aufgaben vollauf beansprucht sei.
Die Feuerwehren i m Unter land wurden auf Pikett
gestellt. Die Bevö lke rung wurde aufgerufen, keine
Flücht l inge privat aufzunehmen, sondern den Po-
sten zuzuweisen. Derwei l k ü n d i g t e die Deutsche
Kolonie in Liechtenstein noch Propagandafi lme i m
« D e u t s c h e n He im» in Vaduz a n . 3 7
Alle Ärz te wurden i m R e g i e r u n g s g e b ä u d e vom
Chef des E i d g e n ö s s i s c h e n G r e n z s a n i t ä t s d i e n s t e s
instruiert, anschliessend die Grenze besichtigt und
in Schaanwald und Schaan San i tä t s s te l l en einge-
richtet.
A b dem 22. A p r i l sperrte der Bundesrat die ge-
samte schweizerische Grenze i m Rheintal, nur
St. Margrethen und Schaanwald/Buchs blieben be-
dingt offen. A m n ä c h s t e n Tag wurde eine Grenz-
wachtrekrutenkompanie nach Liechtenstein ent-
sandt und auf die n ö r d l i c h e n Grenzorte verteilt.
Ebenso wurden 10 000 Rollen Stacheldraht ins
Land spediert, 180 000 Franken kostend.
Die Massnahmen waren gerade noch rechtzeitig
ergriffen: A b dem 25. A p r i l setzte n ä m l i c h der
F l ü c h t l i n g s a n d r a n g in Schaanwald ein. In den letz-
ten neun Tagen des Krieges bis zur f r a n z ö s i s c h e n
Besetzung Feldkirchs traten vom 25. A p r i l bis
3. M a i zusammen rund 10 000 Personen ü b e r die
Grenze. Den H ö h e p u n k t erreichte der 3. M a i mit
2950 Personen. Nach Nationen waren etwa ein
Drittel Franzosen, n ä m l i c h ü b e r 3000, gut 1200
Russen, 700 Polen, 400 Belgier, 300 Italiener, 300
Hol länder , gut 150 Schweizer, 121 Liechtensteiner,
90 Kroaten, 60 Serben, 42 Deutsche, 10 Tschecho-
slowaken, dazu einzelne Spanier, Ungarn , Letten,
Bulgaren, Norweger, Kanadier, Syrer, ü b e r 200 In-
der. W a r u m so viele Franzosen, Russen, Polen, Bel -
60
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
gier, Hol länder , Inder? Es handelte sich vor allem
um entlassene Kriegsgefangene und nach Deutsch-
land verschleppte Zwangsarbeiter, aber auch ü b e r
hundert befreite KZ-Häf t l inge . 3 8
Daneben versuchten sich Kollaborateure, Deser-
teure, N S - F u n k t i o n ä r e und Private aus dem Reich
und dem Kriegsgebiet abzusetzen. Hier blieben die
schweizerischen Grenzorgane streng. Zu rückge -
wiesen wurde i n Schaanwald etwa auch Pierre
Laval , der ehemalige Premier der f r a n z ö s i s c h e n
Vichy-Regierung. 3 9 Eduard von Falz-Fein hat ihn
an der Grenze fotographiert . 4 0 Laval hatte es schon
in St. Margrethen zweimal vergeblich versucht,
einmal versteckt unter Gepäck eines Diplomaten-
autos; 4 1 er konnte dann offenbar von Innsbruck aus
noch nach Spanien f l iegen, 4 2 wurde aber den A m e -
r ikanern und Franzosen ausgeliefert und i m Okto-
ber 1945 i n Frankreich zum Tod verurteilt und hin-
gerichtet. 4 3
In jenen S c h a a n w ä l d e r F lüch t l ings tagen wurden
nur 42 Deutsche (einschliesslich Ös te r re icher ) ein-
gelassen. Warum kamen nicht die Grenzbewohner
Vorarlbergs, Frauen und Kinder, u m v o r ü b e r g e -
hend dem Kampfgeschehen zu entkommen? Ihnen
erlaubte die Schweiz in den Tagen des N ä h e r -
r ü c k e n s der Front Anfang M a i , ü b e r die Rhein-
b r ü c k e n von Rheineck bis Montl ingen auf Schwei-
zergebiet ü b e r z u t r e t e n , u m sich f ü r kurze Zeit in
Sicherheit zu bringen. Meist g e n ü g t e n ein bis zwei
Tage. A b dem 3. M a i konnten die Vorarlberger
he imkehren . 4 4
Die Pfadfinderinnen und Pfadf inder hatten bei
Beginn des F l ü c h t l i n g s a n d r a n g s in Schaanwald
eine S u p p e n k ü c h e eingerichtet, die sie in Betrieb
hielten. Sie wurde vom Bauamt erweitert. Aus ihr
wurden in jenen Tagen Tausende von durchgeleite-
ten Flücht l ingen g e n ä h r t . Für s t in Gina und Pr in-
zessinnen beteiligten s i c h . 4 5 Das Liechtensteinische
Rote Kreuz wurde in jenen Tagen, am 30. A p r i l -
am Tag von Hitlers Selbstmord - , g e g r ü n d e t , von
Fürs t in Gina, Dr. Fri tz Ritter, Baurat Josef Vogt,
Wi lhe lm Fehr, Otto Pieren und anderen. Die Fürs t in
wurde P rä s iden t in , Josef Vogt Vizepräs iden t , Fr i tz
Ritter Sekretär , W i l h e l m Fehr Kassier des Liechten-
steinischen Roten Kreuzes . 4 6
Parallel dazu, mitten i n diesen hektischen Tagen
und w ä h r e n d m a n an Evakuat ion denken musste,
wurde auch noch der Landtag gewähl t , am
29. A p r i l 1945 . 4 7 Zuvor w a r a m 18. März 1945 i n
einer Volksabst immung der Vorschlag, die Abge-
ordnetenzahl von 15 auf 21 zu e r h ö h e n , haushoch
verworfen worden. Z u m letztenmal war der Land-
tag in wirk l icher Wah l 1936 bestellt worden.
Danach war 1939 aufgrund des neuen Proporz-
gesetzes nur stille W a h l durch Ü b e r e i n k u n f t der
B ü r g e r p a r t e i und der Union erfolgt . 4 8 Und 1943
hatte der F ü r s t - auf a u s d r ü c k l i c h e n Wunsch der
beiden Koali t ionsparteien, der Regierung und des
Landtages - die Mandatsdauer des Landtages ver-
länger t ; die n ä c h s t e Wah l sollte zum f r ü h e s t m ö g -
l ichen Zeitpunkt stat tf inden. 4 9 Dieser schien i m
F r ü h j a h r 1945 gegeben. 5 0 M a n konnte nicht ahnen,
dass die Wahlen genau in die chaotischen Tage des
35) Ebenda.
36) L L A S 78/108. - LVolksblatt. 21. Apr i l 1945.
37) L L A RF 230/43, 228/21, 228/12.
38) L L A RF 230/43. - LVolksblatt, 5. Mai 1945.
39) Robert Gschwend: Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges an
der St. Gallischen Rheingrenze. In: Unser Rheintal 1945 (Au SG),
S. 27-53. hier S. 32.
40) Interview des Verfassers mit Baron Eduard von Falz-Fein,
Vaduz, vom 6. Dez. 1996. - LVolksblatt, 5. M a i 1945.
41) Robert Gschwend. S. 32 (s. oben A n m . 39).
42) Interview des Verfassers mit Eduard von Falz-Fein vom 6. Dez.
1996.
43) Robert Gschwend. S. 32 (s. oben Anm. 38).
44) Robert Gschwend, (s. oben Anm. 39). - Heribert Küng: Rhein-
grenze 1945, St. Gallen. Liechtenstein und Vorarlberg am Ende des
Zweiten Weltkrieges. Buchs 1989.
45) LVolksblatt, 3. Mai 1945. - Allgäuer/Jansen/Ospel t (s. oben
Anm. 26), S. 114 ff.
46) LLA RF 230/396.
47) LLA RF 229/409, 229/282. - Paul Vogt: 125 Jahre Landtag.
Vaduz 1987, S. 211.
48) Paul Vogt: 125 Jahre Landtag. Vaduz 1987, S. 209-211. 241.
49) LLA RF 218/336.
50) Schreiben von Fürst Franz Josef II. vom 26. März 1945 zur
Landtagsauflösung, L L A RF 230/146.
61
Kriegsendes fallen w ü r d e n . Die Roverabteilung der
Pfadfinder r ief i n der M ä r z n u m m e r 1945 ihrer
Zeitschrift «Die J u g e n d » dazu auf, nur Männer ,
gleich welcher Partei, zu w ä h l e n , welche in
schwerster Zeit « f ü r Gott, F ü r s t und Va te r l and»
eingestanden seien, nicht aber « e h e m a l i g e Faschi-
sten und F a s c h i s t e n f r e u n d e » , auch nicht die einst
«Zwe ideu t igen» , « W a n k e l m ü t i g e n » . 5 1 Ebenso ä u s -
serte sich das Liechtensteiner Volksblatt in den Ta-
gen vor der W a h l . 5 2 Der Wahlkampf verlief wegen
der Z e i t u m s t ä n d e sehr r u h i g . 5 3
Im Wahlergebnis bes t ä t ig t e sich das damalige
S t ä rkeve rhä l t n i s : Die Fortschrittl iche B ü r g e r p a r t e i
(FBP) gewann mit 54,7 Prozent der St immen acht
Mandate, die Va t e r l änd i s che Union mit 45,3 Pro-
zent sieben Mandate. Im Nachkriegslandtag sassen
nur noch sechs Abgeordnete des Kriegslandtages,
neun Köpfe waren neu. L a n d t a g s p r ä s i d e n t wurde
B ü r g e r m e i s t e r David Strub. Nicht mehr kandidiert
hatten Pfarrer An ton Frommel t (FBP), der den
Landtag seit 1928 p r ä s i d i e r t hatte, und Dr. Otto
Schaedler, der V U - P r ä s i d e n t . 5 4 F ü r den Verzicht
nannte Frommel t gesundheitliche, Schaedler be-
rufliche G r ü n d e . 5 5
A m 1. M a i fanden Bittprozessionen statt. K a u m
sass m a n nach der Kirche in der Wirtschaft , er-
schienen f r a n z ö s i s c h e Jagdflieger ü b e r dem Tal.
Die Bi t tgänger mussten g r ü p p c h e n w e i s e he imwal l -
fahren. Die Flieger drehten ins Vorarlbergische ab . 5 6
Bei Dornb i rn hatte es tags zuvor unter den herauf-
marschierenden Holmston-Russen noch einen To-
ten bei Fl iegerangriffen gegeben. 5 7
A n diesem 1. M a i kamen die ersten neun Insas-
sen aus dem K Z Dachau in Schaanwald an, i n g r ü n
und blau gestreiften A n z ü g e n , i n schrecklicher
physischer und psychischer Verfassung. 5 8 Darauf
rief ein Deutscher i m Lande, der sich gegen die
Nationalsozialisten gestellt hatte und vom Reich
a u s g e b ü r g e r t worden war, einen deutschen N S D A P -
F u n k t i o n ä r in Vaduz an, er solle doch mit der
ganzen deutschen Kolonie zur Grenze marschie-
ren, da s ä h e n sie, was der Nationalsozial ismus
angerichtet habe. Der F u n k t i o n ä r beschwerte sich
prompt bei der Regierung, die den Anru fe r noch
zur Rechtfertigung v o r l u d . 5 9
62
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
A m 2. M a i f iel Schnee in die M a i e n b l ü t e . 6 0 A n
diesem Tag h ö r t e m a n den Donner f r a n z ö s i s c h e r
Geschü tze bei Götzis. W ü r d e n deutsche Truppen
und SS, die im oberen Vorar lberg standen, versu-
chen, k ä m p f e n d nach Liechtenstein auszuwei-
chen? 6 1 Wie schon i m M a i 1940, zu Beginn des
Frankreichfeldzuges, als der deutsche Einmarsch
b e f ü r c h t e t wurde, beschloss die liechtensteinische
Regierung am 2. M a i 1945 Weisungen fü r den Fa l l
von ins Land ü b e r g r e i f e n d e n Kriegshandlungen;
das Blatt wurde a m andern Morgen angeschlagen
und in alle Haushaltungen verteilt: S t u r m l ä u t e n
w ü r d e die Evakuierung a n k ü n d i g e n , die Bewohner
hä t t en sich samt Vieh und Nahrung fü r einige Tage
in die W ä l d e r zu f lüch ten , Felder w ä r e n zu meiden,
H ä u s e r mit weissen T ü c h e r n als ü b e r g a b e b e r e i t zu
kennzeichnen, um sie vor Brandschatzung zu be-
wahren, jeder Widers tand w ä r e zu unterlassen. 6 2
A m 2. M a i kam auch noch ein deutscher General
aus Feldkirch ins schweizerisch-liechtensteinische
Zollhaus in Schaanwald: E r wollte ü b e r die Verle-
gung der Lazarett-Verwundeten aus Feldkirch nach
Liechtenstein verhandeln . 6 3
Noch etwas Besonderes wurde f ü r den schl im-
meren Fal l vorgekehrt: A u c h am 2. M a i traf in
Buchs insgeheim Regierungschef Hoop mit einem
f r a n z ö s i s c h e n Offizier aus dem Stab von General
Bethouard und einem schweizerischen Oberst zu-
sammen. Der letztere war i m schweizerisch-fran-
zös i schen Einvernehmen beim Vormarsch der
Franzosen von Basel bis ins Vorarlbergische dabei,
jenen den Grenzverlauf e r k l ä r e n d . Regierungschef
Hoop besprach sich mit ihnen und ü b e r g a b darauf
ein Schreiben fü r den f r a n z ö s i s c h e n Kommandan-
ten Bethouard, mit folgendem Inhalt: Die liechten-
steinische Regierung und F ü r s t Franz Josef freuen
sich ü b e r die baldige Beendigung des Krieges, be-
g rüs sen den General und seine Truppen und ersu-
chen sie gleichzeitig, das liechtensteinische Terr i -
tor ium zu respektieren. Falls deutsche Truppen
bewaffnet nach Liechtenstein eindringen sollten,
werde die liechtensteinische Grenzpol izei sie ent-
waffnen und der Schweiz zur Internierung ü b e r -
geben. Sollten allerdings eingedrungene deutsche
Truppen ihre Waffen nicht niederlegen, so ersucht
die liechtensteinische Regierung mit diesem
Schreiben General Bethouard ausd rück l i ch , « d e n
mi l i t ä r i s chen Schu tz» des F ü r s t e n t u m s zu ü b e r -
nehmen und « d a s Land von feindlichen Strei tkräf-
ten zu s ä u b e r n » . Von den Franzosen i n Liechten-
stein aufgegriffene und entwaffnete Wehrmacht-
Truppen w ü r d e die liechtensteinische Regierung
als Kriegsgefangene Frankreichs betrachten und
ü b e r l a s s e n . Die liechtensteinische Regierung bittet
schliesslich General Bethouard, seine Truppen an-
zuweisen, nach dem Ende der Feindseligkeiten das
Gebiet des F ü r s t e n t u m s zu verlassen und den Sta-
tus quo wiederherzuste l len. 6 4 Die Franzosen hatten
eine solche E r k l ä r u n g g e w ü n s c h t , damit sie deut-
sche Truppen nach Liechtenstein hinein verfolgen
und das Land danach gleich wieder verlassen
51) «Die Jugend», Nr. 3. März 1945. zit. nach: 50 Jahre Pfadfinder
in Liechtenstein 1931-1981. Fotos. Originaltexte und Dokumente.
Redigiert von Astrid Beck, Peter Beck et al. Vaduz 1981. S. 61 f.
52) LVolksblatt, 26. und 28. Apr i l 1945.
53) LVaterland und LVolksblatt im Apr i l 1945.
54) Vgl. Paul Vogt: 125 Jahre Landtag. Vaduz 1987, S. 210 f., 178.
181.
55) LVolksblatt, 21. Apri l 1945.
56) LVolksblatt. 3. Mai 1945.
57) l'eter Geiger: Mit Hitler gegen Stalin. Holmston-Smyslowskys
Russische Nationalarmoe in Liechtenstein: Geschichte, Hintergrün-
de, Mythos. In: Peter Geiger/Manfred Schlapp: Russen in Liechten-
stein. Flucht und Internierung der Wehrmacht-Armee Holmstons
1945-1948. Vaduz, Zürich 1996, S. 7-228, hier S. 21.
58) LVolksblatt, 5. Mai 1945.
59) L L A RF 230/328.
60) LVolksblatt, 3. Mai 1945.
61) Vgl. Erwin Fitz: Der mili tärische Aspekt des Kriegsendes 1945
am Bodensee. In: Endlich Friede (siehe oben Anm. 32), S. 1-12, hier
S. 6.
62) Aufruf vom 3. Mai 1945, L L A Fotosammlung; publiziert in:
Allgäuer /Jansen/Ospel t (s. oben Anm. 26), S. 115; ebenso bei
Peter Geiger: Liechtenstein bei Kriegsende 1945. In: Endlich Friede
(s. oben Anm. 32), S. 61.
63) LVolksblatt, 5. Mai 1945.
64) Schreiben der liechtensteinischen Regierung an den Komman-
danten des 1. Französischen Armeekorps, 2. Mai 1945, Kopie, mit
Original-Unterschrift von Regierungschef Hoop, BA Bern E 2001 (E),
1969/262, Sch. 12.
63
H i l f s v e r e i n d e r J u d e n
in L i e c h t e n s t e i n VMka,«M 8 . l i a l 1945.
An die
Hohe F ü r s t l i c h e Regierung,
V a d u z .
AnlBsslich des Kriegsendes, das ein Aufatmen durch
die Welt gehen lasst , möchten wir nicht versäumen
der Hohen F ü r s t l i c h e n Regierung unseren t ie fs t empfun-
denen Dank für das uns gewährte Asyl und Wohlwollen
auszusprechen.
Genehmigen Sie die Versicherung
unserer v o r z ü g l i c h e n Hochachtung
Hilfsverein der Juden
in Liechtenstein.
Am 8. Mai 1945 dankt der
«Hilfsverein der Juden in
Liechtenstein» der liech-
tensteinischen Regierung
3Btr forfrern ein Sitfrettlager!
Den Juden in Liechtenstein den Davidslern?
«Der Umbruch», von 1940
bis 1943 Kampfblatt
der nationalsozialistischen
«Volksdeutschen Bewe-
gung in Liechtenstein»,
hatte 1942 für die Juden
in Liechtenstein ein «Ju-
denlager» und die Kenn-
zeichnung mit dem gelben
Stern gefordert. Der Um-
bruch, 3. und 30. Oktober
1942
k ö n n t e n , ohne Besetzung. D a der F ü r s t gerade
unerreichbar in der Schweiz weilte, unterschrieb
Hoop die E r k l ä r u n g und holte des F ü r s t e n Zust im-
mung, die er voraussetzte, am Abend ein. Von
praktischer Bedeutung wurde das Schreiben zwar
nicht mehr. Doch zeigt es, womit man rechnete.
U n d vö lker rech t l i ch beinhaltete es einerseits eine
Ritzung der Neut ra l i t ä t , andererseits das, was m a n
heute «ho t p u r s u i t » nennt, Verfolgung ü b e r die
Grenze hinaus.
E in Vorfa l l der b e f ü r c h t e t e n Ar t traf dann doch
ein: In der Nacht jenes Tages, vom 2. auf den
3. M a i , als die Franzosen schon von Götzis her-
a u f r ü c k t e n , drang in Hinterschellenberg gegen
Mitternacht eine Wagen- und Marschkolonne der
Deutschen Wehrmacht mit geladenen Waffen ü b e r
die liechtensteinische Grenze. Es f ie l mindestens
ein Schuss eines G r e n z w ä c h t e r s . Dann stellte sich
heraus, dass es sich u m eine Russentruppe handel-
te, welche in der Wehrmacht gegen Stalin aufge-
stellt und von einem russischen Emigranten ge-
f ü h r t war. Dieser, der Generalmajor der Deutschen
Wehrmacht Ar thu r Holmston, mit r ichtigem N a -
men Boris Alexejewitsch Smyslowsky, ersuchte an
der Grenze u m A s y l in der Schweiz oder in Liech-
tenstein. Liechtenstein hatte er angesteuert, we i l es
unverteidigt und neutral war. Die Truppe von
knapp 500 Personen wurde i n den Nachtstunden
entwaffnet, n o t d ü r f t i g untergebracht und verpflegt,
vor läuf ig wurde A s y l g e w ä h r t .
Unter den 494 Personen waren ü b e r 30 Frauen
und zwei Kinder sowie rund 20 Deutsche, zwei pol-
nische Offiziere, ein englischer Flieger und ein
Schweizer Dolmetscher. Russische m ä n n l i c h e Sol-
daten brachte Holmston-Smyslowsky knapp 440
mit. M a n verteilte die Truppe zuerst auf die Schul-
h ä u s e r in Schellenberg und Ruggell und das Ver-
einshaus in Mauren . Nach wenigen Tagen zog man
sie in Ruggell in einem Baracken-Lager zusammen.
Holmston samt F rau und Adjutanten logierten i m
«Waldeck» in Gampr in . Eine Gruppe von Ziv i l -
f lücht l ingen w a r mit ü b e r g e t r e t e n , darunter der
russische T h r o n a n w ä r t e r W l a d i m i r Ki r i l lowi t sch
und Erzherzog Albrecht , ungarische Offiziere, In-
der, Frauen und Kinder ; diese Zivil isten wurden
64
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
am Morgen gleich wieder in Schaanwald ü b e r die
Grenze zurückges te l l t .
Was sollte mit der internierten Truppe, die
hitlerdeutsche Uni fo rmen trug, geschehen? Der
Grenzwachtoberstleutnant Wyss sagte zu Wacht-
meister Brunhart : «So, jetzt s ind sie da, jetzt habt
ihr sie, uns gehen sie nichts mehr an .» So blieb es.
Es entspann sich um die Liechtenstein-Russen ein
Tauziehen bis 1948 . 6 5
A m 3. M a i h ö r t e man von Liechtenstein aus am
Vormittag noch Detonationen und Maschinenge-
wehrfeuer in Vorarlberg. Nach dem Mittag fuhren
f r a n z ö s i s c h e Panzer in Feldkirch ein. A m Zollamt
Tisis wurde die alte ö s t e r r e i ch i s che Flagge hervor-
geholt und gehisst. F r a n z ö s i s c h e Flieger brachen
Widerstandsnester der SS und FLJ auf der Car ina .
Dann hö r t e man eine gewaltige Detonation: Die 111-
b r ü c k e im Engnis der Felsenau war von den ab-
ziehenden Deutschen gesprengt worden. A n der
S c h a a n w ä l d e r Grenze wurde es am Nachmittag
ruhiger, der F lüch t l ingss t rom ebbte ab. A m 4. M a i
kamen die Franzosen zur Grenze . 6 6 A m 5. M a i be-
suchte der f r a n z ö s i s c h e Stadtkommandant von
Feldkirch den F ü r s t e n , Regierungschef Hoop erwi-
derte den Besuch zwei Tage später . Mi t den F ran -
zosen kam nach schneekalten Tagen am 5. M a i
auch endlich warmes F r ü h l i n g e w e t t e r auf, gerade-
zu symbolhaft . 6 7
DIE ERSTEN TAGE IM FRIEDEN
Der 8. M a i , Tag der Gesamtkapitulation, war ein
Dienstag, es herrschte s c h ö n e s Wetter. A n der
Grenze trafen kaum mehr Flücht l inge ein. Unend-
liche Erleichterung ergriff auch in Liechtenstein die
Menschen. A m Abend läu te ten um 7 Uhr eine Vier-
telstunde lang alle Kirchenglocken zum F r i e d e n 6 8 -
wie in der Schweiz. Die Regierung ersuchte am
8. M a i die Pfarrer, am folgenden ersten Friedens-
sonntag in allen Gemeinden «Fes tgo t t e sd i ens t e»
abzuhalten, « z u m Dank f ü r die Beendigung des
Krieges . 6 9
A m 8. M a i e rk lä r t e der schweizerische Bundes-
rat, er anerkenne keine deutsche Reichsgewalt und
keine deutschen B e h ö r d e n mehr . 7 0 Der auch f ü r
Liechtenstein z u s t ä n d i g e deutsche Generalkonsul
in Zür ich , Car l Dienstmann, teilte dies der liechten-
steinischen Regierung mit und e rk l ä r t e seine Funk-
tion f ü r eingestellt. 7 1
A m 8. M a i auch sandte der «Hilfsverein der Ju-
den in L iech tens te in» ein Schreiben an die Regie-
rung und dankte « fü r das uns g e w ä h r t e Asy l und
W o h l w o l l e n » . 7 2 Der Hil fsverein der Juden bestand
seit 1940, sein Zweck war die U n t e r s t ü t z u n g
Hi l febedürf t iger . Die Regierung hatte Zwangsmit-
gliedschaft f ü r alle in Liechtenstein lebenden jüd i -
schen A u s l ä n d e r verordnet. Den Kr ieg h indurch
hatten rund 100 Personen j ü d i s c h e r Herkunft i m
Lande Zuflucht gefunden. 7 3 Einer von ihnen dankte
Regierungschef Hoop dafür , dass die Regierung, die
gewiss keinen leichten Stand in der « E m i g r a n t e n -
f r a g e » gehabt habe, stets V e r s t ä n d n i s zeigte. Das
sei Hoops Verdienst, was i h m Gott lohnen wolle.
Hoop antwortete in einem kurzen Schreiben, die
65) Peter Geiger/Manfred Schlapp: Russen in Liechtenstein, Flucht
und Internierung der Wehrmacht-Armee Holmstons L945-1948. Mit
der Liste der Internierten und dem russischen Tagebuch des Georgij
Simon. Vaduz, Zürich 1996 (dort die weiteren Quellen- und Lite-
raturangaben). -Zeitzeugen-Interviews des Verfassers 1995/96. -
Henning von Vogelsang: Die Armee, die es nicht geben durfte.
Russen in deutscher Uniform und ihre Rettung in Liechtenstein.
Ulm-Kisslegg 1995. - Tonja Furrer/Nina Kaiser: Sowjetische und
russische Mili tärinternierte in der Schweiz und in Liechtenstein
w ä h r e n d des Zweiten Weltkrieges: In: Carsten Goehrke/Werner G.
Zimmermann (Hrsg.): «Zuflucht Schweiz». Der Umgang mit Asylpro-
blemen im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1994, S. 309-343.
66) LVolksblatt. 5. Mai 1945.
67) LVolksblatt, 8. Mai 1945.
68) LLA RF 228/21.
69) LLA RF 230/365.
70) Bundesratsbeschluss vom 8. Mai 1945. Bundesrats-Protokoll.
In: Documents Diplomatiques Suisses (s. oben A n m . 17). Bd. 15.
Bern 1992, S. 1106 f.
71) Dr. Carl Dienstmann (dt. Generalkonsul) an Regierungschef Hoop.
9. Mai 1945; Antwort Hoops an Dienstmann, 17. Mai 1945,
LLA RF 230/37.3.
72) Schreiben des «Hilfsvereins der Juden in Liechtenstein» an die
liechtensteinische Regierung. 8. Mai 1945, L L A RF 230/365.
73) LLA RF 200/57.
65
geüb te Toleranz habe er «s te ts f ü r eine Selbstver-
s tänd l ichke i t und als ein Gebot der Menschlichkei t
a n g e s e h e n » . 7 4
A m 8. M a i brachte das Liechtensteiner Volks-
blatt neben der Kapitulat ionsmeldung auch Zitate
aus dem liechtensteinischen Kampfblat t «Der U m -
b r u c h » der «Volksdeu tschen Bewegung in Liech-
t ens t e in» . Der nationalsozialistische « U m b r u c h »
war ab 1940 von Ing. Mar t in Hi l t i , Dr. Sepp Ritter
und Dr. Hermann Walser herausgegeben und i m
Sommer 1943 verboten worden . 7 5 Das Liechten-
steiner Volksblatt wies nun am 8. M a i darauf h in ,
was aus jenen verblendeten Aussagen geworden
war. Der Leitart ikel schloss: « R ä c h e r wol len w i r
nicht sein, aber M a h n e r » . 7 6
Ebenfalls a m 8. M a i , die Friedensglocken waren
kaum verklungen, krachten nach dem Eindunkeln
Böller der Abrechnung. Abends u m viertel vor zehn
zerriss i n Mauren eine Sprengladung eine Tür, be-
schäd ig te ein Vordach und z e r t r ü m m e r t e 17 Fen-
sterscheiben. Eine Stunde später , gegen elf, v e r w ü -
steten i n Nendeln zwei vor eine H a u s t ü r gelegte
Ladungen Scheiben, T ü r und Korridor, die Gang-
decke s tü rz te ein. U n d 20 Minuten danach explo-
dierte, wieder i m Zentrum von Mauren , ein Papier-
böller, der bei zwei Lläusern Scheiben in B r ü c h e
gehen liess. Die Anschlagserie richtete sich gegen
NS-Anhänger . Polizeiliche Ermit t lungen wurden
nach einigen Monaten ergebnislos eingestellt. 7 7
A m 9. M a i sandte F ü r s t F ranz Josef Glück-
wunschtelegramme zum Sieg an P r ä s i d e n t Tru-
man, an den brit ischen König Georg VI . - nicht an
Churchi l l - und an General De Gaulle. Stalin erhielt
kein fü rs t l i ches Telegramm. Die drei Beehrten
dankten. 7 8
Die Regierung ordnete am 9. M a i Haussuchun-
gen und Aktenbeschlagnahme bei allen Funktio-
n ä r e n der Auslandorganisat ion der N S D A P i m Lan-
de an. Die von 1933 an bestehende und geduldete
N S D A P der Deutschen i m Lande hatte starken
Druck auf die Deutschen und ehemaligen Öster re i -
cher geübt , nun wurde sie verboten. E i n deutscher
N S D A P - M a n n i m Lande e rk lä r t e i m Sommer 1945
sein aktives Mittun so: E r sei der Propaganda er-
legen, polit isch unerfahren gewesen, habe von den
Greueltaten nichts gewusst, h ä t t e sie auch nicht ge-
glaubt. Abe r jetzt sei er durch Schaden klug gewor-
den und wolle sich nie mehr u m Politik k ü m m e r n . 7 9
In Bern sprach am 9. M a i G e s c h ä f t s t r ä g e r Pr inz
Heinr ich i m Auf t rag der Regierung wie schon eini-
ge Tage zuvor wegen der Russen vor: Die liechten-
steinische Regierung hatte die Schweiz ersucht, die
Holmston-Russen abzunehmen oder ihren Transit
nach Oberitalien zu gestatten, damit m a n sie dort
den Amer ikane rn ü b e r g e b e n k ö n n e . Die Schweiz
schlug eine Ü b e r n a h m e ab; ü b e r einen Transit
m ü s s t e m a n mit den Al l i ie r ten verhandeln. Pr inz
Heinr ich d r ä n g t e , Liechtenstein k ö n n e die Russen
u n m ö g l i c h l änge r als noch eine Woche behal ten. 8 0
A m 10. M a i , zwei Tage nach der Kapitulat ion,
war Auffahr t . Nach A m t und Prozession wurde in
Schaan auf dem Lindenplatz bereits die Grenz-
w a c h t v e r s t ä r k u n g mit Musik , Fahnen und Dankes-
ansprache des Regierungschefs verabschiedet. Sie
war 2 Vi Wochen hier eingesetzt gewesen. Die 15 Of-
fiziere erhielten von der Regierung ein Etu i mit 10-
und 2 0 - F r a n k e n - G o l d s t ü c k e n und ein Erinnerungs-
blatt mit den Unterschrif ten des F ü r s t e n p a a r e s und
Dr. Hoops, den Rekruten schenkte m a n ein Foto-
a lbum. 8 1
Noch w ä h r e n d m a n auf dem Lindenplatz die
fü r s t l i che und die e i d g e n ö s s i s c h e Landeshymne
sang, traf der f r a n z ö s i s c h e General de Hesdin als
Vertreter der neuen Nachbarmacht i n Vorar lberg
auf dem Platz ein, seinerseits von Regierungschef
Hoop b e g r ü s s t . Das Zusammentreffen w a r symbol-
kräf t ig : Liechtenstein hatte der Schweiz wie den
alliierten M ä c h t e n zu danken. Die Schweiz hatte
Liechtenstein i n einer Nische neutral mit durch den
Kr ieg getragen. Die alliierten Soldaten hatten m i l -
l ionenfach ihr Leben eingesetzt, auch f ü r Liechten-
steins Übe r l eben und Freiheit . Der f r a n z ö s i s c h e
General mit Begleitung und die liechtensteinische
Regierung fuhren noch zum F ü r s t e n auf Schloss
Vaduz, danach nach Buchs zur dortigen Beg rüs -
sung. 8 2
A u f den 12. M a i berief der F ü r s t bereits den
neuen Landtag ein. E r hielt eine kurze Thronrede:
Liechtenstein sei als eines von wenigen L ä n d e r n
verschont geblieben. Die Weltherrschaftsaspiratio-
66
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
nen machten an seiner Grenze nicht halt, w ä h r e n d
Jahren lastete der « s c h w e r e A lpd ruck» . Dass man
in Liechtenstein nicht heimgesucht worden, ver-
danke man « d e r grossen heimattreuen Mehrhei t
unseres Volkes», den Ver t r ägen mit der « w e h r h a f -
ten und vorsorgenden Schweiz» , vor al lem aber
dem « b e s o n d e r e n Schutz und Segen Got tes». Gott
habe den Liechtensteinern nicht wegen ihrer Ver-
dienste geholfen, sondern aus reiner Gnade. In der
Zeit der Not, so fuhr Franz Josef fort, seien die
Beziehungen zur Schweiz so vertieft worden, dass
man sie nie vergessen k ö n n e und sie «in unser aller
Augen unauf lös l i ch geworden s ind» . Jetzt sei das
Kriegsleid zu l indern, das Wohl des Volkes durch
Einigkeit zu f ö r d e r n und d a f ü r zu sorgen, dass jede
Famil ie i m Lande Arbei t und Auskommen f inde . 8 3
A m selben 12. M a i trat ein «Akt ionskomi tee hei-
mattreuer L iech tens te ine r» in Erscheinung. Diese
B ü r g e r richteten ein Schreiben an den Landtag und
die Regierung und ü b e r r e i c h t e n es auch pe r sön l i ch
dem Für s t en . Dar in klagten sie die « L a n d e s v e r -
r ä t e r » an, die in den vergangenen Jahren die Hei -
mat verkaufen wollten und bereit gewesen w ä r e n ,
g röss tes Unglück ü b e r jede einzelne Famil ie zu
bringen. Im Namen des Vaterlands- und f ü r s t e n -
treuen Volkes forderte das Aktionskomitee von
Landtag und Regierung «s t r engs t e Bestrafung aller
V a t e r l a n d s v e r r ä t e r » . Die « U m b r u c h » - R e d a k t o r e n ,
die zum Hochverrat aufgewiegelt hä t t en , sollten
verhaftet und bestraft werden, ebenso die Putschi-
s t e n f ü h r e r von 1939. Bestraft werden sollten ferner
alle ü b r i g e n Putschteilnehmer, alle liechtensteini-
schen Freiwil l igen in Wehrmacht, SS, SA und
Volkssturm, alle Spione f ü r Nazideutschland, alle,
die im Dienste der Gestapo gestanden und Liech-
tensteiner denunziert hatten - zusammen w ä r e n
dies etwas ü b e r 200 Personen gewesen. Prozesse,
in welchen Heimattreue aus politischen G r ü n d e n
verurteilt wurden, seien wiederaufzunehmen. Ne-
ben gerichtlicher Aburtei lung forderte das heimat-
treue Aktionskomitee weitere, politische Strafen:
Al len L a n d e s v e r r ä t e r n , Putschisten, Spionen und
Denunzianten solle zusä tz l ich das Wahl - und
Stimmrecht entzogen werden, Staatsangestellte,
welche dem Nazi tum Vorschub geleistet, seien frist-
los zu entlassen, bei Arbeitsvergabe und Anstel lun-
gen seien Heimattreue vorzuziehen. Ebenso forder-
te das Aktionskomitee die sofortige Ausweisung all
jener Aus länder , die in NS-Umtriebe verstrickt wa-
ren, sowie Beschlagnahmung ihrer V e r m ö g e n zu-
gunsten des liechtensteinischen Staates. Das liech-
tensteinische Volk, so schloss das Schreiben, sei
durch «e ine Gruppe von unsauberen E l e m e n t e n » -
gemeint war die «Volksdeu tsche B e w e g u n g » -
w ä h r e n d Jahren «in g röss te Angs t» versetzt und
« b e d r o h t » worden. Heute fordere das Volk «ge-
rechte S ü h n e » , auf legalem Weg. Nur so k ö n n e die
«Selbsthi l fe des Volkes» hintangehalten werden . 8 4
Dies war vier Tage nach Kriegsende.
NACH D E M KRIEGSENDE
Breite Teile des Volkes dachten ähn l i ch wie das hei-
mattreue Komitee und erwarteten « S ä u b e r u n g » .
Das Liechtens te iner Volksblatt> druckte die Forde-
rungen des Aktionskomitees ab,8-1"1 das <Liechten-
74) L L A RF 230/408.
75) «Der Umbruch, Kamplblatt der Volksdeutschen Bewegung in
Liechtenstein», Oktober 1940 bis Juli 1943, Original im LLA, Kopie
in der Liechtensteinischen Landesbibliothek, Vaduz.
76) LVolksblatt, 8. Mai 1945.
77) L L A S 78/163, S 78/158, S 78/152.
78) HA Schloss Vaduz, Korrespondenz Kabinettskanzlei, 1945/26.
79) LLA RF 230/478.
80) BA Bern, E 2001 (E). 1, Bd. 104, V l /6 . - Peter Geiger/Manfred
Schlapp: Russen in Liechtenstein (s. oben Anm. 65), S. 25, 83.
81) L L A RF 230/43. - LVolksblatt. 12. Mai 1945.
82) LVolksblatt, 12. Mai 1945. - Al lgäuer /Jansen/Ospel t (s. oben
Anm. 26). S. 121.
83) Thronrede vom 12. Mai 1945. in: Die Thronreden S. D. Fürst
Franz Josef IL von und zu Liechtenstein. Vaduz 1986, S. 15 f.
84) Schreiben des «Aktionskomitees heimattreuer Liechtensteiner»,
Schaan, an Landtag und Regierung, 12. Mai 1945, L L A RF 230/478.
85) LVolksblatt, 15. Mai 1945. - Das Schreiben des liechtensteini-
schen heimattreuen Aktionskomitees wurde auch im «Werdenberger
& Obertoggenburger». Buchs, am 18. Mai 1945 unter dem Titel
«Auch Liechtenstein r ä u m t a u f » ausführl ich zitiert.
67
Abrechnung mit NS-An-
hängern wird verlangt:
Plakattafeln und Galgen
am Schaaner Lindenplatz
am Pfingstmontag, 21. Mai
1945
steiner Vaterland) nicht. In den folgenden Wochen
prangerte das <Volksblatt> die einheimischen Natio-
nalsozialisten und deren Schreiben und Treiben in
den vergangenen Jahren an und war f gleichzeitig
dem <Vaterland> und der V U den Umstand vor, dass
sie w ä h r e n d all den Jahren z u m einheimischen Na-
tionalsozialismus geschwiegen hatten. Das <Vater-
land> antwortete gereizt, pochte auf die i m Kr ieg
g e ü b t e Loyali tät und beschwor den fü r die politi-
sche Zusammenarbei t nach dem Kr ieg notwendi-
gen Frieden, der Beschuldigungen nicht vertrage.
Erboste NS-Gegner hielten dafür , zu reden und
nicht Unrecht und Verrat mit Schweigen zuzu-
decken, das sei m a n der Gerechtigkeit, der Wahr-
heit und der Geschichte schuldig, Offenheit sei das
Gebot der Stunde. Es gehe nicht an, jene, die jahre-
lang beleidigt und bedroht wurden und sich jetzt
ä u s s e r t e n , noch als F r i e d e n s s t ö r e r zu krit isieren,
statt ihre Standhaftigkeit als Voraussetzung f ü r das
Übe r l eben Liechtensteins anzuerkennen. 8 6 Jene,
die sich hatten blenden lassen oder geschwankt
hatten, h ä t t e n lieber nichts mehr ü b e r die dunklen
Jahre gehör t .
Lang gestaute Emotionen, die nach Vergeltung
riefen, mischten sich mit Gefüh len der Dankbarkei t
f ü r das Ende der Bedrohung. Religiösen Ausdruck
fand die Erleichterung in der Landes-Dankwal l -
fahrt zur Marienkapel le auf Dux am Pfingstmontag.
Im Herbst folgte eine Dankeswallfahrt der Frauen
und T ö c h t e r nach Einsiedeln, mit mehreren Pr in -
zessinnen, und i m M a i 1946 auch eine Einsiedler
Wallfahrt der J u n g m ä n n e r samt F ü r s t und Regie-
rungschef F r i c k . 8 7
A n jenem Pfingstmontag, 21. M a i , 2% Wochen
nach Kriegsende in Europa, kamen die der Kirche
zustrebenden Leute auf dem Lindenplatz in Schaan
unverhofft an Plakattafeln und einem h ö l z e r n e n
Galgen mit baumelndem Strick vorbei . Sie standen
an der Mauer. Eine Tafel war mit «Umbruch»-Ti t e l -
seiten beklebt. D a r ü b e r stand gross: «Eins t forder-
ten s ie», darunter: «Je tz t fordern w i r ! » A u f der
zweiten Plakatwand waren die Forderungen gross
a u f g e f ü h r t : Bestrafung aller Va te r l andsve r r ä t e r ,
Spione, Umbruch-Redaktoren, SS- und SA-Leute,
Entlassung nationalsozialistischer Staatsangestell-
68
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
ter und Lehrer sowie Ausweisung nationalsoziali-
stischer A u s l ä n d e r . 8 8 Es waren dieselben Forde-
rungen, wie sie das heimattreue Aktionskomitee
eine gute Woche zuvor an Landtag, Regierung und
Fü r s t en gerichtet hatte.
Die Polizei entfernte Tafeln und Galgen; die A k -
teure stellten sie erneut auf. Und wei l sie auf eine
Tafel noch die Namen des V U - P r ä s i d e n t e n Dr. Otto
Schaedler und des Vizeregierungschefs Dr. Alois
Vogt setzten und sie mit der Volksdeutschen Be-
wegung und dem Nationalsozialismus in Verbin-
dung brachten, entstand sogleich neuer Parteien-
und Zeitungsstreit. Die V U verwahrte sich heftig.
In Protest sprach eine fün fköpf ige VU-Delegation,
g e f ü h r t vom P r ä s i d e n t e n , bei der Regierung vor,
und die VU-Partei lei tung erstattete Strafanzeige
gegen die « A u f w i e g l e r » . 8 9 Das Liechtenste iner Va-
terland) nannte die Lindenplatzaktion eine der
«schandvo l l s t en Erscheinungen der politischen Ge-
schichte des Landes» . Das <Volksblatt> erwiderte,
da kenne m a n andere, kritisierte die Reaktion der
Oppositionspartei als u n v e r h ä l t n i s m ä s s i g , tadelte
mi ld zugleich die Galgenaktion. Rechtsstaatlich
m ü s s e verfahren werden . 9 0 Seither ist jener symbo-
lische Galgen als Ausdruck der Volksst immung i m
Lande beim Kriegsende i n Er innerung geblieben.
Wenige Wochen s p ä t e r beschloss im Juni 1945
die Regierung in der S ä u b e r u n g s f r a g e k l ä r e n d e
G r u n d s ä t z e und veröf fen t l i ch te sie: Gerichtl ich
werde gegen jene A u s l ä n d e r vorgegangen, die
strafbare Handlungen begangen, f remdenpolizei-
l ich - durch Ausweisung oder Einreisesperre - ge-
gen jene, die ihr Gastrecht missbraucht h ä t t e n . In
drei Fäl len habe die Regierung schon die Auswei -
sung ver fügt , weitere w ü r d e n folgen. Die Massrege-
lung von Liechtensteinern erfolge i m Rahmen des
Rechts: Bestraft werde, wer bei seiner NS-Tät igkei t
gegen bestehende Gesetze Verstössen habe. Die Po-
lizei untersuche jeden einzelnen Fal l . Der Prozess
gegen die Putschisten von 1939 werde wieder auf-
genommen. Die Bevö lke rung solle nicht ungeduldig
werden . 9 1 Diese G r u n d s ä t z e ü b e r n a h m auch die
neue Regierung unter Alexander Frick und Ferd i -
nand Nigg, welche am 3. September 1945 bestellt
wurde . 9 2
Im Jahr darauf, 1946, wurden die 1939er
P u t s c h a n f ü h r e r zu teils m e h r j ä h r i g e n Gefängn i s -
strafen verurteilt, schliesslich ebenso der ab 1940
amtierende Landesleiter der nationalsozialistischen
«Volksdeu t schen Bewegung in L iech tens te in» , Dr.
Alfons Goop; da dieser alle Verantwortung auf sich
nahm, kamen die ü b r i g e n « U m b r u c h » - L e u t e unge-
straft davon. Verurteilt wurden einige Personen
wegen verbotenen Nachrichtendienstes. 9 3 Und et-
liche Liechtensteiner wurden noch durch die
Schweiz gesucht 9 4 und dort zu teils sehr langen
Strafen verurteilt; verschiedene Liechtensteiner so-
wie liechtensteinische Kriegsfreiwil l ige wurden mit
schweizerischer Einreisesperre belegt. 9 5
Im Sommer 1945 gab es alsogleich andere in-
nenpolitische Sorgen. Die Regierung wankte. Land-
tag und Für s t hatten noch i m November 1944
Dr. Josef Hoop als Regierungschef und Dr. Alois
Vogt als Regierungschef-Stellvertreter f ü r weitere
sechs Jahre - bis 1950 - bestellt. 9 6 Anfang Juni
1945 jedoch k ü n d i g t e Regierungschef Hoop partei-
intern seinen Rücktr i t t an, nahm ihn auf Bitten der
Partei nochmals z u r ü c k , 9 7 liess sich aber ab Mitte
Jun i krankheitshalber beur lauben. 9 8
86) LVaterland und LVolksblatt. Mai/Juni 1945.
87) Allgäuer /Jansen/Ospel t (s. oben A n m . 26), S. 124, 129, 133.
88) LLA Fotosammlung (Sammlung Hans Walser).
89) L L A S 78/164.
90) LVaterland und LVolksblatt Ende Mai und Anfang Juni 1945.
91) LLA RF 230/478. - LVolksblatt, 14. Juni 1945.
92) L L A L Landtags-Prot. vom 18. Sept. 1945, nichtöff.
93) LLA. Gerichtsakten.
94) Schweizerischer Polizeianzeiger (Zeller) 1945 ff.
95) Diverse Akten im LLA. - Akten Privatbesitz. Prof. Ernst Nigg,
Vaduz (dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung gestellt).
96) LLA L Landtags-Prot. vom 9. Nov. 1944. - Ernennung durch den
Fürsten, 24. Nov. 1944, HA Schloss Vaduz, Korrespondenz Kabi-
nettskanzlei 1944/112. - Rechenschafts-Bericht 1944, S. 43.
97) Pressemitteilung der Bürgerpartei-Lei tung im LVolksblatt, 9. Juni
1945.
98) LVolksblatt. 14. Juni 1945.
69
Der s t änd ig amtierende Regierungsrat Pfarrer
Anton Frommel t künd ig te i m Jun i seinerseits aus
gesundheitlichen G r ü n d e n den baldigen Rückzug
aus seinem A m t an. Im Landtag schlug die Bürge r -
partei Alexander Fr ick vorerst als Regierungsrat vor.
Die Wahl wurde auf Wunsch der V a t e r l ä n d i s c h e n
Union verschoben; die V U w ü n s c h t e keinen s t änd ig
amtierenden Regierungsrat - der B ü r g e r p a r t e i -
mehr . " Im Landtag vom 20. Ju l i 1945 w ä h l t e der
Landtag zu R e g i e r u n g s r ä t e n nochmals die bisheri-
gen Pfarrer Frommelt und Johann Georg Hasler,
ihnen damit das Vertrauen a u s d r ü c k e n d . Doch i n
der selben Sitzung des Landtages e rk l ä r t e dann die
Gesamtregierung den R ü c k t r i t t . 1 0 0 Warum?
Regierungschef Hoop hatte den deutschen Stell-
vertretenden NSDAP-Kreis le i te r Hermann Sieger,
der i m Kr ieg sein Verbindungsmann nach Deutsch-
land gewesen war, i m Lande aufgenommen und
gegen den Wi l l en des F ü r s t e n i m Lande belassen.
Als der F ü r s t dies durch einen Verwandten erfuhr,
stellte er Hoop zur Rede, dieser bot den Rücktr i t t
a n . 1 0 1 Eigentlich war aber die Sieger-Episode nur
mehr Anlass, nicht wi rk l i ch Ursache fü r Hoops A b -
gang schnell nach Kriegsende. Seit 1944 stand
Hoop n ä m l i c h wegen der Konfrontat ion in der Ber-
ner Gesandtschaftsfrage zum F ü r s t e n i n einem ge-
spannten V e r h ä l t n i s . 1 0 2 Die Sieger-Episode brachte
es zum Kippen . Dem F ü r s t e n erschien Hoops Ver-
halten als Untreue. Franz Josef s chä tz t e zwar
Hoops Verdienste als Kriegspremier sehr hoch,
sagte s p ä t e r sogar einmal, Hoop habe das Land ge-
rettet. Aber der F ü r s t w ü n s c h t e f ü r die Nachkriegs-
zeit eine neue Regierungsmannschaft. Der F ü r s t
wollte weder den wendigen Dr. Hoop noch den
deutsch-freundlichen Dr. Vogt mehr. Keine Figuren
der Kriegsregierung sollten das Verhä l tn i s zu den
Siegern, den All i ier ten, belasten. Die ganze M a n n -
schaft wurde erneuert. In der B ü r g e r p a r t e i f ü h r t e
der Abgang Hoops - faktisch seine Entlassung - zu
heftigem inneren Aufbegehren und zu Unmut auch
g e g e n ü b e r dem F ü r s t e n . 1 0 3
A m 3. September nominierte der Landtag den
S t e u e r k o m m i s s ä r und P f a d f i n d e r f ü h r e r Alexander
Frick von der B ü r g e r p a r t e i (FBP) als Regierungs-
chef und den erfahrenen, l a n g j ä h r i g e n Regierungs-
s e k r e t ä r Ferd inand Nigg von der Un ion (VU) als
Regierungschef-Stellvertreter, der F ü r s t bes t ä t ig t e
sie; zugleich w ä h l t e der Landtag Franz Hoop von
Ruggell (FBP) und Alois Wil le von Balzers (VU) zu
R e g i e r u n g s r ä t e n , dazu Rudolf Marxer, Mauren
(FBP), und Alexander Sele, Triesenberg (VU), zu
Stellvertretenden R e g i e r u n g s r ä t e n . Die zwei Regie-
r u n g s r ä t e und deren Stellvertreter sassen alle auch
i m Landtag, teils als Ersatzabgeordnete. 1 0 4 Neue
Männer , in Regierung wie Landtag, nahmen die
Nachkriegszeit in Angriff . Die Abgetretenen moch-
ten sich t rös t en : In England w a r Church i l l abge-
w ä h l t worden.
Wie ging es i m Fr ieden weiter? Einige kurze
Schlaglichter seien noch geworfen.
Im Juni 1945 ü b e r s c h r i t t e n vereinzelt f r a n z ö -
sische Besatzungssoldaten die liechtensteinische
Alpengrenze und brachen, teils per Schusswaffe, in
die Gafadura- , die Garsel l i - und die P fä l ze rhü t t e
ein. Sie griffen zwei auf Gafadura versteckte
SS-Leute auf, verhafteten ein andermal auch einen
Liechtensteiner Hi l f spo l i z i s t en . 1 0 5 Die i m Lande
wohnenden W i e d e r - Ö s t e r r e i c h e r erhielten Ersatz-
p ä s s e . 1 0 6
Die Russenfrage füllte das Jahr. Hierbei s ind drei
Phasen der liechtensteinischen Russenpolitik zu
unterscheiden: Die erste Phase reichte vom Eintrit t
der Holmston-Truppe A n f a n g M a i bis Anfang A u -
gust 1945; die liechtensteinische Devise von Regie-
rung, Landtag und F ü r s t lautete: die Russen m ö g -
lichst schnell abschieben. Ü b e r 200 gingen i n die-
ser Phase f re iwi l l ig in f r a n z ö s i s c h e n Gewahrsam
nach Vorarlberg, von wo sie weitergeleitet wurden,
Richtung Sowjetunion. Die zweite Phase besch l äg t
den Monat August 1945: In dieser Phase kam die
sowjetische Repatr i ierungskommission ins Land.
Die liechtensteinische Regierung kooperierte vor-
erst eng mit der Sowjetkommission und üb t e er-
heblichen Druck auf die Russen, f re iwi l l ig der K o m -
mission nach Russland zu folgen. Mi t ihr kehrten
104 weitere Russen f re iwi l l ig he im, darunter eine
Frau . Erst in der dritten Phase, die Ende August
und Anfang September 1945 einsetzte - noch rund
140 Internierte waren da - , als der verzweifelte
Widers tand der verbliebenen Russen sowie Prote-
70
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
ste aus der Bevölkerung , der Geistlichkeit und des
Bischofs sich manifestierten und die Schweiz sich
nicht bereit e rk l ä r t e , bei zwangsweiser Ausschaf-
fung zu helfen, wandelte sich die b e h ö r d l i c h e Pol i -
tik: Die Regierung Hoop-Vogt-Frommelt-Hasler be-
schloss kurz vor ih rem Abtreten, genau wie die
Schweiz keine Russen zwangsweise auszuliefern.
Die neue Regierung Fr ick-Nigg-Hoop-Wil le und der
Fürs t hielten an diesem Beschluss fest, trotz der
zunehmenden Forderungen und Drohungen der
sowjetischen Delegation, die noch bis z u m Dezem-
ber i m Lande blieb. So sind schliesslich gut 130
Russen, darunter 20 Frauen, vor Vergeltung i n der
Sowjetunion gerettet worden, darunter fast alle
Holmston-Wehrmacht-Offiziere. Diese verbliebe-
nen Internierten konnten bis 1948 vorab nach
Argentinien und i n andere westliche L ä n d e r emi-
grieren. In der geschichtlichen Er innerung ist vor
allem diese edlere dritte und längs te Phase l iech-
tensteinischer Russenpolitik haften geblieben und
gepflegt worden - so entstehen Geschichtslegenden
und moderne M y t h e n . 1 0 7
Alle deutschen Vermögen i m Lande, ab Februar
1945 gesperrt, mussten bis Ende August angemel-
det werden. Die Verhandlungen ü b e r die V e r f ü g u n g
d a r ü b e r gingen zwischen der Schweiz und den
All i ier ten weiter, ebenso zwischen Liechtenstein
und der Schweiz. Es ging dabei insbesondere auch
um die Einsicht von Schweizer B e h ö r d e n in die
Verhä l tn i sse liechtensteinischer Gesellschaften so-
wie um die Frage der Anerkennung von ehema-
ligen Deutschen als liechtensteinische N e u b ü r g e r
(Stichwort Nottebohm). Liechtenstein suchte die
Finanzplatz- und S o u v e r ä n i t ä t s - I n t e r e s s e n zu wah-
ren. Eine Regelung erfolgte 1946 i m Washingtoner
Abkommen , das von der Schweiz auch fü r Liech-
tenstein ausgehandelt wurde; dadurch wurden
liechtensteinische Gelder i n den U S A deblockiert
und Schwarze Listen aufgehoben. Abe r die Durch-
f ü h r u n g zog sich in die F ü n f z i g e r j a h r e h i n . 1 0 8
Die kriegswirtschaftl iche Situation hielt noch
weit in die Friedenszeit hinein an. Al le in von A p r i l
bis Oktober 1945 ü b e r n a h m das Land noch 68
schweizerische kriegswirtschaftl iche Er lasse . 1 0 9 Im
Sommer 1945 wurde auch das « L a n d e s l a g e r » an
Lebensmitteln in Schaan a l lmäh l i ch liquidiert, es
enthielt noch VA t Zucker, 1 t Reis, 1 t Teigwaren,
100 kg Speisefett und 100 kg Rohkaf fee . 1 1 0 Die
Rationierung konnte nur langsam, schrittweise auf-
gehoben werden, definitiv erst i m Jul i 1948 . 1 1 1 Die
strengen Personenkontrollen an der schweizeri-
schen Grenze zum F ü r s t e n t u m wurden wie i m
Kr ieg noch ü b e r 1945 hinaus w e i t e r g e f ü h r t , was
als dauernde Absperrung empfunden w u r d e . 1 1 2
Dennoch normalisierte sich das Leben a l lmähl ich .
Die b e f ü r c h t e t e Arbeitslosigkeit blieb aus.
A m 16. September 1945 fand in Feldkirch ein
erstes Fussballspiel Vaduz - Fe ldk i rch statt; bei
Vaduz spielten etwa Egon Mähr, der als Deutscher
99) LLA L Landtags-Prot. vom 15. Juni 1945. - LVolksblatt, 19. und
21. Juni 1945.
100) L L A L Landtags-Prot. vom 20. Juli 1945. - Auszüge in: Allgäu-
er/Jansen/Ospelt (s. oben Anm. 26), S. 126. - Rechenschafts-Bericht
1945, S. 42.
101) Interview des Verfassers mit Fürst Franz Josef II. vom 10. Okt.
1988.
102) Ebenda. - LLA RF 227/228. - L L A L Landtags-Prot. vom 7. und
14. Dez. 1944.
103) Interview des Verfassers mit Emanuel Vogt, Balzers. vom
16. März 1992.
104) LLA L Landtags-Prot. vom 3. Sept. 1945. - Paul Vogt: 125 Jahre
Landtag. Vaduz 1987. - Al lgäuer /Jansen/Ospel t (s. oben A n m . 26).
S. 127 f.
105) L L A RF 231/158.
106) L L A RF 232/166.
107) Peter Geiger/Manfred Schlapp: Russen in Liechtenstein (s. oben
Anm. 65). - Peter Geiger: Mit Hitler gegen Stalin, Dilemma der
russischen Internierten in Liechtenstein 1945. In: Terra plana (Mels).
1/1997, S. 46-51.
108) L L A RF 229/418, 230/354. 231/52. - L L A L Landtags-Prot.
vom 27. Febr. 1946, 29. März 1946. 14., 25. und 26. Juni 1946. öff.
und nichtöff. - Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neu-
tralität. Bd. VII, Dokumente 1939-1945. Basel, Stuttgart 1974,
S. 361-382. - Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2. Zürich
1980, S. 1220 f.
109) L L A RF 228/21.
110) Ebenda.
111) Chronologische Übersicht über die Lebensmittel-Rationierungs-
massnahmen 1939-1948. LLA RF 196/3.
112) LLA RF 232/166. - LVolksblatt und LVaterland 1945. 1946.
71
Liechtenstein, von Süden
von der Schweiz her gese-
hen, vorne der Talkessel
von Sargans, im Rheinknie
das Ellhorn, welches die
Schweiz von Liechtenstein
für die Festung Sargans
1938/39 begehrte, aber
erst 1949 im Gebiets-
abtausch erhielt
i m Kr ieg gewesen war, der 23 - j äh r ige E d w i n Nutt
und der erst 16 - j äh r ige Hi lmar Ospel t . 1 1 3 Dre i Tage
später , am 19. September - die neue Regierung
Fr ick-Nigg in Vaduz w a r seit zwei Wochen i m A m t
- fuhr erstmals nach Kriegsende wieder ein Zug
r e g u l ä r von Buchs nach F e l d k i r c h ; 1 1 4 zuvor hatte
i n den F lüch t l ings tagen nur mehr ein Pendelver-
kehr von der S c h a a n w ä l d e r Grenze bis Buchs be-
standen.
Gelegentlich k a m eine Meldung ü b e r den Ver-
bleib eines e i n g e r ü c k t e n Deutschen, er befinde sich
in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager,
trafen auch IKRK-Postkar ten von liechtensteini-
schen Waffen-SS-Freiwil l igen aus sowjetischen Ge-
fangenenlagern ein, schlich etwa der eine und
andere still ins Land , wurde von der Polizei ver-
nommen und wieder entlassen, da er nicht gegen
ein liechtensteinisches Gesetz Verstössen hatte. 1 1 5
Dies i m Unterschied zur Schweiz, wo fremder
Mi l i tä rd iens t verboten war und die Freiwi l l igen -
R o t s p a n i e n k ä m p f e r wie Waffen-SS-Leute - Gefäng-
nisstrafen erhielten.
1949 wurde das liechtensteinische El lhorn
schweizerisch. Die Schweiz, die es schon 1938 und
1939 f ü r die Festung Sargans begehrt hatte,
tauschte es nun unter A u s ü b u n g von Druck auf
Liechtenstein ein; m a n brauche diese Felsnase als
Teil der schweizerischen Ostfestung, we i l Kr ieg der
Sowjetunion gegen den Westen d rohe . 1 1 6 Kalter
Fr ieden hatte eingesetzt.
Z U M SCHLUSS
Und, zum Schluss, das Lied vom braven Mann?
In der Kriegszeit hatte es wie übe ra l l so auch i n
Liechtenstein viel Mut, Standfestigkeit, Nieder-
tracht auch, Verrat, Angst, Schweigen, Abwar ten ,
Klugheit gegeben. Zwei Gutgesinnte seien heraus-
gehoben, exemplarisch f ü r viele, sie d ü r f e n hier mit
Namen genannt werden.
In Vaduz arbeitete F räu l e in Agathe Hälmli als
Büroanges t e l l t e bei Dr. Mer l in , von 1938 an. Im
Jahr 1942 versuchte sie, drei j ü d i s c h e n Frauen die
Flucht aus Prag nach Liechtenstein und von hier
72
«AM RANDE DER BRANDUNG»
PETER GEIGER
aus weiter nach der Schweiz zu e r m ö g l i c h e n , i n -
dem sie mit ihnen br ief l ichen Kontakt aufnahm.
Einige Briefe gingen h in und her. Durch Verrat
oder Missgeschick fielen ihre Briefe und die Ant-
wortschreiben aus Prag der Gestapo in Fe ldki rch
in die H ä n d e . Der Plan misslang, die drei Frauen
kamen alsbald von Prag aus ins K Z und ü b e r l e b t e n
nicht. F r äu l e in Agathe Hälmli hatte still , aus
Menschlichkeit , das ihr Mögliche versucht . 1 1 7 Zu
jener Zeit, 1942, r ief der « U m b r u c h » mit grossen
Schlagzeilen zur Kennzeichnung der Juden in
Liechtenstein mit dem gelben Stern und zur E r r i c h -
tung von Judenarbeitslagern i m Lande auf . 1 1 8
Der andere Gutgesinnte: Nach Vaduz kam i m
November 1939, i m dritten Kriegsmonat, ein
Flücht l ing. E r kam in Kontakt mit dem Regierungs-
kanzlisten Anton Seger. Der Fremde war ein Deut-
scher ohne Pass. E r hatte sich i m Sommer der E i n -
ziehung zur Deutschen Wehrmacht entzogen und
in die Schweiz abgesetzt; diese wies ihn aus. Die
liechtensteinische Regierung schlug den Aufenthalt
ebenso ab, nun sollte er ü b e r die liechtensteinische
Grenze ausreisen, nach Grossdeutschland. Dort
w ü r d e er als « R e f r a k t ä r » - Dienstverweigerer -
oder als Deserteur behandelt; er f ü r c h t e t e , erschos-
sen zu werden, wie es g e r ü c h t e w e i s e einem ande-
ren ü b e r die Grenze abgeschobenen Ös t e r r e i che r
widerfahren sei. Den Kanzl is ten Anton Seger, der
gleiches b e f ü r c h t e t e , dauerte der M a n n . E r stellte
i h m einen liechtensteinischen Pass aus, der i h m
ü b e r die Schweiz und weiter nach Westen helfen
sollte. Die u n z u l ä s s i g e Passausstellung kam indes
später , i m September 1940, i n Basel zum Vorschein.
Der fehlbare Kanzl is t wurde von der Regierung
verwarnt und mit h a l b j ä h r i g e r G e h a l t s k ü r z u n g dis-
zipl inar isch gebüss t , aber nicht ent lassen. 1 1 9 An ton
Seger besuchte in der Kriegszeit r e g e l m ä s s i g die
eingangs e r w ä h n t e Betstunde i m Kloster; die Leute
nannten ihn, be l äche lnd , « S c h a a n e r He i l and» .
Lassen Sie uns mit der Menschlichkei t der zwei
Genannten schliessen. Keinen Vortei l suchend,
sind sie ih rem Gewissen gefolgt. Stellvertretend
stehen sie f ü r manche weitere Gerechte, sie und
ihresgleichen haben noch nach 50 Jahren eine
spä te Ehrung verdient.
113) L L A RF 230/409.
114) LVolksblatt, 22. Sept. 1945, zit. in: Al lgäuer /Jansen/Ospel t (s.
oben A n m . 26), S. 129 (mit Bild).
115) L L A RF Polizeiakten 1945, 1946. - Akten Privatarchiv Dr. Peter
Sprenger, Triesen.
116) Vertrag vom 23. Dezember 1948 zwischen dem Fürs ten tum
Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, am 30.
Dez. 1948 vom liechtensteinischen Landtag genehmigt, ebenso am
31. Dez. 1948 vom Fürs ten, Austausch der Ratifikationsurkunden
und Inkrafttreten am 15. Aug. 1949. Liechtensteinisches Landes-
Gesetzblatt 1949, Nr. 19.
117) LA RF 230/478.
118) <Der Umbruch», 30. Sept., 24. und 31. Okt. sowie 9. Dez. 1942.
119) L L A RF 202/420, S 73/226, RF 225/294.
Agathe Hälmli, 1905-1977,
Sekretärin in Vaduz: Sie
versuchte 1942, jüdische
Frauen aus Prag zu retten.
Sie setzte damit ein Zei-
chen der Menschlichkeit
73
BILDNACHWEIS ANSCHRIFT DES AUTORS
Die Abbildungen stam-
men, soweit nachfolgend
nicht mit anderer Quelle
aufgeführt, aus dem Liech-
tensteinischen Landes-
archiv in Vaduz.
S. 50, 52 und 53: Flemnig/
Steinhage/Strunk:
Chronik 1945 (1994)
S. 56 oben: Schweizeri-
sche Landesbibliothek,
Bern
S. 58 unten: Peter Geiger
S. 60 oben: Liechtenstei-
ner Vaterland
S. 62 (untere zwei Bilder):
Stadtarchiv Bregenz
S. 64 (untere zwei Bilder):
Der Umbruch
S. 73: Bank in Liechten-
stein
Dr. phil. Peter Geiger
Im Gamander 3
FL-9494 Schaan
74
GOTTESFURCHTIGE
REBELLEN AUS
LIECHTENSTEIN
DAS BEWEGTE LEBEN DER GESCHWISTER NIGG
IN TRIESEN UND IN AFRIKA
ALBERT EBERLE
Inhalt
EINLEITUNG
DIE GESCHWISTER NIGG IN
LIECHTENSTEIN
DIE FAMILIE NIGG UND DIE ZEIT
UMSTÄNDE
Liechtenstein in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunder t s
Herkunft u n d familiäre Verhältnisse
Wirtschaftliche Situation
DER NIGG-STREIT
Vorgeschichte
Der Mauerbau
Der Aufstand
Verhaftung u n d Urteil
Mäuerkompromiss
7 9 DIE GESCHWISTER NIGG IN AFRIKA 88
80
80
80
80
82
8 3
8 3
84
85
85
86
MISSIONEN IN AFRIKA
Der Wettlauf u m die afrikanischen Kolonien
Franz Wendelin Pfanner u n d das Trappisten-
kloster Mariastern in Bosnien
Das Trappistenkloster Mariannhill
THEODOR NIGG, DER JESUIT
Eintritt u n d Noviziat
Vertreibung aus Deutschland
Koch u n d Fuhrmann
AUFBRUCH INS NEUE LEBEN
Eine Zwischenstation in Mariastern
Auserwählt für Afrika
LEBEN, ARBEIT UND TOD IN AFRIKA
Maria Nigg
Pioniere in Afrika
Die Gelübde
Der Hausmaurer
Unfall a n d e r Böschungsmauer
Der Baumeister
89
9 0
9 1
9 1
9 1
92
9 4
9 4
9 5
9 6
9 6
97
9 9
100
100
102
SCHLUSSBEMERKUNGEN 103
7 6
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
ANHANG
DIE VORGESCHICHTE ZUM NIGG-STREIT
Franz Nigg a n die Regierung,
5. Februar 1878
Vorsteher Erne a n die Regierung,
10. Februar 1878
Die Brüder Nigg a n die Regierung,
10. Februar 1879
Vorsteher Bargetzi a n die Regierung,
16. Februar 1879
Florian Nigg a n die Regierung,
26. Juni 1881
Busse a n die Gebrüder Nigg,
10. Februar 1882
DER STRAFPROZESS
Abrissverfügung de r Mauer,
13. März 1882
Verhaftung der-Geschwister Nigg,
15. März 1882
Verhaftungsbeschluss,
16. März 1882
Dr. Schlegels Versetzungsantrag,
26. April 1882
Ablehnung der Nigg-Beschwerden,
1. Mai 1882
Urteilverständigung a n die Regierung,
5. Juli 1882
Appellationsgerichtsentscheid,
14. August 1882
Gnadengesuch a n den Fürsten,
18. September 1882
1 0 4 DER ZIVILPROZESS 108
. Rekurs de r Gemeinde Triesen,
27. Juni 1882 108
n . Gerichtlicher Bussentscheid,
23. August 1882 109
. Entscheid des Obersten Gerichtshofes,
23. August 1882 109
104 BRIEFE 110
Brief von Theodor Nigg,
105 29. Dezember 1879 110
Franz Pfanner setzt sich für Maria Nigg ein 111
105 Aus Briefen a n F rau Mutter Salesia Stickler 11-2
105 NACHRUFE - 113
Florian Nigg, 1914 ' 113
Theodor Nigg (in Englisch), 1892 113
1 0 6 QUELLEN-UND LITERATURVERZEICHNIS 115
106
106
107
107
107
107
1 0 8
7 7
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
Einleitung
Wenn gleich fünf Geschwister Haus u n d Hof verlas
sen, u m sich in den Dienst d e r afrikanischen Mis
sion zu stellen, ist dies für das kleine Liechtenstein
des ausgehenden 19. Jahrhunder ts eine absolute
Rarität. In de r folgenden Arbeit gehe ich d e m aus
serordentlich spannenden Schicksal d e r Geschwi
ster Nigg vom Meierhof nach. In meinem Heimat
dorf Triesen sind diese Vorkommnisse heute weit
gehend vergessen.
Der folgende Beitrag wurde als Semesterarbeit a n
der Pädagogischen Hochschule in St. Gallen verfasst
und angenommen von Dozent Dr. Peter Geiger.
Ein langanhaltender Streit de r Familie Nigg mit
der Gemeinde Triesen artete im März des Jahres
1882 zu einer handfesten, mit Waffengewalt ge
führten Konfrontation aus. Franz, Florian, Johann
und Maria Nigg wurden des Verbrechens des Auf
standes für schuldig erkannt u n d zu schwerem
Kerker verurteilt.1 Nach Verbüssung de r Haft ver-
liessen die vier Geschwister ihre Heimat u n d wirk
ten fortan als Missionare in Afrika.
Ein weiteres Familienmitglied, Theodor Nigg,
war, in diese Händel nicht verstrickt. Der fromme
Theodor entschied sich schon früh zum Ordensle
ben. Im Jahre 1869 t ra t er, 21-jährig, in Gorheim
bei Sigmaringen den Jesuiten bei.2 Auch ihm wer
den wir später in Südafrika begegnen, d e n n e r ging
1879 als erster d e r fünf Geschwister n a c h Afrika.
Über das Leben des liebenswürdigen Jesuitenbru
ders ist glücklicherweise vieles überliefert.
Wenn mein Taufpate Albert Eberle bei uns zu
Besuch war, wurde oftmals ü b e r Dinge aus frühe
re r Zeit gesprochen. Mich interessierten diese Ge
schichten, u n d ich konnte d e m «Götti» stundenlang
zuhören. Dabei habe ich auch einmal etwas übe r
die Geschwister Nigg aufgeschnappt.
Jahre später sandte mich d e r Liechtensteinische
Entwicklungsdienst (LED) als Entwicklungshelfer
zu Bruder Stefan Frommelt nach Umtata in Süd
afrika. Beim Lesen des Büchleins «Priester u n d Or
densleute aus Triesen»3 habe ich d a n n bemerkt ,
dass die fünf Geschwister Nigg in derselben Ge
gend gewirkt haben, in die ich vom LED geschickt
wurde. Mein Interesse a n de r Lebensgeschichte de r
fünf Triesner w a r geweckt. Während meiner zwei
jährigen Tätigkeit in Afrika ging ich d e n Spuren der
Geschwister Nigg nach.
Bei Besuchen im Archiv de r Mariannhiller Mis
sionare bin ich au f interessante Unterlagen u n d Be
schreibungen de r drei in diesem Orden lebenden
Missionare aus Triesen gestossen. Aber auch über
den Jesuiten Theodor Nigg w a r etliches im Ma
riannhiller Archiv zu erfahren. Bruder Theodor
lebte unter ande rem in Keiland, einer Missionssta
tion, die später von den Mariannhillern übernom
m e n wurde. Von den Schwestern «Vom Kostbaren
Blut», die ebenfalls in Südafrika ihr Mutterhaus ha
ben, sowie von den Kreuzschwestern in Menzin-
gen4 erhielt ich Informationen übe r Maria Nigg.
Obwohl das Ableben des jüngsten d e r Nigg-Ge-
schwister schon achtzig J ah re zurückliegt, sind
noch alle Grabstätten vorhanden. Während meiner
Zeit in Afrika habe ich die Gräber von vier der fünf
Geschwister aufgesucht.
Im Lauf d e r Zeit besuchte ich verschiedene Pro
vinzhäuser d e r Mariannhiller in Europa u n d fand
d a u n d dort noch Material ü b e r die Geschwister
Nigg. Von Jesuitengemeinschaften in de r Schweiz
u n d in Deutschland erhielt ich zusätzliche Informa
tionen übe r Bruder Theodor. Schliesslich befinden
sich auch im Liechtensteinischen Landesarchiv
verschiedene Akten zum Fall Nigg. Das sehr zeit
raubende Studium der Landesarchiv-Dokumente
brachte mi r die wichtigsten Informationen über
den Nigg-Streit.
Herzlich danken möchte ich Herrn Dr. Peter Gei
ger, der mi r den Anstoss gab, das Leben de r Ge
schwister Nigg im Rahmen einer Semesterarbeit a n
d e r Pädagogischen Hochschule in St. Gallen zu be
schreiben. Folgende weiteren Personen haben
mich bei dieser Arbeit unterstützt: Bruder Stefan
Frommelt, lic. phil. Paul Vogt, Pater Dietmar Seu-
bert, Frieda Eberle, Dr. Hilmar Hoch, Susanne Falk.
1) Vgl. S. 85 f.
2) Vgl. S. 91 f.
3) Tschugmell: Priester und Ordensleute aus Triesen, S. 7.
4) Das Mutterhaus der Kreuzschwestern liegt in Men-zingen (ZG);
daher wird oft auch der Name «Menzingerschwestern» verwendet.
7 9
Die Geschwister Nigg
in Liechtenstein
DIE FAMILIE NIGG UND DIE ZEITUMSTÄNDE
LIECHTENSTEIN IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES
19. JAHRHUNDERTS
Im folgenden soll die Zeit, in de r sich diese Einzel
schicksale ereigneten, etwas n ä h e r beleuchtet wer
den.
Wirtschaftlich gesehen w a r Liechtenstein da
mals sehr rückständig. Die Landwirtschaft des rei
n e n Agrarlandes stand a u f einem sehr niedrigen
Niveau. Fürst Alois II.5 wollte das Land von Grund
a u f modernisieren. Dies stiess keinesfalls au f Be
geisterung, viel m e h r herrschte grosse Unzufrie
denheit in de r Bevölkerung.
Es w a r eine Zeit des Umbruchs. Der Widerstand
gegen die Obrigkeit wuchs. Dies führte zu r Revolu
tion von 1848, die auch a n Liechtenstein nicht
spurlos vorbeiging. In Balzers entsprang dem ju
gendlichen Übermut der Burschenschaft die Idee
einer Verschwörung.6 Sie richtete sich aber nicht
p r imär gegen die Regierung u n d das Fürstenhaus,
sondern vor-allem gegen landfremde Beamte.
, Das Scheitern der Revolution u n d die Rückkehr
zum Absolutismus hat ten auch für unse r Land
Konsequenzen. Die Einführung einer neüen Verfas
sung wurde hinausgeschoben. Noch schwerer aber
lastete die wirtschaftliche Not dieser Zeit au f den
Schultern de r Menschen.
Durch den im Jahre 1852 mit Österreich abge
schlossenen Zollvertrag richtete sich Liechtenstein
politisch u n d wirtschaftlich au f die Donaumonar
chie aus. Der freie Personen- u n d Warenverkehr
zwischen den beiden Ländern sollte spä ter für die
Geschwister Nigg noch von Bedeutung sein.
Reformen in Österreich ermöglichten auch in
Liechtenstein die Modernisierung de r absolutisti
schen Regierungsform. Durch die Verfassung von
1862 wurden dem Volk wichtige Grundrechte ga
rantiert und die wichtigsten Voraussetzungen für
einen Rechtsstaat geschaffen. Die Bevölkerung be-
grüsste die Gewaltenteilung u n d das Recht au f un
abhängige Richter freudig. Der Fürst wahr te zwar
seine monarchischen Rechte in hohem Masse,
trotzdem w a r e r n u n a n die Verfassung gebunden
u n d konnte nicht m e h r uneingeschränkt her r
schen.
Die neue Verfassung sah drei Gerichtsinstanzen
vor. Die erste w a r das Landgericht in Vaduz. Als
zweite Instanz fungierte das fürstliche Appella
tionsgericht in Wien. Die Funktion des Obersten
Gerichtshofes wurde d e m Oberlandesgericht für
Tirol und Vorarlberg in Innsbruck übertragen.
Dieser sanfte Demokratisierungsprozess liess
auch ein seit Jahrzehnten gefordertes neues Ge
meindegesetz zu. Die Bürger durften n u n den Vor
steher, die Gemeinderäte sowie einen Kassier
wählen. Den Gemeinden wurde eine eigene Ver
waltung zugestanden. Der Gemeindevorsteher er
hielt grössere Kompetenzen, die abe r immer noch
von de r Regierung in Vaduz kontrolliert wurden.
Ab dem Jah re 1860 setzte in Liechtenstein die
Industrialisierung ein. In de r Folge wurde auch in
Triesen eine Textilfabrik gegründet. Die Mehrheit
de r Liechensteiner verdiente den Lebensunterhalt
abe r weiterhin in de r Landwirtschaft.
Die Armut in Liechtenstein liess in den Jah ren
nach de r Revolution viele Menschen auswandern.
Dutzende von Triesnern, so auch Elisabeth Kindle7,
eine Cousine de r Geschwister Nigg, verliessen ihre
Heimat in Richtung Amerika. Die Auswanderung
de r Geschwister Nigg nach Afrika stellt deshalb für
Liechtenstein eine Ausnahme dar.
Durch den wirtschaftlichen Aufschwung ab d e m
J a h r 1860 liess die erste Auswanderungswelle n u n
merklich nach. Bis zum Tode von Josefa Kindle-
Nigg, dem sechsten de r Geschwister Nigg, im Jah re
1934 erlebte unser Land abe r noch weitere Aus
wanderungswellen.8
HERKUNFT UND FAMILIÄRE VERHÄLTNISSE
Johann Nigg ist de r Stammvater d e r Meierhof-
Nigg. Er zog 1658 von Triesenberg nach Triesen
herunter. Jakob u n d Josef, zwei seiner Enkel, wur
den ab 1740 Pächter a u f dem Meierhof.9
Josef Nigg, geboren 1806, ein Urenkel des oben
genannten Jakob, heiratete im Jah re 1835 Kres
8 0
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
zentia Kindle, geboren 1813 in Triesen. Dieser Ehe
entsprossen folgende Kinder:10
Franz, das älteste de r Geschwister Nigg, wurde
a m 29. J a n u a r 1838 in Triesen geboren. Franz Nigg
w a r von mittlerer Grösse u n d hatte blonde Haare.
Er wurde bei seiner Hafteinweisung vom Gerichts
diener Seger als dickhalsig11 beschrieben. Im ge
setzten Alter von 45 Jahre ging e r als Trappisten-
bruder Gregor12 nach Afrika. Dort bekam e r bald
gesundheitliche Probleme. E r starb, 48-jährig, a m
26. November 1886, vermutlich a n Malaria.
Katharina, die Zwillingsschwester von Franz,
starb 1860 im jungen Alter von erst 22 J a h r e n in
Triesen.
Maria-Luisa, die a m 21. November 1839 auf die
Welt kam, wurde n u r 19 Jah re alt.
Johann wurde am,18 . April 1841 geboren. Er
w a r von kleinerer Statur, hat te b raune Haare und
einen blonden Bart.13 Johann Nigg w a r auch schon
42 Jah re alt, als e r 1883 als Bruder Germanus
nach Afrika auswanderte. Als Baupolier w a r e r
massgeblich a n de r Erstellung des Trappistenklo-
sters Mariannhill beteiligt. Durch einen Unfall ver
lor e r seinen linken Unterschenkel. Er wurde zum
Flickschneider umgeschult. Die Stubenhockerei be
k a m ihm nicht gut, denn drei Jahre später, a m
12. J a n u a r 1890, s tarb Johann Nigg in Mariannhill.
; Maria wurde a m 29. Mai 1843 geboren. Sie w a r
von mittlerer Grösse, hatte ein schmales Gesicht
und blonde Haare.14 Auf Drängen ihrer Brüder
reiste sie ebenfalls in die Mission aus. Zu diesem
Zeitpunkt w a r sie 40 Jah re alt. In Afrika führte sie
ein sehr bewegtes Leben u n d arbeitete in verschie
denen Berufen. Im fortgeschrittenen Alter von 52
Jahren t ra t Maria Nigg als Schwester Polycarpa ins
Frauenkloster von Mariannhill ein. Gestorben ist
die resolute u n d furchtlose Schwester a m 24. Sep
tember 1908.
Josefa Nigg wurde a m 14. Juli 1845 geboren. Im
Alter von 30 Jah ren heiratete sie Fidel Kindle15 aus
Triesen. Sie starb als letzte dieser Linie a m 28. Au
gust 1934 in Triesen. Josefa w a r als einzige de r
Familie Nigg verheiratet. Sie wurde deshalb auch
nicht direkt in den Nigg-Streit hineingezogen. Ihr
Gatte Fidel Kindle unterstützte den Mauerbau der
Geschwister Nigg nicht u n d sprach in dieser Ange
legenheit mehrmals beim Landesverweser vor.
Fidel u n d Josefa Kindle-Nigg, die nach dem
Wegzug de r Geschwister Nigg den Meierhof über
n o m m e n hatten, w a r e n die Grosseltern von Hermi
n e Beck-Kindle16, Elisabeth Beck-Kindle sowie von
Wilhelm u n d Urban Kindle. Von Wilhelm s tammen
Hermann, Werner u n d Willi Kindle ab. Urban
Kindle w a r Wirt au f dem Meierhof u n d hinterliess
die Kinder Roland, Elsbeth, August, Inge u n d Vik
to r Kindle.
Theodor Nigg wurde als zweitjüngstes Kind der
Familie Nigg a m 18. Februa r im Revolutionsjahr
1848 geboren. Mit 21 J a h r e n verliess der kleine
Triesner den Meierhof u n d t ra t in Deutschland dem
Jesuitenorden bei. Er w a r ein fröhlicher Mensch
u n d hatte einen unverwüstlichen Humor. Der Je
suitenbruder Theodor Nigg reiste 1879-als Missio
n a r nach Südafrika. Nach kurzem, abe r äusserst
abenteuerlichem Leben zwischen Kap u n d Sambesi
s tarb e r a m 6. August 1891 a n Malaria.
Florian, d e r jüngste Nigg, wurde a m 16. April
1851 geboren. Er w a r von mittlerer Grösse, hat te
schwarzes Haa r u n d t rug einen schwarzen Voll
bart.17 Florian Nigg erlernte d e n Beruf eines Kü
5) Fürst Alois II. (*1796; +1858) regierte von 1836 bis 1858 das
Land Liechtenstein.
6) Der Kanzlist Johann Langer wurde gewaltsam ausser Landes
geschafft.
7) LLA. Tschugmell: Familienbuch Triesen, S. 158. - Elisabeth Kindle
ist die Tochter des «Platz-Sepp» Josef Benedikt Kindle, einem Bruder
von Kreszentia Nigg, Mutter der Geschwister Nigg.
8) Vogt: Brücken zur Vergangenheit, S. 205 ff.
9) Tschugmell: Triesner Geschlechter, S. 33 f.
10 Ebenda.
11) LLA S 1882/3/36.
12) Trappisten erhalten beim Klostereintritt einen neuen Namen.
13) LLA S 1882/3/36.
14) Ebenda.
15) Tschugmell: Stammbäume der Triesner Geschlechter, S. 31.
16) Hermine Beck-Kindle w a r Schäfle-Wirtin in Triesen.
17) LLA S 1882/3/36.
8 1
fers. Er zeigte schon früh eine kritische Haltung ge
genüber de r Obrigkeit, deshalb galt e r als aufmüp
figer Rädelsführer u n d w a r bei den Behörden un
beliebt. In Südafrika konnte e r als Bruder Cornelius
seine Fähigkeiten voll entwickeln. Als Baumeister
von Mariannhill wurde i hm die Anerkennung zu
teil, die e r in Triesen wohl k a u m erhalten hätte.
Florian Nigg s tarb a m 11. Juni 1914 a u f de r Mis
sionsstation Mariatal.18
In der Familie Nigg herrschte, wie allgemein in
Liechtenstein, ein ausgeprägt religiöses Klima.
Theodor t ra t 1869 mit 21 J a h r e n in den Jesuiten
orden ein. Dem Ruf Gottes folgten, wie schon er
wähnt, vier weitere seiner Geschwister. Josefa
Nigg, eine Verwandte, w a r Klosterschwester in
Zams. Ein Beispiel dieser religiösen Lebenseinstel
lung gibt auch die folgende Anekdote:
Die Buben Franz u n d Johannes kletterten auf
einen verbotenen Kirschbaum. Die Mutter entdeck
te die zwei Schlingel u n d befahl ihnen herunterzu
kommen. Da die Mutter eine zünftige Rute in den
Händen hielt, konnten die Buben nicht im Zweifel
sein, zu welchem Zweck die Mutter z u m Abstieg
einlud. Johannes stieg hinunter u n d bekam seine
Tracht Prügel. Franz jedoch blieb oben u n d war
tete, bis der Zorn der Mutter verraucht war. Die
anderen Brüder Theodor u n d Florian s türmten zu
Johannes u n d fragten ihn, w a r u m e r so d u m m ge
wesen u n d herabgestiegen sei. Johannes antwor
tete in seiner tief begründeten religiösen Überzeu
gung: «I h a mini Sach ka, d r Franz abe r kunnt is
Fägfür.»19
Franz, de r älteste Sohn, w a r bereits 38 Jah re
alt, als de r Vater Josef Nigg 1876 mit siebzig Jah
r e n starb. Die drei ledigen Söhne Franz, Johann
u n d Florian u n d ihre Schwester Maria übernah
m e n vom Vater den Landwirtschaftsbetrieb auf d e m
abseits gelegenen Meierhof. Die Mutter Kreszentia
s tarb im J a n u a r 1883. Sie wurde wie ih r Gatte
ebenfalls siebzig Jahre alt.
WIRTSCHAFTLICHE SITUATION
Im Jahre 1734 gab das fürstliche Rentamt20 die
eigene Bewirtschaftung des Meierhofes auf. Sieb
zehn Jahre später wurde de r Meierhof a n verschie
dene Männer u n d Frauen als Schupflehen auf Le
benszeit verliehen, un te r ihnen die zwei schon er
wähnten Josef u n d Jakob Nigg. Diese waren bereits
Besitzer von Häusern, Ställen u n d Stadel au f d e m
Meierhof. Den zwei Brüdern wurde auch de r gröss-
te Teil des Bodens übertragen.21 Der Pachtzins für
den Meierhof w a r erträglich. Dank diesem Um
stand, dem qualitativ guten Boden u n d ihrem gros
sen Fleiss wurden die Familien Nigg sehr wohlha
bend.
In den sechziger J a h r e n des letzten Jahrhun
derts ging d a n n de r gesamte Boden durch das Ze-
hentablösungsgesetz22 ohne Verpflichtung in den
Privatbesitz über.
Niemand aus de r Familie Nigg wurde aus wirt
schaftlicher Not zu r Auswanderung gezwungen,
noch musste j emand ein Zugeid in de r Fabrik ver
dienen. Vielmehr w a r es ihnen sogar möglich,
einen Knecht u n d eine Taglöhnerin23 zu beschäf
tigen, was d e n ansehnlichen Besitz de r Meierhof-
Familie unterstreicht.
Josef Nigg, de r Vater de r Meierhof-Geschwister,
hinterliess seinen Kindern nebst allen Gebäulich-
keiten 10 334 Klafter Reben, Wiesen u n d Weide
land, neun Stück Vieh sowie 4503 Gulden Reinver
mögen.24 Dies stellte für damalige Verhältnisse ein
beachtliches Vermögen dar.
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
DER NIGG-STREIT
VORGESCHICHTE
In den 60-er J a h r e n des letzten Jahrhunder ts wur
de in Triesen die Maschlinastrasse gebaut. Sie ver
bindet die Landstrasse in d e r Talsohle mit de r
Meierhofstrasse, die von Vaduz nach Triesenberg
führt. Der damalige Gemeindevorsteher Josef Bar-
getzi beauftragte die Meierhofbewohner, diese
Strasse z u erstellen. Man versprach ihnen, die Ar
beit angemessen zu vergüten. Die Brüder Franz,
Johann u n d Florian Nigg arbeiteten von Zeit zu Zeit
daran, wie es sich neben d e r Landwirtschaft ein
richten liess. Sie wurden auch vom Gemeindekas
sier für die Arbeit ordnungsgemäss bezahlt.25
Einige Jahre später, im Sommer 1874, forderte
der Werkmeister Gidi Hoch i m Auftrage von Vorste
h e r Bargetzi die Nigg-Brüder mündlich auf, wieder
a n de r Strasse z u arbeiten, w a s diese auch taten.
Im Herbst desselben Jahres stellten Franz u n d sei
ne Brüder de r Gemeinde eine Rechnung. Sie beka
m e n abe r zur Antwort, de r Gemeinderat h a b e be
schlossen, diese Arbeiten nicht m e h r z u vergüten,
weil diese Strasse praktisch n u r von den Meierhof
bewohnern benutzt werde. Die Brüder w a r e n über
diesen Entscheid verärgert u n d arbeiteten fortan
nicht m e h r a n d e r Maschlinastrasse. Fü r den Mo
m e n t hatte die Kontroverse aber keine weiteren
Folgen.26
Ende der 70-er Jahre führte die Gemeinde Trie
sen Verbesserungen a n den Strassen i m Dorfe
durch. Auch die Gebrüder Nigg wurden angewie
sen, sich a n Arbeit u n d Kosten zu beteiligen, w a s
diese strikte ablehnten. Die «Meierhöfler» argu
mentierten n u n ihrerseits, dass sie die Strassen i m
Dorfe kaum brauchten u n d stellten de r Gemeinde
eine Rechnung für die seinerzeit nicht entlöhnten
Arbeiten a n de r Maschlinastrasse. Die Gemeinde-
vorstehung verweigerte den Gebrüdern Nigg abe r
die Bezahlung für diese mehre re J ah re zurücklie
genden Leistungen.27
Im Februar 1878 beschwerte sich Franz Nigg in
dieser Angelegenheit bei de r Regierung in Vaduz.
18) Mariatal liegt bei Stuartstown, Bezirk Natal, Südafrika.
19) «Familia» Vol. IV. August 1914, Nr. 8.
20) Herrschaftliche Amtsstelle des Fürsten für die Verwaltung der
Einkünfte und Ausgaben (= Renten).
21) Tschugmell: Triesner Geschlechter, S. 33 f.
22) Seger: Überblick über die liechtensteinische Geschichte, S. 32.
23) Vgl. S. 85 f.
24) LLA A 108/108. Abhandlungakt Josef Nigg.
25) LLA RE 1878/150. Franz Nigg a n die Regierung;
Schreiben vom 5. Februar 1878. - Vgl. Anhang, S. 104.
26) Ebenda.
27) LLA RE 1878/181 a d 150. Wendelin Erni a n die Regierung;
Schreiben vom 10. Februar 1878. - Vgl. Anhang, S. 104.
Die Maschlinastrasse
verbindet Triesen mit dem
Meierhof; nordöstlich
davon (schraffiert) die
«Niggabünt», durch wel
che damals der Weg zum
«Underforst» führte.
8 3
Vorsteher Wendelin Erni verteidigte dor t den Ent
scheid des Gemeinderates mit de r Begründung,
dass diese Arbeiten nicht in seiner Wirkungsperi
ode ausgeführt worden seien u n d auch kein schrift
licher Arbeitsauftrag des damaligen Werkmeisters
Hoch vorliege.28
Im darauffolgenden J a h r forderte Franz Nigg die
Gemeinde Triesen auf, sie solle doch die Masch
linastrasse u n d zugleich die Zufahrten z u den Häu
sern auf dem Meierhof a n schlechten Stellen mit
Schotter verbessern. Er berichtete, dass die Strasse
vom vielen Holzführen «ungemein ruiniert» sei.29
Für die Bürger von Triesen bestand im Winter ein
Wegrecht übe r den Meierhof, denn de r Underforst-
wald grenzte direkt a n das Meierhofgut. Dieser Ge
meindewald lieferte den meisten Triesner Familien
das nötige Brennholz.
Die Gemeinde Triesen lehnte auch dieses Ge
such ab. Franz, Johann u n d Florian Nigg wandten
sich abermals a n den Landesverweser. Wolfgang
Bargetzi, der 1879 n e u gewählte Vorsteher, be
gründete in einer schriftlichen Stellungnahme zu
handen der Regierung die Absage, indem e r an
führte, dass~die Gemeinderatsmitglieder die Stras
se besichtigt u n d nicht in einem so schlechten Zu
stande befunden hätten, wie sie vom Beschwerde
führer beschrieben worden war.30
Auch in dieser Auseinandersetzung wurde keine
.einvernehmliche Lösung gesucht. Die Geschwister
Nigg waren s eh r erbost ü b e r die nach ihrer Ansicht
ständige Zurücksetzung durch die Gemeinde Trie
sen. Von de r Regierung erhielten sie für ihren Stand
punkt wenig Unterstützung. Für weitere zwei J ah re
blieb es u m den Meierhof a b e r trotzdem ruhig.
Im Frühjahr 1881 ba t die Gemeinde Triesen bei
d e r Regierung u m die Erlaubnis, von d e r Familie
Nigg acht Kronen eintreiben zu dürfen. Florian
Nigg hatte verbotenerweise einen Nussbaum aus
gegraben sowie Pfähle u n d Sand von der Gemeinde
bezogen, ohne dafür zu bezahlen. Florian Nigg leg
te gegen die seiner Ansicht nach überrissene Rech
nung Protest ein. E r beschwerte sich zudem bei de r
Regierung, dass widerrechtlicherweise immer wie
de r Triesner Bürger im Sommer das Wegrecht übe r
die Meierhofwiesen in Anspruch nahmen. Mehr
maliges Vorsprechen bei d e r Triesner Gemein
debehörde in dieser Angelegenheit habe nichts ge
nutzt.31
Dem Gesuch de r Gemeinde Triesen u m Schuld
eintreibung bei Florian Nigg wurde entsprochen,
de r Betrag abe r a u f sieben Kronen reduziert. Land-
weibel Gregor Frommelt erschien a u f dem Meier
hof u n d erhielt von der Familie Nigg das Geld.32
DER MAUERBAU
Nachdem ih r Protest gegen den Missbrauch des
Wegrechts erfolglos geblieben war, begannen die
Brüder Nigg n u n mit d e r Erstellung einer Einfrie
dungsmauer a n de r Grenze zum Underforstwäld.
Sie w a r e n des ewigen Klagens bei den Behörden
müde u n d wollten das Recht n u n in die eigene
Hand nehmen.
Bald hat te sich im Dorf die Kunde vom Mauer
b a u de r Geschwister Nigg verbreitet. Die Aufre
gung in d e r Triesner Bevölkerung w a r gross, d a
diese doch a u f einen ungehinderten Zugang zum
gemeindeeigenen Underforstwäld angewiesen war.
Ein erbitterter Streit begann. Die Ortsvorstehung
von Triesen reagierte schnell u n d klagte die Ge
schwister Nigg wegen Servitutseinschränkung ein.
Durch einen Gemeinderatsbeschluss t rug m a n d e m
Vorsteher Wolfgang Bargetzi auf, einen geeigneten
Advokaten z u suchen. Fortan vertrat Dr. Franz Bikl
aus Bludenz die Gemeinde Triesen in dieser
Rechtssache.33
Am 26. November 1881 erging a n die Geschwi
ster Nigg ein gerichtlicher Exekutionsentscheid
zum Abbruch de r Mauer. Diese weigerten sich je
doch beharrlich, die Mauer wieder einzureissen.
Die Familie Nigg n a h m ihrerseits die Dienste des
Feldkircher Anwaltes Dr. Bergmeister in Anspruch.
Dieser legte gegen den Abbruchentscheid beim
fürstlichen Appellationsgericht Rekurs ein. Diesem
Rechtsmittel wurde jedoch nicht stattgegeben, i m
Gegenteil, die Richter in Wien bestätigten den Exe
kutionsentscheid aus Vaduz.34
Die Geschwister Nigg rissen die Mauer trotzdem
nicht ein. Im Februar des folgenden Jahres verur
8 4
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
teilte deshalb das Landgericht Vaduz die drei Brü
der zu einer Geldstrafe. Franz u n d Johann wurden
zur Bezahlung von je vier Kronen zu Gunsten des
landschaftlichen Armenfonds gezwungen. Florian,
der als jüngster inzwischen zum Wortführer de r
Geschwister Nigg avanciert war, erhielt sogar eine
Busse von acht Kronen.35 Ein guter Arbeiter ver
diente damals eine Krone im Tag. Die Brüder Nigg
wurden also mit vier bis acht Tagessätzen bestraft.
DER AUFSTAND
Nachdem die Geschwister Nigg dem rechtskräfti
gen Abbruchentscheid nicht nachgekommen wa
ren, wurde de r Abbruchtermin von Landesverwe
ser Karl von Hausen im Einklang mit de r Gemeinde
Triesen auf Montag, den 13. März 1882, festgelegt.
Zu diesem Zwecke wurde Landweibel Gregor
Frommelt beauftragt, den Bürgern von Triesen im
Falle von Widerstand seitens de r Geschwister Nigg
polizeiliche Unterstützung zu leisten.36
A m Montagmorgen fanden sich gegen 20 Män
ner, in der Begleitung des Polizisten Frommelt auf
dem Meierhof ein. Die drei Brüder Florian, Franz
und Johann, ihre Schwester Maria, d e r Cousin
Ferdinand Nigg, de r Knecht Josef Ritsch, die Tage
löhnerin Magdalena Knobel u n d deren Sohn Franz
Knobel stellten sich, mit Heugabeln u n d Gewehren
bewaffnet, de r Delegation entgegen. Sie drohten,
jeden niederzumachen, der es wage, die Mauer an
zufassen. Als Landweibel Frommelt einem der Auf
ständischen das Gewehr abnahm, fielen die Brüder
Florian, Franz u n d Johann ü b e r ihn her, entrissen
ihm wiederum das Gewehr u n d zerrissen ihm
dabei das Gilet. Um Schlimmeres zu verhindern,
blieb dem Abbruchkommando n u r de r Rückzug
übrig.37
Die Regierung schickte den Geschwistern Nigg
a m nächsten Tag eine schriftliche Belehrung über
ihr folgenschweres Benehmen. Darin gab sie be
kannt, dass a m Mittwoch, den 15. März, d e r defini
tive Abbruch erfolgen werde. Sollten sie abermals
Widerstand leisten, würden sie strafrechtlich we
gen des Verbrechens des Aufstandes verfolgt.38
Die Geschwister Nigg vereitelten auch a m Mitt
woch den Abbruch de r Mauer. Schlimmer noch,
dieses Mal ha t ten sie sich im Wald verschanzt und
feuerten einige Schüsse ab, durch die aber nie
m a n d zu Schaden kam. Erneut verliessen die Tries
n e r Bürger u n d die drei a n diesem Tag aufgebote
n e n Polizisten unverrichteter Dinge den Meierhof.39
VERHAFTUNG UND URTEIL
Nun hat ten die Geschwister Nigg den Bogen über
spannt. Gleichentags wurde Haftbefehl gegen Flo
rian, Franz, Johann u n d Maria Nigg erlassen. Ge
richtsdiener Ospelt wurde vom Landgericht beauf
tragt, die notwendige Verstärkung zu organisieren
u n d die Verhaftung de r Geschwister Nigg vorzu
nehmen. F ranz Nigg liess sich noch a m gleichen
Tag widerstandslos abführen. Seine Geschwister
verschanzten sich im Haus, sahen abe r anderntags
die Ausweglosigkeit ihres Unterfangens ein und
stellten sich freiwillig de r Polizei. Die vier Nigg-Ge-
schwister wurden des Verbrechens des schweren
28) Ebenda.
29) LLA RE 1879/193. Franz, Johann und Florian Nigg a n die
Regierung; Schreiben vom 10. Februar 1879. - Vgl. Anhang, S. 104.
30) LLA RE 1879/233 a d 193. Wolfgang Bargetzi a n die Regierung;
Schreiben vom 16. Februar 1879. - Vgl. Anhang, S. 105.
31) LLA RE 1881/973. Florian Nigg an die Regierung;
Schreiben vom 26. Juni 1881. - Vgl. Anhang, S. 105.
32) LLA 1881/934. Wolfgang Bargetzi a n die Regierung; Schreiben
vom 20. Juni 1881. - LLA RE 1881/1064 ad 934. Quittung von Wolf
gang Bargetzi vom 8. Juli 1881.
33) LLA J 1881/225/458. Gemeinderatsbeschluss a m 21. März 1881.
34) LLA GAT 1882 Bd. 8/12/20. Entscheid des Appellationsgerichtes
vom 8. August 1882.
35) LLA RE 1882/214. Landgericht a n die Regierung;
Schreiben vom 10. Februar 1882.
36) LLA RE 1882/446. Landgericht an die Regierung;
Schreiben vom 13. März 1882.
37) LLA S 1882/1/36; LLA S 1882/2/37; LLA S 1882/3/38.
38) LLA RE 1882/457 ad 446. Landgericht a n die Regierung;
Schreiben vom 13. März 1882.
39) LLA S 1882/9/44.
8 5
Aufstandes angeklagt u n d wegen Verdunkelungs
u n d Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genom
men.4 0
Als Strafverteidiger wurde von de r Familie Nigg
Dr. Josef Lindner aus Feldkirch beigezogen. Zwei
von ihm gegen den landgerichtlichen Verhaftungs-
beschluss erhobene Beschwerden a n das Appella
tionsgericht in Wien blieben abe r erfolglos.41 Maria
hatte mit der Isolationshaft schwer zu kämpfen. Sie
wurde krank.
Auf dem Meierhof blieb n u r noch die alte Mutter
zurück, unterstützt von ihrer verheirateten Tochter
Josefa Kindle. Diese schrieb in Anbetracht de r
Krankheit von Maria ein Gnadengesuch a n die Re
gierung. Der Landesphysikus Dr. Wilhelm Schlegel
untersuchte daraufhin Maria Nigg. Er stellte zwar
keine ausgesprochene Krankheit fest, schlug d e m
Landgericht abe r vor, die Delinquentin in eine
Krankenanstalt zu verlegen. Nach genau zwei Mo
naten Einzelhaft wurde Maria Nigg a m 16. Mai
1882 als Arbeitskraft ins Krankenhaus Schaan
überstellt.42
. Der Kriminalgerichtshof beim Fürstlich-Liech-
tensteinischen Landgericht in Vaduz fällte a m
3. Juli desselben Jahres gegen Florian Nigg und
Konsorten folgendes Urteil: «Florian Nigg, Johann
Nigg, Franz Nigg u n d Maria Nigg, ledige. Bauern
hofbesitzer vom Meierhof z u Triesen, mi t welchen
in dieser Untersuchungssache die Verhöre a m
19. 4. dieses Jahres begonnen haben u n d worüber
a m 10. Mai das Schlussverhör aufgenommen wur
de, sind schuldig des Verbrechens des Aufstandes
nach § 68 STG als unmittelbare Täter u n d werden
nach der Bestimmung des § 71 des STG unter An
wendung des § 12 Absatz 3 de r St. R. Novelle vom
24. August 1881 zur Strafe des schweren Kerkers
in de r Dauer von 2 J a h r e n u n d dem Ersätze de r
Kosten des Strafverfahrens u n d Vollzuges ver
urteilt. Dagegen werden Ferdinand Nigg, lediger
Bauer von Triesen, Josef Ritsch von Nauders,
wohnhaft in Triesen, Franz Knobel, lediger Bauer
von Triesenberg, Magdalena Knobel, Tagelöhnerin
von dort, für schuldlos erkannt.»4 3
Die fast viermonatige Untersuchungshaft wurde
den Verurteilten nicht angerechnet. Verschiedene
Gnadengesuche führten abe r schliesslich a m 8. Au
gust 1882 z u m Beschluss des fürstlichen Appella
tionsgerichtes in Wien, die Strafen beträchtlich z u
mildern. Die schwere Kerkerstrafe wurde für Flo
r ian Nigg a u f sieben Monate, für Franz und Johann
auf fünf Monate u n d für Maria au f sechs Wochen
reduziert.
Maria wurde a m Tage dieses Bescheides auf
freien Fuss gesetzt.44 F ü r Franz u n d Johannes dau
erte die Haft bis zum 3. Dezember 1882. Florian
hatte noch bis anfangs Februar des darauffolgen
den Jahres im Kerker auszuharren. Bald aber soll
te für die Geschwister Nigg ein neuer Lebensab
schnitt beginnen.
MAUERKOMPROMISS
Der Zivilprozess u m die Servitutseinschränkung
zwischen d e r Gemeinde Triesen u n d de r Familie
Nigg zog sich parallel zum Strafprozess fort. Im
zweitinstanzlichen Verfahren beantragte Dr. Berg
meister, de r Anwalt de r Nigg-Geschwister, beim
Appellationsgericht, dass entgegen dem Landge
richtsentscheid nicht d e r Abriss de r ganzen Mauer
verfügt werde, sondern lediglich Öffnungen in diese
zu brechen seien.45
Das Gericht zog Sachverständige hinzu. Diese
erachteten die mit Öffnungen versehene Mauer als
servitutskonform. Auf einem Plan wurden die Stel-
40) LLA S 1882/16/44. - Vgl. Anhang, S. 106 f.
41) LLA S 1882/44/85.
42) LLA S 1882/31/72. Vgl. Anhang, S. 107; LLA RE 1882/662 ad
446. Schreiben der Regierung a n das Landgericht vom 14. März
1882; LLA RE 1882/708 ad 446. Schreiben der Hofkanzlei an das
Landgericht vom 24. April 1882; LLA RE 1882/776 ad 446. Schrei
ben des Landgerichts an die Regierung vom 15. Mai 1882; LLA RE
1882/795 ad 446. Schreiben von VorsteherWanger an die Regierung
vom 16. Mai 1882.
43) LLA S 1882/64/135.
44) LLA S 1882/69/174. - Vgl. Anhang, S. 108; LLA S 1882/72/203.
45) LLA GAT Bund 8/12/20. Advokat Bikl a n die Gemeinde Triesen;
Schreiben vom 27. Juni 1882. - Vgl. Anhang, S. 108.
8 6
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
Die «Niggabünt» mit der
1881 errichteten Mauer im
heutigen Zustand (1997)
Der den Nigg-Geschwi-
stern gehörende, oberhalb
de r «Berg- und Alpen
strasse» gelegene «Wein
berg mit Obstwachs», von
de r 1881 errichteten
Mauer umgeben; diese
1882 entstandene Plan
skizze zeigt die vorgesehe
n e n Maueröffnungen.
8 7
Die Geschwister Nigg in Afrika
len bezeichnet, wo die Durchgänge auszubrechen
seien. Damit w a r die Gemeinde Triesen nicht ein
verstanden, u n d deren Anwalt Dr. Bikl rekurrierte
a n den Obersten Gerichtshof.46 Er beantragte die
Aufhebung des Appellationsgerichtsentscheides in
Wien u n d die Bestätigung de r Exekutionsverfügung
des Landgerichtes Vaduz.47 Der Oberste Gerichts
ho f wies den Rekurs aber i m wesentlichen ab.48 So
blieb es d a n n be im Kompromiss des Appellations
gerichtes. Die sehr solid gebaute Mauer steht noch
heute oberhalb des Meierhofes.49
MISSIONEN IN AFRIKA
DER WETTLAUF UM DIE AFRIKANISCHEN
KOLONIEN
Die fortschreitende Industrialisierung führte in de r
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder ts in den Staaten
West- u n d Mitteleuropas, den USA u n d J a p a n sehr
rasch zu einer Überproduktion. Die wirtschaftliche
Konkurrenz zwischen den Industriestaaten wurde
durch Schutzzölle untermauert . Dies führte zum
Zwang, sich neue Absatzmärkte u n d günstige Roh
stoffvorkommen zu sichern. Ab 1880 n a h m e n vor
allem europäische Staaten durch Verträge u n d
militärische Unternehmungen den afrikanischen
Erdteil u n d weite Gebiete Asiens in Besitz'. Der
Wettlauf n a c h Kolonien w a r die Fortsetzung der
nationalen Machtpolitik, n u n abe r a u f weltpoliti
scher Bühne. Die afrikanischen u n d überseeischen
Besitzungen dienten d e n europäischen National
staaten sowohl zur Steigerung ihres Ansehens in
de r Welt als auch zum Abfangen de r inneren sozia
len Spannungen, die durch die Unzufriedenheit de r
Arbeiterschaft im Laufe de r Industrialisierung ent
s tanden waren. 5 0
Die Eingeborenen in den Kolonien waren sehr
billige Arbeitskräfte. Oftmals wurden sie enteignet
u n d zur Zwangsarbeit herangezogen. Die Legitima
tion solchen Tuns rechtfertigte m a n mit dem Be-
wusstsein, einer höheren, auserwählten Rasse an
zugehören. Die letzten Auswirkungen dieses Irr
glaubens w a r e n in Südafrika bis vor kurzem noch
schmerzlich spürbar.51
Die Kolonialherren glaubten, sie müssten den
weniger entwickelten Völkern die Segnungen einer
höheren Zivilisation bringen.52 Gleichzeitig mit de r
wirtschaftlichen Erschliessung des afrikanischen
Kontinents wuchs das kulturelle Sendungsbewusst-
sein.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunder ts setzte
auch das vermehrte Bestreben d e r Kirchen ein,
den Nichtchristen in d e r ganzen Welt das Evange
lium zu verkünden. Mission w a r von Anfang a n d e r
Auftrag Christi u n d galt durch alle Jahrhunderte .
8 8
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
Römische Soldaten u n d Händler, die irischen Wan
dermönche, ferner Franz Xaver, nach d e r Ent
deckung neuer Seewege, verkündeten die frohe
Botschaft. Die neue Epoche des christlichen Sen-
debewusstseins löste im letzten Jahrhunder t eine
wahre Missionierungswelle aus. Die neuen Kolo
nien boten dazu ein sehr geeignetes Betätigungs
feld. Leider geriet die Missionierung zu oft in die
Abhängigkeit d e r Politik.
FRANZ WENDELIN PFANNER, UND DAS
TRAPPISTENKLOSTER MARIASTERN IN BOSNIEN
Die Trappisten u n d insbesondere de r Bregenzer
wälder Trappistenpater Franz Wendelin Pfanner
wurden zum prägenden Faktor im weiteren Leben
der vier aus d e m Gefängnis entlassenen Geschwi
ster Nigg.
Die Trappisten sind ein Reformzweig des Zister
zienserordens. Als im 17. Jahrhunder t die alte Klo
sterzucht immer m e h r zurückging, fügte de r Abt
des Klosters La Trappe d e r Benediktinerregel
strengere Vorschriften für das Gebets- u n d Buss
leben hinzu. Diese Reformklöster verbreiteten sich
rasch u n d überlebten die Revolutionsjahre. Die
Trappisten sind Vegetarier. Sie essen kein Fleisch,
keine Butter, keinen Fisch. Sie wohnen u n d schla-
46) Aufgrund einer Verpflichtung als Mitglied im Deutschen Bund
wurde im Jahre 1817 in Liechtenstein eine dritte Gerichtsinstanz
eingeführt. Die Funktion dieses Obersten Gerichtshofes wurde dem
Oberlandesgericht für Tirol u n d Vorarlberg in Innsbruck übertragen.
Vgl. dazu Alois Ospelt in: Liechtensteinische Politische Schriften,
Band 8, S. 239 f.
47) LLA RE 1882/214. Schreiben des Landgerichts a n die Regierung
vom 10. Februar 1882.
48) LLA GAT Bund 8/12/20. Schreiben des Landgerichts a n Advokat
Bikl vom 23. August 1882.
49) Frau Elisabeth Beck-Kindle bestätigte mir, dass es sich hier u m
die von den Gebrüdern Nigg erstellte Mauer handle.
50) Schmid: Fragen a n die Geschichte, S. 304 ff.
51) In Südafrika wurde die Apartheid erst vor wenigen Jah ren
abgeschafft.
52) Schmid: Fragen a n die Geschichte, S. 304 ff.; Boesch, Weltge
schichte, S. 137 ff.
Abt Franz Wendelin Pfan
ner, Gründer von Maria
stern (1869), gewann die
Nigg-Brüder für sein neues
Projekt in Afrika
Historische Landkarte von
Afrika aus de r Zeit u m die
Jahrhundertwende (1900)
8 9
fen alle im gleichen Raum. Mehrmals a m Tag und
auch während de r Nacht begeben sich die Mönche
für das Stundengebet in die Kirche. Ausser weni
gen festgelegten Stunden in de r Woche dürfen die
Trappisten nicht sprechen. Handzeichen ermögli
chen dennoch ein Zusammenarbeiten.5 3
Franz Wendelin Pfanner, de r zuerst als kränk
licher Dorfpfarrer in Haselstauden bei Dornbirn
wirkte, t ra t im Jahre 1863 in das Trappistenkloster
Mariawald54 ein. Das einfache Leben stärkte seine
Gesundheit, u n d e r wandelte sich bald z u m Drauf
gänger u n d Abenteurer. In kurzer Zeit stieg Pfan
n e r zum Prior von Mariawald auf. Seinem Taten
drang w a r dadurch noch keinesfalls Genüge getan.
Unterstützt durch die österreichische Regierung
begann er, in Bosnien55 ein Trappistenkloster auf
zubauen. Obwohl die Gründung des neuen Klosters
Mariastern56 im durchwegs von Moslems bewohn
ten Gebiet u m Banja Luka nicht problemlos von
statten ging, setzte sich Prior Franz schliesslich
durch. Fü r ihre grossen Ziele brauchte die anfangs
kleine Trappistengemeinde von Mariastern aber
Nachwuchs u n d Geld. Schnell erkannte Pfanner die
grosse Wirksamkeit von Werbeschriften. Kurzent
schlossen kaufte e r eine Druckmaschine u n d be
gann, unterstützt von seinen Mönchen, mit d e m
Drucken von religiösen Schriften.
Bruder Zacharias, ein Weggefährte de r ersten
Stunde, schuf für den gesamten deutschen Sprach
r a u m ein effizientes Verteilungsnetz.57 Die Anstren
gungen Pfanners ha t ten sich gelohnt. Die Mönchs
gemeinschaft wuchs, u n d regelmässige Geldspen
den gestatteten einen kontinuierlichen Ausbau des
Trappistenklosters in Mariastern.58
DAS TRAPPISTENKLOSTER MARIANNHILL
Im September 1879 fand in Frankreich das Gene
ralkapitel der Trappisten statt. Unter den sieben
Äbten u n d zwei Prioren w a r auch Franz Pfanner,
de r Gründer von Mariastern in Bosnien.
Ein Bischof aus Afrika hat te sich in Septfons an
gemeldet. Es handelte sich u m Dr. J ames Ricards
aus Grahamstown. E r b a t die Führungsgilde der
Trappisten u m Missionare für Südafrika. Vier Jah
re zuvor w a r e r bei den Jesuiten mit demselben
Ansuchen erfolgreich gewesen. Die Trappisten gal
ten als ausgezeichnete Landwirte u n d Handwerker,
u n d solche Fachleute fehlten dem Bischof in seiner
Diözese. Ein Abt nach d e m anderen abe r lehnte ab,
was Ricards sehr enttäuschte. Als Franz Pfanner
den Missionsbischof so niedergeschlagen sah,
s tand e r plötzlich a u f u n d sagte über den Tisch hin
weg: «Wenn niemand geht, d a n n gehe ich!»59
Wenige Monate später fuhr Franz Pfanner, be
gleitet von zwei Dutzend Mönchen, nach Afrika.60
Für die Trappisten w a r ein grosses Stück Land ge
kauft worden, das vom aus Irland s tammenden
Bischof61 nach de r alten irischen Abtei Dunbrody
benannt wurde. Wo wilde Kakteen u n d Dornen-
gestrüpp wucherten, ents tanden bald Felder u n d
Gärten. Doch Viehseuchen u n d Dürreperioden
machten den Trappisten das Leben schwer. Zudem
konnte Bischof Ricards nicht alle finanziellen Ver
sprechen einhalten. Da es zu keiner einvernehm
lichen Regelung mit dem Bischof kam, suchte
Franz Pfanner au f eigene Faust ein besser geeig
netes Gelände für seine Klostergründung. Unweit
de r Hafenstadt Durban erwarb e r einige Farmen
u n d n a h m sie a n Weihnachten 1882 in Besitz.62
Das neue Trappistenkloster erhielt den Namen Ma
riannhill.
Kurz nach de r Gründung von Mariannhill reiste
Franz Pfanner zurück n a c h Europa, u m in seinem
alten Kloster Mariastern als Prior abzudanken. Es
wurde ihm zugestanden, zehn Brüder auszuwäh
len,63 die ihn nach Afrika begleiten durften.
Das verwaiste Dunbrody wurde von den Jesui
ten übernommen. Später haben Theodor u n d Ma
ria Nigg für einige Jahre dort gelebt.
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
g
THEODOR NIGG, DER JESUIT
EINTRITT UND NOVIZIAT
Theodor Nigg fühlte sich schon früh zum Ordens
leben berufen. Sein Wunsch, Jesuit zu werden, er
füllte sich im J a h r e 1869, als e r im Alter von 2 1
Jahren in Gorheim bei Sigmaringen das Noviziat
beginnen konnte. Der untersetzte, abe r sehr ge
schickte Jesuitenbruder wurde bereits im zweiten
J a h r seiner Bewährungszeit nach Aachen versetzt,
wo m a n ihm verschiedene Ämter übertrug.6 4 E r
genoss, wie bei den Jesuiten üblich, eine fundierte
religiöse Ausbildung. Seine späteren schriftlichen
Berichte und Briefe65 beweisen, dass auch die welt
liche Weiterbildung des Triesners gefördert wurde .
VERTREIBUNG AUS DEUTSCHLAND
Bismarck hatte im Zuge seiner Kirchenpolitik den
Jesuiten Aufenthalt u n d Niederlassung in Deutsch
land verboten. Theodor Nigg u n d seine Mitbrüder
wurden im Jah re 1872 aus Aachen vertrieben. Sie
Hessen sich im n a h e n Holland nieder. In Blyenbeck
arbeitete Theodor noch während sieben Jahren ,
ehe e r erneut seinen Wirkungskreis verlegte.
Im Jahre 1875 reiste Bischof Ricards, d e r Apo
stolische Vikar des östlichen Kaplandes, nach Rom.
Dort ba t e r den Generalsuperior de r Jesuiten, ge
eignete Patres als Lehrer nach Afrika z u entsenden.
Ricards hatte die Absicht, in Grahamstown ein
Gymnasium für weisse Siedlerkinder zu bauen. Zu
dem machte d e r Bischof mit Nachdruck a u f das
Hinterland aufmerksam, wo sich ein riesiges Ar
beitsfeld zu r Rettung unzähliger Seelen auftun
könnte. In beiden Fällen fanden die Bitten des Bi
schofs Gehör.
Zwei Jahre später wurde von den Jesuiten die
Mission a m Oberen Sambesi beschlossen u n d die
Mannschaft bestimmt. Unter den vier ausersehe
n e n Brüdern befand sich auch Theodor Nigg.66
53) Balling: Der Trommler Gottes, S. 48.
54) Das Trappistenkloster Mariawald liegt bei Heimbach in der
weiteren Umgebung von Köln.
55) Bosnien stand damals unter d e r Verwaltung Österreichs.
56) Mariastern wurde im Jahre 1869 gegründet.
57) Balling: Der Trommler Gottes, S. 91 ff.
58) Ebenda.
59) Ebenda, S. 108.
60) Ebenda, S. 115 ff.
61) Dr. James Ricards, 1828 als Sohn eines Arztes in Wexford
(Irland) geboren.
62) Balling: Der Trommler Gottes, S. 112 ff.
63) Ebenda.
64) SJ Schweizer Provinz, Zürich, Kartothek.
65) Vgl. Anhang, S. 110.
66) Seubert, Manuskript, S. 10 ff.
Bruder Theodor Nigg,
flankiert von Einheimi
schen in Südafrika
9 1
KOCH UND FUHRMANN
Anfangs J a n u a r 1879 verliess Bruder Theodor Nigg
mit neun weiteren Jesuiten Europa. In de r engli
schen Hafenstadt Southampton bestiegen die Mis
sionare das Schiff. Nach vier Wochen Fahr t auf
dem stürmischen Atlantik erreichten sie Südafrika.
In Grahamstown, dem Ausgangspunkt de r Mis
sionsexpedition, betrieben die Missionare mit al
lem Eifer ihre Ausrüstung für die lange Reise a n
d e n oberen Sambesi. Drei grosse Zeltwagen u n d
ein Gepäckwagen s tanden bald fix u n d fertig für die
Abreise bereit. Am Osterdienstag feierten die schei
denden Missionare in de r seh r bescheidenen Ka
thedrale des Bischofs Ricards den Abschiedsgottes
dienst.
Die Reise au f d e m Ochsenwagen w a r äusserst
anstrengend. Einige de r angeheuerten Afrikaner
hat ten sehr bald genug von den Strapazen und
machten sich aus dem Staub. Nun wurde de r als
Koch amtende kleine Bruder Theodor zusätzlich
noch Wagenführer. Bei Tag u n d Nacht ging es übe r
Stock u n d Stein. Ans Schlafen w a r k a u m zu den
ken. Die vielen Mühen d e r beschwerlichen Reise
durch völlig unbekanntes u n d unerschlossenes
Land liess die Stimmung d e r Mannschaft manch
mal fast a u f den Nullpunkt sinken.67 Da w a r es de r
n u r ein Meter fünfzig grosse Theodor, de r seine
Mitbrüder immer wieder aufzumuntern verstand.
In den Wagen w a r es eng u n d dahe r s eh r unbe
quem. Darauf machte de r Triesner ein Gedicht:
«Hier in diesem Loch
liegt de r Bruder Koch;
w a r e r nicht so klein,
k ä m e r nicht hinein.»68
Alle erfreuten sich a n der fröhlichen Art des Liech
tensteiners. Als de r Wagen wieder einmal kräftig
durchgeschüttelt wurde, meinte Theodor zu sei
n e m Vorgesetzten: «Pater, w e n n wir Milch wären ,
w i r würden bald Butter.»69
Bruder Theodor hatte wirklich einen unverwüst
lichen Humor. Als ein Ochse beim Anschirren den
Kopf nicht unters Joch schob, wurde Theodor nicht
e twa ungeduldig. Vielmehr tröstete e r den Ochsen
mit folgenden Worten: «Nur Geduld Junge, das
kommt alles mit de r Zeit, das wirst d u schon ler
nen! Bis jetzt ist noch kein Gelehrter vom Himmel
gefallen, viel weniger ein Ochs wie du.»70
Theodor liebte die Musik. Er hat te seine kleine
Ziehharmonika nach Afrika mitgenommen. Immer
wieder musizierte er, u m seine Mitbrüder u n d die
schwarzen Gehilfen zu unterhalten u n d aufzumun
tern. Aufenthalte in d e r Nähe von Dörfern u n d
Städten brachten die Gefahr, dass die Schwarzen
zu viel t ranken u n d dadurch in Schlägereien ver
wickelt wurden. Wenn a b e r de r Triesner mit sei
n e m Musikinstrument aufspielte, blieben die Trei
b e r beim Lagerfeuer: «Es dauerte nicht lange, d a
bekamen die Schwarzen Leben in die Beine. Sie
tanzten mit e inem für Europäer bewundernswer
ten Bewegungstalent.»71 Theodor lobte während
der Pausen immer wieder die Tanzkünste seiner
Arbeiter.
Sieben Monate w a r die Missionsexpedition
durch das damals wilde u n d unwegsame Afrika un
terwegs, ehe sie im November 1879 ih r vorläufiges
Ziel Gubuluwayo, die Residenz des mächtigen u n d
gefürchteten Matabelekönigs Lo Bengula, erreich
ten. Von seinem Wohlwollen hing es ab, ob die Je
suiten mit d e r Missionierung u n d d e m Bau von
Schulen beginnen durften. Auch Lo Bengula hat te
grosse Freude a m Ziehharmonikaspiel von Bruder
Theodor. Doch es verging noch einige Zeit, bis de r
König die Arbeit de r Missionare zuliess.
Die schicksalsträchtige Ziehharmonika des
Liechtensteiners wird heute noch im Museum der
Jesuiten in Harare, de r Hauptstadt von Zimbabwe,
gezeigt.72
Bruder Theodor verstand sich a u f fast alle not
wendigen Handwerke. E r wusste auch mit den Ein
heimischen umzugehen. Am 29. Dezember 1879
schrieb Theodor einen Brief nach Europa, de r ein
wenig übe r das Wesen dieses ausserordentlichen
Triesners aussagt u n d im Anhang dieser Arbeit in
vollem Wortlaut wiedergegeben wird.7 3
Die Jesuitenniederlassungen a m oberen Sambe
si benötigten immer wieder Nachschub, den m a n
von Grahamstown herbeischaffte. Mehrmals absol
9 2
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
vierte Bruder Theodor mit Ochsenwagen die 2000
Kilometer lange Strecke. Eine Tour h in u n d zurück
erforderte den besten Teil eines Jahres .
Der kleine Jesui tenbruder erlebte viele Aben
teuer au f seinen langen Reisen. Gefährliche Begeg
nungen mit Löwen soll e r heldenhaft gemeistert
haben u n d einmal mit se inem Gewehr a u f e inem
Flussabschnitt des Sambesi die Krokodile z u r Freu
de d e r Eingeborenen stark dezimiert haben.7 4
Die Missionierung in Afrika forderte von den Je
suiten einen hohen Blutzoll. In den ers ten J ah ren
s tarben rund 60 Mann durch das mörderische Kli
ma.75 Am 15. September 1880 k a m aus Movemba
a m Sambesi die Nachricht, e in Pater u n d ein Bru
de r seien schwer erkrankt. Gleich a m nächsten Tag
machte sich Bruder Nigg zusammen mit z ehn Ein
heimischen auf den Weg, u m seinen Mitbrüdern
beizustehen.
Als e r in Movemba eintraf, fand e r Bruder Ve-
venne in tiefer Bewusstlosigkeit in einer Hütte lie
gen. Pater Terörde ruhte schon seit drei Tagen im
Grab. Theodor betete einige Augenblicke a m Grab
hügel seines früheren Reisegefährten, d a n n packte
e r die wenigen wertvollen Gegenstände zusammen,
wickelte den kranken Bruder in eine Wolldecke u n d
t rat mit i hm den Rückweg an. Um das Unglück voll
zu machen, erlitt Bruder Theodor dabei einen
schweren Sonnenstich, de r ihn halbseitig lähmte.
Die hilfsbereiten schwarzen Träger brachten die
zwei Kranken zu ihren Mitbrüdern zurück.
Von den Folgen dieses Sonnenstiches h a t sich
Bruder Theodor nie m e h r ganz erholt. Seine Ener
gie u n d sein Frohsinn wurden abe r nicht gebro
chen. Für einige Zeit blieb e r noch a m oberen Sam
besi, wo m a n seine Fähigkeiten sehr zu schätzen
wusste.76
Nach fünf J ah ren a m oberen Sambesi zog Bru
der Theodor 1884 zurück n a c h Grahamstown. Von
dort aus sandten ihn seine Vorgesetzten im April
desselben Jahres nach Dunbrody, das in d e r Nähe
von Port Elizabeth liegt. Schnell hatte Theodor
Sintebele, die einheimische Sprache, gelernt. Die
schwarze Bevölkerung verehrte den kleinen, sym
pathischen Bruder, der ihnen gut gesinnt w a r und
immer mit Rat u n d Tat zur Seite stand.77
67) Ebenda.
68) Spillmann, Vom Cap zum Sambesi, S. 183 ff.
69) Ebenda.
70) Ebenda.
71) Ebenda.
72) Seubert, Manuskript, S. 12.
73) Vgl. Anhang, S. 110.
74) Nivard Streicher, de r Klosterarchitekt, h a t den Jesuiten Theodor
Nigg in Dunbrody persönlich kennengelernt. E r wusste deshalb viel
übe r den fünften Nigg zu berichten. - «Familia», Vol. IV, August
1914, Nr. 8.
75) «Katholische Missionen», Jahrgang 1899.
76) Zambesi Mission Record Vol. II, J anua r 1902, S. 20 f.
77) Ebenda.
Ochsengespanne und -fuhr
werke in Südafrika
9 3
In dieser trockenen, sonnigen Gegend mussten
Rebstöcke doch gedeihen, meinte d e r fleissige
Triesner. Mit Hilfe der schwarzen Arbeiter legte er
in der Nähe d e r Missionsstation einen Weinberg
an.7 8
Sicher h a t e r dabei auch a n den Meierhof da
heim gedacht, wo die Familie Nigg vor de r Haus
türe einen stattlichen «Wingert» besass. In Dun
brody t ra f Theodor Nigg auch seine Schwester Ma
ria. Seinen drei Brüdern, die in Mariannhill lebten,
ist Theodor in Afrika abe r nie begegnet.
Anfang de r neunziger Jahre wurde Bruder
Theodor au f die Missionsstation Keiland versetzt.
Hier konnte e r sich einen langersehnten Wunsch
erfüllen. Theodor begann, eine kleine Kapelle zu
errichten. Als e r nach Afrika ausgereist war, hat te
i hm jemand eine Madonnenstatue geschenkt, die
e r immer mit sich führte. In de r Kapelle sollte die
Mutter Gottes n u n einen Ehrenplatz erhalten. Der
rührige Jesuitenbruder konnte jedoch sein Vorha
b e n nicht m e h r vollenden.
Obwohl erst 54-jährig, w a r d e r Liechtensteiner
durch seine rastlose Tätigkeit verbraucht. Zu allem
Überfluss k a m noch Malaria dazu. Augenzeugen
berichteten, dass e r sich in allen Schmerzen t reu
blieb, e r liess sich nicht anmerken, wie e r zu leiden
hatte, u n d w a r bis zuletzt zu Scherzen aufgelegt.
Am 6. August 1891 starb Theodor Nigg. «Jesus dir
leb ich, Jesus dir sterb ich», sollen seine letzten
Worte gewesen sein.79
AUFBRUCH INS NEUE LEBEN
EINE ZWISCHENSTATION IN MARIASTERN
In seinen originellen Werbeaufrufen wandte sich
Pfanner mi t folgenden Worten a n gestrauchelte
u n d Strafentlassene Männer: «Ergraute Sünder und
junge Bösewichte» wolle m a n nicht abweisen, vor
ausgesetzt, dass sie «Busse tun».80
Auch im Hause der Familie Nigg lagen vermut
lich die Schriften von Franz Pfanner auf.81 Die Lek
türe dieser Hefte weckte wohl in den drei Brüdern
den Wunsch, ins Kloster einzutreten. Zudem er
möglichte ihnen dieser Schritt einen gemeinsamen
Neuanfang, denn ein Verbleib in Triesen schien für
die rebellischen Meierhof-Geschwister unt ragbar
geworden zu sein.
Ende Februa r 1883 wurde Florian Nigg als letz
te r aus d e m Kerker entlassen.82 Bald darauf ver-
liessen die Brüder Franz, Johann u n d Florian ihre
Heimat in Richtung Bosnien. Maria blieb vorerst
a u f dem Meierhof. Sie sollte aber bald wieder mit
den Brüdern zusammenkommen.
Im «Liechtensteiner Volksblatt» vom Freitag, den
4. Mai 1883, wird a u f de r ersten Seite übe r die
Auswanderung de r Nigg-Brüder wie folgt berichtet:
Vaduz, 2. Mai. Die bekannten Geschwister Nigg
vom Meyerho f bei Vaduz s ind letzten Montag in
aller Stille abgereist; wohin noch unbekannt - ob
nach Amer ika oder Afr ika - M a n mein t nur ins
Hinterland.
Anfang Mai 1883 klopften die Brüder Nigg a n
die Pforte d e r Trappisten in Mariastern u n d ba ten
u m Aufnahme. Diese wurde ihnen gewährt, u n d
alle drei begannen mit der Vorbereitung auf das
Klosterleben. Franz erhielt den Namen Gregor, Jo
h a n n wurde zu Bruder Germanus u n d Florian
n a h m den Namen Bruder Cornelius an. Nicht n u r
die Namen w u r d e n gewechselt, die Brüder Nigg be
gannen gleichsam ein neues Leben mit einer neuen
Identität.
9 4
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
AUSERWÄHLT FÜR AFRIKA
Die drei Triesner hat ten eben ih r Noviziat begon
nen, als Prior Franz Pfanner im Mai 1883 von sei
ne r ersten Afrikareise zurückkam. Dieser hatte in
Südafrika den Grundstein für sein neues Kloster
Mariannhill gelegt. Nun beabsichtigte er, tüchtige
Männer u n d Frauen für sein neues Projekt in Afri
ka z u gewinnen.83
Bei de r Musterung der Mönche, die für die Pio
nierarbeit in Frage kamen, s tachen Prior Franz die
drei Liechtensteiner besonders ins Auge. Die Brü
der Nigg hat ten beim Klostereintritt d e n Grund
ihrer späten Berufung dargelegt. Es w a r deshalb
bekannt, dass sie gute «Steinmaurer» waren .
Handwerker schätzte m a n im «wilden Afrika» be
sonders, wie dies Abt Franz immer wieder be
merkte. Die drei «Meierhöfler» wurden ausgewählt
u n d durften mit nach Afrika.84
Bald darauf sprachen die Brüder Nigg beim
Prior mit de r Bitte vor, auch ihre Schwester Maria
Nigg nach Afrika mitzunehmen. Diese w a r einver
standen85, d a j a auch de r Bruder Theodor seit eini
gen Jah ren in Afrika wirkte.86 Da Franz Pfanner
auch die Kreuzschwestern von Menzingen für seine
Missionspläne hatte gewinnen können, wandte
sich dieser in de r Folge mit beherzten Worten a n
die Menzinger Generaloberin: «Ich weiss Ihnen
eine prächtige Arbeitsschwester, aber sie i s t schon
4 0 Jahre alt. Doch machen S i e eine Ausnahme. In
Afr ika kann m a n Ausnahmen dieser A r t machen.
Sie kann melken, Garten-Feldarbeiten, ausgezeich
net, stark, charakterfest. ... Eine gute Bauerstoch
ter richtet mehr aus als 4 Lehrerinnen, die d a s
Arbeiten nicht gelernt haben.»*7
Die Fürsprache half. Am 8. Juni des Jahres 1883
bestiegen unter d e r Führung von Franz Pfanner die
drei Liechtensteiner Trappisten Gregor, Germanus
und Cornelius sowie die Postulantin88 Maria Nigg
das Schiff in Southampton.
78) Ebenda.
79) «Familia», Vol. IV, August 1914, Nr. 8. - Seubert, Manuskript,
S. 15 f.
80) Balling: Gott liebt die Fröhlichen, S. 26 f.
81) Die ersten Heftchen trugen den kuriosen Titel «Sind Sie Kamin
feger?».Später wurden sie in «Vergissmeinnicht» umbenannt. -
Balling: Der Trommler Gottes, S. 91 ff.
82) LLA S 1882/69.
83) Seubert: Manuskript, S. 2.
84) «Familia», Vol. IV, August 1914, Nr. 8.
85) Kaplan J. 0. Hunold aus Balzers w a r Marias Agent. -
Vgl. Anhang, S. 111.
86) Der Jesuit Theodor Nigg lebte seit 1879 in Afrika. Er blieb mit
seiner Familie in Triesen brieflich verbunden. - Vgl. Anhang, S. 110.
87) Archiv des Instituts in Menzingen, VI. 2 .1 .10 , vgl. Anhang,
S. 111.
88) Eine Postulantin ist eine Anwärterin für den Klostereintritt.
Das Trappistenkloster Ma
riastern in Bosnien, 1869
von Prior Franz Wendelin
Pfanner gegründet
9 5
LEBEN, ARBEIT UND TOD IN AFRIKA
MARIA NIGG
Maria wollte nach all den Streitigkeiten nicht m e h r
in Triesen bleiben u n d t rug sich wie ihre Brüder
mit dem Gedanken, in ein Kloster einzutreten. Wie
gerufen k a m ih r daher de r Vorschlag aus dem fer
n e n Bosnien, auch nach Afrika auszuwandern.
Maria Nigg w a r sofort einverstanden. Wie bereits
erwähnt, ermöglichte Franz Pfanner d e r Triesne-
rin, sich den Kreuzschwestern von Menzingen an-
zuschliessen. -
Im Juni des Jahres 1883 bestieg Maria zusam
m e n mit ihren drei Brüdern Franz, Johann und
Florian in Southampton die «Arab», ein englisches
Dampfschiff. In einem Brief a n die Generaloberin
de r Menzinger Schwestern steht übe r Maria Nigg:
«Indessen g e h t es doch recht gemütlich zu, da alle
so ziemlich ihren guten Humor behalten haben, die
köstlichste Person is t unsere Jungfer Nigg, welch
komische Einfälle sie hat! Heute ist sie g u t zweg,
gestern hat te sie Heimweh. ... Die Brüder der
Jungfer Nigg s ind auch a n Bord, sie h a t grosse
Freude sie z u treffen,»89
j In Afrika t rennte sich die Postulantin Maria Nigg
yon ihren drei Brüdern u n d reiste mit den Menzin
ger Schwestern in die Transkei. Am 24. August
1883 kamen die Frauen in Umtata an. Dort t ra t die
Liechtensteinerin in das Noviziat de r Menzinger
Kreuzschwestern ein. Bald da rauf wurde Maria auf
die zwei Stunden von de r Stadt entfernte Konvent
farm90 versetzt. Die Vorbereitungszeit gefiel Maria
Nigg nicht; jedenfalls legte sie keine Profess ab.
Möglich ist auch, dass die Vorbehalte gegen die
bereits 40-jährige Triesnerin, trotz Franz Pfanners
Intervention bei de r Generaloberin, nicht ganz be
seitigt wurden.
Maria kannte den Aufenthaltsort ihres Bruders
Theodor Nigg. Sie n a h m mi t i hm Kontakt au f und
reiste im J a h r 1885 nach Dunbrody, wo sie dank
seiner Unterstützung ein neues Wirkungsfeld als
Missionshelferin fand. Zusammen mi t Anna
Schultz, einer deutschen Lehrerin, gründete Maria
Nigg im Auftrage de r Jesuiten eine Schule,91 in de r
die Kinder sowohl wohnten wie auch verköstigt
wurden. Maria amtete als Handarbeitslehrerin u n d
w a r zudem u m den grossen Haushalt besorgt. Die
beiden Frauen n a h m e n grosse Entbehrungen in
Kauf. Anfangs diente eine einfache Strohhütte als
Schule u n d Internat.
Mit Durchhaltewillen überwanden sie alle
Schwierigkeiten, u n d die Hoffnung a u f eine Besse
rung de r Verhältnisse gab den zwei Pionierinnen
immer wieder Kraft u n d Mut. Nach zwei J ah ren
verbesserte sich d a n n die prekäre räumliche Situa
tion. Dank Spenden aus Europa konnten ein gros
ses Klassenzimmer sowie ein neuer Schlafsaal aus
Ziegeln gebaut werden. Die Schule genoss bald
einen sehr guten Ruf. Inspektionen von Regie
rungsbeamten bestätigten dies, u n d kurze Zeit spä
te r erhielt die Mädchenschule eine staatliche Un
terstützung. Die Schülerzahlen stiegen n u n stetig,
wobei die Schule u n d das Internat im Laufe de r
Jahre immer wieder vergrössert wurden.9 2
Maria Nigg hatte in den zehn J a h r e n von Dun
brody einiges erreicht. Trotzdem gab sie den Ge
danken a n ein Leben im Kloster nie auf. Theodor
Nigg w a r n u n bereits seit vier J ah ren tot. Sicher
sehnte sich Maria auch in die Nähe ihres noch le
benden Bruders Florian, als sie 1895 in Mariann
hill bei den dortigen Schwestern u m Aufnahme bat .
Trotz ih re r 52 Jahre wurde sie angenommen u n d
erhielt den Klosternamen Polycarpa. Der Triesne
rin gefiel es bei den Missionsschwestern vom Kost
ba ren Blut CPS.93 Sie bewährte sich in der Probe
zeit, u n d diesmal s tand d e r Profess nichts m e h r i m
Wege.94
Schwester Polycarpa Nigg w a r vielseitig einsetz
b a r u n d bekleidete verschiedene Aufgaben. Am
14. April 1907, im Alter von 64 Jahren, legte die
Triesnerin ihre ewige Profess ab.
Die Geschehnisse a u f dem Meierhof, die Aus
wanderung u n d die 25 Jah re in Afrika hat ten Ma
ria Nigg nachhaltig geprägt. Als sie a m 24. Septem
b e r 1908 starb, wurde Schwester Polycarpa wie
folgt charakterisiert: «Schwester Polycarpa gab
den Schwestern durch ihre unermüdliche Arbeits
freudigkeit, durch ihren Gehorsam u n d ihre g a n z
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
ausserordentliche Liebe z u r A r m u t ein herrliches
Beispiel. Dabei w a r sie resolut wie ein Mann, s ie
kannte keine Furcht,»95
PIONIERE IN AFRIKA
In Afrika angekommen, gab es Arbeit in Hülle und
Fülle für die drei Triesner Trappisten, die n u n Gre
gor, Germanus u n d Cornelius hiessen. Zuerst galt
es, ein Kloster - einer alten Trappistentradition
entsprechend in massiver Steinbauweise - u n d die
notwendigen Wirtschaftsgebäude z u errichten. Ob
wohl alle drei Nigg-Brüder von eher kleiner Statur
waren, arbeiteten sie bei de r Bautruppe.
Die Triesner galten als exakte u n d sehr zuverläs
sige Steinmaurer. Was zuhause grosse Schwierig
keiten nach sich gezogen hatte, wurde d e n «Meier-
höflern» in Mariannhill zur Lebensaufgabe. Für
den Architekten Nivard Streicher96 w a r e n die drei
Brüder mit ihrem unerschütterlichen Gleichmut
u n d ihrer Arbeitsfreudigkeit unabdingbare Stützen
bei de r Verwirklichung seiner grossen Pläne.97
Der Kirchenbau in Mariannhill brachte infolge
des schlechten Untergrundes grosse Schwierigkei
ten mit sich. Gewissenhaft arbeiteten die drei Brü
de r Nigg viele hunder t Fuhren von Steinen in das
Fundament hinein.98 Noch heute weist die Kirche
keine Risse au f u n d zeigt damit, welch gute Stein
maure r die Liechtensteiner waren .
Kaum w a r die Mühle, das letzte Mariannhiller-
Gebäude der Gründerjahre, im Gang, zog die Bau
karawane de r Liechtensteiner weiter. Sie ha t ten die
Aufgabe, bei den Neugründungen von Aussensta
tionen Kirchen, Wohn- u n d Wirtschaftsgebäude zu
errichten.
Franz Pfanner w a r fest entschlossen, die Mis
sionsarbeit der Trappisten übe r das südliche Afrika
auszudehnen.9 9 In den folgenden J a h r e n überzo
gen die Trappisten ganz Natal100 mit einem Netz
von Missionsstationen. Die rasche Expansion der
89) Archiv des Instituts in Menzingen, Reiseberichte und Briefe
1883. - Vgl. Anhang, S. 112.
90) Die Kreuzschwestern hatten westlich von Umtata eine grosse
Fa rm gekauft. Sie eröffneten dort eine Missionsschule und bezogen
aus der angegliederten Landwirtschaft die Nahrungsmittel, da in
Umtata alles sehr teuer war.
91) Die Gründung der Mädchenschule erfolgte ebenfalls im Jahre
1885.
92) Zambesi Mission Record, S. 141 f.
93) CPS sind Missionsschwestern vom Kostbaren Blut. Auch sie
ändern - wie die Trappisten - beim Klostereintritt ihren Namen.
94) «Familia», Vol. IV, August 1914, Nr. 8.
95) Ebenda.
96) Nivard Streicher w a r ein guter Freund der Geschwister Nigg.
Der aus München s tammende Architekt wurde in Südafrika berühmt.
- Vgl. auch hinten, S. 102. - Im Jah re 1909 erhielt Bruder Nivard
Streicher von der englischen Regierung, in Anbetracht seiner wert
vollen Verdienste für Land und Leute, auf Lebenszeit ein Freibillet
für die Natal-Eisenbahn.
97) «Familia», Vol. IV, August 1914, S. X.
98) Seubert, Manuskript, S. 4.
99) Bis zum Todesjahr Franz Pfanners 1907 hatten die Mariannhiller
Mönche 28 Missionsstationen zwischen Kap und Sambesi errichtet.
Später entstanden aus einigen dieser Aussenstationen selbständige
Diözesen.
100) Gebiet in Südafrika, das zwischen der Küste des Indischen
Ozeans und den Drakensbergen liegt.
Missionsschwestern vom
Kostbaren Blut CPS in
Mariannhill; Maria Nigg
wurde 1895 in diesen
Orden als Missionsschwe
ster aufgenommen
9 7
Die Trappistengemein-
schaft in Mariannhill (Süd
afrika); der Orden w a r im
Frankreich des 17. Jahr
hunderts als Reformzweig
des Zisterzienserordens
entstanden
Bruder Nivard Streicher,
Architekt zahlreicher
Kirchenbauten in Südafri
ka, w a r ein guter Freund
der Nigg-Geschwister
Trappistenmönche bei der
Feldarbeit. «Ora et labora»
(«Bete und arbeite») steht
in grossen Buchstaben
über dem Eingangstor des
Klosters in Mariannhill
Mönche im Kreuzgang des
Klosters Mariannhill; die
Trappistenmönche unter
liegen einem strengen
Schweigegebot
9 8
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
Trappisten in Natal blieb auch d e n weissen Sied
lern nicht verborgen. Sie s tanden den sonderbaren
Männern in ihren langen Kutten anfangs skeptisch
gegenüber.
Die englische Presse mokierte sich ü b e r die ein
fache Herkunft d e r meisten Mönche. Nach Ansicht
einiger Reporter konnten diese den Schwarzen
nicht von Nutzen sein, denn ein ausgetretener
Trappist hat te einem weissen Fa rmer fünfzig Pfund
gestohlen.
Schnell erkannten abe r die weissen F a r m e r das
landwirtschaftliche, handwerkliche u n d technische
Geschick de r Trappisten. Viele holten sich Rat be i
den Brüdern oder Hessen ihre Maschinen u n d Wa
gen dort reparieren.
Bald w a r e n auch viele Zeitungen voll des Lobes
über die tüchtigen Mönche aus Europa, denn Ma
riannhill h a t sich auf kulturellem u n d technischem
Gebiet grosse Verdienste u m Südafrika erworben.101
DIE GELÜBDE
Nach zwei J a h r e n Noviziatszeit legten die Brüder
Nigg im Mai 1885 ihre Gelübde ab. Die hand
schriftliche Eintragung ins Mariannhiller Brüder
buch lautet folgendermassen:
«Wir Endgefertigten bestätigen, dass wir in die
Hände des ehrwürdigen Vaters Prior Franz Pfan
ner, die einfachen Gelübte abgelegt haben.
Mariannhill a m Fest Christi Himmelfahrt
den 14. Mai 1885.
Fr. Franz Prior Br. Gregor Nigg +
Br. Germanus Nigg +
Br. Cornelius Nigg»102
Die Nigg-Brüder wirkten
als tüchtige Steinmaurer
beim Bau der Kloster
kirche von Mariannhill mit
(Foto zum 50-jährigen
Jubiläum 1932)
Schriftliche Bestätigung,
dass die Nigg-Brüder 1885
das Ordensgelübde der
Trappistenmönche gelei
stet haben
101) Balling: Der Trommler Gottes, S. 157 f.
102) Archiv der Mariannhiller Missionare CMM, Mariannhill, altes
Brüderbuch, S. 18.
S ü d -
'Afr ika
9 9
Bauarbeiten in Mariann
hill (Südafrika)
Arbeiter in Mariannhill
decken einen Regenwas
serkanal mit Steinplatten
a b
DER HAUSMAURER
Bruder Gregor, d e r Senior de r Familie, w a r bereits
45 Jah re alt, als e r nach Afrika kam. Trotzdem leg
te e r sich be im Aufbau von Mariannhill mächtig ins
Zeug. Nicht zuletzt seines Alters wegen bekam e r
bald gesundheitliche Probleme. Als die Klosteran-
lage fertiggestellt wurde, zog de r Bautrupp a n den
Fuss de r Drakensberge. Dort begann m a n bereits
mit dem Bau einer Aussenstation. Bruder Gregor
abe r blieb in Mariannhill. E r konnte das afrikani
sche Klima n u r schwer vertragen u n d machte sich,
so gut es ging, als Hausmaurer nützlich. Ihm w a r
kein langes Leben beschieden. Im Alter von erst 4 8
Jah ren s tarb de r Triesner Trappist eines sanften
Todes.103
UNFALL AN DER BÖSCHUNGSMAUER
Bruder Germanus Nigg führte einige Jahre die
Maurertruppe an. Dadurch w a r e r massgeblich a m
Aufbau verschiedener Aussenstationen beteiligt.
Die Trappisten schufen a n de r Grenze zu Lesotho104
zahlreiche Niederlassungen. Dort a m Fuss de r Dra
kensberge schneit es i m Winter öfters, was die
fleissigen Brüder jedoch nicht abhielt, in kurzer
Zeit stattliche Kirchen, Schulen, Spitäler u n d Wirt
schaftsgebäude z u bauen .
Im Oktober 1887 r ief m a n den tüchtigen Tries
n e r zu r Ausführung weiterer Bauvorhaben nach
Mariannhill zurück.105 Einige Monate später erlitt
Bruder Germanus bei Arbeiten a n d e r neuen Kir
che einen schweren Arbeitsunfall. E r deckte einen
Regenwasserkanal mit Steinplatten a b u n d s tand
dabei mit seinem linken Fuss zwischen zwei Gru
benschienen vor einem Stein. Plötzlich entglitt sei
n e m a m Grubenrand arbei tenden Gehilfen eine
Steinplatte. Bruder Germanus konnte nicht m e h r
rechtzeitig fliehen, so dass sein linkes Schienbein
total zerquetscht wurde.1 0 6
Der Klosterarzt t ra f sogleich die Vorbereitungen
zur notwendigen Amputation. Es w a r ein glühend
heisser Tag, u n d für die Operation musste unbe
dingt Eis herbeigeschafft werden. Solches w a r n u r
1 0 0
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
in Durban zu bekommen. Bruder Nivard Streicher
rannte nach Pinetown, erwischte gerade den Zug
u n d k a m mit d e m nächsten u n d einer Kiste Eis, in
Sägemehl gepackt, wieder dorthin zurück. Weil da
mals ein Fuhrwerk eine Rarität war, n a h m e r die
schwere Kiste a u f die Schulter u n d marschier te
Mariannhill zu, eine volle Wegstunde. Trotz Ver
packung fing das Eis a n zu schmelzen, u n d kaltes
Wasser rieselte d e m guten Bruder den Nacken hin
unter, bis zuletzt das Wasser sogar in die Schuhe
gelangte. Immerhin brachte e r noch genug Eis
heim, u n d die Operation verlief ganz normal.107
Die Wunde des amputierten Gliedes heilte trotz
mehre re r Hauttransplantationen schlecht. Zudem
t ra t eine Entzündung auf, u n d de r Arzt befürchtete,
diese könnte ins Kniegelenk fahren. E r entschloss
sich daher, dem Patienten das linke Bein oberhalb
des Kniegelenkes abzunehmen.1 0 8
Bruder Germanus abe r hat te wenig Lust zu ei
n e r weiteren Amputation. E r liess Franz Pfanner
rufen u n d erklärte diesem, lieber s terben z u wol
len, als noch einmal operiert zu werden. Der Abt
machte dem Bruder Mut, doch eine weitere Opera
tion z u wagen. Germanus überlegte u n d b a t seinen
Vorgesetzten, das Los entscheiden zu lassen. Franz
Pfanner w a r damit einverstanden u n d liess sich
zwei Zündhölzchen bringen, ein kurzes u n d ein
langes. Germanus wollte nicht selbst Schmied sei
nes Schicksals sein. Er forderte deshalb seinen Vor
gesetzten auf, die Hölzchen z u ziehen. Das Los ent
schied für den Triesner. Somit blieb Bruder Germa
nus eine weitere Amputation erspart. Erfreulicher
weise ging nach einer weiteren Hauttransplanta
tion die Entzündung zurück, die Wunde heilte.109
Der gute Steinmaurer wurde n u n Flickschneider,
abe r er, de r sein Lebtag im Freien gearbeitet hatte,
hielt das Stubenhocken k a u m zwei J ah re aus. Ger
manus, das Zweitälteste de r Geschwister Nigg, w a r
keine fünfzig Jah re alt, als e r a m 12. J a n u a r 1890
starb.
Lesotho ist heute ein souveräner Staat, der jedoch wirtschaftlich
stark von Südafrika abhängig ist.
105) Seubert, Manuskript, S. 4.
106) «Familia», Vol. IV, August 1914, Nr. 8.
107) Ebenda.
108) Ebenda.
109) Ebenda. - Bruder Nivard Streicher berichtete, dass auch bei
den Trappisten d e r Humor nicht ganz vergessen ging; denn später
wurde im Kloster mancher Witz gemacht, dass Bruder Germanus
mit anderer Leute Haut herumlaufe, und wie denn das a m Jüngsten
Tag gehen soll!
Bruder Germanus Nigg auf
der Totenbahre - Bruder
Cornelius u n d ein zweiter
Mönch halten Totenwache
Die Steinplatte, welche
den Unterschenkel von
Bruder Germanus zer
quetschte. Sie wurde ne
ben der Klosterkirche von
Mariannhill in eine Mauer
eingearbeitet. Nivard
Streicher ha t nach dem
Unfall ein Kreuz und ein M
in die Platte eingemeisselt.
103) «Familia», Vol. IV, August 1914, Nr. 8.
104) Lesotho w a r damals ein englisches Protektorat. Das Königreich
Lesotho ist völlig vom Staatsgebiet de r Republik Südafrika umgeben.
1 0 1
DER BAUMEISTER
Bruder Cornelius wirkte ü b e r 31 Jahre in Afrika.
Nach seinem Kloster eintritt wandelte sich de r frü
here Rebell zum gehorsamen, von seinen Vorge
setzten geschätzten Ordensmann. Obwohl Körper-
mass und Kraft n u r Mittelmass darstellten, ent
wickelte e r ausserordentliche Fähigkeiten als Bau
polier. Nach den Plänen seines Freundes Nivard
Streicher schuf de r Liechtensteiner mit seinen Ar
beitern, unter denen sich sehr viele Einheimische
befanden, zahlreiche Kirchen, Schulen, Spitäler
u n d Wirtschaftsgebäude.
Sein schönstes Werk ist wohl die Kirche in Rei
chenau110 mit ihrem 22 Meter hohen Kirchturm,
de r bis zur Spitze aus Blau- u n d Basaltsteinen ge
fertigt ist. Die Schönheit dieser Kirche lässt erah
nen, welch guter Natursteinmaurer Bruder Corne
lius Nigg gewesen ist.
Bruder Cornelius w a r all die J ah re nicht einen
Tag krank. Trotz de r beständig schweren Arbeit
w a r e r sehr genügsam im Essen u n d Trinken. Seine
letzte Arbeit fand e r im Frühjahr 1914 in Maria
tal.111 Er leitete die Arbeiten zur Erstellung einer
Wasserversorgungsanlage für das Schwesternsa
natorium, die e r aber nicht m e h r fertigstellen
konnte. An einem Samstagabend im Frühjahr 1914
ritt e r vom Bauplatz h inüber zur Unterkunft, wurde
von einem eiskalten, mit Hagel vermischten Regen
überrascht u n d völlig durchnässt. Dabei zog e r sich
eine schlimme Erkältung zu, von de r e r sich nicht
m e h r erholte. A m 11. Juni desselben Jahres s tarb
Cornelius, de r letzte Nigg, i m Alter von 63 Jah ren
in Mariatal.
Die in neugotischem Stil
errichtete Kirche von
Reichenau zeigt das Talent
von Bruder Cornelius als
Steinmaurer.
Die zweitürmige Kathedra
le von Mariannhill
1 0 2
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
f
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Neben den grossen Auswanderungswellen n immt
sich die Lebensgeschichte d e r fünf Geschwister
vom Meierhof eher bescheiden aus. Trotzdem setz
te ih r bewegtes Schicksal ein Zeichen d e r katho
lischen Volksfrömmigkeit u n d des Missionsgedan
kens für unser Land.112 Dieses selbstlose Wirken im
Dienste anderer ist bei uns a u f fruchtbaren Boden
gestossen, denn nach wie vor arbeiten Liechten
steinerinnen u n d Liechtensteiner als Missionare
oder Entwicklungshelfer in aller Welt.
Theodor Nigg wäre wohl trotzdem d e r einzige
Mönch u n d Missionar in d e r Familie Nigg geblie
ben, w e n n nicht der unheilvolle Mauerstreit solche
Folgen gehabt hätte. Die Geschwister Nigg fühlten
sich von Kindheit a n de r katholischen Tradition
verpflichtet. «I h a mini Sach ka, d r Franz aber
kunnt is Fegfür!» Diese Aussage des kleinen Johan
nes, de r nach de r Besteigung des verbotenen
Kirschbaumes bereit war, die Strafe de r Mutter zu
akzeptieren, zeugt von einer tiefbegründeten reli
giösen Überzeugung u n d Opferbereitschaft, welche
die' Geschwister Nigg ihr ganzes Leben bewahrten.
Sicher galten die altledigen Geschwister a u f d e m
abseits gelegenen Meierhof bei vielen als Sonder
linge, zumal sie sich ständig gegen die Gemeinde-
vorstehung auflehnten. Jedenfalls führte eine offen
sichtlich vorhandene Respektlosigkeit gegenüber
den Geschwistern Nigg dazu, dass von einigen
Triesnern vermehr t u n d widerrechtlich z u r Som
merszeit das Wegrecht übe r die Meierhofwiesen in
Anspruch genommen wurde .
Als mehrere Beschwerden bei de r Gemeinde-
vorstehung erfolglos blieben, begannen die verär
gerten Geschwister Nigg mit dem Bau d e r Mauer,
denn ihr sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfin
den u n d der aufgestaute Zorn verunmöglichten in
ihnen das Bestreben, eine einvernehmliche Lö
sung zu suchen. Diese Handlungsweise d e r Nigg-
Geschwister entstammte a b e r keinesfalls einem
jugendlichen Übermut, denn Gregor, d e r älteste,
w a r zu diesem Zeitpunkt bereits 45 Jah re alt. Die
verbotenerweise erstellte Mauer brachte den
Grossteil der Triesner Bevölkerung gegen die Fa
milie Nigg auf, w a s den Streit schliesslich eskalie
r e n liess.
Der bewaffnete Widerstand führte die Geschwi
ster Nigg in eine ausweglose Situation. Nach der
Haftentlassung machte ihnen die Konsequenz ihres
Handelns sicherlich zu schaffen, denn ein Verbleib
in Triesen w a r für sie k a u m noch möglich, mussten
sie doch Spott oder sogar Repressalien befürchten.
Die Auswanderung blieb für die vier Geschwister
Nigg wohl die einzige Möglichkeit eines Neuanfan
ges. Durch diesen Schritt konnten sie zudem der
Enge des bäuerlichen Lebens in Liechtenstein ent
r innen.
Wie Theodor Nigg wollten sie fortan ihr Leben
für Gott einsetzen. Sie wähl ten wohl bewusst einen
sehr strengen Orden, denn so unnachgiebig sie in
d e r Auseinandersetzung mi t de r Gemeinde Triesen
waren, so konsequent wollten sie n u n ihr weiteres
Leben führen.
Der schwarze Kontinent eröffnete den Geschwi
s tern Nigg Möglichkeiten, die sie zuhause nicht ge
funden hätten. Anerkennung, die ihnen in Triesen
verwehrt blieb, wurde ihnen in Afrika zuteil. Im
Pioniergeist de r aufstrebenden Missionsgemein
schaften konnten sie ihre Fähigkeiten voll ent
wickeln. Nicht zuletzt ih re r Beharrlichkeit wegen
u n d ihres Mutes, sich Problemen in den Weg zu
stellen, haben sich die Geschwister Nigg in Afrika
bewährt .
110) Die Missionsstation Reichenau liegt in Natal, westlich von Pie-
termaritzburg (Südafrika). Sie wurde von den Trappisten, unter
denen sich auch etliche Schweizer befanden, nach dem bündneri-
schen Reichenau benannt .
111) Mariatal liegt bei Ixopo, Bezirk Natal (Südafrika).
112) Bis vor wenigen Jahren wurden in den Pfarreien des Fürsten
tums Liechtenstein noch Volksmissionen abgehalten.
1 0 3
I
Anhang
DIE VORGESCHICHTE ZUM NIGG-STREIT
FRANZ NIGG AN DIE REGIERUNG,
5. FEBRUAR 1878
Hohe fürstliche Regierung
Wie bekannt, wurde in den 1860er Jah ren der neue
Strassenzug von der Talsohle über Maschlina und Mat-
schils a n den Triesnerberg gebaut. Da wurde auch von
der fürstlichen Regierung de r Gemeinde Triesen die
Erstellung einer Verbindungsstrasse über Matschiis be
fohlen.
Hierentgegen bestimmte der damalige Gemeinderat die
Verbindungsstrasse für Triesen und Balzers übe r Masch
lina und der Vorsteher Josef Bargetzi selig beauftragte die
MeierhofbewohnerU dieselben sollen diese Strasse her
stellen, m a n werde denselben die Arbeiten vergüten. Und
wir arbeiteten von Zeit zu Zeit daran, und wir wurden für
die erstere Arbeit vom Gemeindekassier richtig bezahlt.
Im Sommer 1874 wurden wir neuerdings von dem
Werkmeister Gidi Hoch im Auftrag des Vorstehers Johann
Bargetzi aufgefordert noch a n dieser Strasse zu arbeiten,
was dann auch geschah. Im Herbst genannten Jahres leg
ten wir beiliegende Rechnung, bekamen abe r zur Ant
wort, der Gemeinderat habe beschlossen uns für letztere
Arbeit nichts m e h r zu vergüten, weil wir diese Strasse a m
meisten benützen; dagegen abe r w a r der Triesner Ge-
meinderat nie so gut zu beschliessen, dass wir die Wege
welche wir in Triesen nie betreten, nicht auch müssen
helfen erstellen u n d verbessern.
; In Folge dieser Erklärung vom Gemeinderät arbeiteten
wir nicht meh r a n dieser Strasse und dachten zuerst für
die geleistete Arbeit bezahlt zu werden. Wir wendeten
uns an den stehenden Gemeinderat, welcher aber auch
der gleichen Ansicht ist, wie de r vorige. Daher sehen wir
uns gezwungen a n die fürstliche Regierung die untertä
nige Bitte zu stellen, dieselbe wolle gütigst bewirken, dass
diese Sache in Ordnung gebracht wird. Wie auch dafür zu
sorgen, dass diese Strasse verbessert wird, weil seither
nichts mehr da ran gearbeitet worden ist, u n d dieselbe
teilweise in sehr schlechtem Zustand ist.
Triesen den 5. Februar 1878
Franz Nigg113
VORSTEHER ERNI AN DIE REGIERUNG,
10. FEBRUAR 1878
Hohe fürstliche Regierung
Die der Beschwerdeschrift vom 5. des Monats beigeleg
te Rechnung von Franz Nigg wurde vom hiesigen Gemein
derat laut Sitzung vom 9. Februar zurückgewiesen, weil
schon die damalige Gemeindevertretung während dessen
Wirkungsperiode diese Arbeiten ausgeführt wurden, die
se Forderung nicht anerkannte und weil Forderungen
über Gemeindewerkarbeiten, denen die Bestätigung des
dirigierenden Werkmeisters abgeht, nicht so leicht
berücksichtigt werden können.
Auch erscheint diese Rechnung nicht ganz correct, da
diese mit der Beschwerdefügung nicht im Einklang steht.
Der Beschwerdeführer bekennt sich in seiner Einsen
dung, dass die diesbezüglichen Arbeiten bis zum Jahre
1874 vom Gemeindekassier richtig bezahlt wurden, und
regt vom Domino 1874 an, wä ren diese geleisteten Arbei
ten nicht m e h r berücksichtigt worden. Nun aber lautet
doch die beigelegte fragliche Rechnung für die Jahre 1872
und 1873.
Franz Nigg hätte uns, nach Verlangen des Gemeindera
tes, eine im Einverständnis mit dem damaligen Werkmei
ster Gidi Hoch angefertigte und vom Letzteren mitgefer
tigte Rechnung hier einzureichen, von seiner diesbezüg
lichen Forderung überzeugt Berücksichtigung finden
sollen.
Im Auftrage des Gemeinderates
Triesen a m 10. Februar 1878
Wendelin Erni Vorsteher114
DIE BRÜDER NIGG AN DIE REGIERUNG,
10. FEBRUAR 1879
Hohe Fürstliche Regierung
Vor acht Tagen haben wir den Ortsvorstand in Triesen
ersucht die Verbindungsstrasse von der Landstrasse in
die Bergstrasse und zugleich zu unseren Häusern a n den
schlechten Stellen mit Schotter zu verbessern, denn diese
Strasse wurde letztes Jahr, mit Holz und Stein führen un
gemein ruiniert, so dass m a n mit einem geladenen Wa
gen, wenn es einige Zeit geregnet hatte, beinahe versun
ken ist.
Dessen ungeachtet sind wir mit unserm Ansuchen, die
se Strasse zu verbessern, vom Gemeinderat abgewiesen
worden. Daher sahen wir u n s genötigt, in dieser Angele
genheit uns a n die hohe fürstliche Regierung zu wenden.
Denn wir wissen, dass dieselbe sich dieser Sache anneh
m e n werde. Wie bekannt wurden jetzt in Triesen Strassen
verbessert, welche tausende von Gulden kosten.
Nun verlangen die Triesner nicht noch gesetzlich von
uns, dass wir denselben die Strassen verbessern, und
den Boden dazu auslösen helfen müssen. Es lässt sich
daher die Frage stellen, ob wi r nicht auch von den Tries-
nern gesetzlich verlangen können, dass dieselben uns
helfen müssen, die Strasse zu unseren Häusern zu ver
bessern, da doch die meisten Triesner Bürger diese
Strasse auch viel benützen müssen. Schliesslich stellen
1 0 4
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
wir a n die hohe fürstliche Regierung die untertänigste
Bitte, hoch dieselbe wolle sich diese Sache überzeugen
und hierauf gütigst bewirken, dass diese Arbeit bald aus
geführt werde.
Triesen, den 10. Februar 1879
Franz Nigg
Johann Nigg
Florian Nigg115
VORSTEHER BARGETZI AN DIE REGIERUNG,
16. FEBRUAR 1879
Hohe fürstliche Regierung
Die Beschwerde des Franz Nigg wegen de r Verbin
dungsstrasse vom 12. des Monats wird von Seite der Ge
meindevertretung Anstalt getroffen und zwar dieselbe a m
15. dieses Monats durch seine Gemeinderatsmitglieder
besichtigt!,] aber von denselben nicht in einem so
schlechten Zustand befunden, wie sie Nigg vorschreibt!;]
etwas Kleinigkeiten werden zwar fehlen aber unbedeu
tend. Der Gemeinderat spricht sich daher in dieser Ange
legenheit aus, dass für dieses Frühjahr die Gemeinde
schon von dem sehr stark mit Gemeindewald u n d Rüfen-
bau in Anspruch genommen ist, somit wird dem Nigg sein
Gesuch abgelehnt.
Triesen, den 16. Februar 1879
Wolfgang Bargetzi Vorsteher116
FLORIAN NIGG AN DIE REGIERUNG,
26, JUNI 1881
Hochlöbliche Regierung
Da der Herr Landrichter a m siebten März dieses Jahres
wegen einem ausgegrabenen Nussbaum im Unterforst in
der Grenze von dem Gemeindebesitz und unserer Wiese
als Augenschein a n Ort und Stelle sich eingefunden hat,
und derselbe nach Untersuchung, den Förster von Trie
sen nach seiner Erklärung, dass e r den Baum als stehend
einigemal beaugenscheinigt habe, aufgefordert habe, als
beeideter Mann zu sprechen!,] wieviel das Holz das der
Gemeinde zugehörte im Wert steht, und derselbe keinen
Bescheid darüber erteilte, so haben wir schliesslich als
Vergütung 2 fl angetragen, w a s eventuell vom Herrn
Landrichter nicht zurückgewiesen werde, und haben so
mit noch Forderung der Gemeinde Triesen von 3 fl durch
Gregor Frommelt von Balzers Polizei die oben vorgemerk
ten 2 fl der Gemeinde anhin bezahlt, ich richte dahe r die
untertänigste Bitte a n die löbliche Regierung übe r diese
Sache genau Einsicht zu nehmen und hernach die noch
fehlende Partei in Kenntnis zu setzen.
Noch habe ich folgende Klage über den Ortsvorsteher
von Triesen zu erheben. Nach Angabe einiger Gemein
deräte beim gerichtlichen Augenschein übe r die Einfrie
dungsmauer im Unterforst jeder Mann welcher uns zur
Sommerzeit laufe oder fahre über unsere Wiese beim
Ortsvorstand als strafmässig einzuklagen, u n d wir somit
dieser Angabe beigekommen sind, nämlich dass wir den
Josef Eberle von Triesen etwa vor vierzehn Tagen zum er
stenmal eingeklagt haben übe r eine solche Übertretung
des Polizeigesetzes uns abe r etwa vor acht Tagen der
nämliche Übertreter über die nämliche Tat zum zweiten-
male beim Ortsvorstand gleichfalls eingeklagt haben, und
abe r bis jetzt von Ihm die Strafe noch nicht bezahlt wor
den ist, und ich somit fürchte, dass der Ortsvorstand über
unsere Klagen gar nicht einmal Notiz zu nehmen pflegt,
so wende ich mich ernstvoll a n die löbliche Regierung u m
de r Hilfe zu erlangen mein Recht geltend zu machen.
Ich habe dahe r die Bitte a n die hochlöbliche Regierung,
de r beeidete Ortsvorstand von Triesen an seine schwere
Pflicht zu erinnern, und aber auch zurechtzuweisen.
Meierhof den 26. Juni 1881
Es unterzeichnet hochachtungsvoll
Florian Nigg117
BUSSE AN DIE GEBRÜDER NIGG,
10. FEBRUAR 1882
An die hohe fürstliche Regierung in Vaduz
Das fürstliche Appellationsgericht ha t mit Erkenntnis
vom W w. M. Nr. 4848 sowie 25 w. M. Nr. 15 die Brüder
Nigg zum Meierhofe, Triesen zu einer Disziplinarstrafe
zugunsten des landschaftlichen Armenfond u n d zwar Jo
h a n n Nigg und den Franz Nigg zu je 4 fl den Florian Nigg
zu 8 fl verurteilt. Sie verweigern die Bezahlung, wovon die
hohe Regierung zur weiteren Amtshandlung mit dem
Ersuchen uns verständigen wird, wegen Verhängung der
suppletorischen Arreststrafe die eventuelle Uneinbring
lichkeit der Beträge gefälligst nachher bekanntzugeben.
Vaduz a m 10. Februar 1882118
113} LLA RE 1878/150.
114) LLA RE 1878/181 ad 150.
115) LLA RE 1879/193.
116) LLA RE 1879/233 ad 193.
117) LLA RE 1881/973.
118) LLA 1882/214.
1 0 5
DER STRAFPROZESS VERHAFTUNGSBESCHLUSS,
16. MÄRZ 1882
ABRISSVERFUGUNG DER MAUER,
13. MÄRZ 1882
Die hohe fürstliche Regierung
Beiliegende Protokolle wurden zur genügenden Kennt
nisnahme gegen Rückschluss mit der weiteren Verständi
gung übersendet, dass den Geschwistern Nigg und der
Ortsvorstehung Triesen unter seinem instruiert (?) wurde,
Mittwoch a m 15. März Vormittag 8 Uhr habe unter Assi
stenz des Herrn Gerichtsdieners Ospelt die executionswei-
se Abtragung der n u n erstellten Mauer a m Unterforstwal
de beim Meierhofe Triesen zu erfolgen, dass den Geschwi
stern Nigg unter seinem die schriftliche Belehrung zu Teil
wird, die Zusammenrottung mehre r Personen u m die Ob
rigkeit mit Gewalt Widerstand zu leisten, sei das Verbre
chen des Aufstandes dessen sie sich schuldig machen
würden, wenn sie in ihrer heutigen drohenden Haltung
gegenüber den unter gerichtlicher Assistenz a n der Ab
tragung der Mauer arbeitenden Triesner Bürgern sich zei
gen würden.
Vaduz a m 13. März 18821 1 9
VERHAFTUNG DER GESCHWISTER NIGG,
15. MÄRZ 1882
Die hohe fürstliche Regierung Vaduz
Die bedauerliche mit Waffengewalt unternommene Re
sistenz der Geschwister Nigg zum Meierhof Triesen bei
der gerichtlichen Vollstreckung exellatorisch bestätigten
Exekutionsbescheides vom 26. November 1881 Nr. 3469
punkto Abtragung der Mauer vom Unterforstwalde Trie
sen ist der f. Regierung eigene Anschauung bekannt.
Unter geschehener Relation des Gerichtsdieners ha t
das f. Landgericht den Haftbefehl vorläufig gegen die Brü
der Florian und Johann Nigg u n d deren Schwester Maria
wegen Verbrechens des Aufstandes nach § 68 StGB erlas
sen und stellt a n die f. Regierung die Bitte u m die Be
schaffung der notwendigen Assistenz der mit der Verhaf
tung betrauten Gerichtsdiener Ospelt welcher sich bei
Herr Landesverweser stellen wird.
Vaduz a m 15. März 1882120
Nachdem sich laut diensteidlicher Angabe des Landwei-
bels Frommelt die Gebrüder Florian, Franz, Johann Nigg
und deren Schwester Maria 13. März d. J. mit Schusswaf
fen und Heugabeln versehen im Unterforstwalde Triesen
postiert haben und zwar zu r ausgesprochenen Abwehr
gegen die Triesner Bürger, welche ca. 20 an der Zahl die
a m Unterforstwalde von den Geschwistern Nigg neu auf
gestellte Einfriedungsmauer executionsweise abzutragen
an Ort und Stelle versammelt waren - zu welcher Abtra
gung sie gemäss gerichtlich bestätigtem Executionsbe-
scheide vom 26. Nov. 1881 Z 3469 berechtigt sind. Nach
dem die Geschwister Nigg gegenüber dem zur Aufrechter
haltung der Ruhe von der f. Regierung Abgeordneten zum
Schutze der Triesner Arbeiter anwesenden Hr. Landwei
bel Frommelt laut erklärten, jeden niederzumachen, de r
es wage die Mauer anzugreifen;
Nachdem die Bemühungen des Landweibels Frommelt
jenen vom Widerstande abzubringen fruchtlos blieben,
die drei Brüder Nigg sich sogar gewalttätig a n dem Poli
zeimann vergriffen, als er einem von ihnen das Gewehr
abnahm, - ihn zu Boden würgten u. das Gewehr wieder
entrissen. - Maria Nigg nach Angaben des Ortsvorstandes
von Triesen sich mit einem Revolver gegen den dem
Landweibel zu Hilfe kommen wollenden Wegmeister
Marok von Triesen wendete;
Nachdem die Geschwister Nigg auf ihren bedrohlichen
Widerstande verharrten auch der f. Landrichter mit dem
Gerichtskanzlisten sofort a n Ort und Stelle sich begab,
insbesondere Florian Nigg seine Brüder gegen den Befehl
des Richters ihre Stellung zu verlassen aufforderte, zu
bleiben, wo sie seien; n u r Franz Nigg sich vom Landwei
bel Frommelt die in Händen haltende Heugabel abneh
m e n liess. Alle aber in ihrer Stellung u. au f ihrem Wohn
sitze laut verharrten;
Nachdem alle genannten Geschwister Nigg, dann F.
Nigg, Sohn des Vetters Johann Nigg u. N. Ritsch, Sohn der
Maria Ritsch - alle beim Meierhofe, dann eine sichere
Magdalena Knobel von Triesenberg mit ihrem Sohn Franz
aus ihrer Stellung auch a m Nächmittag des 13. d. M.
durch die Landweibel Frommelt und Beck nicht zu ver
treiben waren, laut Bericht des Letzteren vielmehr Flori
a n und Johann Nigg erklärten, dass sie Gewalt gegen Ge
walt brauchen werden. Nachdem den Triesnern Arbei
tern während der Zeit des Mittagessens alles Werkzeug
von Ort und Stelle verschleppt und versteckt wurde; nach
dem die Geschwister Nigg sich in die gleiche bedrohliche,
bewaffnete Stellung a m Mittwoch den 15. März d. J. Mor
gens versetzten, obwohl u. trotz dessen, dass ihnen noch
a m 14. gleichen Monates gerichtliche schriftliche Beleh
1 0 6
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
rung über ihr folgenschweres Benehmen u. die Verwar
nung für den folgenden Executionstag zu Theil wurde;
Nachdem laut Bericht des Gerichtsdieners Seger vom
15. d. M. die Geschwister Nigg u n d Genossen a n diesem
Tag in ihrer gewaltsamen Widersetzlichkeit gegen die als
Executionsorgane abgesandten Gerichtsdiener verharr
ten, das Erscheinen des f. Herrn Landesverweser selbst
an Ort und Stelle u n d dessen Abmahnung fruchtlos war,
deshalb der Vollzug der Exekution vereitelt wurde;
Nachdem weiter a m Nachmittag des 15. d. M. gegen
den zur Verhaftung der Renitenten abgesendeten Ge
richtsdiener Ospelt laut dessen vorläufigem mündlichen
Berichte bei der Einlieferung des Franz Nigg, jene Steine
geschleudert haben u. Franz Nigg gegen den assistieren
den Landweibel Näscher die zu Gerichts handen, liegende
geladene bekapselte Doppelpistole mit gespannten Hah
nen richtetet;] - -
- nachdem im Grunde aller dieser Erhebungen die ge
nannten Geschwister und ihre Genossen des Verbrechens
des Aufstandes nach Paragraph 68 StG für rechtlich be
schuldigt zu halten sind - so sind die selben nach Para
graph 2 der Strafprozessnovelle vom 15. September 1881
wegen der Schwere der ihnen drohenden Strafe, zur Ver
meidung der Verabredung und Flucht in Haft zu setzen.
Fürstlich liecht. Landgericht
Vaduz, a m 16. März 1882121
DR. SCHLEGELS VERSETZUNGSANTRAG,
26, APRIL 1882
Hohes fürstlich liechtensteinisches Appellationsgericht
Aus dem beiliegenden gerichtsärztlichen Berichte des
Herrn Landesphysikus Dr. Schlegel geht hervor, dass die
Maria Nigg an einer ausgesprochenen Krankheit nicht lei
det, dass aber ihr Befinden in ihrer von jeder Gesellschaft
und jedem Ausgang abgeschlossenen Gefangenhaltung
entsprechend schlechtes ist.
Nachdem dieser Zustand in de r daigen nicht wohl ab
zuändernden Gefangeneneinrichtung selbst liegt, so geru
he das hohe Appellationsgericht auf diesen Bericht zur
geeigneten Erkenntnis zu nehmen, indem ich die Trans-
verierung einer Inquisitin mit nicht ausgesprochener
Krankheit in das Krankenhaus einer vom Sitze des Ge
richtes entfernten Gemeinde (Vaduz ha t keine Kranken
anstalt) ohne früheren Auftrag de r hohen Vorgesetzten
nicht verordnen.
Fürstlich liechtensteinisches Landgericht
Vaduz, a m 26. April 1882122
ABLEHNUNG DER NIGG-BESCHWERDEN,
1. MAI 1882
Nachdem das wider die Geschwister Nigg in Triesen un
te rm 16. März 1882 erlassene landgerichtliche Verhaf-
tungsbeschluss über ihre Beschwerde mit obergerichtli
cher Erledigung vom 28. März 1882 bestätigt worden ist,
so wird rückfolgende Beschwerde der Geschwister Nigg
als unzulässig zurückgewiesen. Hiervon wird das f. Land
gericht über seinen Bericht vom 19. April mit dem Auftra
ge verständigt die beiliegende Beschwerde den Beschwer
deführern mi t obiger Weisung zurückzustellen.
Vom fürstlich Liechtensteinischen Appellationsgerichte
Wien a m 1. Mai 1882123
URTEILVERSTÄNDIGUNG AN DIE REGIERUNG,
5. JULI 1882
Hohe fürstliche Regierung Vaduz
Dieselbe wi rd hiermit verständigt, dass nach den a m 3.
und 4. Juli des Jahres hieramts gepflogenen Schlussver
fahrens und zu folge rechtskräftigen Urteil zu vollziehen
sind folgende Strafen;
1. An den Geschwistern Florian, Johann, Franz und
Maria Nigg zum Meierhof Triesen: Kerker in der Dauer
von zwei Jahren; Milderung für Florian auf 8 Monate, für
Johann und Franz au f 6 Monate für Maria Nigg auf 3 Mo
nate wird beim hochlöblichen Appellationsgericht bean
tragt. Strafantritt erfolgte a m 3. Juli.
Vaduz a m 5. Juli 1882124
APPELLATIONSGERICHTSENTSCHEID,
14. AUGUST 1882
Geschehen beim f. 1. Landgericht Vaduz
a m 14. August 1882
Aus dem Arreste vorgeführt wird den Brüdern Florian,
Franz und Johann Nigg vom Meierhof in Triesen der Be-
schluss der f. 1. Appellationsgericht'es vom 8. August 1882
119) LLA RE 1882/446.
120) LLA RE 1882/457 ad 446. Landgericht a n Regierung
(Schreiben vom 13. März 1882).
121) LLA S 1882/16/44.
122) LLA S 1882/31/72.
123) LLA S 1882/32/73.
124) LLA 1882/1072 ad 446.
1 0 7
kundgemacht worauf die Strafe des schweren Kerkers für
Florian Nigg auf 7 Monate für Franz und Johann Nigg auf
5 Monate und für Maria Nigg auf 6 Wochen festgesetzt
wird.
Über Ablesen gefertigt
Franz Nigg
Florian Nigg
Johann Nigg
Der aus dem Schaaner Armenhaus vorgeführten Maria
Nigg wird obiger Entscheid heute Abend xk 6 Uhr ebenfalls
kundgemacht - u n d wird dieselbe, da ihre Strafe von 6
Wochen Kerker eben heute beendigt ist au f freien Fuss
gesetzt.
Über Ablesen gefertigt
Maria Nigg125
GNADENGESUCH AN DEN FÜRSTEN,
18. SEPTEMBER 1882'
Seine Durchlaucht haben einen von Andreas Hertner in
Jenins in Graubünden im Interesse der vom f. Landge
richt als Kriminalgerichte in Vaduz unterm 3. Juli des
Jahres wegen Verbrechen des Aufstandes verurteilten Ge
schwister Florian, Johann, Franz und Maria Nigg bei sei
ne r Durchlaucht direkt eingebrachte Gnadengesuche vom
30. Juli des Jahres und einer weiteren von Kreszenzia
Nigg als Mutter u n d Maria Nigg als Schwester zu Gunsten
des Florian und Johann Nigg eingebrachten Gesuche vom
23. August des Jahres u m Nachsicht der Kerkerstrafe kei
n e Folge zu geben, sondern es lediglich bei dem Urteile
;des f. Appellationsgerichtes vom 8. August des Jahres
Nr. 7301/19 zu belassen befunden.
Hiervon wird das fürstliche Landgericht zu r weiteren
Verständigung des Einschreitens in Kenntnis gesetzt.
Am fürstlich Liechtensteinischen Appellationsgerichte
Wien, a m 18. September 1882126
DER ZIVILPROZESS
REKURS DER GEMEINDE TRIESEN,
27. JUNI 1882
Durch das anliegende Dekret des fürstlichen Landgerich
tes in Wien ditto 26. Mth. Nr. 3270 /: resp. Information
ditto h. d. Mth. Nr. 2139 :/ womit in der Rechtssache der
Geschwister Nigg wider die Gemeinde Triesen punkto
Servitutseinschränkung das Urteil des Fürstlichen Land
gerichtes vom 10. Februar 1882 Nr. 547 über die Kläger
eingebrachte Appellation aufgehoben u n d das fürstliche
Landgericht angewiesen wurde, sofort den abgeführten
Sachverständigen Beweis dahin zu ergänzen:
dass die Sachverständigen darüber befragt werden, ob
und in welcher Weise - etwa durch Vermehrung der von
den Klägern beantragten Maueröffnungen, die gegen die
Erstellung de r Mauer a n der Grenze des klägerischen
Grundstückes erhobene Bedenken beseitigt werden könn
ten, und nach dieser Ergänzung mit einer unerklärlichen
Urteilsschöpfung vorzugehen, hält sich die Gemeinde
Triesen vollends besichert und erlaubt sich daher dage
gen a n den hohen obersten Gerichtshof zu überweisen
diesen Rekurs.
Rekurs
Nach dem Klagebegehren und nach dem in Rechtskraft
erwachsenen Beweisteile w a r lediglich de r von den Klä
gern angebotene von der geklagten Gemeinde und dem
Gerichte zugelassene und von den Klägern auch angetre
tenen Beweis darüber zu führen:
Dass zur Herabbringung der Waldprodukte zur Rück
fahrt, zum Eintritt mit denselben a n der Triesner Unter
forstwaldung Natur und Zweck entsprechend und ohne
Nachteil für die Gemeinde Triesen öffentlich abfallendes
Holz des Unterforstwaldes u n d sohin die Fallen r, s, o u n d
p des Planes B bei entsprechender Breite derselben das
heisst beim Bestand von 6 Fuss breiten Lücken in der dor
tigen Mauer genügt.
Von den Klägern wurden im ganzen Laufe der Ver
handlung nie und nirgends das Begehren gestellt, j a nicht
einmal in de r Appellationsverhandlung angedeutet, dass
die Gemeinde Triesen schuldig sei, eine Mauer mit so wei
ten Lücken zu dulden als Sachverständige mit der Ausü
bung der Servitut vereinbarlich finden, welches Begehren
übrigens schon wegen seiner Unbestimmtheit und Allge
meinheit unzulässig gewesen wäre, und wogegen sich da
he r die Gemeinde bei der Verhandlung auch entschieden
gewehrt hätte, und dies u m so mehr als nach § 484 und
472 des BGB eine Einschränkung einer Servitut auf dass
. . . . Die Gemeinde Triesen erlaubt sich deshalb an den ho
1 0 8
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
hen obersten Gerichtshof in Ehrfurcht die Bitte zu stellen,
hochselbe wolle das rekurrierte Dekret aufheben und
dem fürstlichen Appellationsgerichtes auftragen auf
Grund der vorliegenden Prozessakten in der Sache selbst
zu entscheiden u n d die Gegner z u m Ersätze de r Kosten
anzuweisen ...
Bludenz, a m 27. Juni 1882
Bikl, i.V. Bargetze Vorsteher in Triesen127
GERICHTLICHER BUSSENTSCHEID,
23. AUGUST 1882
Das fürstlich liechtensteinische Appellationsgericht in
Wien, ha t in der Rechtssache de r Geschwister Anna Ma
ria Nigg, Johann Nigg und Katharina Nigg, letztere vertre
ten durch ihren Curator Florian Nigg sämtlich durch Dr.
Johann Bergmeister in Feldkirch contra die Gemeinde
Triesen unter Vertretung der des Gemeindevorstandes
durch Dr. Bikl in Bludenz pünkto Servitutseinschränkung
das Urteil des fürstlichen Landgerichtes Vaduz vom
10. Februar 1882 Nr. 547 über die von den Klägern ein
gebrachte Appellation und die unterm 25. Juli letzten Jah
res ergangene oberstgerichtliche Rekurserledigung voll
inhaltlich zu bestätigen und die Appellationswerber in
den Ersatz der Kosten des Appellationsverfahrens und
das wider das Dekret des fürstlichen Appellationsgerich
tes vom 26. Mai-1882 Nr. 3270 ergriffenen Rekurses in
dem zusammen au f 18 fl 08 k r bestimmten Betrages a n
die, geklagte Gemeinde und zwar binnen 14 Tagen bei
Exekutionsvermeidung zu verurteilen befunden.
Hievon werden die Herrn Vertreter der Streitteile zufol
ge1 Dekretes des hochlöblichen fürstlich liechtensteini
schen Appellationsgerichtes vom 8. des Monats Z. 3270 de
pr: 22. des Monats u n d zwar Herr Advokat Dr. Bergmeister
unter Aufschluss der Urteilsbegründung verständigt.
Fürstlich liechtensteinisches Landgericht
Vaduz, a m 23. August 1882128
ENTSCHEID DES OBERSTEN GERICHTSHOFES,
23. AUGUST 1882
An Herrn Advokat Dr. Bikl in Bludenz
Das K. K. Oberlandesgericht für Tirol und Vorarlberg
ha t in der Rechtssache der Geschwister Nigg in Triesen
durch Dr. Bergmeister in Feldkirch und die Gemeinde
Triesen unter Vertretung des Ortsvorstandes durch Dr.
Bikl in Bludenz punkto Einschränkung einer Servitut,
über Rekurs der geklagten Gemeinde wider das Dekret
des fürstlich liechtensteinischen Appellationsgerichtes in
Wien vom 26. Mai 1882 / Nr. 3270 / 3 womit das Urtheil
des fürstlich liechtensteinischen Landgerichtes Vaduz
vom 18. Februar 1882 Z. 547 behoben und Ergänzungen
angeordnet wurden. Nach Einsicht der Akten, in Erwä
gung, dass die Kläger in ihrem Klagebegehren ausdrück
lich u m das Urteil auch darüber bitten:
«Die geklagte Gemeinde sei schuldig zu gestatten, dass
die klägerischen Geschwister an der Ostgrenze ihrer die
nenden Grundstücke eine Mauer derar t erstellen, dass in
derselben Lücken in der Weite von 10" und 6 ' a n den Stel
len r. s. o. und k. des Planes B. belassen u n d zur Zeit der
Übung der Servitut offen gehalten werden.»
Welches übrigens ganz präzise Begehren von den Klä
gern wider geändert wurde noch auch mit Rücksicht auf
die Bestimmung des § 21 a. G. 0 . geändert werden konn
te, in Erwägung, dass die von der zweiten Instanz verfüg
te Ergänzung des Sachverständigen Beweise auf eine Er
weiterung des Klagebegehrens insofern hinstrebt durch
einen Sachbefund festgestellt werden soll, ob nicht durch
eine Vermehrung der von den Klägern beantragten Mau
eröffnungen a n der Grenze ihres Grundstückes die erho
benen Bedenken beseitigt werden können.
In Erwägung jedoch, dass diese Verfügung der zweiten
Instanz unzulässig ist, weil die Kläger rücksichtlich dieses
Umstandes wider ein Eventualbegehren, gestellt haben
noch auch einen Beweis angeboten haben und der Richter
sohin nicht befugt ist, der Kartei einen Beweis aufzulegen
§ 106 a. G. 0 . d e m Rekurse stattzugeben, das Dekret der
zweiten Instanz aufzuheben, und dieselben zu beauftra
gen befunden, die Entscheidung in der Hauptsache zu er
lassen und hiebei auch au f die Kosten des Rekurses in ge
eigneter Weise Bedacht zu nehmen.
Hiervon werden die Herrn Vertreter der Streitteile zu
folge Auftrages des hochlöblichen Appellationsgerichtes
a m 22. des Monats verständigt.
Fürstlich liechtensteinisches Landgericht
Vaduz, a m 23. August 18821 2 9
125) LLA S 1882/69/174.
126) LLA S 1882/71/202.
127) LLA GAT 1822, Bd. 8/12/20.
128) Ebenda.
129) Ebenda.
1 0 9
BRIEFE
BRIEF VON THEODOR NIGG,
29. DEZEMBER 1879
Wir fanden in Gubuluwayo englische Kaufleute, welche
sich unser annahmen und uns dem König sehr empfah
len. Von einem deutschen Kaufmann, Herrn Griet, der
nächstes Frühjahr wegziehen will, kaufte P. Superior ein
schönes Haus mit Stallung und Garten. Da das Haus noch
besetzt ist, so wohnen wir einstweilen in der Stallung, in
einem mit Pflöcken abgesperrtem Raum, der uns zugleich
als Kapelle, Wohn- und Speisezimmer dient, während
unmittelbar daneben noch Pferde, Schafe u n d Hühner
wohnen.
Wir haben dem König seinen Wagen repariert; e r ver
sprach, uns dafür ein Stück Land zu geben; w a n n e r das
tun wird, weiss ich nicht. Er ist langsam, abe r zuverläs
sig, gutmütig und kaltblütig. Meldet m a n ihm, dass ein
Schwarzer etwas gestohlen habe, so sagt er: «Warum
habt ihr ihn nicht totgeschossen? Alle, die stehlen, sind
Wölfe, und Wölfe schiesst m a n tot!» - Die Leute hier leben
sehr einfach. Amabele, eine Art Korn und Hirse ist ihre
Hauptnahrung. Ihre Kleidung beschränkt sich auf das
Allernotdürftigste.
Eines Tages k a m der König au f Besuch und sah meine
Nähmaschine. Als ich damit zu nähen anfing, w a r e r über
dieses Kunstwerk höchlich erstaunt. Er sagte jedoch
nichts und ging. Als aber a m Morgen Br. Hedeley in sei
hen Wagenschuppen kam, u m a n seinem Wagen zu arbei
ten, erschien de r König sofort und verlangte den kurzen,
dicken Mann mit der Maschine zu sehen. Was w a r zu
:!tun?
Wir schleppten die Maschine in sein Haus, das eine
Viertelstunde weit weg war. Der König sass in seinem
grossen Stuhl und erwartete uns mit Ungeduld. Als ich
fragte, was ich ihm nähen sollte, verlangte e r drei Pulver
säcke. Obwohl e r eben den europäischen Kaufleuten Au
dienz zu erteilen begonnen hatte, musste sofort genäht
werden. Ich schnitt ein p a a r Stück Linnen zurecht und
setzte die Maschine in Bewegung. Der König'fing unwill
kürlich mit seinen Füssen zu treten an, als wolle er selber
nähen. Kaum w a r die erste Naht fertig, so wollte er sie se
hen. «Oh wie schön!» rief er, «und wie schnell!»
Alsbald rief e r die angesehenste seiner Frauen herbei,
u m das Kunstwerk mitanzusehen. Sie kauerte vor die Ma
schine hin und lachte aus vollem Halse, solange ich a m
Nähen war. Der König konnte sich vor Erstaunen immer
noch nicht fassen. «Welch wunderbare Werke bringen
doch die Engländer zustande», sagte er, «und doch müs
sen sie sterben wie wir!»
Als ich fertig war, wurden wir mit Braten und Bier
traktiert. Das Bier wird aus Kaffernkorn bereitet und
schmeckt säuerlich; es ist ziemlich dick und nahrhaft .
Sonderbar ist 's bei diesem Volk; sobald m a n etwas Auffal
lendes tut, w a s sie noch nie gesehen haben, so heisst es
gleich: das ist ein Hexenmeister, ein Zauberer, oder wie
das in der Zulusprache heisst, ein «Omtagati». Die a rmen
Leute stecken voller Aberglauben und wissen sehr wenig
von Gott.
Viele halten den König für einen Gott und glauben, dass
e r über Wetter und Regen verfüge. Sie rufen ihn deshalb,
wenn sie a n ihm vorüberkommen, mit verschiedenen
Titeln an, wie «Grosser, starker König! König über Berge
und Täler! Menschenfresser! Stärkster aller Ochsen!»
u.s.w. Der König ha t 32 Frauen, will abe r ihre Zahl auf
fünfzig bringen.
Die Leute sind gelehrig und arbeiten ziemlich gern. Für
eine Wolldecke, die etwa 10 Mark kostet, arbeitet ein
Mann drei Monate, für ein Gewehr ein Jahr. Manche"er-
leichtern sich aber die Sache, arbeiten erst eine Weile,
rauben sich d a n n etwas u n d machen sich damit aus dem
Staub. So hatten sich zwei Jungen auf ein Jah r verdingt,
jeder für ein Gewehr; schon nach drei Wochen stahlen sie
dem Br. Hedeley seine Flinte und zwei Wolldecken - und
fort waren sie.
Geld kennen die Leute nicht; aller Kauf und Verkauf
wird mit Warenaustausch abgemacht. Für eine alte Flinte
bekommt m a n eine Kuh mit ihrem Kalb, für vier Woll
decken einen guten Ochsen, für eine Leinendecke ein
Schaf, für eine halbe Elle Leinwand zwei bis drei Hühner.
Bald wird ein grosses Fest - der sogenannte grosse Tanz
- sein, wobei der König viele Ochsen schlachten und unter
seine Leute verteilen lässt. Zum Tanz wird nicht musi
ziert, sondern n u r gesungen. Alle singen und tanzen zu
gleich, fest im Takt, nach einem bestimmten Lied. Platz
brauchen sie nicht viel, weil jeder auf demselben Platz
auf- und niederhüpft und n u r mit den Armen verschiede
ne Bewegungen macht.
Die Täler des Matabelenlandes sind schön und frucht
bar, die Anhöhen dagegen kahl und dürr. Eine Stunde von
Gubuluwayo haben sich zwei protestantische Missionäre
prächtiges Land gekauft, worauf sie alle Sorten europäi
scher Getreide und Früchte ziehen. Auch die Kartoffeln
gedeihen sehr gut, und der Weinstock trägt jährlich zwei
mal Trauben. Wir haben augenblicklich Regenzeit und
häufig Gewitter. Die Hitze ist untertags oft sehr drückend,
die Nächte jedoch sind immer kühl und angenehm. Die
Häuser der Matabelen sind einstöckig, mit langem Gras
bedeckt.
Gott sei Dank!, sind wir alle wohl, de r Br. de Veylder
abgerechnet, der mit P. Terörde nach Kimberley zurück
gereist ist. P. Cronenberghs ist fleissig a m Zeichnen; selbst
die protestantischen Missionare Hessen ihn kommen, u m
1 1 0
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
ihre Häuser abzumalen. Anfangs waren uns diese Herren
etwas ungünstig gesinnt, aber jetzt sind sie uns recht
freundlich und schicken uns Gemüse aus ihrem Garten.
Letzten Montag k a m eine Hottentottenfrau zu uns, u m
uns ein glückliches Neujahr zu wünschen. Sie klagte mir
bitterlich in der Sprache der Schwarzen, dass niemand
sich u m die Hottentotten kümmere; sie hätten keine Leh
re r de r Religion u n d doch wollten sie auch zu Jesus in den
Himmel, nicht z u m Teufel in die Hölle. Ich tröstete die
Frau, so gut ich konnte, und sagte ihr: «Nächstes J a h r
werdet ihr einen Lehrer bekommen, wir müssen zuerst
die Sprache lernen!»
Gestern Mittag wurden wir mi t dem einen Wagen des
Königs fertig. P. Cronenberghs u n d ich haben ihn schön
angestrichen. Seine Majestät w a r ganz voller Freude.
Jetzt haben wir noch zwei andere Wagen zu reparieren
und dann werden wir wohl unser Stück Land erhalten!130
FRANZ PFANNER SETZT SICH FÜR MARIA NIGG EIN
G. s. J. u. M! Mariastern 22. 5. 1883
Ehrwürdige Frau Oberin Pia!
Wahrscheinlich ist Antwort au f dieses Briefchen über
flüssig. Am 4. 6. komme ich wahrscheinlich zu Rev. Fa-
ther Volk German church, Union Str. 47 White chapel
London. Bei ihm logiere ich.
Etwas Wichtigeres. Ich weiss Ihnen eine prächtige Ar
beitsschwester, abe r sie ist schon 40 Jahre alt. Doch ma
chen Sie eine Ausnahme in Afrika kann m a n schon Aus
nahmen dieser Art machen. Sie kann melken Garten-
Feldarbeiten, ausgezeichnet, stark, charakterfest^'
3 Brüder von i h r sind bei uns Trappisten u n d reisen
nächsten Juli zu uns nach Natal in Afrika. Ihr 4. Bruder
ist Jesuitenbruder i n Afrika a m Zambesi. Die ganze Fami
lie h a t Ordensgeist.
Im Falle sie sich entschliesst, kann sie mit Ihnen reisen
oder schliesst sich a m 4. Juni abends unseren Brüdern in
München a n und kommt mit diesen nach London. In die
sem Fall telegrafiert sie selbst nach London u m einen
Platz II. Klasse. Ich betrachte die Sache für abgemacht
dass sie a m 8. Juni mitfährt. Warum nicht?
Sie ist fertig, wollte soeben in ein anderes Haus eintre
ten. Ich höre sie seien es bloss 5, nehmen Sie wenigstens
noch eine feste Arbeitsschwester mi t nebst Jungfrau Nigg.
Eine gute Bauerstochter richtet m e h r aus als 4 Lehrerin
nen, die das Arbeiten nicht gelernt haben.
Verfügen Sie übe r mich stets; ich habe j a bloss zwei
Klöster zu dirigieren und bin j a noch jung erst 59 bald.
Der Papst ha t viel meh r zu tun und ist 10 Jahre älter.
Also!
G. s. J. Chr. Ih r fr. Franz
Herr Kaplan J. 0. Hunold in Balzers, Lichtenstein ist der
Agent für Jungfrau Nigg und wird sich mit Ihnen in Kor
respondenz setzen. Vielleicht findet sie Zeit mit Ihnen di
rekt zu reisen. Doch sie ist gut aufbewahrt, wenn sie über
München reist.
Derselbe131
Mariastern 23. 5. 1883
Meine liebe Schwester Oberin!
Ein Missverständnis. Was de r Br. Zacharias tut in die
sem Geschäft, ist gültig; e r ist der alleinige Agent, ich mi
sche mich nicht in diese Geschäfte ein, eben dass keine
Konfusion entsteht. Gestern schrieb ich Ihnen wegen
Jungfrau Nigg.
Sie scheinen also Professen nach Afrika nehmen zu
wollen. Ich kenne Ihre Regel nicht. Warum nehmen Sie
denn keine Arbeitsschwestern mit? Wenn der Bischof
zahlt, so müssen Sie allerdings n u r so viele nehmen oder
bringen, als e r sagt. Da Sie selbst Zahlmeisterin und
Hausmutter u n d Finanzminister sein m ü s s e m s o rathe ich
Ihnen 2 Arbeitsschwestern, Jungfrau Nigg gibt aber eine
gute; und wenn sie nicht brauchbar wäre (was ich nicht
glaube), so ha t sie ein p a a r Tausend Vermögen, kann also
au f Ihre Kosten zurückreisen oder sie bleibt bei Ihnen als
Magd. Mägde sind dort ga r nicht zu finden, ums theure
Geld nicht, ausser faule. Ihre Brüder sind alle ausgezeich
net, soll dann gerade sie eigensinnig sein? Also nie ist et
w a s riskiert.
Ich rekrutiere stolz das Haus mit Postulanten, und es
geht. Man muss bloss behutsam sein. Sie können sie aller
dings erst gut prüfen lassen in Menzingen, doch in diesem
Fall mit Jungfrau Nigg wäre es gut; sie gleich mit zuneh
men, weil sie abe r von Natal Ihnen nicht nachreisen kann
nach Umtata u n d der Bischof nicht Begleitung extra mit
geben kann oder will, für sie allein.
Schliesslich:
Ich garantiere für sie, dass es gut geht; ich will den
Schaden tragen. Man muss etwas wagen. Wie P. Franz;
w e r nichts wagt, gewinnt nichts.
Gott zum Gruss,
Ihr P. Franz.132
130) «Katholische Missionen», Jahrgang 1880.
131) Archiv des Instituts in Menzingen, VI, 2. 1. 10.
132) Ebenda.
1 1 1
AUS BRIEFEN AN FRAU MUTTER SALESIA
STRICKLER133
London, 7. 6. 1883
... Indessen geht es doch recht gemütlich zu, d a alle ihren
guten Humor behalten haben, die köstlichste Person ist
unsere Jungfer Nigg, welch komische Einfälle sie hat!
Heute ist sie gut zweg, gestern hatte sie Heimweh. Die
Brüder der Jungf. Nigg sind auch a n Bord, sie ha t grosse
Freude, sie zu treffen. ...
Umtata, 17. Aug. 1883
... Noch habe ich Ihnen nicht gesagt, dass wir vom Kloster
in King Williams-Town eine Kandidatin erwarten. Sie
erträgt das dortige Klima nicht. Die Priorin rühmt sie
sehr. Sie ist n u r für die Arbeit und ha t daher auf die Farm
zu gehen. Dürften wir sie dann ins Noviziat nehmen mit
Marie? ...
Sr. Pia Diem1
Unterschrift: Ihre Kinder
An Bord der Arab (Juni 1883)
... 17. Juni. Wieder kein Gottesdienst. Die Schiffsmann
schaft feiert "den Sonntag auf englische Weise ... Wir ha
ben uns sehr erbaut a n dieser Andacht, die wir von ferne,
d. h. vom Verdeck h e r belauschten. Unsere Marie ist auch
gegangen, mit den anderen deutschen Passagieren ...
Sr. Philothea
Umtata 20. 8. 1883
... Sr. Wendelina kocht, flickt Wäsche für Mme Hampson
u n d spaltet Holz, Sr. Konrada bügelt bereits die ganze Wo
che, Marie lernt flicken und hilft in der Küche. Dann soll
ten alle Englisch lernen, aber das geht entsetzlich schwer,
da sie nicht recht wollen.
Kein Platz mehr für eine Unterschrift
Umtata, 11. Okt. 1883
... Unser Garten ist schon bepflanzt, Marie u n d Sr. Wen
delina haben fleissig darin geschafft, es ha t jede ihre Seite
u n d Methode, sie rivalisieren, wollen sehen, w a s wir ern
ten. ... Sr. Konrada und Marie gehen in die Kleinkinder
schule, u m Englisch zu lernen u n d können schon auf 100
zählen ...
Sr. Philothea
Umtata, 31. 10. 1883
... ich zweifle, ob m a n Sr. Wendelina, die ich jetzt mit
Marie auf die Fa rm schicke, als Oberschwester dort las
sen kann ...
Sr. Pia Diem
1 1 2
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
NACHRUFE
FLORIAN NIGG135, 1914
Am Ziel
Bruder Kornelius dar f den besten Mariannhiller Brü
dern beigerechnet werden. Körpermass und Kraft waren
n u r mittelmässig, hingegen erreichte seine Seele einen
m e h r als gewöhnlichen Grad des Tugendstrebens. Sein
äusseres Leben verlief wie das de r meisten Handwerker,
doch sein Inneres stand auf hoher Stufe, wie jahrelanger
Verkehr des Sehr, bezeugen kann.
Der junge Nigg t ra t wenige Jahre nach Gründung des
Trappistenklosters in Mariannhill ein. Er beteiligte sich
a n d e n ersten Notbauten u n d wohl auch a m Aufbau der
neuen Kirche. Nach Ablegung de r hl. Professe benötigten
mehrere Stationen seine Dienste, insbesondere Lourdes
und die dortige Missionskirche, eine seiner grösseren
Arbeiten. Auch Mariathal und Oetting bedurften seiner
Hilfe. Im Juli 1896 ging es z u m Mühlenbau a m Polela.
Dort stellte Br. Kornelius zunächst das Turbinenhaus a m
Wasserfall her; dann das grössere Mühlengebäude dicht
a m Umpopmo.
1898-1901 mühte sich der erfahrene Maurermeister
a m Bau der Reichenauer Missionskirche aus Blau- und
Basaltsteinen bis zum Turm, den e r bis über den Dachfirst
aufführte. Nach Vollendung dieser bedeutenden Arbeit
übernahm unser zäh-ausdauernder Maurer die Herstel
lung von soliden Dippingtanks in Reichenau, Citeaux und
Cläirvaux etc. Der Impendhle Mission diente Br. Kornelius
längere Zeit, begann den Bau der dortigen Steinkirche
und einer Strassenanlage auf den steilen Berg daselbst.
1912/13 beteiligte sich Br. Kornelius stark a m Aufbau des
umfangreichen Schwestern-Sanatoriums bei Mariathal-
Ixopo. Daselbst zog sich der alternde längst bruchlei
dende Bruder ernste Verkältung zu infolge eines Hagel
wetters. Auch bildete sich ein Gewächs im Unterleib. Eine
erfolgreiche Operation schien ausgeschlossen. So waren
dem geschwächten Kranken schmerzvolle Leidenswo
chen beschieden in Mariathal.
Zwei Ärzte konnten ihm wenig helfen und die treue
Pflege der Mitbrüder n u r die Leiden des langsam Sterben
den in etwa lindern. Der geduldige Kreuzträger verschied
nach Empfang aller hl. Sakramente auf dem Schmerzens-
lager in der Mitte des Herz Jesumonates, der i h m so viele
Jahre hindurch besonders lieb u n d treu gewesen.
Zufällig konnte ich mit den Bewohnern der Station Ma
riathal und sehr vielen Schwarzen a n der Beerdigung von
Br. Kornelius teilnehmen. Nun ruh t der Dulder bereits 37
Jahre aus von seinen Mühen. Als Ordensmann w a r Bru
der Kornelius sehr pünktlich und gewissenhaft. Trotz der
schweren Arbeit erstaunlich müssig bei Tisch und genüg
s a m in allem. Er zeigte sich im Verkehr auch als guter
Denker und konnte infolge seiner Belesenheit auch
schwierige Fragen trefflich lösen.
Tief religiös veranlagt lebte der strebsame Bruder aus
dem nüchternen Glauben u n d wirkte sein Heil in Frucht
und Treue. Bei längerem Zusammenleben u n d -arbeiten
konnte ich vieles von seinem Innren erfahren und darf sa
gen, dass Br. Kornelius ein heiligmässiges Leben der Ar
beit und Busse in Gebet u n d Tugendfleiss geführt hat .
Möge ihm de r volle Lohn des guten und getreuen Die
ners für alle Ewigkeit beschieden sein!136
THEODOR NIGG, 1892
On August 10 t h of last year just a decade had passed
since Br. Nigg w e n t to his res t a t Keilands. The name of
this good little lay-brother by this time must be quite fa-
miliar to readers of this journal; among all the members
of the Zambesi Mission it is a household word. No öne
endeared himself more to all than did this genial little
soul, his cheerfulness was proverbial and could be im-
paired neither by difficulties, disappointments no r per
sonal suffering.
Br. Nigg went up into the interior with the first party of
our missionaries in 1879 a n d he remained for several
years in Zambesia. He was always most useful to our
Fathers as there was scarcely anything to which he could
no t pu t his hand; moreover h e was a very hardworking
m a n and a thoroughly good religious. He was terribly
handicapped by chronic dysentry, the result of that pain-
ful experience a t Moemba which has already been de-
tailed in these pages, but it could not rob him of his
energy and light-heartedness. After being recalled from
the Zambesi h e lived for a time a t Dunbrody and then
wen t to Keilands, where he passed the last two years of
his life. Here h e soon won the affection, not only of the
Fathers, but of the natives, who were always eager to
work with h im and enjoyed listening to his merry flow of
talk in the Sindebele tongue.
Before he left Holland for South Africa Br. Nigg had gi-
ven to him a little statue of our Lady of Good Counsel, and
he was very much attached to it. In Holland he had built
for a similar statue a chapel, which h a d become regulär
133) Salesia Strickler w a r zu diesem Zeitpunkt Generaloberin der
Menzinger Schwestern.
134) Archiv des Instituts in Menzingen, VI, 2. 1. 10.
135) Cornelius w a r der Klostername von Florian Nigg.
136) Archiv der Missionare CCM, Mariannhill, Brüderverzeichnis
Nr. 95, S. 222 f.
1 1 3
place of pilgrimage, and his great ambition a n d steadfast
resolution was to erect a shrine for our Lady in South Af-
rica. While up in Zambesia h e never got courting disaster
to try and spread the light of the Gospel. Material pro-
gress, civilisation, the opening up of distant counties by
steam locomotion is, no doubt, important; bu t where m e n
are harzing everything for merly worldly advantages, it
were surley unbecomming of the Catholic Church not fol-
low, a t least if they cannot lead the way. I would fain hope
that our readers will try and help us to give actuality to
the little of this article and enable us to move Northward,
Ho!
R. Sykes, S. J.,
Bulawayo, Rodesia.137
137) Zambesi Mission Record, Vol. II, J anuar 1902, S. 20 f.
1 1 4
GOTTESFÜRCHTIGE REBELLEN AUS LIECHTENSTEIN
ALBERT EBERLE
QUELLENVERZEICHNIS
UNGEDRUCKTE QUELLEN
Archiv der Mariannhiller-
Missionare CMM,
Mariannhill (Südafrika)
Archiv der Mariannhiller-
Missionare CMM, Riedegg
Archiv der Missionsschwe
stern vom Kostbaren Blut
CPS, Mariannhill (Südafri
ka)
Archiv des Instituts Men
zingen, Menzingen
Archiv der Schweizer
Jesuiten SJ, Zürich
Generalatsarchiv de r
Mariannhiller-Missionare
CMM, Rom
GAT Gemeindearchiv
Triesen
LLA Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz
GEDRUCKTE QUELLEN
P. Dietmar Seubert:
«Die fünf Nigg», Manu
skript, Rom, 8. Juni 1983
«Familia», Vol. IV,
Mariannhill, August 1914,
Nr. 8
«Katholische Missionen»,
Jahrgang 1880
«Katholische Missionen»,
Jahrgang 1899
Liechtensteiner Volksblatt,
18. Juli 1914, Nr. 29
Zambesi Mission Record,
Vol. II, Januar 1902
Zambesi Mission Record,
Vol. VI, April 1919, Nr. 89
MÜNDLICHE QUELLEN
Interviews des Verfassers
mit Personen, deren Eltern
oder Grosseltern die Ge
schwister Nigg kannten:
Elisabeth Beck-Kindle,
Triesen
Albert Eberle selig, Triesen
Konstantin Erne selig,
Triesen
LITERATUR
VERZEICHNIS
Balling, Adalbert Ludwig:
Der Trommler Gottes.
Franz Pfanner, Ordens
gründer und Rebell. Frei
burg im Breisgau, 1981.
Balling, Adalbert Ludwig:
Gott liebt die Fröhlichen,
Heiteres und Hintergrün
diges. Freiburg (Schweiz),
1994.
Balling, Adalbert Ludwig:
Gute Menschen sterben
nicht. Mariannhiller Por
träts. Würzburg, 1989.
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Pfanner und die Menzinger
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geschichte der Transkei.
Umtata, 1984.
Eberle, Albert: Die Ge
schwister Nigg vom Meier
hof. In: Gemeindeblatt
Triesen, 1985, Nr. 76,
22-24.
Ospelt, Alois: Die
geschichtliche Entwicklung
des Gerichtswesens in
Liechtenstein. In: Liech
tenstein Politische Schrif
ten, Band 8. Vaduz, 1981,
S. 217-245.
Seger, Otto: Überblick über
die liechtensteinische
Geschichte. 3. Auflage.
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Gemeinde-Vorgesetzte etc.
von Triesen 1406-1950.
Triesen, 1977.
Tschugmell, Fridolin:
Priester und Ordensleute
aus Triesen 1485 ff.
Triesen, 1974.
Tschugmell, Fridolin:
Trisner-Geschlechter,
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Tschugmell, Fridolin:
Stammbäume der Triesner
Geschlechter 1550-1970.
Triesen, 1973.
Vogt, Paul: Brücken zur
Vergangenheit, Ein Text-
u n d Arbeitsbuch zur
liechtensteinischen Ge
schichte. Vaduz, 1990.
1 1 5
BILDNACHWEIS
S. 83: Karte angefertigt
aufgrund einer Skizze von
Klaus Biedermann
S. 87 oben: LLA
S. 87 unten: Louis Jäger,
Schaanwald
S. 89, 93, 95, 97, 98, 99
oben, 100 und 102: Archiv
der Mariannhiller Missio
nare, Würzburg
S. 91 und 101 oben: Gene
ralkurie der Mariannhiller
Missionare, Rom
S. 99 unten: Klosterarchiv
Mariannhill, Südafrika
S. 101 unten: Albert
Eberle
ANSCHRIFT DES AUTORS
Albert Eberle
Kirchstrasse 13
FL-9490 Vaduz
1 1 6
DR. MED. FRANZ
XAVER GASSNER
1721/22 BIS 1751
RUDOLF RHEINBERGER
DR. MED. FRANZ XAVER GASSNER 1721/22 BIS 1751
RUDOLF RHEINBERGER
Das Lebensschicksal Dr. Franz Xaver Gassners war
bisher weitgehend unbekannt. Man wusste, dass er
durch 14 Jahre das Kriss'sche Stipendium bezog,
dass er in Innsbruck Medizin studierte, dort zum
Doktor der Medizin promovierte, und als «ein
Mann von vortrefflichen Gaben zu Philippsburg»
im Jahre 1751 starb. Diese Tatsachen konnte man
den Akten des Kriss'schen Stipendiums entnehmen
und wurden von Johann Baptist Büchel im Jahre
1902 in seiner «Geschichte der Pfarrei Triesen»
veröffentlicht. 1 In seiner Veröffentlichung «Trisner
Geschlechter» im Jahre 1958 vertrat dann der ver-
diente Familienforscher Fridolin Tschugmell die
Ansicht, dass es sich bei «Philippsburg», wo Franz
Xaver Gassner starb, um eine Stadt dieses Namens
in Nordamerika 2 handeln müsse. Welche Anhalts-
punkte er für diese in seiner Arbeit «Trisner Ge-
schlechter» geäusserte Meinung hatte, ist mir nicht
bekannt. Hätte Tschugmell recht gehabt, so wäre
Gassner der früheste bekannte liechtensteinische
Auswanderer nach Nordamerika gewesen.
Meine eigenen Nachforschungen haben nun zu-
sätzliche Informationen ergeben, welche das Le-
bensbild unseres Landsmannes zu ergänzen, und
irrige Vorstellungen zu korrigieren vermögen. Ich
will das allzu kurze Leben Gassners im folgenden
mit Einbezug der neu eruierten Fakten schildern.
Das Geschlecht der Gassner ist seit 1515 in Trie-
sen nachweisbar und zählt zu den ältesten noch le-
benden Triesner Geschlechtern. Eine Linie mit dem
Stammvater Christian Gassner lässt sich ab 1618
bis ins 19. Jahrhundert herauf verfolgen.3 Dieser
Linie gehört auch unser Franz Xaver Gassner an.
Er wurde um 1721/22 4 in Triesen als Sohn einer
wohlhabenden Familie geboren. Seine Eltern wa-
ren Martin Gassner und Katharina, geb. Rig. Sein
im Jahre 1718 geborener Bruder Johann Georg
war Landesfähnrich und Wirt in Triesen. Auch der
Vater wird im Jahre 1740 als Wirt erwähnt . 5
Franz Xaver absolvierte das Gymnasialstudium
in den Jahren 1735 bis 1737 am Feldkircher Lyze-
um. 6 Vom Beginn seines Studiums in Feldkirch an
bezog er durch 14 Jahre das Kriss'sche Stipendi-
um, das er allerdings zeitweise mit anderen teilen
musste. Zuletzt hatte er es noch im Jahre 1744.' Es
ist nicht bekannt, wo Gassner das auf das eigent-
liche Fachstudium vorbereitende «Philosophicum»
absolvierte, aber man darf annehmen, dass dies an
der Philosophischen Fakultät der Universität Inns-
bruck geschah, denn aus dem Protokoll des Valen-
tin von Kriss'schen Stipendiums8 wissen wir, dass
er anschliessend an der Medizinischen Fakultät der
Universität Innsbruck studierte und dort im Jahre
1744 zum Doctor medicinae promovierte.9 Er war
der erste Liechtensteiner Arzt, der an einer Univer-
sität das Doktorat der Medizin erwarb.
Nach einer zweijährigen Zeit der praktischen
Ausbildung bewarb sich Dr. Franz Xaver Gassner
um eine Stelle als Militärarzt bei der österreichi-
schen Truppe. 1 0 In der Reichsfestung Philippsburg
bei Karlsruhe suchte man zu dieser Zeit dringend
einen Garnisonsarzt und so kam Dr. Franz Xaver
Gassner dorthin. Philippsburg lag an einem alten
Rheinarm und bildete einen oft umkämpften
Brückenkopf, der einmal in französischer, dann
wieder in deutscher Hand war. Die Festung war
seit 1745 wieder von k.k. österreichischen Truppen
besetzt und stand unter dem Kommando des Gene-
rals Freiherr von Hagen. Die ganze Festung war
von ausgedehnten Sümpfen und morastigem
Gelände umgeben und daher war auch das Klima
1) Joh. Bapt. Büchel: «Geschichte der Pfarrei Triesen», in: JBL 2
(1902).
2) Es gibt in den Vereinigten Staaten mehrere Städte mit dem
Namen Philippsburg.
3) Fridolin Tschugmell: «Trisner Geschlechter 1237-1958» in: JBL 58
(1958), S. 17.
4) Das genaue Geburtsjahr ist nicht bekannt.
5) Fridolin Tschugmell: «Trisner Geschlechter» in: JBL 58. S. 17.
6) Anton Ludewig. «Die am Feldkircher Lyceum im 17. u. 18. Jh.
studierende Jugend» , Innsbruck 1932.
7) Joh. Bapt. Büchel, «Geschichte der Pfarrei Triesen» JBL 2.
S. 97-104.
8) 1.LA.
9) Die Matrikel d. Med. Fakultät Innsbruck aus der ersten Hälfte des
18. Jh. sind laut Mitteilung des Universi tätsarchivs verschollen.
10) Für die Angaben aus dem österr. Kriegsarchiv danke ich dem
Direktor des Archivs, Hr. Hofrat Dr. Rainer Egger, Wien.
119
Historische Ansichten
der Stadt Philippsburg am
Rhein
120
DR. MED. FRANZ XAVER GASSNER 1721/22 BIS 1751
RUDOLF RHEINBERGER
sehr ungesund.1 1 Dazu kam, dass im «k. k. Tyroler
Regiment» eine Seuche ausbrach, welche allein
vom September 1746 bis Juni 1747, also in der kur-
zen Zeit von 9 Monaten, die hohe Zahl von 271
Todesopfern forderte. Über die Art der Seuche ist
nichts bekannt, doch muss es sich um eine hoch-
infektiöse Krankheit, wie zum Beispiel Typhus
gehandelt haben. Eine Folge davon war auch, dass
es eine Menge von Deserteuren gab, welche dieser
Krankheit zu entrinnen suchten. Diese wurden
zum Teil standrechtlich hingerichtet.1 2 Die Festung,
deren Erbauung auf den Beginn des 17. Jahrhun-
derts zurückreicht, muss sich zu dieser Zeit in
einem sehr vernachlässigten Zustand befunden ha-
ben, denn zerfallene Wälle, Bastionen, Brücken
und Kasernen konnten wegen Mangel an Geld
nicht repariert werden. 1 3
In diese Situation hinein wurde am 3. Juni 1747
auf Vorschlag des Leibarztes Elias Engel Dr. Franz
Xaver Gassner zum Garnisonsarzt der Reichsfe-
stung Philippsburg ernannt. Dies zunächst auf die
Dauer eines Jahres mit 500 Gulden Besoldung. Da
sich dann nach Jahresfrist seine weitere Anwesen-
heit in der Festung als unbedingt notwendig er-
wies, billigte Kaiserin Maria Theresia am 10. Juli
1748 den Vorschlag des Hofkriegsrates, Dr. Franz
Xaver Gassner bei gleichbleibender Besoldung von
jährlich 500 Gulden auf Dauer anzustellen.1 4
Schon im Herbst des Jahres 1747 meldete Gene-
ral von Hagen, dass Gassner erkrankt sei und sich
zur Luftveränderung vorübergehend aufs Land be-
geben müsse. Über die Art dieser Erkrankung ist
nichts überliefert, doch scheint er sich davon bald
wieder erholt zu haben, so dass er seinen Dienst
wieder versehen konnte. Eine ernste Erkrankung
befiel ihn dann aber Ende des Jahres 1750, an der
er am 2. Januar 1751 in der Reichsfestung Philipps-
burg im Alter von knapp 30 Jahren starb. Er war
unverheiratet geblieben.1 5
Dr. Franz Xaver Gassner muss ein gebildeter
Mann gewesen sein, denn in seinem Nachlass be-
fand sich eine interessante Bibliothek. Aus dem
Verkauf der aus seinem Besitz stammenden Bücher
erwartete man einen höheren Erlös. 1 6
In dem Protokollbuch des Valentin von
Kriss'schen Stipendiums 1 7 findet sich unter «den
Früchten, welche bis dahero aus dem Krissischen
Stipendio erwachsen, oder welche solches genos-
sen» unter der Nr. 8 folgender Eintrag: «Franz Xa-
ver Gassner von Triesen, nächster Blutsfreund 1 8
des Stifters Valentin von Kriss, Doctor der Medizin,
ein Mann von grosser Furtrefflichkeit, stürbe in
praxi 1 9 unter denen österreichischen Hilfstruppen
zu Philippsburg den 2. Jan. 1751».
11) Freundl. Mitteilung von Herrn Rainer Schröder, Leiter des Fe-
stungs- und waffengeschichtlichen Museums der Stadt Philippsburg.
12) H. Nopp, Geschichte der Stadt und Reichsfestung Philippsburg,
2. Auflage im Verlag der Stadt Philippsburg 1980, S. 509/510.
13) Ebenda.
14) Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Wien.
15) Ebenda.
16) Österreichisches Staatsarchiv. Wien.
17) LLA.
18) Blutsverwandter.
19) in praxi = in der Ausübung seines Berufes.
121
BILDNACHWEIS
Stadtarchiv
Philippsburg (D)
ANSCHRIFT DES AUTORS
Fürstl. Sanitätsrat
Dr. med.
Rudolf Rheinberger
Beckagässli 2
FL-9490 Vaduz
122
EIN BLICK
AUS DEM FENSTER
SCHLOSS VADUZ AUF DEM PORTRÄT VON
FRANZ WILHELM I. VON HOHENEMS-VADUZ
(1662)
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
«Anbei übersende ich endlich die Photographien
der Ansicht von Schloss Vaduz auf dem Porträt des
Gr. F. W. von Hohenems. Der Photograph Hesse hat
die Aufnahmen schon am Tage nach Ihrem Hier-
sein gemacht, wurde dann aber telegraphisch nach
Meran abberufen .... und so hab ich die Abdrücke
erst nach wiederholtem Kopierens bekommen. 2
Exemplare habe ich, von Ihrer gütigen Erlaubnis
Gebrauch machend, hier behalten. ... Ein Versuch,
die Ansicht photographisch zu vergrössern, ist
nicht gut ausgefallen, da die Rauh(?)seiten des
Papiers der Originalphotographie sich störend be-
merkbar machten.»
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
So berichtete Hofrat Franz von Wieser (1848 bis
1923) am 18. Juni 1906 von Innsbruck an den
fürstlichen Kabinettsrat Carl von In der Maur
(1852-1913) nach Vaduz.1 Das besagte, 1906 in
Vaduz bekanntgewordene, Bild verschwand als-
bald wieder aus dem hiesigen Blickfeld. 2 Es lag
nur in einer schlechten Schwarzweissreproduktion
in einer Publikation von 1930 vor und galt bis vor
kurzem als verschollen.3 Dann tauchte es über-
raschenderweise 1993 in Hohenems wieder auf
(Abb. 1) als Exponat der Ausstellung «Die Porträt-
sammlung der Grafen von Hohenems aus dem
Städtischen Museum in Policka [Tschechien]», die
im Palast Hohenems gezeigt wurde. 4
DAS BILD
Das Bild ist Bestandteil der einst berühmten, an die
1500 Gemälde umfassenden Hohenemser Kunst-
sammlung, die im Kern ins 16. Jahrhundert zu-
rückreicht und einst von Graf Jakob Hannibal I.
(1530-1587) und seinem Sohn Graf Kaspar
(1573-1640) angelegt wurde. Ein Teil davon, dar-
unter 87 Gemälde, meist Porträts von Mitgliedern
der Familie Hohenems, wurde dann 1803 aus dem
Palast Hohenems nach Schloss Frischberg ins
böhmische Bistrau verbracht und befindet sich
heute im städtischen Museum in Policka [Tsche-
chien] in Verwahrung. 5 Ob das Bild aus Policka mit
demjenigen von 1906 identisch ist, muss derzeit
noch offen bleiben, da es einige Ungereimtheiten
gibt6 und auch die Möglichkeit einer Kopie 7 nicht
auszuschliessen ist. Für unsere Bildbetrachtung
spielt diese Frage aber keine ausschlaggebende
Rolle und wir sind froh über den aufgetauchten
Fund.
Es handelt sich um ein Ölbild in schmalem
schwarzem Rahmen im Format 192 x 105 cm. Der
1) HALV. Schlossbau, 18. Juni 1906.
2) Siehe Elisabeth Castellani Zahir: Die Wiederherstellung von
Schloss Vaduz 1904-1914. Burgendenkmalpflege zwischen Historis-
mus und Moderne. Band 1 und Band II. Vaduz. 1993 1= Castellani
1993]. Die folgenden Ausführungen sind als e rgänzender Nachtrag
zu verstehen, der aufgrund neuer Erkenntnisse notwendig wurde.
3) Castellani 1993 I, S. 43, Abb. 37 sowie S. 319, Anm. 8. - Franz
von Wieser e r w ä h n t das Bild noch 1920 in seinem Rechenschaftsbe-
richt über die Schlossrenovierung mit der Bemerkung: «Das Porträt
ist jetzt im Besitz S. D. des regierenden Fürs ten von Liechtenstein
[Johann II.].»; siehe auch Rudolf Rheinberger: Eine bisher unver-
öffentlichte Darstellung der Baugeschichte der Burg Vaduz (Rechen-
schaftsbericht Franz von Wieser 1920), in: JBL 77 (1977), S. 63.
A n m . 9 [= Wieser 1920].
4) Die Ausstellung im Palast in Hohenems dauerte vom 29. Mai bis
zum 3. Oktober 1993. Zur Ausstellung erschien ein Faltprospekt
«Die Por t rä t sammlungen der Grafen von Hohenems» mit kurzen
Angaben zur Sammlungsgeschichte [= Faltprospekt 1993]. Ausstel-
lung und Prospekt wurden von Frau Dr. Christine Spiegel betreut,
der ich für die Bereitstellung der im Artikel verwendeten Reproduk-
tionen danken möchte . Die Vermittlung ü b e r n a h m Norbert W.
Hasler, auch ihm sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen.
5) Die wechselvolle Geschichte der Hohenemser Por t rä t sammlung ist
recht gut dokumentiert, die neueste Publikation stammt von Andrea
Fischbach: «Was in dafern verbrochen» . Die Gemäldegalerie der
Grafen von Hohenems. Eine Untersuchung der Motivvielfalt anhand
von Inventaren des 17. Jahrhunderts. In: Vierteljahreszeitschrift für
Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 46. Jahrgang, Heft 3 (1994),
S. 313-327 [= Fischbach 1994]. Ergänzend zur dort aufgeführ ten
Literatur seien noch e r w ä h n t Wenzel Schaffer: Die Gemälde-Samm-
lung im Schlosse Frischberg des A. H. K. Privatgutes Bistrau in
Böhmen. Wien, 1881 [= Schaffer 1881], sowie Ilse Fingerlin: Die
Grafen von Sulz und ihr Begräbnis in Tiengen am Hochrein. Stutt-
gart, 1992, S. 42.
6) Erstens: Das quellentlich gesicherte Todesdatum von Franz
Wilhelm I. von Hohenems am 19. September 1662 stimmt nicht mit
demjenigen auf der Bildinschrift (10. Dezember 1662) überein.
Darauf machte schon Joseph Bergmann aufmerksam. (Joseph
Bergmann: Die Reichsgrafen von und zu Hohenems in Vorarlberg.
Dargestellt und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit, vom Jahre
1560 bis zu ihrem Erlöschen 1759. Mit Rücksicht auf die weiblichen
Nachkommen beider Linien von 1759-1860. Wien, 1861. S. 104
[=Bergmann 1861].) Zweitens: Auf der bei Ludwig Welti: Geschichte
der Reichsgrafschaft Hohenems und des Reichshofes Lustenau.
Innsbruck. 1930 [= Welti 1930] auf Tafel 26 abgebildeten Schwarz-
weissreproduktion (evtl. die schlechte Vaduzer Fotovorlage von
1906. von der Franz von Wieser in Innsbruck Doubletten zurückbe-
hielt) ist das Wappen nicht sichtbar und der Gesichtsausdruck ein
anderer. Drittens: Wieso konnte sich das Gemälde 1920 in Besitz des
regierenden Fürsten von Liechtenstein befinden (Wieser 1920, siehe
Anm. 3), wenn es immer Bestandteil der Hohenemser Porträtgalerie
in Bistrau war, wie die E r w ä h n u n g e n aus den Jahren 1861 (Berg-
mann 1861, S. 104) und 1881 (Schaffer 1881. S. 25 f.) sowie das
jetzige Auftauchen in Policka nahelegen? Gibt oder gab es mehrere
Bilder?
7) Bergmann 1861, S. 102, sowie der Hinweis im Faltprospekt 1993.
Auch bei dem 1993 im Palast in Hohenems ausgestellten Bild bleibt
die Frage offen, ob es mit dem 1906 in Vaduz bekanntgewordenen
Bild identisch ist oder ob es sich um eine Kopie handelt, und wel-
ches dann das Original w ä r e .
125
Abb. 1: Graf Franz Wil- Das Ölbild aus der ehema-
helm I. von Hohenems- ligen Hohenemser Gemäl-
Vaduz im Jahr 1662. degalerie, das 1993 im
Palast Hohenems in Hohe-
nems (Vorarlberg) ausge-
stellt war, befindet sich
heute im Städtischen
Museum von Policka
(Tschechien).
Künstler oder die ausführende Künstlerin ist bis-
lang unbekannt. Dargestellt ist lebensgross und als
Ganzfigur, der Betrachterin und dem Betrachter
frontal zugewandt, mit leicht nach vorne ausschrei-
tender Beinstellung, ein Edelmann in höfischer
Kleidung, der den Bildraum majestätisch ausfüllt:
Graf Franz Wilhelm I. von Hohenems (1628-1662).
Das Bild ist oben links mit dem reich gezierten Fa-
milienwappen der von Hohenems, einem goldenen
Steinbock auf blauem Grund, bezeichnet und be-
schriftet mit «FRANC: WILHELM: COMES IN ALTA
EMBS GALARA & VADVZ. DNUS IN SHELLEN-
BERG: OBIJT DIE 10 XBRIS Ao: 1662» [Franz Wil-
helm Graf in Hohenems, Gallara 8 und Vaduz, Herr
in Schellenberg, gestorben 10. Dezember des Jah-
res 1662].9 Franz Wilhelm befindet sich in einem
Innenraum mit einem Fenster im Hintergrund
rechts oben neben der Inschrift, das die perspekti-
vische Tiefe einer Architekturdarstellung eröffnet.
Es handelt sich um die Südseite von Schloss Vaduz
mit der Umfassungsmauer einer Gartenanlage.
Die kompositorischen Mittel sind gekonnt einge-
setzt. Der hohe Horizont liegt im oberen Bildviertel
auf Nasenhöhe der dargestellten Person, verbindet
Wappenkartusche, Gesicht des Grafen und das
Hauptgeschoss der Burg, reiht also die wichtigsten
inhaltlichen Bildelemente auf einer waagerechten
Linie: Herkunft, Person, Besitz. Der für Innen und
Aussen einheitliche Horizont knapp unterhalb der
Augen ist subtil gewählt, denn er erlaubt dem Gra-
fen, /2eraözublicken auf diejenigen, die das Bild be-
trachten - und sie nicht anzublicken. Er wahrt da-
mit herrschaftliche Distanz und verbietet sich jeg-
liche Familiarität. Die Bildmittelachse geht durch
die senkrechte Körpermitte des Porträtierten. Sie
ist gekennzeichnet durch die Bezeichnung «Alta
Embs» [Hohenems] in der Inschrift, sein beleuchte-
tes Gesicht und seine linke, vor der Brust ruhende
Hand. Die Vertikalität wird unterstrichen durch die
herablaufenden Schmuckstreifen seines Gewandes.
Die fast unmerkliche Körperdrehung nach links
lässt die Figur weniger starr erscheinen und er-
zeugt eine leichte, unbewusst wahrgenommene
Spannung. Ein Meisterstück ist die kompositori-
sche Verbindung von Innen und Aussen, wo in per-
126
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
spektivischer Verlängerung der Seitenkante des
Beistellmöbels im Vordergrund, markiert durch
Franz Wilhelms lässig daraufgelehnte rechte Hand,
eine dynamische Diagonale in leichter Versetzung
von links unten nach rechts oben durch die Garten-
mauer des Schlosses im Bildfenster weiterläuft und
dort einen architektonischen Tiefenraum er-
schliesst, der das Schloss Vaduz recht eigentlich
zum zweiten Bildmittelpunkt macht. Dieser Haupt-
diagonalen entspricht eine ausgleichende formale
Gegenbewegung von links oben nach rechts unten,
deren Hauptträger das breite Bandelier bildet, wel-
ches den Vornamen des Grafen «Franc» in der In-
schrift mit Wappenkartusche und Degen in einer
Richtungsdynamik verbindet, ein Verweis auf den
ritterlichen Edelmann namens Franz. Alle genann-
ten Kompositionslinien, d.h. die beiden Diagonalen
sowie die Mittelachse, kreuzen sich in der vor die
Brust gelegten linken Hand des Grafen, die damit
den zentralen Bildpunkt abgibt.
Soweit eine erste Bildannäherung. Sie gibt uns
einen Hinweis auf die doppelte Funktion des
Gemäldes als Porträt und Vedute. Ein Porträt erfüllt
mit unterschiedlicher Akzentsetzung drei Aufga-
ben: memoriale, repräsentative und exemplari-
sche. Eva Kuby: «Ein Bildnis sollte einer gemalten
Person ähnlich sein und an sie erinnern - auch
nach ihrem Tod. Rang und Status in Familie, Beruf
und Öffentlichkeit sollte ein Porträt ebenso wider-
spiegeln wie gleichzeitig die besonderen Fähigkei-
ten und Eigenschaften der Person herausstellen.» 1 0
8) Die Grafschaft Gallarate im Mailändischen wurde von den Hohen-
emsern 1578 erworben und nach dem Tode Graf Kaspars 1640 an
seinen jüngsten Sohn aus zweiter Ehe und Studiengenosse Franz
Wilhelms, Franz Leopold (1620-1642) vererbt. 1655 wurde die
Herrschaft aus wirtschaftlichen Erwägungen von Franz Wilhelms
ältestem Bruder Karl Friedrich unter Vorbehalt des Titels an die
Visconti verkauft (Welti 1930, S. 145).
9) Die Inschrift ist in leicht ve ränder te r Schreibweise abgedruckt
bei Bergmann 1861, Nr. XXVII , S. 104, und bei Schaffer 1881, Nr. 21,
S.25.
10) Eva Kuby: Porträts . Niederländische Malerei des 17. Jahrhun-
derts der SOR-Rusche-Sammlung. In: Architektur, Kunst- und
Kunstgeschichte in Nord- und Westdeutschland (AKK), 1995, Heft 1,
S. 14 [= Kuby 1995].
Abb. 2: Gräfin Eleonora
Katharina von Hohenems-
Fürstenberg (1662). Ehe-
paarpendant zu Abb. 1.
Das Ölbild aus der ehe-
maligen Hohenemser
Gemäldegalerie, das 1993
im Palast Hohenems in
Hohenems (Vorarlberg)
ausgestellt war, befindet
sich heute im Städtischen
Museum von Policka
(Tschechien).
127
Die Vedute definiert Andrea Fischbach folgender-
massen: «Bei einer Vedute handelt es sich um eine
sachlich treue Ansicht einer Stadt oder Land-
schaft» 1 1 - wir ergänzen Burg beziehungsweise
Schloss - und verweist darauf, dass die Vedute als
wichtige historische Hilfsquelle die schriftlichen
und mündlichen Überlieferungen ergänzen kann.
Wir werden das Hohenemserbild also sowohl auf
die abgebildete Architektur, das Schloss Vaduz, wie
auf die dargestellte Person, Franz Wilhelm I. von
Hohenems-Vaduz, hin differenziert befragen, denn
beide Motive stehen in einem künstlerischen, in-
haltlichen und symbolischen Zusammenhang.
Abb. 3: Südseite von
Schloss Vaduz (1662).
Ausschnitt aus Abb. 1.
BILDQUELLE FUB DIE SCHLOSS-
RESTAURIERUNG 1906
Zurück in das Jahr 1906. 1 2 Stolz wird im Protokoll
der insgesamt 6. Baukommissionssitzung seit Be-
ginn der Wiederherstellungsarbeiten, die auf dem
Schloss am 8. und 9. Juli stattfand, unter Punkt 1
vermerkt: «Die Kommission konstatiert zunächst
mit Genugtuung, dass die neu aufgefundene An-
sicht des Schlosses Vaduz von 1662 die Richtigkeit
der bisher durchgeführten Restaurierungsarbeiten
in erfreulicher Weise bestätigt. Das Obergeschoss
des Südwestbaues konnte nicht in dem Sinne die-
ser Ansicht ausgeführt werden, weil dasselbe die
Zinnenbekrönung des Kapellenbaues sowie zum
Teile auch das Auslugtürmchen verdeckt.» 1 3
(Abb. 3) Teilnehmer an dieser zweitägigen Konfe-
renz in Vaduz waren Prinz Franz von Liechtenstein
sen., der Bruder des Regierenden Fürsten Johann
II. (Wartenstein, Niederösterreich) und sein Neffe
Prinz Franz jun., Excellenz Graf Hans von Wilczek
und seine Tochter Gräfin Elisabeth Kinsky-Wilczek
(Wien), Dr. Franz Ritter von Wieser (Innsbruck),
Baumeister Alois Gstrein (Brixen) sowie Egon
Rheinberger und Landesingenieur Gabriel Hiener
(Vaduz).1 4 Der Protokolltext ist widersprüchlich und
die nachträgliche historische Rechtfertigung durch
die neue Bildquelle für die Rekonstruktionen bei
Schloss Vaduz ist unklar. Im Gegenteil, das Bild aus
dem 17. Jahrhundert widerlegt die historische
128
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
Richtigkeit der im März beschlossenen und teils be-
reits begonnenen Baumassnahmen eindeutig, die
Alois Gstrein auf einer Zeichnung vom 12. März
1906 festgehalten hatte (Abb. 6): Es handelte sich
nämlich dabei um den Verzicht auf eine turmartige
Ausgestaltung des baufälligen Saalbaues1 5, so wie
es 1905 noch vorgesehen war (Abb. 5 und 8), zu-
gunsten einer einstöckigen Lösung mit angewalm-
tem Satteldach, sowie um die Rekonstruktion von
16 Zinnen und «Auslugtürmchen» beim benach-
barten Kapellenbau. 1 6 Alte Zinnen waren am Bau-
bestand hier innen und aussen tatsächlich noch ab-
lesbar gewesen (Abb. 9 und 10) und man machte
sich eifrig an den Rückbau, der bis Mitte 1907 auch
durchgeführt wurde (Abb. 7 und 9). 1 7 Gleichzeitig
wurde der ebenfalls noch original im Mauerver-
band vorhandene innere Zinnenkranz des Saalbau-
es gegen die Hofseite - auf dem Hohenemserbild
natürlich nicht sichtbar - freigelegt und ist bis heu-
te gewahrt (Abb. 10). Auch der nach Bekanntwer-
dung der historischen Schlossansicht im Juli 1906
neu beschlossenen Gotisierung der Fenster im Ka-
pellentrakt - im Protokoll heisst es deutlich «Die
Fenster in dem Saale des Kapellenbaues sind go-
thisch auszuführen» 1 8 - spicht das grosse nachmit-
telalterliche Rundbogenfenster auf dem Gemälde
(Abb. 3) Hohn. Ein Vergleich mit dem vorhandenen
Baubestand auf der Fotografie von 1880 (Abb. 4),
wo eben dieses gerundete Renaissancefenster zu
sehen ist, bestätigt die ältere Abbildung aus dem
17. Jahrhundert. In diesem Falle widersprechen
sowohl Bildquellen wie Baubefund der reiner
Phantasie entsprungenen Detailgestaltung, die sich
lediglich auf das allgemeine Wissen gründete, dass
es diesen ältesten Burgteil schon in gotischen Zei-
ten gegeben hatte.
Gab es überhaupt etwas, das von den bis anhin
durchgeführten Baumassnahmen «in erfreulicher
Weise bestätigt» wurde? Nun, belegt werden konn-
te durch die Hohenemser Bildquelle die Richtigkeit
des schon 1905 durchgeführten Aufbaus des Berg-
frieds was Proportionen, Höhe sowie Zinnenkranz
und Zeltdachbekrönung betraf.19 Die im Gemälde
angedeutete Gartenanlage mit Umfassungsmauern
im Südbereich der Burg gab vielleicht die Anre-
gung dazu, sie in das Wiederherstellungspro-
gramm von Schloss Vaduz aufzunehmen. Der Gar-
ten wurde dann tatsächlich noch 1915/16 rekon-
struiert und besteht bis heute.2 0
Über die restliche Gestalt von Schloss Vaduz zu
Ende des 17. Jahrhunderts gibt die Bildquelle, da
sie nur die Südseite zeigt, keine Auskunft. So blei-
ben viele Fragen notgedrungen unbeantwortet, so
z.B. auch die Existenz einer Zugbrücke, um nur
eine der umstrittensten, aber 1911 dennoch durch-
geführten Rekonstruktionsmassnahmen zu nen-
nen. 2 1 Dass für Schloss Vaduz 1904 durchaus der
Anspruch auf ein wissenschaftliches, den moder-
nen denkmalpflegerischen Grundsätzen entspre-
chendes und durch historische Quellen belegbares
Wiederherstellungskonzept bestand, haben wir in
unserer Untersuchung nachweisen können, und
11) Fischbach 1994, S. 318.
12) Siehe den Stand der Umbauarbeiten für 1906 mit genauen
Quellenangaben bei: Castellani 1993 I, S. 149-162.
13) HALV, Schlossbau, Protokoll 9. Juli 1906.
14) Zu den Kommissionsmitgliedern siehe Castellani 1993 1,
S. 117-134.
15) Der Saalbau wurde wegen Baufälligkeit schon im 18. Jahrhun-
dert um sein oberstes Geschoss abgetragen und mit einem flachen
Pultdach versehen: siehe Wieser 1920, S. 72; Castellani 1993 I, S.
28-34.
16) Zum Kapellenbau siehe auch Castellani 1993 I, S. 28. Neue
Erkenntnisse zur Baugeschichte der Schlosskapelle St. Anna in
Vaduz erbrachte dann eine archäologische Notgrabung im Apr i l und
im Mai 1995 (vgl. hierzu den Jahresbericht 1995 der Archäologie
Liechtenstein).
17) Castellani 1993 I, Abb. 198.
18) Protokoll 9. Juli 1906 (siehe Anm. 12), Punkt 5. - Siehe Castellani
1993 I, Abb. 178 u. 179.
19) Zum Umbaujahr 1905 siehe Castellani 1993 I, S. 135-146.
20) Castellani 1993 I, S. 307-309.
21) Zur Brückendiskussion siehe Castellani 1993 I, S. 29 f., S. 249 f.,
257-259 sowie Abb. 32 mit der von Egon Rheinberger zeichnerisch
imaginierten Brücke.
129
Abb. 4: Südansicht von
Schloss Vaduz auf einer
Fotografie von 1880. Links
der im 18. Jahrhundert
teilweise abgetragene und
mit einem Pultdach ver-
sehene Saalbau, in der
Mitte der Kapellenbau mit
den noch ablesbaren
Zinnen und rechts das
dachlose Südrondell.
Abb. 5: Südwestseite von
Schloss Vaduz, Zeichnung
Egon Rheinberger (1905).
Ursprüngliche Rekonstruk-
tionsabsicht mit turmarti-
gem Saalbau (siehe Abb. 8).
Abb. 6: Südwestseite von
Schloss Vaduz, Zeichnung
Alois Gstrein März 1906.
Revidierte Rekonstruktion
(Ausführung) mit nieder-
em Saalbau, Auslugtürm-
chen und Zinnen auf dem
Kapellenbau.
Abb. 7: Südansicht von
Schloss Vaduz, Ausfüh-
rungsvariante von Alois
Gstrein 1907.
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
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Abb. 8: Südwestliche Hof-
seite von Schloss Vaduz,
Zeichnung Alois Gstrein
März 1905. Ursprüngliche
Rekonstruktionsabsicht
mit turmartigem Saalbau
(siehe Abb. 5) und inne-
rem Wehrgang vor Kapel-
len- und Saalbau.
Abb. 9: Südansicht
von Schloss Vaduz.
Foto um 1906.
Abb. 10: Südliche Hofseite
von Schloss Vaduz auf
einer Fotografie aus den
Umbaujahren 1906/07.
Man hat das oberste
Geschoss des Kapellen-
traktes abgetragen und die
alten Zinnen freigelegt.
131
auch, dass es nicht konsequent angewendet wurde,
sondern in der Realität oftmals Kompromisse zum
Zuge kamen. 2 2
In der Frage des Wertes historischer Abbildun-
gen als Quelle für «richtige» Rekonstruktionen gin-
gen die Meinungen weit auseinander. Vertraten die
Burgenforscher Otto Piper (1841-1921) und Bodo
Ebhardt (1865-1945) schon um die Jahrhundert-
wende die Ansicht, historische Abbildungen seien
wissenschaftliche Hilfsmittel und sollten bei Burg-
wiederherstellungen vermehrt benutzt werden 2 3,
so wies der Kunsthistoriker und «Antirestaurator»
Georg Dehio (1850-1932) anhand des Beispiels
von Heidelberg aus grundsätzlichen Überlegungen
heraus nach, dass historische Abbildungen als
Quellen für Rekonstruktionen keinen Wert hätten,
denn «es sind nämlich die ältesten der in Frage ste-
henden Zeugnisse nicht älter als das Ende des
16. Jahrhunderts2 4; durch nichts wird verbürgt,
dass diese die unveränderte erste Bauidee wieder-
geben. ... Mehr als das Allgemeinste verrraten sie
nicht. Wer danach bauen will, muss seiner Phanta-
sie einen grossen Spielraum geben.» 2 5 Diese skepti-
sche Einschränkung trifft grundsätzlich auch auf
das Hohenemser Gemälde zu, welches den Bauzu-
stand des Vaduzer Burgkomplexes in einer Zeitstel-
lung aus dem späten 17. Jahrhundert dokumentiert
und zudem nur eine Aussenfront (Südseite) zeigt.
Dehio nahm 1901 kein Blatt vor den Mund, als er
Kollegenschelte verteilte: «Den Raub der Zeit durch
Trugbilder ersetzen zu wollen, ist das Gegenteil von
historischer Pietät. Wir sollten unsere Ehre darin
suchen, die Schätze der Vergangenheit möglichst
unverkürzt der Zukunft zu Überliefern, nicht, ihnen
den Stempel irgendeiner heutigen, dem Irrtum un-
terworfenen Deutung aufzudrücken.» 2 6 Die War-
nung stiess nicht nur 1906 auf taube Ohren - auch
unsere derzeitig wieder sehr populären postmoder-
nen Rekonstruktionsfanatiker schlagen derartige
Argumente - trotz der Charta von Venedig 1964 2 7
in den Wind. 2 8
DAS ÄLTESTE PORTRÄT VON SCHLOSS
VADUZ
Mit dem Gemälde von 1662 liegt nun zwar nicht
die erste, aber die älteste realistische Abbildung
der Burg ob Vaduz vor. Die früheste derzeit be-
kannte Ansicht von Schloss Vaduz ist bereits nach-
mittelalterlich und stammt aus der Zeit um 1600,
was, wie schon Dehio bemerkte, allgemein üblich
zu sein scheint.2 9 Auf einem Prospekt der Herr-
schaften Vaduz und Schellenberg dominiert Schloss
Vaduz vom Berg herunter über die Landschaft und
bildet als grösste Einzelarchitektur den Bildmittel-
punkt. 3 0 Das Schloss ist jedoch nicht wirklichkeits-
getreu dargestellt, die vielerlei turmartigen Gebäu-
deteile stehen lediglich als Zeichen für «feste
Burg». Schloss Vaduz zeugt auf diesem minuziösen
Landschaftsinventar, das aus der Vogelschau alle
Burgen, Dörfer, Felder, Wälder und weitere Einzel-
heiten in den Herrschaften präsentiert, von seiner
wichtigen politischen Funktion als Herrschaftssitz
unter den Sulzern. Aus diesem Bild spricht das
Bedürfnis des regierenden Hauses nach repräsen-
tativer Abbildung seiner Besitzungen.
Ebenfalls aufgrund seiner politischen Bedeu-
tung, diesmal allerdings nicht mehr als Mittelpunkt
der Herrschaft, sondern als persönliches Attribut
des Herrschers selbst, findet Schloss Vaduz nun auf
dem Porträt des Grafen Franz Wilhelm I. von Ho-
henems-Vaduz (Abb. 1) seinen Platz zugewiesen.
Auf dem Hohenemser Gemälde ist die südliche
Schauseite (Abb. 3) im Sinne eines markanten und
aussagekräftigen Profils dargestellt: Zum ersten
Mal haben wir - im Unterschied zu der oben er-
wähnten zeichenhaften Darstellung von 1600 - ein
Porträt der Burg mit Realitätsgehalt vor uns: Vor
einer dramatischen Wolkenkulisse erscheinen die
von links nach rechts hochgestaffelten Gebäude-
teile hell erleuchtet und kumulieren im rot aufra-
genden Bergfried. Gerade noch erahnen lässt sich
am linken Bildrand das im Schatten liegende
Wachhaus über dem Schlosstor zum talseitigen
Westzwinger. Anschliessend erhebt sich der süd-
westliche Saalbau (Palas) mit einer stark beleuchte-
ten linken Gebäudekante über mehrere Geschosse.
132
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
Er ist in den oberen beiden Stockwerken mit reprä-
sentativen, versprossten Rundbogenfenstern verse-
hen, insgesamt vier, und wird von einer nicht über-
dachten Plattform mit Zinnenkranz abgeschlossen,
auf deren hinterem Teil sich im Schatten rechts ein
kleiner dunkler Turm erhebt. Hinter den beiden
oberen besonders grossen Fenstern unter den Zin-
nen des Saalbaues befindet sich spätestens seit Sul-
zerzeiten der repräsentative Festraum von Schloss
Vaduz, der sogenannte Schöne Saal. 3 1 Der an-
schliessende und um ein Geschoss höhergeführte
Kapellenbau zeigt keine Zinnen, sein Dachab-
schluss bleibt im Vagen. Dieser Teil ist zu Beginn
des 17. Jahrhunderts von den Hohenemsern über
dort tatsächlich vorhanden gewesenen Zinnen im
Rahmen des Burgausbaues als Garnison für Solda-
tenkammern um ein Geschoss aufgestockt worden,
war also relativ neu. Das bereits erwähnte grosse
Rundbogenfenster auf der Höhe des Schönen Saals
- es ist zu sehen auf der Fotografie von 1880 (wie
übrigens auch das rechts darüberliegende Recht-
eckfenster) - sind Zeugen des Sulzischen Umbaus
zur Renaissanceresidenz im 16. Jahrhundert. Den
Abschluss der Gebäudegruppe zum rechten
Bildrand hin bildet das Südrondell, ebenfalls aus
Sulzerzeiten, mit seinen massigen Wehrgeschossen
und der darüberliegenden dünnwandigen origina-
len Wohnetage mit vielen rechteckigen Fensteröff-
nungen. Die Rundbastion wird überhöht durch den
Bergfried, über dessen im Schatten liegenden Zin-
nenkranz ein rotes Zeltdach die Burganlage wie
eine Fürstenkrone schmückt. Im Vordergrund sind
die Umfassungsmauern einer grosszügigen Garten-
anlage zu sehen, die wahrscheinlich unter Franz
Wilhelm I. entstanden ist, vielleicht aber auch
schon von seinem Onkel Franz Maria angelegt
wurde. 3 2 Auffallend sind die roten Ziegel-Beda-
chungen von Gartenmauern, Nebengebäuden und
Bergfried. Bis auf das grobe Quaderwerk des Wehr-
niveaus vom Südrondell sind die restlichen Gebäu-
deteile nicht steinsichtig gemalt, sondern erschei-
nen in einem einheitlichen, schmutzweisslichen
Farbauftrag, was auf Verputz schliessen lässt.
Der im Gemälde dargestellte Bauzustand ent-
spricht - nach heutiger Kenntnis - der Bauge-
schichte von Schloss Vaduz, so wie es sich nach
dem Ausbau unter den Sulzern im 16. Jahrhun-
dert 3 3 und nach den Eingriffen unter Graf Kaspar
von Hohenems (1573-1640), 3 4 der 1613 Burg und
Herrschaft (Reichsgrafschaft Vaduz und Herrschaft
Schellenberg) von den Sulzern erwarb, als früh-
neuzeitliche Residenz und Garnison in vorliechten-
steiner Zeiten darstellte.3 5 Es ist ein Gemisch von
mittelalterlichen Wehrbaurelikten, von denen der
bezinnte turmartige Saalbau und der Bergfried
zeugen, frühneuzeitlichen Verteidigungsanlagen für
Artillerie wie das Südrondell und barockem Kom-
fort für das aristokratische Repräsentationsbedürf-
nis. Letzteres belegen die grossen Sprossenfenster
22) Castellani 1993 I, S. 101-116 (Forschungen, Grabungen und
Dokumentation 1904) sowie Castellani II. S. 198-205 (Die Problema-
tik der modernen Grundsätze am Beispiel von Vaduz).
23) Castellani 1993 I, S. 101. A n m . 2.
24) Auch in Vaduz datiert die älteste bekannte Bildquelle aus der
Zeit um 1600 (Castellani 1993 I. S. 318 und Abb. 375).
25) Georg Dehio: Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden?
In: Georg Dehio, Alois Riegl (Hrsg.): Konservieren, nicht restaurieren.
Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Braunschweig,Wiesba-
den, 1988, S. 39 [=Dehio 1901].
26) Dehio 1901, S. 37.
27) Die Prinzipien der modernen Denkmalpflege, wie sie die Jahr-
hundertwende unter Georg Dehio und Alois Riegl als den heraus-
ragendsten Exponenten mit dem Schlachtruf «Konservieren, nicht
res taur ie ren» intellektuell vorgedacht hatte, wurden 1964 in der
«Charta von Venedig» international sanktioniert und im Europäi-
schen Jahr für Denkmalpflege 1975 populär gemacht. Siehe Deut-
sches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Texte zum Denk-
malschutz und zur Denkmalpflege. Bonn, 1993, Dokument 8.
28) Vgl. hierzu: Deutsches Zentrum für Handwerk und Denkmal-
pflege, Propstei Johannesberg (Hrsg.): Johannesberger Texte 3.
Fulda, 1995.
29) Castellani 1993 I, S. 319, Anm. 4.
30) Kopie nach einer Federzeichnung von Hanno von Halem.
Castellani 1993 I, Abb. 375.
31) Zum Schönen Saal siehe Castellani 1993 I, S. 33 f.
32) Zur Gartenanlage siehe Castellani 1993 I, S. 46.
33) Castellani 1993 I, S. 35-42.
34) Ebenda, S. 43-46.
35) Rekonstruierter Schlossgrundriss der Residenz im 17. Jahrhun-
dert mit Gartenanlage bei: Castellani 1993 I, Abb. 38.
133
EXOHNÄNXFANI gVDQ_ PONÜEEA TANTA TVOB.VM .
L „ « KiU. T V DECVS CMNE TVTS,IIHENVM BVM PROPTER jtMCENVM
PER POPVXOS DAS IVRA, OBSERVAN'TISSIMT.S _£.gVT.
Abb. 11: Graf Kaspar von
Hohenems im Alter von
44 Jahren auf einem Stich
von Lukas Kilian, datiert
1617. Links oben der
Stammsitz Alt-Ems, links
unten der neue Palast in
Hohenems
und der Lustgarten vor der eigentlichen Burganla-
ge, bezeichnenderweise prominent im Bild Vorder-
grund inszeniert und höchst wahrscheinlich die
Baumassnahme des neuen Besitzers Franz Wil-
helm I. von Hohenems-Vaduz.
Franz Wilhelm musste die Bildidee der Kombi-
nation von eigenem Konterfei und der seines Besit-
zes nicht erfinden, sondern es nur seinem Gross-
vater nachtun. Dieser, Graf Kaspar von Hohenems,
hatte sich 1617, vier Jahre nachdem auch Schloss
Vaduz ihm gehörte, von Lukas Kilian (1537-1637)
zusammen mit seinen Stammschlössern in Kupfer
stechen lassen: Auf dem Porträtmedaillon (Abb. 11)
mit seinem Brustbild sind, neben Wappen und Gra-
fenkrone am rechten Bildrand, auf der linken Seite
oben als Felsenburg Alt-Ems und unten der durch
Kaspar fertiggestellte neue gräfliche Renaissance-
palast Hohenems dargestellt36 - letzterer war übri-
gens ehemals mit einer grosszügigen Gartenanlage
versehen gewesen 3 7 die das ideelle Vorbild für Va-
duz abgegeben haben dürfte. Auf Kaspars Porträt-
medaillon ist Schloss Vaduz noch nicht mit dabei,
bei seinem jüngeren Enkel dann rückte es selbst-
verständlich in den Mittelpunkt, da es die einzige
Burg war, die Franz Wilhelm I. nach Teilung des
Hohenemsischen Besitzes ganz allein gehörte. Eine
lateinische Inschrift am unteren Bildrand preist die
Vorzüge des Grossvaterhelden: «Glücklicher Graf,
den so viele [siegreiche] Kämpfe der Vorfahren und
so gewichtige [heilige] Tempelbezirke der deinen
ehren, Du, ihre vorzügliche Zierde, der Du Deinen
Völkern an den lieblichen Ufern des Rheines als ein
die Gerechtigkeit und Billigkeit überaus hochschät-
zender Landesherr [kräftigen] Rechtsschutz ge-
währs t .» 3 8
FRANZ WILHELM I. VON HOHENEMS-VADUZ. . .
Wer war denn nun unser Held, der Enkel Kaspars?
Franz Wilhelm (I.), des Grafen Jakob Hannibal II.
(1595-1646) und der Fürstin Franciska Katharina
von Hohenzollern-Hechingen (geb. 1598, vermählt
1620) zu Beginn des Jahres 1628 3 9 zweitgeborener
Sohn (von insgesamt fünf Kindern), war der Stifter
134
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
der jüngeren oder Vaduzer Linie des reichsgräf-
lichen Hauses von und zu Hohenems. Als Heran-
wachsender stand er - zusammen mit seinem älte-
ren Bruder Karl Friedrich (1622-1675) und sei-
nem Onkel Franz Leopold, genannt Franziskus,
(1620-1642)4 0 - unter den Fittichen seines Gross-
vaters Graf Kaspar von Hohenems. In Innsbruck
sowie in Mailand erhielt er eine sorgfältige, einem
jungen Adeligen angemessene Ausbildung. 4 1 Franz
Wilhelm war ein durchschnittlicher Schüler, erle-
digte brav, was von ihm verlangt wurde und tat
sich weder positiv noch negativ hervor. Im Jahre
1646, nach dem Tod des Vaters, erhielt er als
achtzehnjähriger Jüngling die Grafschaft Vaduz zu
eigen,42 die vorher sein kinderloser und vier Jahre
zuvor verstorbener Onkel Franz Maria (1608 bis
1642), zwölftes und letztes Kind seines Grossvaters
Kaspar aus erster Ehe, besessen hatte.43 Der Onkel
hatte noch in seinem Todesjahr am 9. Februar
1642 seine Hochzeit mit Susanna Hedwig Freiin
von Raming auf Schloss Vaduz gefeiert.4 4 Der Neffe
folgte ihm nach und feierte 1649 ebenfalls, auf
Schloss Vaduz, seiner neuen Besitzung, die eigene
prunkvolle Hochzeit mit der um einige Jahre älte-
ren Eleonora Katharina Landgräfin von Fürsten-
berg (1620-1670), mit der er am 14. Februar in
der Schlosskapelle von Stühlingen die Ehe ge-
schlossen hatte.45 Der Bräutigam war 21-jährig, die
Braut hingegen bereits 29 Jahre alt.
Franz Wilhelm I. starb schon 34-jährig am
19. September (und nicht am 10. Dezember, wie im
Bild angegeben) 1662 zu Chur und ruht in der Fa-
miliengruft zu Hohenems. Eleonora Katharina er-
reichte ein respektables Alter von 50 Jahren und
verschied am 18. Februar 1670 an den Folgen
einer schmerzhaften Wassersucht.4 6 Unter den Kin-
dern des Ehepaars heiratete der Jüngste, Franz
Wilhelm II. (1654-1691), die Prinzessin Louise Jo-
sefa von Liechtenstein (1670-1736); so wurden das
Gräfliche Haus Hohenems und das Fürstliche Flaus
Liechtenstein noch gegen Jahrhundertende ver-
schwägert . 4 7 Nach seinem Tod gebar die junge
Liechtensteinerin einen Sohn, Franz Wilhelm III.
(1692-1759); er wurde k.u.k. Generalmajor und
Festungskommandant von Graz. Mit dessen Ab-
leben im Jahre 1759 erlosch das Geschlecht der
Reichsgrafen von Hohenems im Mannesstamm.
. . . UND ELEONORA VON HOHENEMS -
VADUZ - FÜRSTENBERG
Unser Hohenemser Gemälde steht nicht alleine. Es
ist Teil eines Ehepaarporträts und hat sein Pendant
im Konterfei seiner Gemahlin Eleonora Katharina
von Hohenems-Fürstenberg (Abb. 2). Eleonora
Katharina war die Tochter des 1631 zu Wien ver-
storbenen Grafen Wladislaw I. von Fürstenberg,
Reichshofratspräsident, und seiner dritten Gemah-
lin Lavinia von Gonzaga-Novellara. 4 8 In der Ehe
von Eleonora Katharina und Franz Wilhelm wur-
36) Andreas Ulmer: Die Burgen und Edelsitze Vorarlbergs und
Liechtensteins historisch und topographisch beschrieben. Dornbirn,
1925 (Nachdruck Dornbirn. 1978), Abb. S. 225.
37) Fischbach 1994, S. 313. - Ludwig Welti: Graf Kaspar von Hohen-
ems 1573-1640. Innsbruck, 1963 [=Welti 1963], Farbtafel I (Die
Hohenemser Kulturlandschaft um 1613).
38) Welti 1963, S. 434 f. - Der Kupferstich befindet sich in der
Graphischen Sammlung von Schloss Vaduz.
39) In den meisten Biografien wi rd 1627 als Geburtsjahr angegeben.
Franz Wilhelm I. ist aber w ä h r e n d eines Hoflagers in Enisheim
(Elsass) kurz vor dem 9. Januar 1628 geboren. Welti 1963, S. 262 f.
40) Ein Kinderbildnis von Franziskus befindet sich im Liechtenstei-
ner Landesmuseum (Norbert Hasler: Kinderbildnisse der Hohen-
emser Grafen Franziskus (1620-1642) und Franz Kar l Anton
(1650-1713) aus den Sammlungen des regierenden Fürsten von
Liechtenstein im Landesmuseum, In: JBL 83 (1983), S. 215-218).
41) Welti 1963, S. 346-361.
42) Der Bruder Karl Friedrich behielt als Ältester die hohenemsi-
schen Stammlande. Nach dem Tode Franz Wilhelms I. 1662 über-
nahm der ältere Bruder Kar l Friedrich die vormundschaftliche Regie-
rung in Vaduz bis zu seinem Tode 1675 (Welti 1930, S. 121, 145).
43) Wiesor 1920, S. 64, Anm. 9. Wieser verwechselt in seinem
Bericht einen Grafen «Franz Markus» (?) mit Graf Franz Maria.
44) Welti 1963, S. 329.
45) Bergmann 1861, S. 61 f.
46) Ebenda. S. 62.
47) Welti 1930, S. 152.
48) Welti 1963, S. 264, Anm. 2.
135
den in den vier Jahren zwischen 1650 und 1654
fünf Kinder geboren, zwei Töchter und drei Söhne,
die alle das Erwachsenenalter erreichten - eine
physich erstaunliche, aber zeittypische Leistung für
adelige Frauen. 4 9 In der Ausstellung im Palast in
Hohenems wurden 1993 beide Bilder gezeigt und
hingen nebeneinander. Sie stehen als Doppelbild-
nis in der Hohenemser Ahnengalerie nicht verein-
zelt da 5 0 und werden in der älteren Literatur über
die Porträtgalerie in Bistrau auch gemeinsam er-
wähnt . 5 1
Auf dem bereits vorgestellten Gemälde steht, wie
wir gesehen haben, Franz Wilhelm L, 34-jährig, le-
bensgross vor der Betrachterin und dem Betrach-
ter. Der junge Graf ist barhäuptig, mit braunen,
natürlich herabfallenden Haaren und gekleidet in
der vornehmen, kostbaren Aufmachung der höfi-
schen Tracht des absolutistischen Zeitalters.- Der
schwarze, knielange, mit Silberborten besetzte
Rock mit bauschigen Ärmeln, das hellblaue Seiden-
hemd mit gefältelten Manschetten, der feingewirk-
te, fast durchsichtige Kragen vermitteln einen Ein-
druck von Reichtum und Wohlhabenheit. Den De-
gen links am breiten Bandeliere und in hohen, mit
weissem Leder besetzten Stulpenstiefeln steht er
vor uns - mit einem nach innen gekehrten Blick,
der allerdings nicht so recht zu der protzigen Hal-
tung passen will.
Stellen wir das zugehörige weibliche Gegenstück
daneben (Abb. 2), wird die leichte Linksdrehung
verständlicher, denn er kehrt sich seiner Gattin zu,
die, ebenfalls lebensgross und frontal stehend, sich
ihrerseits ihm in leichter Körperdrehung zuwendet
und ihrem Gatten eine Rose - Zeichen der Liebe -
zustreckt. In der Linken, mit der sie sich auf einem
Tisch leicht abstützt, hält sie einen geschlossenen
Fächer. Die Inschrift oben links verrät Identität,
gesellschaftliche Stellung und Herkunft: «ELEO-
NORA CATHARINA COMITISSA IN ALTA EMBS.
NATA COMTISSA A FÜRSTENBERG» [Eleonora
Katharina Gräfin in Hohenems. Geborene Gräfin zu
Fürstenberg]. Sie ist als etwas füllige Dame mitt-
leren Alters - sie war zu dem Zeitpunkt 42 Jahre alt
und hatte mindestens fünf Geburten hinter sich -
dargestellt, mit vollem Gesicht und - analog zu
ihrem Gatten - offenen, natürlich herabfallenden
Haaren. Gekleidet in einem kostbaren, bodenlan-
gen schwarzen Samtgewand mit weissen und ge-
schlitzten Ärmeln und offenem Halsausschnitt ent-
spricht Eleonoras vornehme Kleidung nicht nur
ihrem sozialen Stand, sondern auch auch dem
neuen Modeideal, das im letzten Drittel des
17. Jahrhunderts den Frauen erlaubte, das steife
Mieder abzulegen und ein erweitertes, von trans-
parenten Spitzenborten bedecktes, Dekollete zu
zeigen. 5 2 Der Bildaufbau auf dem Porträt Eleonora
Katharinas entspricht demjenigen ihres Gatten:
eine lebensgrosse, bildfüllende Figur, Inschrift und
Hohenemser Wappen; es fehlen Jahreszahl mit To-
desdatum (die Dame lebte ja noch, als das Bild in
Auftrag gegeben bzw. gemalt wurde) und die An-
gabe von Land- oder Immobilienbesitz, wie Schloss
Vaduz auf dem Bild ihres Mannes oder die Hohen-
emser Paläste auf dem Porträt des Grafen Kaspar
von Hohenems.
Was Eva Kuby für die holländische Malerei her-
ausfand, trifft ebenfalls auf unser Hohenemser
Doppelbildnis zu: «Besonders augenfällig sind die
Posen bei der immer wieder gleichen Rechts-Links-
Zuordnung der Ehepaarpendants. Die Ehepartner,
die den Betrachter anblicken, sind auf getrennten
Tafeln einander zugewandt dargestellt, die Frau
rechts, der Mann links. Das von links einfallende
Licht modelliert dem Herrn ein markantes, pla-
stisches Gesicht, der Ehefrau ein flaches Gesicht.
Haltung und Lichtgestaltung dienten dazu, die Zu-
sammengehörigkeit der beiden Porträtierten zu
unterstreichen. Die Lichtführung wies der Frau -
klischeehaft - die Rolle eines zurückhaltenden We-
sens zu .» 5 3 Im katholischen Adel am Hochrhein
war das nicht anders als bei den bürgerlichen Pro-
testanten Hollands. Ein Vergleich der beiden Kon-
terfeis mit anderen Bildnissen aus der Hohenemser
Porträtgalerie macht deutlich, dass sie in einer sehr
normierten Bildtradion standen, in welcher einzel-
ne Elemente wie Familienwappen und Inschrift
ständig auftauchten oder wie zum Beispiel der
Tisch am linken Bildrand, auf dem die Rechte der
dargestellten Person Halt finden kann, zumindest
häufig anzutreffen waren. 5 4
136
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
SCHWEDEN, SCHULDEN UND SCHÖNER
SCHEIN
Franz Wilhelm wurde hineingeboren in die verroh-
ten Zeiten des Dreissigjährigen Krieges, in denen
die heimatlichen Stammlande in Vorarlberg sowie
seine späteren Herrschaften in Vaduz und Schel-
lenberg von Schwedengefahr, Truppenaufmär-
schen, Hungersnöten, Pest und Hexenwahn ständig
heimgesucht wurden. Dazu von seinem verschwen-
derischen Vater als junger Mann bereits mit hohen
Schulden belastet,55 trieb Franz Wilhelm I. von
Hohenems-Vaduz selber bei beschränkten Einkünf-
ten einen grossen Aufwand und ruinierte sich
finanziell unter anderem mit dubiosen Kriegsspie-
len für den spanischen König. Er führte als absolu-
tistischer Fürst einen zwar zeitgemässen, aber für
seine ökonomischen Verhältnisse zu kostspieligen
Haushalt; die luxuriöse Bekleidung auf den Porträts
der Ehegatten will den schönen Schein zumindest
nach aussen hin wahren.
Der Hohenemser Graf der Vaduzer Linie blieb
damit allerdings der Familientradition treu und er-
höhte standesgemäss die Schuldenlast. Inwieweit
Franz Wilhelm die von seinem Grossvater Kaspar
seit den 1725er Jahren forcierte Idee eines emsi-
schen Fürstentums mit dem Ziel einer geeinten
Herrschaft auf der ganzen Rheinstrecke zwischen
Bodensee und Luziensteig auf Kosten des Hauses
Österreich noch aktiv verfolgte, kann an dieser
Stelle nur aufgeworfen, aber nicht beantwortet
werden. 5 6 Die Vorstellung eines emsischen Territo-
rialstaates zwischen der Schweiz und Österreich
dürfte auch unter wirtschaftlichen Erwägungen für
Franz Wilhelm von Interesse gewesen sein. Aber
dazu kam es nicht mehr. Im Gegenteil, die Hohen-
emser Misswirtschaft und Unbeliebtheit der Gra-
fenfamilie in der Bevölkerung nahm Überhand,
und unter seinem ältesten Sohn Ferdinand Karl
(1650-1693) wurde den Flohenemsern durch kai-
serliche Verfügung die Regierung in der Grafschaft
Vaduz und Herrschaft Schellenberg entzogen und
der Boden für den Übergang an das Haus Liechten-
stein vorbereitet - mit dem man nun immerhin ver-
wandt war. 5 7
FERN SEHEN IN DIE VERGANGENHEIT
Mit diesem Beitrag haben wir versucht, die Mög-
lichkeiten und Grenzen des historischen Blicks auf
den verschiedensten Ebenen auszuloten. In dem
1906 und dann wieder 1993 in Vaduz bekannt ge-
wordenen Gemälde aus dem 17. Jahrhundert mit
der ganzfigurigen Darstellung von Franz Wilhelm I.
von Hohenems liegt die älteste und für lange Zeit
einzige (!) wirklichkeitsgetreue Darstellung von
Schloss Vaduz vor. 5 8 In der Annahme, dass das Bild
- wie auch sein Pendant mit der Frau Gemahlin -
kurz vor oder nach dem auf dem Bild befindlichen
Datum 1662 gemalt sein dürfte, wobei die Ab-
klärung einer eventuellen Kopie noch der vertieften
kunstwissenschaftlichen Forschung bedarf, haben
wir den Bauzustand aus späthohenemsischen Zei-
49) Stammtafel nach Bergmann bei Schaffer 1881. - Siehe Elisabeth
Castellani Zahir: «... Ich und meine Tochter Elisabeth». Gräfin
Kinsky-Wilczek (1859-1938). In: Inventur. Zur Situation der Frauen
in Liechtenstein. Bern, Dortmund, 1994, S. 162.
50) Z. B. Jakob Hannibal I. und Hortensia Borromea von Hohenems
(1578), die in der Hohenemser Ausstellung 1993 zu sehen waren
(Abb. Faltprospekt 1993); das junge Ehepaar Kaspar und Eleonora
Philippina (1597) (Abb. Welti 1963, Tafel 1); Jakob Hannibal II. und
Anna Sidonia von Teschen (1617) (Abb. Welti 1963, Tafel 20).
51) Die beiden Doppelporträ ts aufgetrennten Tafeln, zwei Brustbil-
der und zwei ganzfigurige Bilder von Franz Wilhelm I. und Eleonora
Katharina von Hohenems-Vaduz, sind aufgeführ t bei Bergmann
1861 (Nr. 27, 28, 30 u. 31 ), Schaffer 1881 (Nr. 21, 62, 77 u. 78 [das
Brustbild Eleonores ist mit 1663 datiert]). - Welti 1930 bildet das
ganzfigurige Ehepaa rpor t r ä t auf den Tafeln 26 und 27 ab.
52) Kuby 1995, S. 18, siehe dort Abb. 5.
53) Ebenda, S. 14 f.
54) So bei den Ganzfigurenbildern von Jakob Hannibal I. (1578).
Kardinal Markus Sittich III. (1595) und Kaspar von Hohenems
(1614). die in der Hohenemser Ausstellung 1993 zu sehen waren
(Abb. Faltprospekt 1993).
55) Welti 1930, S. 118.
56) Ebenda, S. 106 - 115.
57) Castellani 1993 I, S. 44 - 47.
58) Die zu Beginn der Liechtensteiner Herrschaft. 1721 angefertigten
Heber-Ansichten stellen den vorhandenen und projektierten Archi-
tekturbestand von Schloss Vaduz zwar sehr detailreich vor. sind aber
kein wirklichkeitsgetreues Abbild der Burganlage. Siehe Castellani
1993 1. S. 47-52 (mit Abb.) und S. 318 f.
137
ten vor uns, der ein authentisches Bild der Südseite
(Abb. 3) zeigt und damit die wichtigsten Gebäude
des nachmittelalterlichen Vaduzer Burgkomplexes
wiedergibt: Burgtor zum Westzwinger, Saalbau,
Südrondell und Bergfried sowie Gartenanlage. Die
Bildquelle ist als Ergänzung zu zeitgenössischen
Schriftquellen für die Bauforschung von unschätz-
barem Wert. Sie ist als Begründung für mögliche
Rekonstruktionen, wie es die Zeit der Jahrhundert-
wende, auch damals schon vergeblich, versuchte,
jedoch untauglich.
Das in der Würde der ganzfigurigen Darstellung
gehaltene Herrscherbildnis von Franz Wilhelm I.
von Hohenems-Vaduz (Abb. 1) - seinerseits nur die
linke Hälfte des zusammengehörigen Ehepaarpor-
träts mit Eleonora-Katharina von Hohenems-Für-
stenberg (Abb. 2) - konnte in seinen formalen und
inhaltlichen Strukturen als Herrschaftslegitimation
für die Vaduzer Linie der Hohenemser Reichsgra-
fen entschlüsselt werden. Dass dies zu einer Zeit
stattfand, in der sich das Haus Hohenems im finan-
ziellen wie politischen Niedergang befand, ist tragi-
sches Schicksal des dargestellten gerade 34-jähri-
gen Grafen. Sein nach innen gekehrter Blick ist
vielleicht das Ehrlichste auf dem Bildnis aristokra-
tischer Repräsentation.
Abb. 12: Südansicht von
Schloss Vaduz auf einer
Fotografie von 1909
138
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
BILDNACHWEIS
Abb. 1,2,3: Mestke muze-
um a galerie, Policka
(Tschechien)
Abb. 6, 7, 8: Nachlass
Alois Gstrein, Archiv
Denkmalpflege Bozen
(Südtirol).
Abb. 4, 9, 10, 11, 12:
Hausarchiv der Regieren-
den Fürsten von Liechten-
stein, Vaduz
Abb. 5: Familienarchiv
Rheinberger, Vaduz.
ANSCHRIFT
DER AUTORIN
Dr. Elisabeth Castellani
Zahir
Holbeinstrasse 77 A
CH-4051 Basel
139
EIN BLICK
AUS D E M FENSTER
SCHLOSS VADUZ AUF DEM PORTRÄT VON
FRANZ WILHELM I. VON HOHENEMS-VADUZ
(1662)
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
«Anbei übersende ich endlich die Photographien
der Ansicht von Schloss Vaduz auf dem Porträt des
Gr. F. W. von Hohenems. Der Photograph Hesse hat
die Aufnahmen schon am Tage nach Ihrem Hier-
sein gemacht, wurde dann aber telegraphisch nach
Meran abberufen .... und so hab ich die Abdrücke
erst nach wiederholtem Kopierens bekommen. 2
Exemplare habe ich, von Ihrer gütigen Erlaubnis
Gebrauch machend, hier behalten. ... Ein Versuch,
die Ansicht photographisch zu vergrössern, ist
nicht gut ausgefallen, da die Rauh(?)seiten des
Papiers der Originalphotographie sich störend be-
merkbar machten.»
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
So berichtete Hofrat Franz von Wieser (1848 bis
1923) am 18. Juni 1906 von Innsbruck an den
fürstlichen Kabinettsrat Carl von In der Maur
(1852-1913) nach Vaduz.1 Das besagte, 1906 in
Vaduz bekanntgewordene, Bild verschwand als-
bald wieder aus dem hiesigen Blickfeld. 2 Es lag
nur in einer schlechten Schwarzweissreproduktion
in einer Publikation von 1930 vor und galt bis vor
kurzem als verschollen.3 Dann tauchte es über-
raschenderweise 1993 in Hohenems wieder auf
(Abb. 1) als Exponat der Ausstellung «Die Porträt-
sammlung der Grafen von Hohenems aus dem
Städtischen Museum in Policka [Tschechien]», die
im Palast Hohenems gezeigt wurde. 4
DAS BILD
Das Bild ist Bestandteil der einst berühmten, an die
1500 Gemälde umfassenden Hohenemser Kunst-
sammlung, die im Kern ins 16. Jahrhundert zu-
rückreicht und einst von Graf Jakob Hannibal I.
(1530-1587) und seinem Sohn Graf Kaspar
(1573-1640) angelegt wurde. Ein Teil davon, dar-
unter 87 Gemälde, meist Porträts von Mitgliedern
der Familie Hohenems, wurde dann 1803 aus dem
Palast Hohenems nach Schloss Frischberg ins
böhmische Bistrau verbracht und befindet sich
heute im städtischen Museum in Policka [Tsche-
chien] in Verwahrung. 5 Ob das Bild aus Policka mit
demjenigen von 1906 identisch ist, muss derzeit
noch offen bleiben, da es einige Ungereimtheiten
gibt6 und auch die Möglichkeit einer Kopie 7 nicht
auszuschliessen ist. Für unsere Bildbetrachtung
spielt diese Frage aber keine ausschlaggebende
Rolle und wir sind froh über den aufgetauchten
Fund.
Es handelt sich um ein Ölbild in schmalem
schwarzem Rahmen im Format 192 x 105 cm. Der
1) HALV. Schlossbau, 18. Juni 1906.
2) Siehe Elisabeth Castellani Zahir: Die Wiederherstellung von
Schloss Vaduz 1904-1914. Burgendenkmalpflege zwischen Historis-
mus und Moderne. Band 1 und Band II. Vaduz. 1993 [= Castellani
1993]. Die folgenden Ausführungen sind als e rgänzender Nachtrag
zu verstehen, der aufgrund neuer Erkenntnisse notwendig wurde.
3) Castellani 1993 I, S. 43, Abb. 37 sowie S. 319, Anm. 8. - Franz
von Wieser e r w ä h n t das Bild noch 1920 in seinem Rechenschaftsbe-
richt über die Schlossrenovierung mit der Bemerkung: «Das Porträt
ist jetzt im Besitz S. D. des regierenden Fürs ten von Liechtenstein
[Johann II.].»; siehe auch Rudolf Rheinberger: Eine bisher unver-
öffentlichte Darstellung der Baugeschichte der Burg Vaduz (Rechen-
schaftsbericht Franz von Wieser 1920), in: JBL 77 (1977), S. 63.
A n m . 9 [= Wieser 1920].
4) Die Ausstellung im Palast in Hohenems dauerte vom 29. Mai bis
zum 3. Oktober 1993. Zur Ausstellung erschien ein Faltprospekt
«Die Por t rä t sammlungen der Grafen von Hohenems» mit kurzen
Angaben zur Sammlungsgeschichte [= Faltprospekt 1993]. Ausstel-
lung und Prospekt wurden von Frau Dr. Christine Spiegel betreut,
der ich für die Bereitstellung der im Artikel verwendeten Reproduk-
tionen danken möchte . Die Vermittlung ü b e r n a h m Norbert W.
Hasler, auch ihm sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen.
5) Die wechselvolle Geschichte der Hohenemser Por t rä t sammlung ist
recht gut dokumentiert, die neueste Publikation stammt von Andrea
Fischbach: «Was in dafern verbrochen» . Die Gemäldegalerie der
Grafen von Hohenems. Eine Untersuchung der Motivvielfalt anhand
von Inventaren des 17. Jahrhunderts. In: Vierteljahreszeitschrift für
Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 46. Jahrgang, Heft 3 (1994),
S. 313-327 [= Fischbach 1994]. Ergänzend zur dort aufgeführ ten
Literatur seien noch e r w ä h n t Wenzel Schaffen Die Gemälde-Samm-
lung im Schlosse Frischberg des A. H. K. Privatgutes Bistrau in
Böhmen. Wien, 1881 [= Schaffer 1881], sowie Ilse Fingerlin: Die
Grafen von Sulz und ihr Begräbnis in Tiengen am Hochrein. Stutt-
gart, 1992, S. 42.
6) Erstens: Das quellentlich gesicherte Todesdatum von Franz
Wilhelm I. von Hohenems am 19. September 1662 stimmt nicht mit
demjenigen auf der Bildinschrift (10. Dezember 1662) überein.
Darauf machte schon Joseph Bergmann aufmerksam. (Joseph
Bergmann: Die Reichsgrafen von und zu Hohenems in Vorarlberg.
Dargestellt und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit, vom Jahre
1560 bis zu ihrem Erlöschen 1759. Mit Rücksicht auf die weiblichen
Nachkommen beider Linien von 1759-1860. Wien, 1861. S. 104
[=Bergmann 1861].) Zweitens: Auf der bei Ludwig Welti: Geschichte
der Reichsgrafschaft Hohenems und des Reichshofes Lustenau.
Innsbruck. 1930 [= Welti 1930] auf Tafel 26 abgebildeten Schwarz-
weissreproduktion (evtl. die schlechte Vaduzer Fotovorlage von
1906, von der Franz von Wieser in Innsbruck Doubletten zurückbe-
hielt) ist das Wappen nicht sichtbar und der Gesichtsausdruck ein
anderer. Drittens: Wieso konnte sich das Gemälde 1920 in Besitz des
regierenden Fürsten von Liechtenstein befinden (Wieser 1920, siehe
Anm. 3), wenn es immer Bestandteil der Hohenemser Porträtgalerie
in Bistrau war, wie die E r w ä h n u n g e n aus den Jahren 1861 (Berg-
mann 1861, S. 104) und 1881 (Schaffer 1881. S. 25 f.) sowie das
jetzige Auftauchen in Policka nahelegen? Gibt oder gab es mehrere
Bilder?
7) Bergmann 1861, S. 102, sowie der Hinweis im Faltprospekt 1993.
Auch bei dem 1993 im Palast in Hohenems ausgestellten Bild bleibt
die Frage offen, ob es mit dem 1906 in Vaduz bekanntgewordenen
Bild identisch ist oder ob es sich um eine Kopie handelt, und wel-
ches dann das Original w ä r e .
125
Abb. 1: Graf Franz Wil- Das Ölbild aus der ehema-
helm I. von Hohenems- ligen Hohenemser Gemäl-
Vaduz im Jahr 1662. degalerie, das 1993 im
Palast Hohenems in Hohe-
nems (Vorarlberg) ausge-
stellt war, befindet sich
heute im Städtischen
Museum von Policka
(Tschechien).
Künstler oder die ausführende Künstlerin ist bis-
lang unbekannt. Dargestellt ist lebensgross und als
Ganzfigur, der Betrachterin und dem Betrachter
frontal zugewandt, mit leicht nach vorne ausschrei-
tender Beinstellung, ein Edelmann in höfischer
Kleidung, der den Bildraum majestätisch ausfüllt:
Graf Franz Wilhelm I. von Hohenems (1628-1662).
Das Bild ist oben links mit dem reich gezierten Fa-
milienwappen der von Hohenems, einem goldenen
Steinbock auf blauem Grund, bezeichnet und be-
schriftet mit «FRANC: WILHELM: COMES IN ALTA
EMBS GALARA & VADVZ. DNUS IN SHELLEN-
BERG: OBIJT DIE 10 XBRIS Ao: 1662» [Franz Wil-
helm Graf in Hohenems, Gallara 8 und Vaduz, Herr
in Schellenberg, gestorben 10. Dezember des Jah-
res 1662].9 Franz Wilhelm befindet sich in einem
Innenraum mit einem Fenster im Hintergrund
rechts oben neben der Inschrift, das die perspekti-
vische Tiefe einer Architekturdarstellung eröffnet.
Es handelt sich um die Südseite von Schloss Vaduz
mit der Umfassungsmauer einer Gartenanlage.
Die kompositorischen Mittel sind gekonnt einge-
setzt. Der hohe Horizont liegt im oberen Bildviertel
auf Nasenhöhe der dargestellten Person, verbindet
Wappenkartusche, Gesicht des Grafen und das
Hauptgeschoss der Burg, reiht also die wichtigsten
inhaltlichen Bildelemente auf einer waagerechten
Linie: Herkunft, Person, Besitz. Der für Innen und
Aussen einheitliche Horizont knapp unterhalb der
Augen ist subtil gewählt, denn er erlaubt dem Gra-
fen, /zeraözublicken auf diejenigen, die das Bild be-
trachten - und sie nicht anzublicken. Er wahrt da-
mit herrschaftliche Distanz und verbietet sich jeg-
liche Familiarität. Die Bildmittelachse geht durch
die senkrechte Körpermitte des Porträtierten. Sie
ist gekennzeichnet durch die Bezeichnung «Alta
Embs» [Hohenems] in der Inschrift, sein beleuchte-
tes Gesicht und seine linke, vor der Brust ruhende
Hand. Die Vertikalität wird unterstrichen durch die
herablaufenden Schmuckstreifen seines Gewandes.
Die fast unmerkliche Körperdrehung nach links
lässt die Figur weniger starr erscheinen und er-
zeugt eine leichte, unbewusst wahrgenommene
Spannung. Ein Meisterstück ist die kompositori-
sche Verbindung von Innen und Aussen, wo in per-
126
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
spektivischer Verlängerung der Seitenkante des
Beistellmöbels im Vordergrund, markiert durch
Franz Wilhelms lässig daraufgelehnte rechte Hand,
eine dynamische Diagonale in leichter Versetzung
von links unten nach rechts oben durch die Garten-
mauer des Schlosses im Bildfenster weiterläuft und
dort einen architektonischen Tiefenraum er-
schliesst, der das Schloss Vaduz recht eigentlich
zum zweiten Bildmittelpunkt macht. Dieser Haupt-
diagonalen entspricht eine ausgleichende formale
Gegenbewegung von links oben nach rechts unten,
deren Hauptträger das breite Bandelier bildet, wel-
ches den Vornamen des Grafen «Franc» in der In-
schrift mit Wappenkartusche und Degen in einer
Richtungsdynamik verbindet, ein Verweis auf den
ritterlichen Edelmann namens Franz. Alle genann-
ten Kompositionslinien, d.h. die beiden Diagonalen
sowie die Mittelachse, kreuzen sich in der vor die
Brust gelegten linken Hand des Grafen, die damit
den zentralen Bildpunkt abgibt.
Soweit eine erste Bildannäherung. Sie gibt uns
einen Hinweis auf die doppelte Funktion des
Gemäldes als Porträt und Vedute. Ein Porträt erfüllt
mit unterschiedlicher Akzentsetzung drei Aufga-
ben: memoriale, repräsentative und exemplari-
sche. Eva Kuby: «Ein Bildnis sollte einer gemalten
Person ähnlich sein und an sie erinnern - auch
nach ihrem Tod. Rang und Status in Familie, Beruf
und Öffentlichkeit sollte ein Porträt ebenso wider-
spiegeln wie gleichzeitig die besonderen Fähigkei-
ten und Eigenschaften der Person herausstellen.» 1 0
8) Die Grafschaft Gallarate im Mailändischen wurde von den Hohen-
emsern 1578 erworben und nach dem Tode Graf Kaspars 1640 an
seinen jüngsten Sohn aus zweiter Ehe und Studiengenosse Franz
Wilhelms, Franz Leopold (1620-1642) vererbt. 1655 wurde die
Herrschaft aus wirtschaftlichen Erwägungen von Franz Wilhelms
ältestem Bruder Karl Friedrich unter Vorbehalt des Titels an die
Visconti verkauft (Welti 1930, S. 145).
9) Die Inschrift ist in leicht ve ränder te r Schreibweise abgedruckt
bei Bergmann 1861, Nr. XXVII , S. 104, und bei Schaffer 1881, Nr. 21,
S.25.
10) Eva Kuby: Porträts . Niederländische Malerei des 17. Jahrhun-
derts der SOR-Rusche-Sammlung. In: Architektur, Kunst- und
Kunstgeschichte in Nord- und Westdeutschland (AKK), 1995, Heft 1,
S. 14 [= Kuby 1995].
Abb. 2: Gräfin Eleonora
Katharina von Hohenems-
Fürstenberg (1662). Ehe-
paarpendant zu Abb. 1.
Das Ölbild aus der ehe-
maligen Hohenemser
Gemäldegalerie, das 1993
im Palast Hohenems in
Hohenems (Vorarlberg)
ausgestellt war, befindet
sich heute im Städtischen
Museum von Policka
(Tschechien).
127
Die Vedute definiert Andrea Fischbach folgender-
massen: «Bei einer Vedute handelt es sich um eine
sachlich treue Ansicht einer Stadt oder Land-
schaft» 1 1 - wir ergänzen Burg beziehungsweise
Schloss - und verweist darauf, dass die Vedute als
wichtige historische Hilfsquelle die schriftlichen
und mündlichen Überlieferungen ergänzen kann.
Wir werden das Hohenemserbild also sowohl auf
die abgebildete Architektur, das Schloss Vaduz, wie
auf die dargestellte Person, Franz Wilhelm I. von
Hohenems-Vaduz, hin differenziert befragen, denn
beide Motive stehen in einem künstlerischen, in-
haltlichen und symbolischen Zusammenhang.
Abb. 3: Südseite von
Schloss Vaduz (1662).
Ausschnitt aus Abb. 1.
BILDQUELLE FUB DIE SCHLOSS-
RESTAURIERUNG 1906
Zurück in das Jahr 1906. 1 2 Stolz wird im Protokoll
der insgesamt 6. Baukommissionssitzung seit Be-
ginn der Wiederherstellungsarbeiten, die auf dem
Schloss am 8. und 9. Juli stattfand, unter Punkt 1
vermerkt: «Die Kommission konstatiert zunächst
mit Genugtuung, dass die neu aufgefundene An-
sicht des Schlosses Vaduz von 1662 die Richtigkeit
der bisher durchgeführten Restaurierungsarbeiten
in erfreulicher Weise bestätigt. Das Obergeschoss
des Südwestbaues konnte nicht in dem Sinne die-
ser Ansicht ausgeführt werden, weil dasselbe die
Zinnenbekrönung des Kapellenbaues sowie zum
Teile auch das Auslugtürmchen verdeckt.» 1 3
(Abb. 3) Teilnehmer an dieser zweitägigen Konfe-
renz in Vaduz waren Prinz Franz von Liechtenstein
sen., der Bruder des Regierenden Fürsten Johann
IL (Wartenstein, Niederösterreich) und sein Neffe
Prinz Franz jun., Excellenz Graf Hans von Wilczek
und seine Tochter Gräfin Elisabeth Kinsky-Wilczek
(Wien), Dr. Franz Ritter von Wieser (Innsbruck),
Baumeister Alois Gstrein (Brixen) sowie Egon
Rheinberger und Landesingenieur Gabriel Hiener
(Vaduz).1 4 Der Protokolltext ist widersprüchlich und
die nachträgliche historische Rechtfertigung durch
die neue Bildquelle für die Rekonstruktionen bei
Schloss Vaduz ist unklar. Im Gegenteil, das Bild aus
dem 17. Jahrhundert widerlegt die historische
128
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
Richtigkeit der im März beschlossenen und teils be-
reits begonnenen Baumassnahmen eindeutig, die
Alois Gstrein auf einer Zeichnung vom 12. März
1906 festgehalten hatte (Abb. 6): Es handelte sich
nämlich dabei um den Verzicht auf eine turmartige
Ausgestaltung des baufälligen Saalbaues1 5, so wie
es 1905 noch vorgesehen war (Abb. 5 und 8), zu-
gunsten einer einstöckigen Lösung mit angewärm-
tem Satteldach, sowie um die Rekonstruktion von
16 Zinnen und «Auslugtürmchen» beim benach-
barten Kapellenbau. 1 6 Alte Zinnen waren am Bau-
bestand hier innen und aussen tatsächlich noch ab-
lesbar gewesen (Abb. 9 und 10) und man machte
sich eifrig an den Rückbau, der bis Mitte 1907 auch
durchgeführt wurde (Abb. 7 und 9). 1 7 Gleichzeitig
wurde der ebenfalls noch original im Mauerver-
band vorhandene innere Zinnenkranz des Saalbau-
es gegen die Hofseite - auf dem Hohenemserbild
natürlich nicht sichtbar - freigelegt und ist bis heu-
te gewahrt (Abb. 10). Auch der nach Bekanntwer-
dung der historischen Schlossansicht im Juli 1906
neu beschlossenen Gotisierung der Fenster im Ka-
pellentrakt - im Protokoll heisst es deutlich «Die
Fenster in dem Saale des Kapellenbaues sind go-
thisch auszuführen» 1 8 - spicht das grosse nachmit-
telalterliche Rundbogenfenster auf dem Gemälde
(Abb. 3) Hohn. Ein Vergleich mit dem vorhandenen
Baubestand auf der Fotografie von 1880 (Abb. 4),
wo eben dieses gerundete Renaissancefenster zu
sehen ist, bestätigt die ältere Abbildung aus dem
17. Jahrhundert. In diesem Falle widersprechen
sowohl Bildquellen wie Baubefund der reiner
Phantasie entsprungenen Detailgestaltung, die sich
lediglich auf das allgemeine Wissen gründete, dass
es diesen ältesten Burgteil schon in gotischen Zei-
ten gegeben hatte.
Gab es überhaupt etwas, das von den bis anhin
durchgeführten Baumassnahmen «in erfreulicher
Weise bestätigt» wurde? Nun, belegt werden konn-
te durch die Hohenemser Bildquelle die Richtigkeit
des schon 1905 durchgeführten Aufbaus des Berg-
frieds was Proportionen, Höhe sowie Zinnenkranz
und Zeltdachbekrönung betraf.19 Die im Gemälde
angedeutete Gartenanlage mit Umfassungsmauern
im Südbereich der Burg gab vielleicht die Anre-
gung dazu, sie in das Wiederherstellungspro-
gramm von Schloss Vaduz aufzunehmen. Der Gar-
ten wurde dann tatsächlich noch 1915/16 rekon-
struiert und besteht bis heute.2 0
Über die restliche Gestalt von Schloss Vaduz zu
Ende des 17. Jahrhunderts gibt die Bildquelle, da
sie nur die Südseite zeigt, keine Auskunft. So blei-
ben viele Fragen notgedrungen unbeantwortet, so
z.B. auch die Existenz einer Zugbrücke, um nur
eine der umstrittensten, aber 1911 dennoch durch-
geführten Rekonstruktionsmassnahmen zu nen-
nen. 2 1 Dass für Schloss Vaduz 1904 durchaus der
Anspruch auf ein wissenschaftliches, den moder-
nen denkmalpflegerischen Grundsätzen entspre-
chendes und durch historische Quellen belegbares
Wiederherstellungskonzept bestand, haben wir in
unserer Untersuchung nachweisen können, und
11) Fischbach 1994, S. 318.
12) Siehe den Stand der Umbauarbeiten für 1906 mit genauen
Quellenangaben bei: Castellani 1993 I, S. 149-162.
13) HALV, Schlossbau, Protokoll 9. Juli 1906.
14) Zu den Kommissionsmitgliedern siehe Castellani 1993 1,
S. 117-134.
15) Der Saalbau wurde wegen Baufälligkeit schon im 18. Jahrhun-
dert um sein oberstes Geschoss abgetragen und mit einem flachen
Pultdach versehen: siehe Wieser 1920, S. 72; Castellani 1993 I, S.
28-34.
16) Zum Kapellenbau siehe auch Castellani 1993 I, S. 28. Neue
Erkenntnisse zur Baugeschichte der Schlosskapelle St. Anna in
Vaduz erbrachte dann eine archäologische Notgrabung im Apr i l und
im Mai 1995 (vgl. hierzu den Jahresbericht 1995 der Archäologie
Liechtenstein).
17) Castellani 1993 I, Abb. 198.
18) Protokoll 9. Juli 1906 (siehe Anm. 12), Punkt 5. - Siehe Castellani
1993 1, Abb. 178 u. 179.
19) Zum Umbaujahr 1905 siehe Castellani 1993 I, S. 135-146.
20) Castellani 1993 I, S. 307-309.
21) Zur Brückendiskussion siehe Castellani 1993 I, S. 29 f., S. 249 f.,
257-259 sowie Abb. 32 mit der von Egon Rheinberger zeichnerisch
imaginierten Brücke.
129
Abb. 4: Südansicht von
Schloss Vaduz auf einer
Fotografie von 1880. Links
der im 18. Jahrhundert
teilweise abgetragene und
mit einem Pultdach ver-
sehene Saalbau, in der
Mitte der Kapellenbau mit
den noch ablesbaren
Zinnen und rechts das
dachlose Südrondell.
Abb. 5: Südwestseite von
Schloss Vaduz, Zeichnung
Egon Rheinberger (1905).
Ursprüngliche Rekonstruk-
tionsabsicht mit turmarti-
gem Saalbau (siehe Abb. 8).
Abb. 6: Südwestseite von
Schloss Vaduz, Zeichnung
Alois Gstrein März 1906.
Revidierte Rekonstruktion
(Ausführung) mit nieder-
em Saalbau, Auslugtürm-
chen und Zinnen auf dem
Kapellenbau.
Abb. 7: Südansicht von
Schloss Vaduz, Ausfüh-
rungsvariante von Alois
Gstrein 1907.
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
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Abb. 8: Südwestliche Hof-
seite von Schloss Vaduz,
Zeichnung Alois Gstrein
März 1905. Ursprüngliche
Rekonstruktionsabsicht
mit turmartigem Saalbau
(siehe Abb. 5) und inne-
rem Wehrgang vor Kapel-
len- und Saalbau.
Abb. 9: Südansicht
von Schloss Vaduz.
Foto um 1906.
Abb. 10: Südliche Hofseite
von Schloss Vaduz auf
einer Fotografie aus den
Umbaujahren 1906/07.
Man hat das oberste
Geschoss des Kapellen-
traktes abgetragen und die
alten Zinnen freigelegt.
131
auch, dass es nicht konsequent angewendet wurde,
sondern in der Realität oftmals Kompromisse zum
Zuge kamen. 2 2
In der Frage des Wertes historischer Abbildun-
gen als Quelle für «richtige» Rekonstruktionen gin-
gen die Meinungen weit auseinander. Vertraten die
Burgenforscher Otto Piper (1841-1921) und Bodo
Ebhardt (1865-1945) schon um die Jahrhundert-
wende die Ansicht, historische Abbildungen seien
wissenschaftliche Hilfsmittel und sollten bei Burg-
wiederherstellungen vermehrt benutzt werden 2 3,
so wies der Kunsthistoriker und «Antirestaurator»
Georg Dehio (1850-1932) anhand des Beispiels
von Heidelberg aus grundsätzlichen Überlegungen
heraus nach, dass historische Abbildungen als
Quellen für Rekonstruktionen keinen Wert hätten,
denn «es sind nämlich die ältesten der in Frage ste-
henden Zeugnisse nicht älter als das Ende des
16. Jahrhunderts2 4; durch nichts wird verbürgt,
dass diese die unveränderte erste Bauidee wieder-
geben. ... Mehr als das Allgemeinste verrraten sie
nicht. Wer danach bauen will, muss seiner Phanta-
sie einen grossen Spielraum geben.» 2 5 Diese skepti-
sche Einschränkung trifft grundsätzlich auch auf
das Hohenemser Gemälde zu, welches den Bauzu-
stand des Vaduzer Burgkomplexes in einer Zeitstel-
lung aus dem späten 17. Jahrhundert dokumentiert
und zudem nur eine Aussenfront (Südseite) zeigt.
Dehio nahm 1901 kein Blatt vor den Mund, als er
Kollegenschelte verteilte: «Den Raub der Zeit durch
Trugbilder ersetzen zu wollen, ist das Gegenteil von
historischer Pietät. Wir sollten unsere Ehre darin
suchen, die Schätze der Vergangenheit möglichst
unverkürzt der Zukunft zu Überliefern, nicht, ihnen
den Stempel irgendeiner heutigen, dem Irrtum un-
terworfenen Deutung aufzudrücken.» 2 6 Die War-
nung stiess nicht nur 1906 auf taube Ohren - auch
unsere derzeitig wieder sehr populären postmoder-
nen Rekonstruktionsfanatiker schlagen derartige
Argumente - trotz der Charta von Venedig 1964 2 7
in den Wind. 2 8
DAS ÄLTESTE PORTRÄT VON SCHLOSS
VADUZ
Mit dem Gemälde von 1662 liegt nun zwar nicht
die erste, aber die älteste realistische Abbildung
der Burg ob Vaduz vor. Die früheste derzeit be-
kannte Ansicht von Schloss Vaduz ist bereits nach-
mittelalterlich und stammt aus der Zeit um 1600,
was, wie schon Dehio bemerkte, allgemein üblich
zu sein scheint.2 9 Auf einem Prospekt der Herr-
schaften Vaduz und Schellenberg dominiert Schloss
Vaduz vom Berg herunter über die Landschaft und
bildet als grösste Einzelarchitektur den Bildmittel-
punkt. 3 0 Das Schloss ist jedoch nicht wirklichkeits-
getreu dargestellt, die vielerlei turmartigen Gebäu-
deteile stehen lediglich als Zeichen für «feste
Burg». Schloss Vaduz zeugt auf diesem minuziösen
Landschaftsinventar, das aus der Vogelschau alle
Burgen, Dörfer, Felder, Wälder und weitere Einzel-
heiten in den Herrschaften präsentiert, von seiner
wichtigen politischen Funktion als Herrschaftssitz
unter den Sulzern. Aus diesem Bild spricht das
Bedürfnis des regierenden Hauses nach repräsen-
tativer Abbildung seiner Besitzungen.
Ebenfalls aufgrund seiner politischen Bedeu-
tung, diesmal allerdings nicht mehr als Mittelpunkt
der Herrschaft, sondern als persönliches Attribut
des Herrschers selbst, findet Schloss Vaduz nun auf
dem Porträt des Grafen Franz Wilhelm I. von Ho-
henems-Vaduz (Abb. 1) seinen Platz zugewiesen.
Auf dem Hohenemser Gemälde ist die südliche
Schauseite (Abb. 3) im Sinne eines markanten und
aussagekräftigen Profils dargestellt: Zum ersten
Mal haben wir - im Unterschied zu der oben er-
wähnten zeichenhaften Darstellung von 1600 - ein
Porträt der Burg mit Realitätsgehalt vor uns: Vor
einer dramatischen Wolkenkulisse erscheinen die
von links nach rechts hochgestaffelten Gebäude-
teile hell erleuchtet und kumulieren im rot aufra-
genden Bergfried. Gerade noch erahnen lässt sich
am linken Bildrand das im Schatten liegende
Wachhaus über dem Schlosstor zum talseitigen
Westzwinger. Anschliessend erhebt sich der süd-
westliche Saalbau (Palas) mit einer stark beleuchte-
ten linken Gebäudekante über mehrere Geschosse.
132
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
Er ist in den oberen beiden Stockwerken mit reprä-
sentativen, versprossten Rundbogenfenstern verse-
hen, insgesamt vier, und wird von einer nicht über-
dachten Plattform mit Zinnenkranz abgeschlossen,
auf deren hinterem Teil sich im Schatten rechts ein
kleiner dunkler Turm erhebt. Hinter den beiden
oberen besonders grossen Fenstern unter den Zin-
nen des Saalbaues befindet sich spätestens seit Sul-
zerzeiten der repräsentative Festraum von Schloss
Vaduz, der sogenannte Schöne Saal. 3 1 Der an-
schliessende und um ein Geschoss höhergeführte
Kapellenbau zeigt keine Zinnen, sein Dachab-
schluss bleibt im Vagen. Dieser Teil ist zu Beginn
des 17. Jahrhunderts von den Hohenemsern über
dort tatsächlich vorhanden gewesenen Zinnen im
Rahmen des Burgausbaues als Garnison für Solda-
tenkammern um ein Geschoss aufgestockt worden,
war also relativ neu. Das bereits erwähnte grosse
Rundbogenfenster auf der Höhe des Schönen Saals
- es ist zu sehen auf der Fotografie von 1880 (wie
übrigens auch das rechts darüberliegende Recht-
eckfenster) - sind Zeugen des Sulzischen Umbaus
zur Renaissanceresidenz im 16. Jahrhundert. Den
Abschluss der Gebäudegruppe zum rechten
Bildrand hin bildet das Südrondell, ebenfalls aus
Sulzerzeiten, mit seinen massigen Wehrgeschossen
und der darüberliegenden dünnwandigen origina-
len Wohnetage mit vielen rechteckigen Fensteröff-
nungen. Die Rundbastion wird überhöht durch den
Bergfried, über dessen im Schatten liegenden Zin-
nenkranz ein rotes Zeltdach die Burganlage wie
eine Fürstenkrone schmückt. Im Vordergrund sind
die Umfassungsmauern einer grosszügigen Garten-
anlage zu sehen, die wahrscheinlich unter Franz
Wilhelm I. entstanden ist, vielleicht aber auch
schon von seinem Onkel Franz Maria angelegt
wurde. 3 2 Auffallend sind die roten Ziegel-Beda-
chungen von Gartenmauern, Nebengebäuden und
Bergfried. Bis auf das grobe Quaderwerk des Wehr-
niveaus vom Südrondell sind die restlichen Gebäu-
deteile nicht steinsichtig gemalt, sondern erschei-
nen in einem einheitlichen, schmutzweisslichen
Farbauftrag, was auf Verputz schliessen lässt.
Der im Gemälde dargestellte Bauzustand ent-
spricht - nach heutiger Kenntnis - der Bauge-
schichte von Schloss Vaduz, so wie es sich nach
dem Ausbau unter den Sulzern im 16. Jahrhun-
dert 3 3 und nach den Eingriffen unter Graf Kaspar
von Hohenems (1573-1640), 3 4 der 1613 Burg und
Herrschaft (Reichsgrafschaft Vaduz und Herrschaft
Schellenberg) von den Sulzern erwarb, als früh-
neuzeitliche Residenz und Garnison in vorliechten-
steiner Zeiten darstellte.3 5 Es ist ein Gemisch von
mittelalterlichen Wehrbaurelikten, von denen der
bezinnte turmartige Saalbau und der Bergfried
zeugen, frühneuzeitlichen Verteidigungsanlagen für
Artillerie wie das Südrondell und barockem Kom-
fort für das aristokratische Repräsentationsbedürf-
nis. Letzteres belegen die grossen Sprossenfenster
22) Castellani 1993 I, S. 101-116 (Forschungen, Grabungen und
Dokumentation 1904) sowie Castellani II. S. 198-205 (Die Problema-
tik der modernen Grundsätze am Beispiel von Vaduz).
23) Castellani 1993 I, S. 101. A n m . 2.
24) Auch in Vaduz datiert die älteste bekannte Bildquelle aus der
Zeit um 1600 (Castellani 1993 I. S. 318 und Abb. 375).
25) Georg Dehio: Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden?
In: Georg Dehio, Alois Riegl (Hrsg.): Konservieren, nicht restaurieren.
Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Braunschweig,Wiesba-
den, 1988, S. 39 [=Dehio 1901].
26) Dehio 1901, S. 37.
27) Die Prinzipien der modernen Denkmalpflege, wie sie die Jahr-
hundertwende unter Georg Dehio und Alois Riegl als den heraus-
ragendsten Exponenten mit dem Schlachtruf «Konservieren, nicht
res taur ie ren» intellektuell vorgedacht hatte, wurden 1964 in der
«Charta von Venedig» international sanktioniert und im Europäi-
schen Jahr für Denkmalpflege 1975 populär gemacht. Siehe Deut-
sches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Texte zum Denk-
malschutz und zur Denkmalpflege. Bonn, 1993, Dokument 8.
28) Vgl. hierzu: Deutsches Zentrum für Handwerk und Denkmal-
pflege, Propstei Johannesberg (Hrsg.): Johannesberger Texte 3.
Fulda, 1995.
29) Castellani 1993 I, S. 319, Anm. 4.
30) Kopie nach einer Federzeichnung von Hanno von Halem.
Castellani 1993 I, Abb. 375.
31) Zum Schönen Saal siehe Castellani 1993 I, S. 33 f.
32) Zur Gartenanlage siehe Castellani 1993 I, S. 46.
33) Castellani 1993 I. S. 35-42.
34) Ebenda, S. 43-46.
35) Rekonstruierter Schlossgrundriss der Residenz im 17. Jahrhun-
dert mit Gartenanlage bei: Castellani 1993 I, Abb. 38.
133
E X O H N Ä N X F A N I g V D Q , P O N Ü E E A TANTA T V O B . V M .
L „ « K i U . T V D E C T S C M N E T V T S , I I H E N V M B V M P R O P T E R A M C E N V M
P E R P O P V X O S D A S I V R A , O B S E R V A N T I S S I M T - S _ £ . g V T .
Abb. 11: Graf Kaspar von
Hohenems im Alter von
44 Jahren auf einem Stich
von Lukas Kilian, datiert
1617. Links oben der
Stammsitz Alt-Ems, links
unten der neue Palast in
Hohenems
und der Lustgarten vor der eigentlichen Burganla-
ge, bezeichnenderweise prominent im Bild Vorder-
grund inszeniert und höchst wahrscheinlich die
Baumassnahme des neuen Besitzers Franz Wil-
helm I. von Hohenems-Vaduz.
Franz Wilhelm musste die Bildidee der Kombi-
nation von eigenem Konterfei und der seines Besit-
zes nicht erfinden, sondern es nur seinem Gross-
vater nachtun. Dieser, Graf Kaspar von Hohenems,
hatte sich 1617, vier Jahre nachdem auch Schloss
Vaduz ihm gehörte, von Lukas Kilian (1537-1637)
zusammen mit seinen Stammschlössern in Kupfer
stechen lassen: Auf dem Porträtmedaillon (Abb. 11)
mit seinem Brustbild sind, neben Wappen und Gra-
fenkrone am rechten Bildrand, auf der linken Seite
oben als Felsenburg Alt-Ems und unten der durch
Kaspar fertiggestellte neue gräfliche Renaissance-
palast Hohenems dargestellt36 - letzterer war übri-
gens ehemals mit einer grosszügigen Gartenanlage
versehen gewesen,37 die das ideelle Vorbild für Va-
duz abgegeben haben dürfte. Auf Kaspars Porträt-
medaillon ist Schloss Vaduz noch nicht mit dabei,
bei seinem jüngeren Enkel dann rückte es selbst-
verständlich in den Mittelpunkt, da es die einzige
Burg war, die Franz Wilhelm I. nach Teilung des
Hohenemsischen Besitzes ganz allein gehörte. Eine
lateinische Inschrift am unteren Bildrand preist die
Vorzüge des Grossvaterhelden: «Glücklicher Graf,
den so viele [siegreiche] Kämpfe der Vorfahren und
so gewichtige [heilige] Tempelbezirke der deinen
ehren, Du, ihre vorzügliche Zierde, der Du Deinen
Völkern an den lieblichen Ufern des Rheines als ein
die Gerechtigkeit und Billigkeit überaus hochschät-
zender Landesherr [kräftigen] Rechtsschutz ge-
währs t .» 3 8
FRANZ WILHELM I. VON HOHENEMS-VADUZ. . .
Wer war denn nun unser Held, der Enkel Kaspars?
Franz Wilhelm (L), des Grafen Jakob Hannibal II.
(1595-1646) und der Fürstin Franciska Katharina
von Hohenzollern-Hechingen (geb. 1598, vermählt
1620) zu Beginn des Jahres 1628 3 9 zweitgeborener
Sohn (von insgesamt fünf Kindern), war der Stifter
134
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
der jüngeren oder Vaduzer Linie des reichsgräf-
lichen Hauses von und zu Hohenems. Als Heran-
wachsender stand er - zusammen mit seinem älte-
ren Bruder Karl Friedrich (1622-1675) und sei-
nem Onkel Franz Leopold, genannt Franziskus,
(1620-1642)4 0 - unter den Fittichen seines Gross-
vaters Graf Kaspar von Hohenems. In Innsbruck
sowie in Mailand erhielt er eine sorgfältige, einem
jungen Adeligen angemessene Ausbildung. 4 1 Franz
Wilhelm war ein durchschnittlicher Schüler, erle-
digte brav, was von ihm verlangt wurde und tat
sich weder positiv noch negativ hervor. Im Jahre
1646, nach dem Tod des Vaters, erhielt er als
achtzehnjähriger Jüngling die Grafschaft Vaduz zu
eigen,42 die vorher sein kinderloser und vier Jahre
zuvor verstorbener Onkel Franz Maria (1608 bis
1642), zwölftes und letztes Kind seines Grossvaters
Kaspar aus erster Ehe, besessen hatte.43 Der Onkel
hatte noch in seinem Todesjahr am 9. Februar
1642 seine Hochzeit mit Susanna Hedwig Freiin
von Raming auf Schloss Vaduz gefeiert.4 4 Der Neffe
folgte ihm nach und feierte 1649 ebenfalls, auf
Schloss Vaduz, seiner neuen Besitzung, die eigene
prunkvolle Hochzeit mit der um einige Jahre älte-
ren Eleonora Katharina Landgräfin von Fürsten-
berg (1620-1670), mit der er am 14. Februar in
der Schlosskapelle von Stühlingen die Ehe ge-
schlossen hatte.45 Der Bräutigam war 21-jährig, die
Braut hingegen bereits 29 Jahre alt.
Franz Wilhelm I. starb schon 34-jährig am
19. September (und nicht am 10. Dezember, wie im
Bild angegeben) 1662 zu Chur und ruht in der Fa-
miliengruft zu Hohenems. Eleonora Katharina er-
reichte ein respektables Alter von 50 Jahren und
verschied am 18. Februar 1670 an den Folgen
einer schmerzhaften Wassersucht.4 6 Unter den Kin-
dern des Ehepaars heiratete der Jüngste, Franz
Wilhelm II. (1654-1691), die Prinzessin Louise Jo-
sefa von Liechtenstein (1670-1736); so wurden das
Gräfliche Haus Hohenems und das Fürstliche LIaus
Liechtenstein noch gegen Jahrhundertende ver-
schwägert . 4 7 Nach seinem Tod gebar die junge
Liechtensteinerin einen Sohn, Franz Wilhelm III.
(1692-1759); er wurde k.u.k. Generalmajor und
Festungskommandant von Graz. Mit dessen Ab-
leben im Jahre 1759 erlosch das Geschlecht der
Reichsgrafen von Hohenems im Mannesstamm.
. . . UND ELEONORA VON HOHENEMS -
VADUZ - FÜRSTENRERG
Unser Hohenemser Gemälde steht nicht alleine. Es
ist Teil eines Ehepaarporträts und hat sein Pendant
im Konterfei seiner Gemahlin Eleonora Katharina
von Hohenems-Fürstenberg (Abb. 2). Eleonora
Katharina war die Tochter des 1631 zu Wien ver-
storbenen Grafen Wladislaw I. von Fürstenberg,
Reichshofratspräsident, und seiner dritten Gemah-
lin Lavinia von Gonzaga-Novellara. 4 8 In der Ehe
von Eleonora Katharina und Franz Wilhelm wur-
36) Andreas Ulmer: Die Burgen und Edelsitze Vorarlbergs und
Liechtensteins historisch und topographisch beschrieben. Dornbirn,
1925 (Nachdruck Dornbirn. 1978), Abb. S. 225.
37) Fischbach 1994, S. 313. - Ludwig Welti: Graf Kaspar von Hohen-
ems 1573-1640. Innsbruck, 1963 [=Welti 1963], Farbtafel I (Die
Hohenemser Kulturlandschaft um 1613).
38) Welti 1963, S. 4.34 f. - Der Kupferstich befindet sich in der
Graphischen Sammlung von Schloss Vaduz.
39) In den meisten Biografien wi rd 1627 als Geburtsjahr angegeben.
Franz Wilhelm I. ist aber w ä h r e n d eines Hoflagers in Enisheim
(Elsass) kurz vor dem 9. Januar 1628 geboren. Welti 1963, S. 262 f.
40) Ein Kinderbildnis von Franziskus befindet sich im Liechtenstei-
ner Landesmuseum (Norbert Hasler: Kinderbildnisse der Hohen-
emser Grafen Franziskus (1620-1642) und Franz Kar l Anton
(1650-1713) aus den Sammlungen des regierenden Fürsten von
Liechtenstein im Landesmuseum, In: JBL 83 (1983), S. 215-218).
41) Welti 1963, S. 346-361.
42) Der Bruder Karl Friedrich behielt als Ältester die hohenemsi-
schen Stammlande. Nach dem Tode Franz Wilhelms I. 1662 über-
nahm der ältere Bruder Kar l Friedrich die vormundschaftliche Regie-
rung in Vaduz bis zu seinem Tode 1675 (Welti 1930, S. 121, 145).
43) Wiesor 1920, S. 64, Anm. 9. Wieser verwechselt in seinem
Bericht einen Grafen «Franz Markus» (?) mit Graf Franz Maria.
44) Welti 1963, S. 329.
45) Bergmann 1861, S. 61 f.
46) Ebenda, S. 62.
47) Welti 1930, S. 152.
48) Welti 1963, S. 264, Anm. 2.
135
den in den vier Jahren zwischen 1650 und 1654
fünf Kinder geboren, zwei Töchter und drei Söhne,
die alle das Erwachsenenalter erreichten - eine
physich erstaunliche, aber zeittypische Leistung für
adelige Frauen. 4 9 In der Ausstellung im Palast in
Hohenems wurden 1993 beide Bilder gezeigt und
hingen nebeneinander. Sie stehen als Doppelbild-
nis in der Hohenemser Ahnengalerie nicht verein-
zelt da 5 0 und werden in der älteren Literatur über
die Porträtgalerie in Bistrau auch gemeinsam er-
wähnt . 5 1
Auf dem bereits vorgestellten Gemälde steht, wie
wir gesehen haben, Franz Wilhelm L, 34-jährig, le-
bensgross vor der Betrachterin und dem Betrach-
ter. Der junge Graf ist barhäuptig, mit braunen,
natürlich herabfallenden Haaren und gekleidet in
der vornehmen, kostbaren Aufmachung der höfi-
schen Tracht des absolutistischen Zeitalters.- Der
schwarze, knielange, mit Silberborten besetzte
Rock mit bauschigen Ärmeln, das hellblaue Seiden-
hemd mit gefältelten Manschetten, der feingewirk-
te, fast durchsichtige Kragen vermitteln einen Ein-
druck von Reichtum und Wohlhabenheit. Den De-
gen links am breiten Bandeliere und in hohen, mit
weissem Leder besetzten Stulpenstiefeln steht er
vor uns - mit einem nach innen gekehrten Blick,
der allerdings nicht so recht zu der protzigen Hal-
tung passen will.
Stellen wir das zugehörige weibliche Gegenstück
daneben (Abb. 2), wird die leichte Linksdrehung
verständlicher, denn er kehrt sich seiner Gattin zu,
die, ebenfalls lebensgross und frontal stehend, sich
ihrerseits ihm in leichter Körperdrehung zuwendet
und ihrem Gatten eine Rose - Zeichen der Liebe -
zustreckt. In der Linken, mit der sie sich auf einem
Tisch leicht abstützt, hält sie einen geschlossenen
Fächer. Die Inschrift oben links verrät Identität,
gesellschaftliche Stellung und Herkunft: «ELEO-
NORA CATHARINA COMITISSA IN ALTA EMBS.
NATA COMTISSA A FÜRSTENBERG» [Eleonora
Katharina Gräfin in Hohenems. Geborene Gräfin zu
Fürstenberg]. Sie ist als etwas füllige Dame mitt-
leren Alters - sie war zu dem Zeitpunkt 42 Jahre alt
und hatte mindestens fünf Geburten hinter sich -
dargestellt, mit vollem Gesicht und - analog zu
ihrem Gatten - offenen, natürlich herabfallenden
Haaren. Gekleidet in einem kostbaren, bodenlan-
gen schwarzen Samtgewand mit weissen und ge-
schlitzten Ärmeln und offenem Halsausschnitt ent-
spricht Eleonoras vornehme Kleidung nicht nur
ihrem sozialen Stand, sondern auch auch dem
neuen Modeideal, das im letzten Drittel des
17. Jahrhunderts den Frauen erlaubte, das steife
Mieder abzulegen und ein erweitertes, von trans-
parenten Spitzenborten bedecktes, Dekollete zu
zeigen. 5 2 Der Bildaufbau auf dem Porträt Eleonora
Katharinas entspricht demjenigen ihres Gatten:
eine lebensgrosse, bildfüllende Figur, Inschrift und
Hohenemser Wappen; es fehlen Jahreszahl mit To-
desdatum (die Dame lebte ja noch, als das Bild in
Auftrag gegeben bzw. gemalt wurde) und die An-
gabe von Land- oder Immobilienbesitz, wie Schloss
Vaduz auf dem Bild ihres Mannes oder die Hohen-
emser Paläste auf dem Porträt des Grafen Kaspar
von Hohenems.
Was Eva Kuby für die holländische Malerei her-
ausfand, trifft ebenfalls auf unser Hohenemser
Doppelbildnis zu: «Besonders augenfällig sind die
Posen bei der immer wieder gleichen Rechts-Links-
Zuordnung der Ehepaarpendants. Die Ehepartner,
die den Betrachter anblicken, sind auf getrennten
Tafeln einander zugewandt dargestellt, die Frau
rechts, der Mann links. Das von links einfallende
Licht modelliert dem Herrn ein markantes, pla-
stisches Gesicht, der Ehefrau ein flaches Gesicht.
Haltung und Lichtgestaltung dienten dazu, die Zu-
sammengehörigkeit der beiden Porträtierten zu
unterstreichen. Die Lichtführung wies der Frau -
klischeehaft - die Rolle eines zurückhaltenden We-
sens zu .» 5 3 Im katholischen Adel am Hochrhein
war das nicht anders als bei den bürgerlichen Pro-
testanten Hollands. Ein Vergleich der beiden Kon-
terfeis mit anderen Bildnissen aus der Hohenemser
Porträtgalerie macht deutlich, dass sie in einer sehr
normierten Bildtradion standen, in welcher einzel-
ne Elemente wie Familienwappen und Inschrift
ständig auftauchten oder wie zum Beispiel der
Tisch am linken Bildrand, auf dem die Rechte der
dargestellten Person Halt finden kann, zumindest
häufig anzutreffen waren. 5 4
136
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
SCHWEDEN, SCHULDEN UND SCHÖNER
SCHEIN
Franz Wilhelm wurde hineingeboren in die verroh-
ten Zeiten des Dreissigjährigen Krieges, in denen
die heimatlichen Stammlande in Vorarlberg sowie
seine späteren Herrschaften in Vaduz und Schel-
lenberg von Schwedengefahr, Truppenaufmär-
schen, Hungersnöten, Pest und Hexenwahn ständig
heimgesucht wurden. Dazu von seinem verschwen-
derischen Vater als junger Mann bereits mit hohen
Schulden belastet,55 trieb Franz Wilhelm I. von
Hohenems-Vaduz selber bei beschränkten Einkünf-
ten einen grossen Aufwand und ruinierte sich
finanziell unter anderem mit dubiosen Kriegsspie-
len für den spanischen König. Er führte als absolu-
tistischer Fürst einen zwar zeitgemässen, aber für
seine ökonomischen Verhältnisse zu kostspieligen
Haushalt; die luxuriöse Bekleidung auf den Porträts
der Ehegatten will den schönen Schein zumindest
nach aussen hin wahren.
Der Hohenemser Graf der Vaduzer Linie blieb
damit allerdings der Familientradition treu und er-
höhte standesgemäss die Schuldenlast. Inwieweit
Franz Wilhelm die von seinem Grossvater Kaspar
seit den 1725er Jahren forcierte Idee eines emsi-
schen Fürstentums mit dem Ziel einer geeinten
Herrschaft auf der ganzen Rheinstrecke zwischen
Bodensee und Luziensteig auf Kosten des Hauses
Österreich noch aktiv verfolgte, kann an dieser
Stelle nur aufgeworfen, aber nicht beantwortet
werden. 5 6 Die Vorstellung eines emsischen Territo-
rialstaates zwischen der Schweiz und Österreich
dürfte auch unter wirtschaftlichen Erwägungen für
Franz Wilhelm von Interesse gewesen sein. Aber
dazu kam es nicht mehr. Im Gegenteil, die Hohen-
emser Misswirtschaft und Unbeliebtheit der Gra-
fenfamilie in der Bevölkerung nahm Überhand,
und unter seinem ältesten Sohn Ferdinand Karl
(1650-1693) wurde den Llohenemsern durch kai-
serliche Verfügung die Regierung in der Grafschaft
Vaduz und Herrschaft Schellenberg entzogen und
der Boden für den Übergang an das Haus Liechten-
stein vorbereitet - mit dem man nun immerhin ver-
wandt war. 5 7
FERN SEHEN IN DIE VERGANGENHEIT
Mit diesem Beitrag haben wir versucht, die Mög-
lichkeiten und Grenzen des historischen Blicks auf
den verschiedensten Ebenen auszuloten. In dem
1906 und dann wieder 1993 in Vaduz bekannt ge-
wordenen Gemälde aus dem 17. Jahrhundert mit
der ganzfigurigen Darstellung von Franz Wilhelm I.
von Hohenems liegt die älteste und für lange Zeit
einzige (!) wirklichkeitsgetreue Darstellung von
Schloss Vaduz vor. 5 8 In der Annahme, dass das Bild
- wie auch sein Pendant mit der Frau Gemahlin -
kurz vor oder nach dem auf dem Bild befindlichen
Datum 1662 gemalt sein dürfte, wobei die Ab-
klärung einer eventuellen Kopie noch der vertieften
kunstwissenschaftlichen Forschung bedarf, haben
wir den Bauzustand aus späthohenemsischen Zei-
49) Stammtafel nach Bergmann bei Schaffer 1881. - Siehe Elisabeth
Castellani Zahir: «... Ich und meine Tochter Elisabeth». Gräfin
Kinsky-Wilczek (1859-1938). In: Inventur. Zur Situation der Frauen
in Liechtenstein. Bern, Dortmund, 1994, S. 162.
50) Z. B. Jakob Hannibal I. und Hortensia Borromea von Hohenems
(1578), die in der Hohenemser Ausstellung 1993 zu sehen waren
(Abb. Faltprospekt 1993); das junge Ehepaar Kaspar und Eleonora
Philippina (1597) (Abb. Welti 1963, Tafel 1); Jakob Hannibal II. und
Anna Sidonia von Teschen (1617) (Abb. Welti 1963, Tafel 20).
51) Die beiden Doppelporträ ts aufgetrennten Tafeln, zwei Brustbil-
der und zwei ganzfigurige Bilder von Franz Wilhelm I. und Eleonora
Katharina von Hohenems-Vaduz, sind aufgeführ t bei Bergmann
1861 (Nr. 27, 28, 30 u. 31 ), Schaffer 1881 (Nr. 21, 62, 77 u. 78 [das
Brustbild Eleonores ist mit 1663 datiert]). - Welti 1930 bildet das
ganzfigurige Ehepaa rpor t r ä t auf den Tafeln 26 und 27 ab.
52) Kuby 1995, S. 18, siehe dort Abb. 5.
53) Ebenda, S. 14 f.
54) So bei den Ganzfigurenbildern von Jakob Hannibal I. (1578).
Kardinal Markus Sittich III. (1595) und Kaspar von Hohenems
(1614). die in der Hohenemser Ausstellung 1993 zu sehen waren
(Abb. Faltprospekt 1993).
55) Welti 1930, S. 118.
56) Ebenda, S. 106 - 115.
57) Castellani 1993 L S. 44 - 47.
58) Die zu Beginn der Liechtensteiner Herrschaft. 1721 angefertigten
Heber-Ansichten stellen den vorhandenen und projektierten Archi-
tekturbestand von Schloss Vaduz zwar sehr detailreich vor. sind aber
kein wirklichkeitsgetreues Abbild der Burganlage. Siehe Castellani
1993 I. S. 47-52 (mit Abb.) und S. 318 f.
137
ten vor uns, der ein authentisches Bild der Südseite
(Abb. 3) zeigt und damit die wichtigsten Gebäude
des nachmittelalterlichen Vaduzer Burgkomplexes
wiedergibt: Burgtor zum Westzwinger, Saalbau,
Südrondell und Bergfried sowie Gartenanlage. Die
Bildquelle ist als Ergänzung zu zeitgenössischen
Schriftquellen für die Bauforschung von unschätz-
barem Wert. Sie ist als Begründung für mögliche
Rekonstruktionen, wie es die Zeit der Jahrhundert-
wende, auch damals schon vergeblich, versuchte,
jedoch untauglich.
Das in der Würde der ganzfigurigen Darstellung
gehaltene Herrscherbildnis von Franz Wilhelm I.
von Hohenems-Vaduz (Abb. 1) - seinerseits nur die
linke Hälfte des zusammengehörigen Ehepaarpor-
träts mit Eleonora-Katharina von Hohenems-Für-
stenberg (Abb. 2) - konnte in seinen formalen und
inhaltlichen Strukturen als Herrschaftslegitimation
für die Vaduzer Linie der Hohenemser Reichsgra-
fen entschlüsselt werden. Dass dies zu einer Zeit
stattfand, in der sich das Haus Hohenems im finan-
ziellen wie politischen Niedergang befand, ist tragi-
sches Schicksal des dargestellten gerade 34-jähri-
gen Grafen. Sein nach innen gekehrter Blick ist
vielleicht das Ehrlichste auf dem Bildnis aristokra-
tischer Repräsentation.
Abb. 12: Südansicht von
Schloss Vaduz auf einer
Fotografie von 1909
138
EIN BLICK AUS DEM FENSTER
ELISABETH CASTELLANI ZAHIR
BILDNACHWEIS
Abb. 1,2,3: Mestke muze-
um a galerie, Policka
(Tschechien)
Abb. 6, 7, 8: Nachlass
Alois Gstrein, Archiv
Denkmalpflege Bozen
(Südtirol).
Abb. 4, 9, 10, 11, 12:
Hausarchiv der Regieren-
den Fürsten von Liechten-
stein, Vaduz
Abb. 5: Familienarchiv
Rheinberger, Vaduz.
ANSCHRIFT
DER AUTORIN
Dr. Elisabeth Castellani
Zahir
Holbeinstrasse 77 A
CH-4051 Basel
139
DIE MUNDART
DES FÜRSTENTUMS
LIECHTENSTEIN
S P R A C H F O R M E N G E B R A U C H , L A U T W A N D E L U N D
L A U T V A R I A T I O N
R O M A N B A N Z E R
Inhalt
Z U M G E L E I T 145
I. A L L G E M E I N E R TEIL 148
1. VORBEMERKUNGEN 148
1.1. D A T E N ZUR G E S C H I C H T E D E R
JÜNGEREN V E R G A N G E N H E I T 148
1.2. G E O G R A P H I S C H E U N D
W I R T S C H A F T L I C H E B E S C H R E I B U N G 149
1.3. Z I E L S E T Z U N G 150
1.4. T H E O R E T I S C H E V O R B E M E R K U N G E N 151
II. B E S O N D E R E R T E I L 153
2. DER GEBRAUCH VON MUNDART
UND STANDARDSPRACHE 153
2.1. A L L G E M E I N E S Z U M
S P R A C H F O R M E N - G E B R A U C H 153
2.2. T H E O R E T I S C H E
V O R B E M E R K U N G E N 155
2.3. CODE-SWITCHING 157
2.4. DIE DOMÄNEN 158
2.4.1. Gerichte 159
2.4.2. Parlamente und Verwaltung 160
2.4.3. Kirche 162
2.4.4. Bildungswesen 163
2.4.5. Öffent l ichkei t 167
2.4.6. Famil ie , Freizeit und Vereine 169
2.4.6.1. F ü r s t e n h a u s 171
2.4.7. Arbeitswelt 172
2.4.8. Zusammenfassung 174
2.4.9. Vergleiche zur Schweiz und
zu Ös te r re ich 174
142
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
3. DIE LIECHTENSTEINER
MUNDART. BEHARRUNG UND
VERÄNDERUNG 176
3.1. A L L G E M E I N E S ZUR B A S I S M U N D A R T 176
3.2. B A S I S M U N D A R T - O R T S M U N D A R T 177
3.2.1. Die Erhebung der Laute der Basis-
mundart 178
3.2.2. Untersuchungsanordnung 179
3.2.3. Auswer tung 180
3.3. DIE L A U T E D E R B A S I S M U N D A R T 180
3.3.1. Die Vokale 181
3.3.1.1. Die kurzen Vokale 181
3.3.1.2. Die langen Vokale 185
3.3.1.3. Die Diphthonge 187
3.3.1.4. Abweichungen zu Jutz 189
3.3.2. Die Konsonanten 190
3.3.2.1. Halbvokale 190
3.3.2.2. Liquide 190
3.3.2.3. Nasale 191
3.3.2.4. Labiale 191
3.3.2.5. Gutturale 192
3.3.2.6. Dentale 192
3.4. S P R A C H G E O G R A P H I S C H E
U N T E R S C H I E D E 194
3.4.1. Das Unterland 194
3.4.1.1. Das a- und das o-Gebiet im Unter land 198
3.4.1.2. Hinterschellenberg 199
3.4.2. Das Oberland 201
3.4.2.1. Balzers 201
3.4.2.2. Triesenberg 202
3.4.3. Zusammenfassung 205
3.5. E T Y M O L O G I S C H E
K O R R E S P O N D E N Z E N 206
3.5.1. Monophthonge 206
3.5.2. Diphthonge 206
4. LAUTWANDEL UND
LAUTVARIATION 207
4.1. T H E O R E T I S C H E
V O R B E M E R K U N G E N 207
4.1.1. Entwicklungsregel 207
4.1.2. Basismundart l iches Wort 208
4.2. E M P I R I S C H E A N A L Y S E U N D
U N T E R S U C H U N G S A N O R D N U N G 209
4.2.1. Inventar der potentiell variablen
Entwicklungsregeln i n basismund-
artlichen W ö r t e r n 209
4.2.2. Inventar der potentiell var iablen
Entwicklungsregeln in nichtbasis-
mundart l ichen W ö r t e r n 209
4.2.3. Das Untersuchungsinstrumentarium 212
4.2.3.1. A u s w a h l der Rededeterminanten 213
4.2.3.2. Die Probanden 215
4.2.4. Das Interview 216
4.3. E R G E B N I S S E 216
4.3.1. Inventar der var iablen
Entwicklungsregeln 218
4.3.2. B a s i s m u n d a r t l i c h -
Nichtbasismundart l ich 221
4.3.3. Triesenberg 223
4.3.4. Die Nasal ierung i m Unter land 223
4.3.5. Die Konsonanten 224
143
4.4. N E U E R U N G E N U N D
I N T E R F E R E N Z E N 224
4.4.1. Neuerungen i n allen Ortsmundarten 225
4.4.2. Neuerungen in den Ortsmundarten
des Oberlandes 226
4.4.2.1. Neuerungen in der Ortsmundart
von Schaan 227
4.4.3. Neuerungen i n den Ortsmundarten
des Unterlandes 227
4.4.3.1. Neuerungen i n den Ortsmundarten
von Eschen, Mauren , Gampr in und
Ruggell 229
4.4.3.3. Neuerungen i n den Ortsmundarten
von Gampr in und Hinterschellenberg 229
4.4.2.1. Neuerungen i n der Ortsmundart
von Eschen 229
4.5. DIE S O Z I A L E N U N D S I T U A T I V E N
R E D E D E T E R M I N A N T E N 230
4.5.1. Das Oberland 230
4.5.2. Das Unterland 231
III. A N H A N G
5. Anmerkungen
6. Bibl iografie
7. A b k ü r z u n g e n
7.1. Geographische A b k ü r z u n g e n
8. Zur Transkript ion
9. Liste der G e w ä h r s p e r s o n e n
10. Cur r icu lum vitae
11. Dankadresse
236
236
239
244
244
245
245
246
246
4.6. SCHLUSS 233
144
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Zum Geleit
Dissertation zur Er langung der D o k t o r w ü r d e an
der philosophischen Faku l t ä t der Univers i tä t F re i -
burg in der Schweiz.
Genehmigt von der Philosophischen Faku l t ä t auf
Antrag der Professoren Walter Haas (1. Gutachter)
und Georges Darms (2. Gutachter).
Freiburg, den 25. Februar 1994
Prof. Dr. Jean-Luc Lambert, Dekan
Das F ü r s t e n t u m Liechtenstein g e h ö r t zu den Staa-
ten deutscher Sprache, i n denen die Mundar t i m
täg l i chen Leben eine privilegierte Stellung ein-
nimmt, da sie von allen Bevö lke rungs sch i ch t en in
allen a l l täg l ichen Situationen gesprochen w i rd .
Diese Sprachsitutation, die das F ü r s t e n t u m mit der
deutschen Schweiz teilt, galt vor nicht allzulanger
Zeit wei therum im oberdeutschen Sprachgebiet.
Durch die neuern Entwicklungen in der Bundes-
republik und i n Ös te r r e i ch ist sie hinter die Gren-
zen der beiden Kleinstaaten z u r ü c k g e d r ä n g t wor-
den, die nie mit Sprach- oder auch nur Dialekt-
grenzen zusammenfielen - heute aber zu «Sp rach -
v e r h a l t e n s g r e n z e n » geworden sind.
Der intensive Gebrauch der Mundar t im täg-
lichen Leben bedeutet Lebendigkeit, Lebendigkeit
bedeutet V e r ä n d e r u n g . Dass der Wortschatz nur
mit den Entwicklungen des Lebens Schritt halten
kann, indem er sich v e r ä n d e r t , sieht man leicht
ein. Von der V e r s t ä n d i g u n g s f u n k t i o n der Sprache
her schwieriger zu begreifen ist dagegen, dass sich
auch Lautung, Formen und Satzbau i n dauerndem
U m b a u befinden. Abe r die Sprache hat auch an-
dere Aufgaben als die blosse Ver s t änd igung ; nicht
zuletzt dient sie dazu, Zugehör igke i t und deren
Grenzen zu markieren. Dies ist heutzutage viel-
leicht die wichtigste Funkt ion der lokalen Mundart-
unterschiede. Gerade die Laute sind ü b e r a u s geeig-
net, lokale Herkunft zu signalisieren, ohne doch die
inhaltliche V e r s t ä n d i g u n g zu behindern.
Mi t seiner Arbei t hat s ich Roman Banzer zwei
Ziele gesetzt. Z u m einen w i l l er den Gebrauch der
Mundar t i m F ü r s t e n t u m Liechtenstein beschrei-
ben. Z u m andern w i l l er die lautlichen V e r ä n d e -
rungen, die die Mundar ten i n den letzten Jahr-
zehnten erfahren haben, dokumentieren. Bei der
Darstellung des Sprachgebrauchs verfäl l t Banzer
nicht dem Fehler, sich als geborener Liechtenstei-
ner auch schon f ü r eine geborene Autor i t ä t auf die-
sem Gebiet zu halten; deshalb b e g n ü g t e er sich
nicht mit einer essayistischen Beschreibung des
schon immer Gewussten, sondern erhob in U m f r a -
gen bei zahlreichen G e w ä h r s p e r s o n e n den Sprach-
gebrauch bei den Gerichten, in Parlament und Ver-
waltung, in Kirche, Bildungswesen, Öffentl ichkeit ,
145
Famil ie , Freizeit und Arbeitswelt; eine Notiz gilt
sogar dem Sprachgebrauch des F ü r s t e n h a u s e s .
Ausser i m kirchl ichen Bereich weisen Banzers
Erhebungen eine grosse Ähnl ichke i t zwischen
Liechtenstein und der deutschen Schweiz nach und
u n ü b e r s e h b a r e Unterschiede g e g e n ü b e r Vorar l -
berg. Diese Konstellation ist ein Hinweis darauf,
dass das ös t e r r e i ch i sche Bundesland erst i n j ü n g e -
rer Zeit einen andern Entwicklungsweg eingeschla-
gen hat, da Liechtenstein ja vor noch nicht al lzu
langen Jahren enger mit seinem ö s t e r r e i c h i s c h e n
Nachbarn verbunden war. Es w i r d s p ä t e r e inmal
interessant sein zu beobachten, ob der Beitritt des
Landes zum E W R den Mundartgebrauch zu beein-
flussen vermochte.
Der zweite Teil von Banzers Arbei t , der sich mit
den Lauten der Liechtensteiner Mundar ten und
ihren V e r ä n d e r u n g e n beschäf t ig t , ist wesentlich
schwieriger zugängl ich . Das ist aber, wie ein Blick
in jede einigermassen umfassende dialektologische
Studie zeigt, fast nicht zu vermeiden. Wer M u n d -
arten vergleichen wi l l , benö t ig t eine Vergleichs-
grundlage. Da unsere Dialekte nicht von der neu-
hochdeutschen Standardsprache abstammen, eig-
net sich deren Lautsystem schlecht als « t e r t i um
c o m p a r a t i o n i s » , man muss dazu die mittelhoch-
deutschen Laute w ä h l e n . Al l e in schon dies macht
die Lek tü re dialektologischer Arbei ten nicht eben
zur leichten Bet t lektüre . Wenn es d a r ü b e r hinaus
nicht bloss u m den Vergleich von Mundar ten son-
dern auch noch u m die vergleichende Beschrei-
bung ihrer V e r ä n d e r u n g e n geht, dann vervielfa-
chen sich die Schwierigkeiten f ü r den Autor wie
f ü r den Leser.
Wenn in einer Mundar t «ein und dasselbe Wort»
auf zwei verschiedene Weisen ausgesprochen wer-
den kann, dann ist dies ein Indiz dafür , dass eine
V e r ä n d e r u n g ab läuf t . Die meisten Untersuchungen
mundart l icher L a u t v e r ä n d e r u n g e n b e g n ü g e n sich
damit, einigen z u m voraus bekannten Variabein
nachzugehen: « F r ü h e r sagte man i m Oberland nur
L ä ä t e r e / L a a t e r e f ü r <Leiter>, heute h ö r t m a n auch
Leitere - schauen w i r uns ma l diese Var ianz
genauer an: Wer sagt wie oft und in welchen W ö r -
tern noch ä ä oder aa, wer aber ei?» Die Origina-
lität von Roman Banzers Ansatz beruht nun vor
al lem darauf, dass der Autor sich nicht mit einigen
zufäl l ig beobachteten Var iabein zufr ieden gibt,
sondern zuerst einen mögl ichs t umfassenden
Überbl ick ü b e r jene Laute zu gewinnen sucht, die
i n den Mundar ten des F ü r s t e n t u m s ü b e r h a u p t
vari ieren. Dazu musste er die Mundar ten aller elf
Gemeinden des Landes (und zusä tz l ich Hinter-
schellenbergs) systematisch auf Variat ionskandida-
ten sozusagen « a b k l o p f e n » . Das ist einfacher ge-
sagt als getan und zwingt zu einem mehrstufigen
Vorgehen. A u f einer ersten Stufe geht es u m die
Erhebung eines mögl ichs t konservativen, « g r u n d -
m u n d a r t l i c h e n » Lautstands, der aber doch i n
unsern Tagen noch vorhanden ist - deshalb musste
Banzer diesen Lautstand selbst bei alten, eingeses-
senen G e w ä h r s p e r s o n e n erheben, er konnte ihn
nicht einfach etwa aus dem Buch von Leo Jutz
(1925) ü b e r n e h m e n , und der VALTS war noch
nicht so weit publiziert . Resultat ist ein historischer
Lautatlas des F ü r s t e n t u m s i n Tabellenform, Ne-
benprodukt ein Inventar der V e r ä n d e r u n g e n der
« G r u n d m u n d a r t » seit Jutz.
Dieser Lautatlas bildet nun die Grundlage fü r die
zweite Stufe, die Ermit t lung der heute mögl i che r -
weise vari ierenden Laute i n den Mundar ten. Als
potentielle Var iabein betrachtete Banzer zuerst ein-
m a l s ämt l i che mittelhochdeutschenen Lautungen,
die in den Mundar ten Liechtensteins geographisch
unterschiedliche Entsprechungen aufweisen, also
etwa mhd. e, dessen Fortsetzung i m Oberland ge-
schlossen ausgesprochen w i r d : Weg, i m Unterland
aber offen: W ä g . Bei solchen Unterschieden kön-
nen L a u t v e r ä n d e r u n g e n durch den Einfluss einer
Nachbarmundar t erwartet werden, die entspre-
chenden Laute s ind Kandidaten f ü r Variat ion. Aber
Lautvarianten k ö n n e n sich nicht nur durch den
Einfluss von Nachbarmundar ten ergeben; h ä u f i g e r
noch d ü r f t e n Einf lüsse durch die Hochsprache
sein. Deshalb e r g ä n z t e Banzer den Katalog der po-
tentiellen Variabein, und auch dies wieder auf em-
pir i schem Weg: E r untersuchte die freie Rede von
j ü n g e r n , weniger « b o d e n s t ä n d i g e n » Sprechern und
fand dabei Abweichungen von den grundmundart-
l ich zu erwartenden Lautungen sowohl i n einhei-
146
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
mischen W ö r t e r n wie in Neologismen. A u f diese
Weise ergab sich schliesslich eine Liste von 53 «va-
r i a t i onsve rdäch t i gen» Lautungen.
A u f der dritten Stufe galt es nun, die t a t säch l i che
Variat ion zu erheben. Dazu musste Banzer auf
einer neuen Erhebungsreise seine Variablenliste in
allen Gemeinden des F ü r s t e n t u m s bei je vier jun-
gem Personen mit unterschiedlichem Beruf abfra-
gen. Aufg rund dieses Materials nun kann die heu-
tige Variat ion in den Mundar ten Liechtensteins, da-
mit aber auch ihr « V e r ä n d e r u n g s p o t e n t i a l » darge-
stellt werden.
Dass Variat ion besteht, w i r d e r w a r t u n g s g e m ä s s
bestä t igt . Sprachtheoretisch wicht ig ist das Ergeb-
nis, dass mundart f remde Lautungen vor al lem i n
W ö r t e r n vorkommen, die aus der Standardsprache
importiert s ind und die jenen Lautungen sozusagen
als «Tro jan i sches P fe rd» dienen. Sprachgeogra-
phisch wicht ig ist das Ergebnis, dass sich Mundart-
ausgleich in Liechtenstein nur in einer Richtung
abspielt: Das Unterland gleicht sich an das Ober-
land an. Sprachsoziologisch wicht ig ist das uner-
wartete Ergebnis, dass sich zumindest aufgrund
dieser Stichprobe kein Unterschied i m Sprachver-
halten von Pendlern und Nichtpendlern, von ma-
nuell Tä t igen und nichtmanuel l Tät igen erweisen
lässt. Liechtensteinische Mundartsprecher schei-
nen ü b e r verschiedene Normen zu v e r f ü g e n und
genau zu wissen, wie «ech te M u n d a r t » beschaffen
ist und wann m a n sie brauchen muss, wie «weit-
läuf igere M u n d a r t » beschaffen ist und wo m a n sie
zu sprechen hat.
Der fernerstehende Dialektologe w i r d sich vor al-
lem f ü r die allgemeineren Ergebnisse von Roman
Banzers Untersuchung interessieren. Fü r die Liech-
tensteiner selber kann die Arbei t als Bestandesauf-
nahme der Lau tve rhä l tn i s se in den Mundar ten
Liechtensteins am Ende dieses Jahrhunderts die-
nen, wobei sie nicht nur eine « b o d e n s t ä n d i g e »
Schicht, sondern auch eine neuere, variierende,
fluktuierende Schicht einzufangen sucht. Wenn man
sich erst an die abstrakte Darstellung gewohnt hat,
in der Tabellen eine grosse Rolle spielen, w i r d man
diese Arbei t auch als praktisches Nachschlagewerk
schä t zen lernen.
E infach macht es einem Roman Banzer nicht.
Abe r er hat es auch sich selber nicht einfach ge-
macht.
Freiburg, i m F r ü h l i n g 1997
Prof. Dr. Walter Haas
147
1 .
Vorbemerkungen
I.
Allgemeiner Teil
1.1 .
DATEN ZUR GESCHICHTE DER JÜNGEREN
VERGANGENHEIT 1
1719 Erhebung von Vaduz und Schellenberg zum
R e i c h s f ü r s t e n t u m Liechtenstein.
1806 Liechtenstein w i r d als s o u v e r ä n e r Staat in
den Rheinbund aufgenommen.
1815 Liechtenstein w i r d s o u v e r ä n e s Mitglied des
Deutschen Bundes.
1848 Revolutionsjahr: Das Volk verlangt mehr
Rechte und Freiheit .
1862 Konstitutionelle Verfassung. Aufwer tung des
Landtages.
1866 Auf lösung des Deutschen Bundes.
1868 Auf lösung des liechtensteinischen Mil i tärs .
1914 Liechtenstein bleibt i m Ersten Weltkrieg neu-
tral, erleidet V e r s o r g u n g s e n g p ä s s e und hohe
Arbeitslosigkeit , w i r d f inanzie l l und wirt-
schaftl ich ruiniert.
1918 Entstehung der ersten politischen Parteien.
1919 K ü n d i g u n g des Zollvertrages mit Ös te r re ich .
1920 Abschluss des Postvertrages mit der
Schweiz.
1921 Neue Verfassung.
1924 Zollvertrag mit der Schweiz. Der Schweizer
Franken w i r d W ä h r u n g .
1927 Rheineinbruch bei Bendern.
1938 F ü r s t F ranz Josef II. w ä h l t Vaduz als s t änd i -
gen Wohnsitz.
1939 Liechtenstein w i r d nicht in die kriegerischen
Auseinandersetzungen des Zweiten Welt-
kriegs verwickelt .
1945 Rasche Entwicklung von Industrie-, Gewer-
be- und Dienstleistungsbetrieben.
1950 Mitgliedschaft beim Internationale Gerichts-
hof in Den Haag.
1960 Beteiligung an der E u r o p ä i s c h e n Freihan-
delsassoziation.
1972 Zusatzabkommen ü b e r die Geltung des A b -
kommens zwischen der E u r o p ä i s c h e n Wir t -
schaftsgemeinschaft und der Schweiz fü r das
F ü r s t e n t u m Liechtenstein.
1978 Beitritt zum Europarat .
148
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
1980 W ä h r u n g s v e r t r a g zwischen dem F ü r s t e n t u m
Liechtenstein und der Schweiz.
1982 Unterzeichnung der E u r o p ä i s c h e n M e n -
schenrechtskonvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreihei ten.
1984 Frauenst immrecht e inge füh r t .
1989 Tod S.D. Fü r s t F ranz Josef II. und I.D. Für -
stin Gina.
1990 Huldigungsfeier F ü r s t Hans -Adam II.
1990 Beitritt zur UNO.
1991 Beitritt zur E F T A .
1.2.
GEOGRAPHISCHE UND WIRTSCHAFTLICHE
BESCHREIBUNG
Liechtenstein liegt a m Rhein zwischen der Schweiz
und Öster re ich , etwa 50 km südl ich von St. Gallen,
in der Mitte zwischen Bregenz und Chur und nur
wenige Kilometer von Feldkirch . Das Land ist
160 k m 2 gross, grenzt i m Westen an den Kanton
St. Gallen, i m S ü d e n an G r a u b ü n d e n und i m Norden
und i m Osten an Vorarlberg. Von den 160 k m 2 s ind
34,8 Prozent Wald, 25,2 Prozent unproduktives und
ü b e r b a u t e s Land , 24,3 Prozent landwirtschaft l iche
Kul tur f läche und 15,7 Prozent Alpweiden . Der tief-
ste Punkt ist 430 m, der h ö c h s t e 2599 m ü b e r Meer:
der Grauspitz i n der zu Triesen g e h ö r i g e n Alp
Lawena. Liechtenstein besteht aus zwei historisch
b e g r ü n d e t e n Landschaften, dem Unterland, ent-
standen aus der Flerrschaft Schellenberg, und dem
Oberland, entstanden aus der Herrschaft Vaduz.
Zum Unterland g e h ö r e n die Gemeinden Eschen
(10,3 km 2 ) , Mauren (7,4 km 2 ) , Ruggell (7,4 km 2 ) ,
Gamprin-Bendern (6,1 km 2 ) und Schellenberg
(3,5 km 2 ) . Zum Oberland g e h ö r e n Triesenberg
(29,7 km 2 ) , Schaan (26,8 km 2 ) , Triesen (26,3 km 2 ) ,
Balzers (19,6 km 2 ) , Vaduz (17,3 km 2 ) und Planken
(5,3 km 2 ) . Ende 1990 lebten 29'032 Personen in
Liechtenstein, davon 9 T 5 7 i m Unter land. 2
1812 hatte das Land eine W o h n b e v ö l k e r u n g von
5797 Einwohnern und 1852 von 8162. Diese Zah l
wurde immer wieder durch massive Auswande-
rungen dezimiert. «Die Lebensunterhaltsquellen
waren die Landwirtschaft , etwas Kleingewerbe und
Kleinhandel . Eine Industrie, welche einem grösse -
ren Bevö lke rungsan te i l Verdienstgelegenheit gebo-
ten h ä t t e , war nicht vorhanden. U m die Jahrhun-
dertwende bis 1914 waren gute A n f ä n g e auf dem
Wege der Industrialisierung gemacht, auch die M a -
schinenstickerei als Heimarbei t erlangte g r ö s s e r e
Bedeutung.
Die Folgen des Ersten Weltkrieges und der voll-
s t änd ige wirtschaft l iche Zusammenbruch des da-
maligen Wirtschaftspartners Ös te r re ich z e r s t ö r t e n
diesen Aufbau . Die Stagnation des Bevö lke rungs -
standes hielt ab 1852 bis 1921 an . . . nach 1921 ist
ein stetiges Anwachsen der W o h n b e v ö l k e r u n g fest-
zus te l len .» (Beck 1976, S. 115) Danach und vor
allem nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Liech-
tenstein einen wir tschaft l ichen Aufschwung, der
die Industrie und das Gewerbe auf einen ausserge-
w ö h n l i c h hohen Standard und zu internationaler
Anerkennung brachte. Eben diese Exportindustrie
wurde zur Basis der Volkswirtschaft . So waren
1980 von 13'000 E r w e r b s t ä t i g e n 367 (2,8 Prozent)
in der Landwirtschaft tä t ig, w ä h r e n d es 1930 im-
merh in noch 40 Prozent waren.
Liechtenstein hat sich in den letzten fünfz ig Jah-
ren von einem armen Bauernland zu einem rei-
chen Industriestaat entwickelt. Das Ä u s s e r e des
Landes hat sich augenfä l l ig g e ä n d e r t und ist ein
deutliches Indiz f ü r die Umgestaltung unserer Ge-
sellschaft. Der wirtschaftl iche Aufschwung hat sei-
ne Auswi rkungen auf das soziale Geflecht des Lan-
des mit V e r ä n d e r u n g e n auf kultureller, politischer
und menschlicher Ebene. Dies hat in der Vergan-
genheit in unterschiedlichen Bereichen zu U m -
w ä l z u n g e n ge füh r t , die nicht ohne politische M e i -
nungsverschiedenheiten vor sich gingen. In den
letzten Jahren scheint nach einer kaum aufzuhal-
tenden For t sch r i t t sg läub igke i t mit dem Schlagwort
des qualitativen Wachstums eine Tempoverlangsa-
mung stattgefunden zu haben. Die Lebensqua l i t ä t
r ück t wieder mehr in den Mittelpunkt. Dies f ü h r t e
auch zu einer R ü c k b e s i n n u n g auf Tradit ionen und
zu einem neuen Erwachen des H e i m a t g e f ü h l s , teil-
weise verbunden mit Ersatzhandlungen und un-
echten folklorist ischen Attr ibuten.
149
Hiermit einher gehen auch die Diskussionen um
den Verlust der liechtensteinischen Dorfmundar-
ten. M a n beklagt den Untergang des e igens t änd i -
gen Dialekts und verbindet dies mit der Aufgabe
einer w ä h r e n d Jahrhunderten gewachsenen kultu-
rellen Eigenart. M a n erinnert sich an beinahe in
Vergessenheit geratene Worte, pflegt diese i n
einem zum Teil küns t l i chen Stil, und verbindet mit
dem Verschwinden dieser althergebrachten Lexe-
me, die meist aus dem b ä u e r l i c h e n Umfeld stam-
men, gleichbedeutend den Untergang der eigenen
Mundart . « U n s e r e Leute kommen jetzt viel mehr
mit dem Schriftdeutschen zusammen als f rühe r . Es
kommen heute viele A u s l ä n d e r ins Land, mit denen
muss m a n Schriftdeutsch sprechen, wei l die mei-
sten unseren Dialekt nicht verstehen k ö n n e n . Es
gibt aber auch Leute, die meinen, es sei nobler,
wenn man nur mehr Schriftdeutsch rede und die
ungehobelte Bauernsprache gar nicht mehr ge-
brauche. Diejenigen, die so denken, sind gottlob
noch nicht zu zäh len , aber es gibt schon einige sol-
che. Die Hauptgefahr f ü r unseren Dialekt kommt
aber nicht von jener Seite, nein, die Hegt i m lang-
samen Abschleifen und Angleichen. Diejenigen
A u s d r ü c k e , die f ü r den Fremden am schwersten
ve r s t änd l i ch sind, ersetzt man durch schriftdeut-
sche W ö r t e r und damit verliert der Dialekt mit der
Zeit seine Eigenart und auch seinen Reiz» (Frick
1960, o. S.).
Wie s ind solche Aussagen zu werten? «Ist nun
aber unsere Muttersprache wi rk l i ch bedroht durch
die erschreckende Gleichgültigkeit , Verantwor-
tungslosigkeit und Lieblosigkeit, mit der viele Zeit-
genossen m i r ihr umgehen? Es ist schwer, eine
Entwicklung zu beurteilen, in der m a n mitten dr in-
steht. Immerhin lehrt uns die Geschichte der deut-
schen Sprache recht deutlich, dass sich die Sprache
stets gewandelt hat, dass es immer be im Wandel
geblieben und nie zu dem Zerfal l gekommen ist,
den man ihr schon u n g e z ä h l t e Male voraussagte.
A u c h in f r ü h e r e n Zeiten hat es Verantwortungslo-
sigkeit und Lieblosigkeit g e g e n ü b e r der Sprache
gegeben, A u s w ü c h s e und Wildwuchs in ihrer Ent-
wicklung. Abe r stets hat sie es ve rk ra f t e t» (Schläp-
fer 1987, S. 14). Dass die Mundar t sich ä n d e r t , ist
nicht zu bezweifeln, dass die Mundar t in der heuti-
gen Zeit V e r ä n d e r u n g e n durchmacht, wie schon
seit Jahrhunderten nicht mehr, ist offensichtlich.
Abe r was lebt, ist aus sich heraus Ä n d e r u n g e n un-
terworfen.
1.3.
ZIELSETZUNG
Wie steht es nun d iesbezüg l i ch u m die Mundar t des
F ü r s t e n t u m s Liechtenstein? Die vorhegende Arbei t
ist der Versuch, auf die Fragen des Sprachwandels
und der Sprachvariat ion Antwor ten zu f inden. Sie
ist aber auch der Versuch, die wichtigsten Aspekte
des jetzigen Sprachgebrauchs in wissenschaftl icher
F o r m abzuhandeln und damit seit mehr als 60 Jah-
ren - seit der Arbei t «Die Mundar t von Südvor-
arlberg und L iech tens te in» von Leo Jutz, 1925 -
Neues zu erfahren. Es darf nicht verschwiegen
werden, dass mit dem Vorarlberger Sprachatlas
mit Einschluss des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein,
Westtirols und des Allgäus (VALTS) ein Werk i m
Entstehen begriffen ist, das bezügl ich Ausdehnung
und Arbe i t saufwand dem hier Gebotenen weit
ü b e r l e g e n ist. So ist es die vordringliche Aufgabe
dieser Arbei t , sich mit jenen Themata zu b e s c h ä f t i -
gen, die i m Sprachatlas nicht behandelt werden,
welcher sich in seiner Anlage h a u p t s ä c h l i c h mit
sprachgeographischen Fragen der Grundmundar t
auseinanderzusetzen hat.
N iemand kann i m Moment sagen, was mit der
Mundar t Liechtensteins geschieht. Ä n d e r t sie sich
wirk l ich? Gleichen sich die Dialekte der Dör fe r un-
tereinander immer mehr an? Ist es bald soweit,
dass m a n einen Eschner von einem Vaduzer
sprachlich nicht mehr unterschieden kann? Fra -
gen, die einer K l ä r u n g harren. W ä h r e n d beispiels-
weise in der Schweiz eine k a u m ü b e r s c h a u b a r e
Menge an wissenschaft l ichen Arbei ten ü b e r die
verschiedensten Bereiche der Mundar t forschung
besteht, tut man sich f ü r unser Land schwer, Fun -
diertes aus der Forschung zu erfahren. Die bisher
erschienenen Monographien b e s c h r ä n k e n sich in
ihrer Anlage auf Einzelprobleme und geben somit
150
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
kaum Überbl ick ü b e r die Gesamtheit der Liechten-
steinischen Mundart . W i r wissen, dass i m Rahmen
dieser Dissertation nicht alles nachgeholt werden
kann, was in der Vergangenheit v e r s ä u m t wurde,
hoffen aber, dass sich die nachfolgend demon-
strierte Unwissenheit bezügl ich des fü r s t l i chen
Nachbars etwas mildern lässt . «In Liechtenstein
spricht man deutsch. Allerdings mit einem starken
alemannischen Akzent, der sich an die Dialekte in
Vorarlberg und St. Gallen lehnt. Aber : Das Schwei-
zerdeutsch ist im Vormarsch . Die ö s t e r r e i c h i s c h e n
A u s d r ü c k e sterben langsam a u s » (Vogel 1989).
Der Untertitel b e s c h r ä n k t die Arbei t in ihrer
Ausdehnung und verweist auf jene Punkte, die hier
besonders interessieren: Sprachformengebrauch,
Sprachwandel und Sprachvariat ion. Zuerst w i r d
der Sprachformengebrauch behandelt, also der Ge-
brauch der verschiedenen Var ie t ä t en in den unter-
schiedlichen, situativ und sozial bedingten Sprech-
situationen. Als zweites w i r d die Basismundart
durch eine phonetische Inventarisierung und eine
phonetisch-sprachgeographische Ana lyse 3 darge-
stellt. A u f diesen beiden Kapiteln aufbauend w i r d
schliesslich die Lautvariat ion und der Lautwandel
untersucht. Die Ausr ichtung der vorliegenden A r -
beit ist auf Grund der Analysen des P r i m ä r m a t e r i -
als eindeutig eine praktische. Theorie und Praxis
stehen deutlich in einem ungleichen Verhäl tn is .
Trotzdem soll nachfolgend kurz festgehalten wer-
den, welchem Ver s t ändn i s von Sprache und wel-
cher wissenschaftl ichen Theorie die Untersuchung
unterliegt.
1.4.
THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN
Untersuchungsgegenstand ist der akustische, audi-
tive Kana l , ausgeschlossen ist die nonverbale K o m -
munikation. Die Analyse b e s c h r ä n k t sich auf die
Darstel lungsfunktion 4 (referentiell) der Alltagsspra-
che. Fü r diese Arbei t ist also die Sprache der Wis -
senschaft, der Belletristik etc. nicht von Interesse.
Ebensowenig beschä f t i gen w i r uns mit Fachspra-
chen oder mit geschriebener Sprache. Theoreti-
scher Ausgangspunkt ist die Sprachsoziologie. Dar-
unter w i r d in Anlehnung an Dittmar (1982, S. 20)
eine empirische Disz ip l in zwischen Linguistik und
Soziologie verstanden, die ihre Wurze ln deutlich in
der Sprachwissenschaft hat. Genauer gesagt, es
wi rd eine dialektsoziologische Arbei t erstellt. Im
Gegensatz zur ü b e r g e o r d n e t e n Sprachsoziologie
befasst sich die Dialektsoziologie «mi t solchen Va-
r ie tä ten , die unterhalb der Standardsprache ange-
siedelt s ind .» (Mattheier 1980, S. 15). Diese Theo-
rie basiert auf der heute in der Sprachwissenschaft
allgemein anerkannten Tatsache der Fle terogeni tä t
und His tor iz i tä t der Sprache. 5 W i r verstehen Spra-
che als kommunikat ives Miteinander-in-Bezie-
hung-treten, sie ist einerseits ein Med ium der In-
f o r m a t i o n s ü b e r m i t t l u n g und andererseits ein sozial
integrierendes Instrument zwischen zwei oder
mehreren G e s p r ä c h s p a r t n e r n . Sprache ist soziale
Interaktion, sie integriert oder schliesst aus. Durch
sie kann N ä h e und Kontakt oder eben Ferne und
Kontaktlosigkeit gezeigt werden. Diese an sich tri-
viale Feststellung unterscheidet sich in der Auffas-
sung von der Sprache deutlich von jener der klassi-
schen Dialektologie, wo weder die situative noch
soziale Komponente der Sprache im Vordergrund
stand. Aber eben diese Voraussetzungen impliz ie-
ren die Sprachproduktion und damit auch den
Sprachwandel und die -Variation als extralingui-
stisch determiniert . 6 Phonetische, morphologische,
syntaktische, lexikalische und sprachformenbe-
dingte Varia t ion und W a n d e l v o r g ä n g e in Abhäng ig -
keit von aussersprachlichen, sozialen und situati-
ven Faktoren s ind die Basis der Theorie der Varie-
t ä t e n g r a m m a t i k , die dieser Arbei t zu Grunde liegt.
« A u s g a n g s p u n k t des Konzeptes ist die Tatsache,
dass eine n a t ü r l i c h e Sprache nicht einheitlich ist,
sondern unter anderem zu verschiedenen Zeiten,
an verschiedenen Orten, i n verschiedenen sozialen
Schichten und in verschiedenen Kommunikat ions-
situationen unterschiedliche A u s p r ä g u n g e n auf-
weist. Diese unterschiedlichen A u s p r ä g u n g e n kann
m a n auch als Var ie t ä t en . . . bezeichnen. M a n kann
also eine n a t ü r l i c h e Sprache als ein komplexes
System von Var i e t ä t en betrachten, die miteinander
in einer bestimmten Beziehung, einem Zusammen-
151
Die Einwanderung der Alemannen aus n ö r d -
l ichen N a c h b a r l ä n d e r n sowie die politische und
kirchliche Trennung des Unter- und Oberlandes ha-
ben zu einer deutlichen Sprachgrenze i m Schaaner
Riet g e f ü h r t . 8 Die beiden Landschaften Vaduz und
Schellenberg wurden 1719 zum Staat Liechtenstein
geeint und hatten davor eine unterschiedliche wirt-
schaftlich-politische und kirchliche Ausr ichtung.
Die Verbindung der U n t e r l ä n d e r zu Feldki rch im
benachbarten Vorarlberg ist heute noch stark und
bei der ä l t e ren Generation belegt durch den Aus -
druck «in die Stadt g e h e n » , wenn man nach Feld-
k i rch auf den Mark t ging. «Nicht minder wicht ig
war auch die kirchliche Eintei lung bei der Heraus-
bildung der heutigen mundart l ichen K l e i n r ä u m e .
Eigene Pfarreien (<primäre Patroziniem) bildeten
seit jeher Balzers mit Mäls , Triesen und Schaan i m
Oberland, die zum Dekanat <Unter der Landquart>
gehö r t en , i m Unter land Bendern, Eschen und M a u -
ren, die bis 1370 zum Dekanat Walgau g e h ö r t e n
und erst dann dem Dekanat <Unter der Landquart>
unterstellt w u r d e n » (Gabriel 1981, S. 177).
In Liechtenstein w i r d ein alemannischer Dialekt
gesprochen. Ob dieser aber dem Mittel- oder Hoch-
alemannischen zugeordnet werden soll, d a r ü b e r
herrscht in der Literatur wenig Einigkei t . 9 A u f alle
Fälle lassen sich der klassischen Dialektgeographie
g e m ä s s Isoglossen 1 0 f inden, die die Postulation ei-
ner Liechtensteiner Mundar t f ü r sinnvoll und r ich-
tig erscheinen lassen.
Tabelle 1: Muttersprachen
der Einwohner Liechten-
steins
«Die deutsche Sprache ist die Staats- und Amts-
s p r a c h e » , lautet Ar t . 6 der Verfassung des F ü r s t e n -
tums Liechtenstein. Nach den Angaben des Stati-
stischen Amtes haben i n der Volkszäh lung von
1980 von insgesamt 25'215 E inwohnern 22'892
Deutsch, 152 F r a n z ö s i s c h , 653 Italienisch, 102 Rä-
toromanisch und 1416 « e t w a s A n d e r e s » als Mut-
tersprache (Statistik 1988, S. 40) angegeben. Was
aber heisst hier Deutsch? Weder in der Verfassung
noch i n der Statistik w i r d das Wort n ä h e r definiert,
obwohl unter Deutsch als Muttersprache und
Deutsch als Amtssprache i n Liechtenstein sicher
nicht das Gleiche zu verstehen ist. Die Mutterspra-
che ist vielfach ein alemannischer Dialekt, den i m
Schrif tverkehr der Ä m t e r woh l niemand passend
f inden w ü r d e . Bereits aus diesen Formulierungen
der Verfassung und der Volkszäh lung ergeben sich
einige Probleme zum Sprachgebrauch im F ü r s t e n -
tum Liechtenstein.
E inen u n g e f ä h r e n Anhal tspunkt ü b e r die Zahl der
Mundartsprecher mit Liechtensteiner Dialekt be-
kommt man durch die Gleichsetzung der Liechten-
steiner Bürge r mit den Mundartsprechern. Von ins-
gesamt 27'700 E inwohnern i m Jahre 1988 waren
17 '800 Bürge r Liechtensteins. A u f Grund unserer
Beobachtungen gehen w i r davon aus, dass davon
deutlich mehr als 90 Prozent die Mundar t passiv und
aktiv beherrschen. Rechnet man hier jene E inwoh-
ner h inzu, die seit ihrer Geburt oder viele Jahre ohne
B ü r g e r r e c h t e in Liechtenstein leben und ihren f rem-
< Andere
Fränzösich
f Deutsch
154
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
den Dialekt aufgegeben oder sehr stark an denjeni-
gen Liechtensteins angepasst haben, kann man von
z i rka 20 '000 (72 %) Sprechern der Liechtensteini-
schen Mundar t ausgehen. 1 1 Ausserdem ist mit 4500
(16 %) f remden Mundartsprechern und etwa 1000
(4%) Hochdeutschsprechenden zu rechnen. Zudem
lebten Ende 1990 2902 (9,9 %) Fremdsprachige in
Liechtenstein. 1 2
2.2.
THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN
Die Sprachsituation des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein
w i r d beherrscht durch das funktionale Nebenein-
ander von S tandard 1 3 und Dia lekt . 1 4 M a n spricht
Mundar t und schreibt Hochdeutsch. B e i m unge-
steuerten Erstsprachenerwerb i m Elternhaus w i r d
dem K i n d i n den meisten Fäl len Mundar t vermit-
telt. Dass es sich dabei nicht i n jedem Fa l l um die
Liechtensteiner Mundar t handelt, ist bei dem ho-
hen Ante i l an A u s l ä n d e r n (ca. 30 % der Einwohner)
einleuchtend. Zudem sind auch « M i s c h e h e n » mit
einem Liechtensteiner und einem a u s l ä n d i s c h e n
Partner deutscher Sprache recht häuf ig . Wie der
Spracherwerb in diesen Fäl len ve r läuf t und inwie-
weit sich die p r i m ä r erworbene Sprache bei der
Einschulung wieder ä n d e r t , ist f ü r Liechtenstein
bislang nicht untersucht worden. A u f alle Fälle ge-
schieht die sprachliche Sozialisation, die Integra-
tion in die Sprachgemeinschaft der Mundartspre-
chenden, s p ä t e s t e n s i m Kindergarten. Arbeiten 1"'
zum Umgang von Kindern mit der Diglossie- oder
Bil ingualismussituation haben gezeigt, dass diese
die Sprache mit denjenigen Menschen in Verb in-
dung bringen, die sie sprechen oder mit denjenigen
Situationen, i n denen sie gebraucht w i rd . Kinder
lernen das Code-switching, wenn das in ihrer
Sprachgemeinschaft zum übl ichen Sprachgebrauch
gehör t . Wenn in den K i n d e r g ä r t e n viele Kinder ein-
geschult werden, die von Haus aus einen f remden
Dialekt sprechen, geschieht hier mit dem erstmali-
gen Eintritt in eine neue Sprachgemeinschaft auch
gleichzeitig die E i n f ü h r u n g in einen neuen Sprach-
code. Bei Kindern , von denen ein Elternteil nicht
nativer Mundartsprecher ist, bleibt immer etwas
an individueller Anderssprachigkei t zu rück . Trotz
dieser E i n s c h r ä n k u n g e n kann aber sicher festge-
halten werden, dass beim ungesteuerten Erstspra-
chenerwerb Mundar t «ge le rn t» w i r d .
Erst mit Beginn der Primarschule w i r d dem
Kind normalerweise ü b e r einen gesteuerten Zweit-
sprachenerwerb die Standardsprache verbal und
schrif t l ich vermittelt. Inwieweit sich dieser Sprach-
erwerb vom Er lernen einer Fremdsprache unter-
scheidet und inwieweit hier die Regeln der F remd-
sprachendidaktik angewandt werden k ö n n e n , ent-
zieht sich unserer Kenntnis. Sicher scheint aber,
dass die Standardsprache bezügl ich Stellenwert
und auch Spracherwerb nicht mit einer Fremd-
sprache gleichgestellt werden kann. «Der Deutsch-
schweizer mag die Mundar t als seine Mutterspra-
che ansehen und d e m g e g e n ü b e r der Standardspra-
che als <Vatersprache> oder dingua matrigna>
(Stiefmuttersprache) einen nachgeordneten Rang
zuweisen; aber es ist doch nicht sinnvoll , keinen
Unterschied zu machen zwischen dem Deutschen,
der normalen Lese- und Schreibsprache, und
dem F r a n z ö s i s c h e n , Italienischen und Englischen
als echten F r e m d s p r a c h e n » (Sieber/Sitta 1986,
S. 33 f.).
Das Sprachsystem des F ü r s t e n t u m s Liechten-
stein ist zweistufig. Pr inz ip ie l l w i r d Hochdeutsch
geschrieben und Mundar t gesprochen. Al lgemein
wi rd diese Situation mit dem Terminus der «Media-
len Diglossie» umschr ieben . 1 6 Ohne hier auf die
verschiedenen theoretischen Ausr ichtungen und
Definit ionen der Diglossietheorie einzugehen, soll
als Grundlage eine Defini t ion gegeben werden, die
in der Tradi t ion der nordamerikanischen For-
schung steht. Ferguson hat 1959 einen Begriff in
die Sprachsoziologie eingebracht, 1 7 der i m Laufe
der Zeit von anderen erweitert und verfeinert wur-
de. «Diglossia is a relatively stable language Situa-
tion in which , i n addition to the pr imary dialects of
the language (which may include a Standard or re-
gional Standards), there is a very divergent, highly
codified (often grammatically more complex) su-
perposed variety, the vehicle of a large and re-
spected body of writ ten literature, either of an ear-
155
l ier period or in another speech Community, wh ich
is learned largely by formal education and is used
for most writ ten and fo rmal purposes but is not
used by any sector of the Community for ordinary
conver sa t ion .» (Ferguson 1959, S. 336)
F ü r den verbalen Kommunika t ionskanal sind
nach Ferguson eine funkt ional k o m p l e m e n t ä r e
H - und L-Varietät (high-low) zu unterscheiden. Die
H-Varietä t w i r d f ü r offizielle, öf fent l iche An lä s se
der Politik, Kirche, Literatur und Kul tur gebraucht
und geniesst das h ö h e r e Prestige, die Grammatik
ist komplexer und präskr ip t iv , w i r d in einem for-
malen Vorgang gelernt, ist die Sprache der Litera-
tur und hat ein anderes Lexikon als die L-Varietät ,
die f ü r private, informelle Situationen i n der Fami -
lie, der Nachbarschaft , dem Freundeskreis verwen-
det w i rd , i n einem n a t ü r l i c h e n Spracherwerb pr i -
m ä r vermittelt w i r d und keine p rä sk r ip t i ve Gram-
matik hat. « G u m p e r z haben w i r es zu verdanken,
dass wi r uns nun der Tatsache besser bewusst
sind, dass Diglossie weder nur in mehrsprachigen
Gesellschaften, die off iziel l verschiedene <Spra-
chen> anerkennen, noch lediglich in Gesellschaften,
die Volkssprache und klassische Var ie tä ten ver-
wenden, vorhanden ist, sondern auch in Gesell-
schaften, die verschiedene Dialekte, Register oder
funkt ional differenzierte S p r a c h v a r i e t ä t e n irgend-
welcher Ar t b e n ü t z e n . » (Fishman 1975, S. 96) Fü r
Liechtenstein w ä r e demzufolge die Mundar t die L-
und das Standarddeutsche die H-Varietät . Die Be-
wertung der beiden Var ie t ä t en ist aber mit Be-
stimmtheit eine andere als sie F i shman f ü r seine
Untersuchung festgestellt hat. Die Mundar t besitzt
keinesfalls das geringere Prestige, sie geniesst in
der Schweiz und auch in Liechtenstein ein sehr ho-
hes Ansehen.
F ü r die Sprachsituation der Schweiz wurde i n
den 70er Jahren der Begriff der «Media len Diglos-
sie» e i n g e f ü h r t . 1 8 Danach bedient sich die Mundar t
als gesprochene Sprache des verbalen K o m m u n i -
kationskanals, und das Standarddeutsche ist an
den Schrif tverkehr gebunden. Die W a h l der Varie-
tä t h ä n g t davon ab, ob man spricht oder schreibt.
In dieser Begriffsbildung steckt aber wie in allen
Faustregeln die Gefahr der Vereinfachung und der
Einseitigkeit. Verschiedene wichtige Bedingungen
der Sprachwahl werden ausser acht gelassen.
Jeder Einzelne kann durch eine bewusste Wahl
seinen Sprachcode selber w ä h l e n . In den Schulen
w i r d viel Arbei t und M ü h e darauf verwendet, die
Beherrschung des Standarddeutschen zu vermit-
teln, und ausserdem haben die Ergebnisse unserer
Untersuchungen ergeben, dass fast alle M u n d -
artsprecher durchaus bereit sind, den Code zu
wechseln, also Llochdeutsch zu sprechen, wenn an-
genommen werden muss, dass der K o m m u n i k a -
tionspartner das dialektale Idiom nicht versteht.
Ausserdem w i r d das komplizierte Bedingungsge-
flecht der Sprachwahl auf die mediale Komponente
vereinfacht. Die Abhäng igke i t der V a r i e t ä t e n w a h l
von sozialen und situativen Rededeterminanten
darf nicht v e r n a c h l ä s s i g t werden. Die Real i tä t
zeigt, dass es Fälle gibt, in denen Mundar t ge-
schrieben und Hochdeutsch gesprochen w i rd . Als
Beispiele seien hier etwa der private Briefverkehr
und die Werbung in Mundar t oder die Rede vor
grosser Öffent l ichkei t i n Hochdeutsch genannt. Zu
verweisen bleibt hier noch auf die staatspolitische
Notwendigkeit der m ü n d l i c h e n Beherrschung des
Llochdeutschen, ohne die eine Isolation auf vielen
Ebenen u n u m g ä n g l i c h w ä r e .
Die liechtensteinischen S p r a c h v e r h ä l t n i s s e kön-
nen durch die Theorie der medialen Diglossie allein
nicht ausreichend e rk l ä r t werden. Vor allem m ü s -
sen jene Sprachsituationen beschrieben und er-
k lä r t werden, die die Regel der medialen Diglossie
durchbrechen, wie z . B . die m ü n d l i c h e Verwendung
des Hochdeutschen i n der Schule oder die schrift-
liche Verwendung der Mundar t zur Vorbereitung
einer Dialektrede.
Es ist zu beachten, dass es f ü r die Liechtenstei-
ner Mundar t keine Schreibregeln gibt. Daher ist
der schrift l iche Gebrauch der Mundar t und die
Schreibweise ausschliesslich vom subjektiven Emp-
f inden sowie von p e r s ö n l i c h e n Vorlieben g e p r ä g t
und intersubjektiv schwer nachvollziehbar. Die
Diethsche Dialektschrift ist kaum bekannt und
w ü r d e w o h l auch nicht gerne akzeptiert werden,
obwohl gerade von Mundar td ichtern ab und zu der
Ruf nach einer Vereinheit l ichung der Mundart-
156
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Schreibung laut w i rd . Es scheint jedoch ä u s s e r s t
fraglich, ob es sinnvoll ist, der Mundar t auch in der
Schriftl ichkeit den Weg der Ausdehnung weiter zu
ebnen. Aus der Schweiz und dem benachbarten
Ausland gibt es St immen, die davor warnen, mit
dem Vordringen der Mundar t in verschiedenste Be-
reiche gleichzeitig auch einer sprachlichen Isola-
tion Vorschub zu leisten. 1 9 Eine Untersuchung der
schrift l ichen Verwendung der Mundar t findet in
dieser Arbei t nur nebenbei statt. Daher w i r d i m fol -
genden ohne weiteren Hinweis unter Mundartge-
brauch immer die verbale Verwendung verstan-
den.
Die Sprachproduktion ist, wie oben a u s g e f ü h r t ,
a b h ä n g i g von sozialen Fak toren . 2 0 Die Var ie tä ten-
wahl wi rd induziert durch aussersprachliche, nicht
linguistische Rededeterminanten aus dem sozialen
und situativen Bereich. Die Wissenschaft hat in den
vergangenen Jahrzehnten U n t e r s u c h u n g s a n s ä t z e
geschaffen, die neben der Theorie der medialen
Diglossie helfen, die Bedingungen von Sprachwahl
und Sprachvariat ion und deren gesellschaftliche
Determination zu e r k l ä r e n . Es sind dies die Begrif-
fe des Code-switching und der D o m ä n e n 2 1 und die
damit verbundenen Theorien.
2.3.
CODE-SWITCHING
Rund 98 Prozent von ü b e r 540 Befragten gaben auf
die Frage: «Wie reagieren Sie, wenn Sie mit jeman-
dem ins G e s p r ä c h kommen, der ausschliesslich
Hochdeutsch spricht und den Liechtensteiner Dia-
lekt schlecht v e r s t e h t ? » die Antwort , dass sie sich
anpassen und Hochdeutsch sprechen. G r u n d s ä t z -
lich beherrschen alle Mundartsprecher Liechten-
steins auch das Standarddeutsch. Teilnehmende
Beobachtungen und Befragungen haben ergeben,
dass viele auch dann gerne z u m Standardcode
wechseln, wenn sie wissen, dass der K o m m u n i k a -
tionspartner den Dialekt Liechtensteins versteht,
dass also ein Wechsel aus V e r s t ä n d i g u n g s g r ü n d e n
nicht notwendig w ä r e . Die Bereitschaft der l iech-
tensteinischen Bevölkerung , Standard zu sprechen,
ist sehr hoch, wenn Einheimische in sprachlichen
Kontakt mit Personen kommen, von denen ange-
nommen werden muss, dass sie die Mundar t
Liechtensteins nicht sprechen. Die Mundar t Liech-
tensteins kennt hier den stehenden Ausdruck
« n a c h der Schrift r e d e n » .
Al lgemein w i r d unter Code-switching die Fäh ig -
keit der Sprecher verstanden, nach Anforderung
der Sprechsituation aus einem Katalog mit mehre-
ren, mindestens aber zwei Var ie tä ten , eben jene zu
w ä h l e n , die den geforderten situativ-sozialen Be-
dingungen max ima l entspricht. Pop lack /Sankof f 2 2
unterscheiden verschiedene Ar ten des Code-swit-
ching, die allerdings auf die kanadische Gesell-
schaft zugeschnitten sind. Sie unterstellen bei-
spielsweise auch fremde E i n s c h ü b e (a) der Var ie tä t
A in die Var ie tä t B dem Code-switching. Z . B . : «Also
wenn i doo draa denk, dann sollte man meiner
Meinung nach, scho ned a so d u m m si i und n ü ü t
tue .» Diese Fäl le m ö c h t e n w i r nicht untersuchen,
obwohl sie auch zum Code-switching g e h ö r e n . W i r
untersuchen jene Sprechsituationen, in denen der
Sprecher, den Normen der Sprachwahl entspre-
chend, f ü r eine l ä n g e r e Dauer - mindestens aber so
lange, bis sich die Rededeterminanten v e r ä n d e r n -
Mundar t oder Standard wäh l t . Na tür l i ch kann der
Wechsel innerhalb eines G e s p r ä c h s unvermittelt
und wiederholt geschehen. M a n denke als Beispiel
etwa an ein T e l e p h o n g e s p r ä c h mit einem Hoch-
deutschsprechenden und die gleichzeitig stattfin-
denden R ü c k f r a g e n an einen Mundartsprecher, der
beim G e s p r ä c h anwesend ist. Den Aus lösebed in -
gungen f ü r diesen Registerwechsel wurde in der
Forschung viel Zeit gewidmet. Dabei muss beachtet
werden, dass der Wechsel verschiedene Funktio-
nen haben kann, n ä m l i c h die metaphorische und
die situative. Die metaphorische Funkt ion dient
« . . . z . B . Wechsel von Humor zu Ernst, von Übere in -
s t immung zu Meinungsverschiedenheit , vom U n -
wesentlichen oder Zweitrangigen zum Wesent-
l ichen oder P r i m ä r e n . . .» (Fishman 1975, S. 43). Es
w i r d sich in der Untersuchung zeigen, dass diese
Funkt ion vor allem in den Schulen ihre Aufgaben
hat und ganz bewusst eingesetzt w i rd . Dieser me-
taphorische Wechsel ist nach F i shman jedoch nur
157
möglich, we i l es allgemeine Normen gibt, che die
Sprachverwendung regeln . 2 3 M a n weiss, w a n n
man Mundar t und wann Hochdeutsch zu sprechen
hat. Die situative Funkt ion regelt den Sprachge-
brauch, « . . . d e r situative Wechsel w i r d durch allge-
mein gültige Zuweisungen geregelt, d .h. durch
weitverbreitete normative Ansichten und Regulie-
rungen, die al lgemeinverbindlich eine bestimmte
Varie tä t einem bestimmten Zusammentreffen von
Themen, Orten, Personen und Zwecken zuordnet.
Andererseits w i r d der metaphorische Wechsel von
nicht allgemein gül t igen oder kontrastiven Zuwei-
sungen b e s t i m m t » (Fishman 1975, S. 49).
2.4.
DIE DOMÄNEN
Welches sind nun die a l lgemeingül t igen Normen
und normativen Ansichten, die den Sprachge-
brauch Liechtensteins regeln? Mi t dem Er lernen
einer Var ie tä t verbindet der Sprecher von Anfang
an bestimmte Einstellungen, Funkt ionen und Situa-
tionen, sogenannte D o m ä n e n . «Tre ten in dem Ge-
s p r ä c h s k o n t e x t situativ direkt oder indirekt ... A s -
soziationen zu diesen Bereichen auf, so wechselt
der Sprecher unbewusst in die seiner Meinung
nach angemessene S p r a c h v a r i a n t e » (Rein 1983,
S. 1449).
« D o m ä n e n sind Konstrukte, die besonders
brauchbar sind fü r die auf der Makroebene statt-
findende (d. h . auf die ganze Gemeinschaft bezoge-
ne) funktionelle Beschreibung der gesellschaftlich
strukturierten Variat ion der <Rede> innerhalb gros-
ser und komplexer diglossischer Gese l l schaf ten»
(Fishman 1975, S. 51). Funkt ion der D o m ä n e ist
es, jene gesellschaftlichen Faktoren zusammenzu-
stellen, die die V a r i e t ä t e n w a h l best immen und die
a l lgemeingül t ige Normen ausmachen. Es ist die
Suche nach der Erfassung der best immenden Re-
dedeterminanten einer Sprachgemeinschaft auf
ü b e r g r e i f e n d e r Ebene und deren Korrelat ion mit
sozialen Gruppen und kommunikat iven Situatio-
nen. « J e d e s sprachliche Netzwerk und jede
Sprachgemeinschaft kennt Klassen von Sprecher-
eignissen, i n denen mehrere scheinbar unter-
schiedliche Situationen als gleichartig klassifiziert
werden. Kein sprachliches Netzwerk hat ein
sprachliches Repertoire, das genauso differenziert
ist wie die vol l s tändige Liste deutlich verschiede-
ner Rollenbeziehungen, Themen und Ört l ichkei ten,
in die ihre Mitglieder einbezogen sind. Genau die
Frage, wo diese Grenzl in ien verlaufen, die z w i -
schen einer Klasse von Situationen differenzieren,
die normalerweise eine bestimmte Var ie tä t ver-
langt und einer anderen Klasse von Situationen,
die normalerweise eine andere Var ie tä t erfordert,
muss durch den Forscher empir isch gek lä r t wer-
d e n » (Fishman 1975, S. 57).
F i shman postuliert folgende D o m ä n e n mit H-Va-
r ie tä t : Schule, Kirche, Berufs- und Arbeitswelt so-
wie die Regierung; mit L-Varietät: Famil ie , Nach-
barschaft und den Bereich der ungelernten Arbeit .
Bedingt durch die mediale Diglossie und die g ä n z -
l ich anderen sozialen Verhä l tn i s se der hier zu un-
tersuchenden Sprachgemeinschaft, lassen sich die
D o m ä n e n Fishmans nicht identisch auf Liechten-
stein ü b e r t r a g e n . In Anlehnung an F i shman postu-
lieren w i r folgende D o m ä n e n und versuchen die
Hypothesen anhand der vorliegenden Untersu-
chung zu ver i f iz ieren.
Innerhalb der postulierten D o m ä n e n w i r d i m
folgenden untersucht, ob die mediale Diglossie
durchbrochen wi rd . Die Frage heisst: «Gibt es Si -
Tabelle 2: Domänen
Domänen mit Standard:
Kirche ;
Bildüngswesen.
Gerichte
Domänen mit Mundart:
Familie, Freizeit, Vereine
Reden in 1 der Öffentlichkeit
Ärbeitswelt ' :
Landtag; .Ämter,. Verwaltung
158
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
tuationen, in denen ausschliesslich Hochdeutsch
oder Mundar t gesprochen wird? Wenn ja, ist deren
Auftreten in einer D o m ä n e so häuf ig , dass zu Recht
von einer hochdeutsch-, oder mundartbeherrsch-
ten D o m ä n e gesprochen werden k a n n ? »
Die indi rekt 2 4 erhobenen Material ien wurden
mit F r a g e b ö g e n zusammengetragen. Es wurde ver-
sucht, die Probandenzahl so hoch wie mögl ich an-
zusetzen. So konnte etwa bei der Befragung der
Lehrer, der Landesverwaltung, der Pfarrer und Ge-
meindevorsteher eine Vollerhebung d u r c h g e f ü h r t
werden, was jedoch bei den Fami l ien und Vereinen
nicht mehr mögl ich war. Hier wurden teilnehmen-
de Beobachtungen und partielle Erhebungen durch
Zufal lsauswahl gemacht. Die Daten wurden im M a i
1989 erhoben. N u n haftet diesen Erhebungsmetho-
den der Verdacht der Subjekt iv i tä t an. Es ist be-
kannt, dass die A u s k ü n f t e ü b e r den Gebrauch der
Mundar t und deren Funkt ion stark von der Einstel-
lung der Befragten a b h ä n g t . Ob jemand beispiels-
weise auf die Frage «Wie sprechen Sie mit jeman-
dem, der die Mundar t Liechtensteins nicht versteht
und nur Hochdeutsch k a n n ? » antwortet, er w ü r d e
in diesem Fa l l Hochdeutsch sprechen, oder ob er
antwortet, er w ü r d e das nicht tun, h ä n g t einerseits
von der Einstellung des Befragten zu den Varie tä-
ten und andererseits von verschiedenen sozialen
Faktoren, wie beispielsweise der Schulbi ldung und
der allgemeinen Beziehung zu A u s l ä n d e r n ab. Es
kann also durchaus sein, dass hier Antwor ten er-
hoben werden, die nicht i n jedem Einze l fa l l der
Wirkl ichkei t entsprechen. Der Fragebogen ist je-
doch das einzige Instrument der Datensammlung,
das in einem v e r n ü n f t i g e n Arbei t saufwand Aussa-
gen ü b e r eine sehr grosse Probandenmenge zu-
lässt. «Der Fragebogen hat als Datensammelinstru-
ment einen hohen Grad an Wissenschaftl ichkeit
und formaler Entwicklung erreicht; dies auf Grund
des ausgedehnten Gebrauchs in den soziolinguisti-
schen W i s s e n s c h a f t e n » (Agheyis i /Fishman 1969,
S. 147, Ü b e r s e t z u n g R.B.). Besonders kri t isch w i r d
es, wenn Probanden, etwa Lehrer oder Vorgesetz-
te, den Sprachgebrauch von Dritten beschreiben.
Die obengenannten Probleme potenzieren sich ge-
radezu. U n d trotzdem ist der Fragebogen woh l das
probateste Erhebungsmittel , wenn grosse Daten-
mengen zusammengetragen werden m ü s s e n . Feh-
lerquellen sollen durch die mögl ichs t hohe Zahl der
Befragten und durch teilnehmende Beobachtungen
ausgeschlossen oder zumindest kle in gehalten wer-
den . 2 5
2.4.1.
GERICHTE
Liechtensteins Rechtssprechungsinstanzen sind
einzuteilen i n s t änd ige und n i c h t s t ä n d i g e Gerichte.
Lediglich das Landgericht und die Staatsanwalt-
schaft s ind s t änd ig . Die Hälf te der ordentlichen
Richter spricht Liechtensteiner Dialekt, die andere
Hälf te spricht ein ö s t e r r e i c h i s c h e s oder ein schwei-
zerisches Idiom.
Die n i c h t s t ä n d i g e n Gerichte des öf fent l ichen
Rechts unterteilen sich in den Staatsgerichtshof
und die Verwaltungsbeschwerdeinstanz (VBI); de-
ren Mitglieder (ausgenommen der Vorsitzende und
sein Stellvertreter) werden vom Landtag gewähl t .
Die Wah l des P r ä s i d e n t e n des Staatsgerichtshofs
unterliegt der Bes t ä t igung durch den L a n d e s f ü r -
sten, die Vorsi tzenden der VBI werden auf Vor-
schlag des Landtages durch den L a n d e s f ü r s t e n er-
nannt. In Ermangelung von geeigneten Richtern
liechtensteinischer S t a a t s b ü r g e r s c h a f t werden die
Mitglieder des Staatsgerichtshofes immer wieder
aus dem Aus land rekrutiert. Die VBI w i r d turnus-
g e m ä s s mit den Landtagswahlen besetzt, der
Staatsgerichtshof alle fünf Jahre. Ausserdem sind
das Kriminalgericht , das Schöf fenger ich t , das Ju-
gendgericht, das Obergericht und der Oberste Ge-
richtshof nicht s t ä n d i g . 2 6
Bei diesen Gerichtsinstanzen kann sich der
Sprachgebrauch je nach Mitgliederstand peri-
odisch ä n d e r n . G r u n d s ä t z l i c h w i r d als Amtsspra-
che Hochdeutsch verwendet. Allerdings gibt es in
diese Regel häu f ige E i n b r ü c h e . Der Sprachge-
brauch regelt sich je nach der Herkunf t des Rich-
ters aus Liechtenstein, der Schweiz oder aus Öster-
reich. Ös te r re ich ordnet sich einem pragmatisch
anderen Sprachsystem zu als die Schweiz und
159
Liechtenstein. In Ös te r re ich findet sich generell Po-
lyglossie, wobei man nach Wiesinger (1986, S. 106)
an einem Ort mehrere Sprachschichten antrifft, die
von den einzelnen Mitgliedern unterschiedlich gut
beherrscht werden. Dies sind unter anderem die
Basismundart , eine Umgangssprache oder ein Ver-
kehrsdialekt und das Standarddeutsch, wobei die
beiden letzteren i n Ös te r re ich ein hohes Prestige
geniessen und dementsprechend als soziale Kenn-
zeichnung ein besonderes Gewicht bekommen und
sprachsoziologisch gesehen Ausdruck f ü r Elite und
Stand sind. Einige in Liechtenstein tä t ige Richter
entstammen diesem dreistufigen Sprachsystem
und entsprechen diesem bei ihrer Arbei t . Dies trifft
in b e s c h r ä n k t e m Mass auch auf einige Liechten-
steiner zu, die ihre juristische Ausbi ldung in Öster-
reich absolvierten.
A m Landgericht und bei der Staatsanwaltschaft,
den einzigen s t änd igen Gerichtsinstitutionen des
Landes, arbeiten neun Richter mit u n g e f ä h r 35 Mit -
arbeitern. Z i rka 80 Prozent sprechen den Liechten-
steiner Dialekt und 20 Prozent eine fremde M u n d -
art. Die Sprache unter den Mitarbei tern ist haupt-
sächl ich der Dialekt des Landes. Es gibt keine Mit -
arbeiter, die den Dialekt nicht verstehen. Es gibt
kaum Situationen, in denen unter den Mitarbei tern
Hochdeutsch gesprochen wi rd .
Vor Gericht ist bei der Einvernahme der Par-
teien Hochdeutsch vorherrschend. Im p e r s ö n l i c h e n
Parteienverkehr wi rd h a u p t s ä c h l i c h die Mundar t
gebraucht. Ausserdem w i r d der Dialekt in öffent-
lichen Verhandlungen gebraucht, wenn alle Partei-
en Mundar t sprechen. Sie w i r d dort eingesetzt, wo
Personen vernommen werden, die sich gewohnt
sind, Mundar t zu sprechen und grosse M ü h e ha-
ben, sich i n Hochdeutsch a u s z u d r ü c k e n . A u c h die
sachbezogene Diskussion kann in Mundar t g e f ü h r t
werden, wenn vorauszusetzen ist, dass sämt l i che
Mitglieder die Mundar t mindestens passiv beherr-
schen.
A n allen Gerichten werden die Referate, P lädo-
yers und Urteile in Standarddeutsch vom M a n u -
skript abgelesen. Llochdeutsch w i r d ausserdem i m
p e r s ö n l i c h e n und telefonischen Parteienverkehr
benutzt, wenn sich die Partei des Hochdeutschen
bedient. Wei l f ü r die D o m ä n e Gericht nur sehr we-
nige F r a g e b ö g e n versandt wurden, e rüb r ig t sich
eine Darstellung i n Tabellenform.
2.4.2.
PARLAMENTE UND VERWALTUNG
Folgende Bereiche werden unterschieden.-
a) Die Landesverwaltung mit den Ä m t e r n und
Dienststellen, der Landtag (Parlament auf Landes-
ebene), die Regierung mit den Stabsstellen.
Die Landesverwaltung zäh l t 37 Ä m t e r und
Dienststellen. Die A m t s v o r s t ä n d e und Dienststel-
lenleiter s ind liechtensteinische S taa t sbürge r . In
die Umfrage wurden u n g e f ä h r 340 Mitarbei ter mit-
einbezogen. Die Fragebogen wurden jeweils vom
Amtsvorstand oder vom Dienststellenleiter stellver-
tretend f ü r sein A m t ausgefü l l t .
b) Die Gemeindeverwaltungen mit den Gemein-
d e r ä t e n (Parlament auf Gemeindeebene) und Vor-
stehern (in Vaduz: B ü r g e r m e i s t e r ) .
Die elf Gemeindeverwaltungen werden durch
voll- oder nebenamtliche Vorsteher geleitet. In den
vergangenen Jahren haben diese Adminis t ra t ionen
auf Grund der gestiegenen Anforderungen perso-
nell stark expandiert. Ist beispielsweise die Ge-
meinde Triesen noch in den fün fz ige r Jahren mit
einem nebenamtlichen Vorsteher und einem voll-
amtlichen Kassier ausgekommen, so s ind heute
allein i m Gemeindesekretariat und in der Ge-
meindekasse bis zu zehn Personen beschäf t ig t . In
die Umfrage wurden u n g e f ä h r 400 Mitarbeiter mit-
einbezogen. Die Fragebogen wurden jeweils vom
Vorsteher stellvertretend fü r seine Gemeindever-
waltung ausgefül l t .
Im m ü n d l i c h e n Gebrauch w i r d Hochdeutsch nur
eingesetzt, wenn verschiedene Determinanten dies
verlangen, sei dies nun i m Kontakt mit einem Ge-
s p r ä c h s p a r t n e r , der die Mundar t Liechtensteins
nicht versteht, oder i m Kontakt mit Fremdsprachi-
gen. Das Standarddeutsch w i r d i m Schrif tverkehr
oder m ü n d l i c h gebraucht, wenn Personen anwe-
send sind, die die Mundar t nicht verstehen, bei Be-
suchen i m Aus land , allgemein i m Verkehr mit Aus-'
160
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Tabelle 3: Sprachgebrauch
Parlamente und Verwal-
tung 2 7
Datengewinnung Land:
Fragebogen
Versand: 37
Rücklauf: 30 (N) = 81%
Probandenauswahl: Voll-
erfassung
Datengewinnung
Gemeinde:
Fragebogen
Versand: 11
Rücklauf: 10 (N) = 91%,
Probandenauswahl: Voll-
erfassung
Beschreibung, Situation Spezifikation Land' ' Gemeinde
% %
^ _ _
Allg: Präferenz für* Mda. 96 100
Hd. o o
. — „ w* •..,f.1j
beides 4 0
Präfpr( 3n7 im Snrarhkoritakt Hrl fiir*^ ? M'dä.. ;. - o 0
. Hd. 100 , 10t)
Gemisch 0 •o:
Präferpii7< irr>- ^Firflch'k'nritaiot 'Mda für*
I 1 d i O l Ulifi 11X1 kJ.̂ Jl QVjlllvWl'l LCLUL 1*1V1CI. 1L11.
, Mda.. 100 100
Hd. 0 0
• • ' .Gemisch 0 0
Sprache des täglichen Umgangs* • Mda. 74-, 90
FL fremd** "16 10
vlt/lLl.lDvjl 1 i o • •
, Hd. 0
. . . .
0
-' '
Sprache der Freizeit Mda. 100 100
Md. 0, 1 0
i — . ' , , • ' • ~
Persönliches Gespräch bei der Arbeit Mda.
• — — "
100 - 100
Hd. ö 0
Sprache in Konferenzen Mda, 50 100
Hd. 50 0
Sprache in Rede, Vortrag Mda. 18 30
Hd. 50 30
beides 32 40
Schreibkompetenz Hd.* sehr gut 26 23
gut 65 53
mittel 9 • 2.4
• schlecht 0 0
sehr schlecht • 0, 0
Sprachkompetenz Hd.* sehr gut 23 22
: gut 58 . 56
mittel , 16 22
schlecht 0 0
sehr schlecht 0 0
* Aussagen der Probanden über andere.
** Mundart.Liechtensteins mit;fremden Einflüssen.
161
l ä n d e r n ausser mit deutschsprachigen Schweizern.
Ausserdem sprechen die Mitarbeiter der Verwal -
tung generell miteinander Standard, wenn Dritte
anwesend sind, die die Mundar t nicht verstehen,
und manchmal bei fachwissenschaftl ichen Diskus-
sionen und unter U m s t ä n d e n in Gerichtsverhand-
lungen. E inz ig die Sitzungen des Liechtensteini-
schen Parlaments - hier w i r d von allen Mitgl iedern
Hochdeutsch gesprochen - nehmen eine Sonder-
stellung ein. Ansonsten w i r d in Besprechungen der
beratenden Kommiss ionen auf Landesebene und i n
den Sitzungen der Gemeindevertretungen durch-
wegs Mundar t gesprochen, sofern alle K o m m u n i -
kationspartner der Mundar t wenigstens passiv
m ä c h t i g sind.
In 86,7 Prozent der Fälle gibt es auf den Ä m t e r n
keine Situationen, in denen Mundar t geschrieben
wi rd . In den restlichen Fäl len dient es zur Vorbe-
reitung von Texten, die i n Mundar t gesprochen
werden.
Die Dominanz der Mundar t in der Verwal tung ist
zum Teil durch die Personalpolitik der Regierung
zu b e g r ü n d e n . Als A m t s v o r s t ä n d e , Dienst- und
Stabsstellenleiter werden nur Liechtensteiner Bür-
ger eingestellt. In den anderen Anstellungen wer-
den Liechtensteiner Bürge r bevorzugt.
2.4.3.
KIRCHE
«Die römi sch -ka tho l i s che Kirche ist die Landeskir-
che und geniesst als solche den vollen Schutz des
S taa tes» , heisst es in Ar t ike l 37 der Verfassung. Da-
neben gibt es noch protestantische Kirchgemein-
den und kleine rel igiöse Verbindungen. Von den
29'032 E inwohnern waren Ende 1990 24'638
römisch -ka tho l i s ch und 2682 protestantisch. Die
anderen g e h ö r e n einem anderen Glauben an oder
haben keine Angaben gemacht. In Liechtenstein
gibt es zehn Pfarrgemeinden und neun Pfarrer, wo-
von nur einer als Muttersprache einen Liechten-
steiner Dialekt spricht. A n alle Pfarreien in Liech-
tenstein wurde je ein Fragebogen versandt, acht
wurden z u r ü c k g e s a n d t .
Die offizielle Sprache der Kirche ist das Latein
und die jeweilige Landessprache. Geregelt ist die-
ser kirchliche Sprachgebrauch i n den N u m m e r n
12 ff. der Al lgemeinen E i n f ü h r u n g zum r ö m i s c h e n
Messbuch, die Bezug nehmen auf Ar t . 36 der Kon-
stitution ü b e r die heilige Liturgie. A u c h unter
Be rücks i ch t igung des Ar t . 6 der Verfassung ergibt
sich auch hier keine eindeutige Trennung zwischen
Mundar t und Standardsprache. Wenn die Kirche
aber von Landessprache und die Verfassung von
Staats- und Amtssprache sprechen, so kann man
annehmen, dass darunter kaum die Mundart , son-
dern vielmehr das Hochdeutsch gemeint ist. Die
Mundar t hat per Dekret wenig Platz i m offiziellen
k i rchl ichen Al l tag . «Auf dem Gebiet der Religion
hat die Sprache Funkt ionen zu er fü l len , die von ih-
rem Alltagsgebrauch sehr verschieden sind. ... Wie
insbesondere Emile D ü r k h e i m gezeigt hat, durch-
waltet alle Religionen das Bestreben, den sakralen
Bezirk vom s ä k u l a r e n abzugrenzen. Der Gebrauch
der Alltagssprache w i r d darum - zumindest der
Grundtendenz nach - v e r m i e d e n » (Stark 1987,
S. 83). Al le Pfarrer sind der Meinung, dass i n der
Kirche h a u p t s ä c h l i c h Standard gesprochen wi rd .
Das Standarddeutsch w i r d vor al lem in den norma-
len Wochen- und Sonntagsgottesdiensten ge-
braucht, lediglich i n den Schüler- , Kinder- und Ju-
gendgottesdiensten hat auch die Mundar t i n be-
s c h r ä n k t e m Mass ihren Platz, ausserdem teilweise
bei Taufen und Hochzeiten. F ü r besonders feier-
liche Messen w i r d immer noch das Latein verwen-
det.
Die Laienhelfer gebrauchen in der Messfeier fast
durchwegs Standard. In drei Pfarre ien spricht kei-
ner der Laienhelfer die Mundar t Liechtensteins. In
zwei Pfarreien sprechen alle Laienhelfer die M u n d -
art Liechtensteins. Zwei der Befragten gaben keine
Antwort .
Ausserhalb der Kirche , i m p e r s ö n l i c h e n Kontakt
mit den Kirchgemeindemitgl iedern, herrscht die
Mundar t vor. Die Hälf te der Pfarrer verkehrt nach
eigenen Angaben mit den Kirchgemeindemitgl ie-
dern ausserhalb kirchl icher An lä s se in einem Ge-
misch verschiedener Mundar ten . Zwei Pfarrer ver-
kehren mit den Kirchgememdemitgl iedern ausser-
162
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
halb kirchl icher An läs se in der eigenen, nicht l iech-
tensteinischen Mundart . Gesamthaft gesehen ist
die Kirche eine der wenigen D o m ä n e n , i n der das
Hochdeutsch eindeutig Vorrang hat. Der Gebrauch
der Mundar t bei k i rchl ichen A n l ä s s e n ist ver-
schwindend klein. Es läss t sich also in diesem Fa l l
mit Recht von einer D o m ä n e sprechen, die die
Sprachverwendung eindeutig regelt.
Wei l die A n z a h l der Probanden i n dieser D o m ä -
ne zu gering ist, e r ü b r i g t sich eine Darstellung in
Tabellenform.
2.4.4.
BILDUNGSWESEN
In Liechtenstein gibt es folgende Bildungseinr ich-
tungen: K inde rgä r t en , Pr imarschulen, Hilfsschu-
len, Sonderschulen, Oberschulen, S e k u n d ä r s c h u -
len, Realschulen und ein G y m n a s i u m . 2 8 Zudem exi-
stieren folgende private oder halbprivate Unter-
r i ch t s s tä t t en : Das Abendtechnikum, die Arbei ts-
stelle fü r Erwachsenenbi ldung, die Musikschule,
die Internationale Akademie fü r Philosophie, das
Liechtenstein-Institut, das Bildungshaus Gutenberg
und die Waldorfschule. Es fehlen unter anderem
Berufsschulen und Univers i t ä ten . Untersucht wur-
den die öf fen t l ichen Schulen. Diese wurden unter-
teilt in Unter- und Oberstufe.
In der Oberstufe werden die 10 S e k u n d ä r s c h u -
len, das Liechtensteinische Gymnasium, die 4 Real-
schulen und 5 Oberschulen des Landes zusammen-
gefasst. Diese Schulen sind zentralisiert, und in ih -
nen werden 1696 Schüle r von insgesamt 204 Leh-
rern (inklusive Teilzeitlehrer) aus verschiedenen
Gemeinden unterrichtet. In die Umfrage wurden
154 Lehrer und Lehrer innen miteinbezogen.
In der Unterstufe sind die 14 Primarschulen, die
Hilfsschulen und eine Sonderschule zusammenge-
fasst. Die Pr imarschulen sind dezentralisiert in den
Dör fe rn , und in ihnen werden 1807 Schüle r von
139 Lehrern unterrichtet.
Ebenfalls befragt wurden die K i n d e r g ä r t e n . Hier
werden 784 Kinder von 52 K i n d e r g ä r t n e r i n n e n un-
terrichtet.
Über 70 Prozent der antwortenden Lehrer und
ü b e r 60 Prozent der Schü le r haben nach dem
Urtei l der Lehrer eine Mundar t des F ü r s t e n t u m s
Liechtenstein als Muttersprache. Die aktive M u n d -
artkompetenz ist hoch. Gröss ten te i l s s ind die Schü-
ler in der Lage, die Mundar t Liechtensteins zu
verstehen. Laut Umfrage gibt es an den Liechten-
steiner Schulen keine Lehrer, die die Mundar t des
Landes nicht verstehen.
In der Verfassung des F ü r s t e n t u m s Liechten-
stein ist die deutsche Sprache als Staats- und Amts-
sprache festgelegt. D a r ü b e r hinaus legt kein Ge-
setz, keine Verordnung und auch keine Weisung
den Sprachgebrauch in den Schulen fest. Obwohl
i m Schulgesetz von 1971 i n 142 Ar t ike ln alles ju r i -
stisch festgelegt scheint, findet sich auch hier keine
Aussage zur Unterrichtssprache. Der Problematik
Tabelle 4: Muttersprache ••
der Schüler und Lehrer ä Oberstufe Unterstufe ' Kindergärten
O/ O/Il 0/
/o „ /o /o
Muttersprache der Lehrer Mda. FL 53
! •
78 85
ändere Mda. 42 . 16- 9
Hd. • 5 • . 6- 6
Muttersprache .der Schüler* Mda. FL 60 ' • 62 62
andere Mda. 28; 27 26
Hd. 9 6 f 2
Fremdsprache, 3 5' 10
1 i
* Aussagen der Probanden über andere..
163
zwischen Standarddeutsch und Mundart , die i n der
benachbarten Schweiz mittlerweile Bibliotheken
füllt, ist man sich in Liechtenstein in diesem Rah-
men offensichtlich gar nicht bewusst. Wie die
d u r c h g e f ü h r t e n Untersuchungen aufzeigen, ist die
Unterrichtssprache unter den Lehrern kaum ein
Thema, das zu Auseinandersetzungen füh r t .
E i n wenig deutlicher werden die L e h r p l ä n e zum
Sprachgebrauch in der Primarschule. «In den er-
sten Schulwochen der 1. Schulstufe ist die Mundar t
Unterrichtssprache. Nachher w i r d die Mundar t al l -
m ä h l i c h von der schriftdeutschen Sprache abge-
löst. Umschal ten auf die Mundar t (meistens nur fü r
k ü r z e r e Zeit) empfiehlt sich immer dort, wo ir-
Tabelle 5: Mundartkompe-
tenz Schüler und Lehrer
Datengewinnung Ober-
stufe: Fragebogen
Versand: 154
Rücklauf: 71 (N) = 46,1 %
Probandenauswahl: Teil-
erfassung
Datengewinnung Unter-
stufe: Fragebogen
Versand: 139
Rücklauf: 93 (N) = 66,9 %
Probandenauswahl: Voll-
erfassung
Datengewinnung Kinder-
garten: Fragebogen
Versand: 52
Rücklauf: 33 (N) = 63,5 %
Probandenauswahl: Voll-
erfassung
Sne7ifikrilion Oberstufe
« %
, Unterstufe
%
Kindergärten
%
Aktive Mündärtkompetenz 100 % • 10 44 .: -' -
der Lehrer 75 % 30 56 i —
50 % 38 , 0
25 % o ' ' ()
0 %' 10 '. 0
anHPTTA MHä 10 o f ! •
Andere Varietät der Lehrer, Hd. 1 22 ' ' 19
die nicht Mundart sprechen andere Mda. , 78 '. 81
Fremdsprache 0 o
Aktive Mundartkompetenz 100 % 20 33 , - ' j . - 9
der Schuler* 75 % 7.0 i 56 ' 32
5 0 % : 10 1.1 29
25 % 0 ' 0 < 4
0 % 0 .- 0 : '0 '
ändere Mda. 0 0 ' " 26
Andere-Varietät der Schüler, Hd. 23 ni l. >8
die nicht Mundart sprechen* andere Mda. 71 .,7,1. 1 51
Fremdsprache . • „ 6 12 i • i. 4 i
Schüler, die Mundart nicht ' 10 \ 4 « , \ 8
verstehen*
Spraehkompe-;
tenz Hd.* sehr j ?ut 0 0
der Schüler gut : 13 35
mittel. , 72 60
" schlecht • 13 ; .5
sehr schlecht •• 2 ; \ ; 0
Schreibkömpetenz Hd.* sehr gut 0 "1 0
t *"'
der Schüler gut 15 '20
mittel : 63 I • 72
schlecht 20 8
sehr schlecht . 2 0
Aussagen der Probanden über andere.
164
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
gendwelche Verstehensschwierigkeiten auftreten
und ein Umsetzen in die Mundar t zur K lä rung und
Veranschaulichung dienen kann. Umschalten auf
die Mundar t ist geradezu geboten, wenn ein K i n d
beim eigenen spontanen Sprechen M ü h e hat und
wenn erwartet werden kann, dass i h m in der
Mundart die Formul ie rung leichter gelingt und die
Hemmungen geringer s ind. Bewusste Mundartpf le-
ge erfolgt wi rksamer durch den m ü n d l i c h e n Ge-
brauch der Mundar t i m G e s p r ä c h . Das Lesen von
Mundart texten macht den Schü le rn mehr Schwie-
rigkeiten, besonders auch wegen der verschiede-
nen Lautungen. Mi t zunehmender Fäh igke i t i m be-
wussteren Lesen der Schriftsprache w ä c h s t auch
Tabelle 6: Sprachgebrauch
— — — — — ; — 1
Spezifikation Oberstufe
/o
Unterstufe'
10
• Kindergärten'
i /o
Unterrichtssprache Mda: 12 't r 3;>
. — — _
100
UA
Hd. 58 30 0 beides 30 35 0
Präferenz der Schüler für* Mda: FL 50 44 58
FL fremd**' 40 51 42
Gemisch 10 5 0
Hd, 0 0 • , 0
Präferenz der Lehrer für Mda. FL 32 72 90
FL fremd** 38: 11 10.
Gemisch, 30 17 0
Hd. 0 0 0
Sprachgebrauch Mda. 75 ' 98 100
Schüler/Lehrer in privaten Hd. 25 .2 0
Situation'enln der Stunde beides 0 0 0
Sprachgebrauch Mda., 100 98 ' 100
Schüler/Lehrer in privaten Hd. 0 ; 2 0
Situationen in der Freizeit beides 0 0 • 0
Sprachgebrauch in Mda.' 86 . 100 100
Lehrerkonferenzen Hd. :3 0 1 0
beides' 11 0 0
Unterrichtseinleitung Mdä. 28 53
Hd. ,64 . 47"
beides 8 0
Rede/Vortrag ausserhalb Mda. 35 46 53
der Schule Hd. 43 0' 0
beides 22 54 47
* Aussagen "der Probanden über andere.
•** Mundart Liechtensteins mit fremden .Einflüssen.
165
die Fähigkei t , Mundarttexte zu lesen» (Lehrplan
f ü r die Primarschule, Verordnung vom 26. Nov.
1985, LGB1. 1986 Nr. 14). Die L e h r p l ä n e der Ober-
stufe sprechen von Sprachgestalten, Sprachverste-
hen oder Sprachbeherrschung. Lehrzie l fü r das
Fach Deutsch am Liechtensteinischen 'Gymnasium
ist nach Lehrplan «e ine angemessene Sprachkom-
petenz sowie Ve r s t ändn i s f ü r das Geistesleben i m
deutschsprachigen Kul tu r raum und somit die Vor-
bereitung auf die Hochschu le» . Die Begriffe Mund-
art oder Dialekt tauchen in diesen L e h r p l ä n e n
nicht mehr auf. Unter Sprache w i r d hier selbstre-
dend die Standardsprache verstanden.
Trotzdem gibt es na tür l i ch auch i n der Oberstufe
immer wieder Sprechsituationen, in denen M u n d -
art gesprochen wi rd . Grundsä tz l i ch n immt der E i n -
satz des Standarddeutschen als Unterrichtssprache
mit h ö h e r e r Schulstufe und Schulklasse zu. Im K i n -
dergarten sind es Ausnahmesituationen, wenn
Hochdeutsch gesprochen wi rd . Dies geschieht etwa
mit einem K i n d , das den Dialekt nicht versteht, mit
dessen Eltern oder auch in einer Teamsitzung bei
der jemand anwesend ist, der die Mundar t nicht
beherrscht.
Mit zunehmendem Alter w ä c h s t das K i n d unbe-
wusst in eine schulinterne «Fachdig loss ie» hinein.
Darunter verstehen wi r die Verwendung von
Mundar t i n den musischen F ä c h e r n Zeichnen, Tur-
nen, Musik , Werken, Handarbeit , Lebens- und Be-
rufskunde sowie in den Klassenstunden (Stunden
mit dem Klassenlehrer zur Besprechung organisa-
torischer Fragen) und von Hochdeutsch in den kur-
sorischen F ä c h e r n Mathematik, Fremdsprachen,
Deutsch, Geschichte, Geographie, Chemie, Physik,
Biologie, Medienkunde, G e s c h ä f t s k u n d e usw. Allge-
Tabelle 7: Stellenwert der
Mundart in der Schule
mein w i r d in themabezogenen Diskussionen, in
Rollenspielen, in g e f ü h r t e n G e s p r ä c h e n , i n Grup-
penarbeiten, in Vor t rägen , in Frage- und Antwort-
spielen sowie i m Fach Deutsch und in provozierten
a u t o r i t ä r lancierten Sprechsituationen Hoch-
deutsch gesprochen. Ausser i n besagten Fäl len
s ind die Schü le r aus eigenem Anlass kaum bereit,
Hochdeutsch zu sprechen, zumal es h i e r f ü r inner-
halb der diglossischen Sprachsituation auch keine
einleuchtende B e g r ü n d u n g gibt.
In sehr vielen Fäl len (83 Prozent der Lehrer ha-
ben auf eine d ie sbezüg l i che Frage mit Ja geantwor-
tet.) gibt es i n den Schulstunden Situationen, in de-
nen Mundar t gesprochen w i r d , obwohl f ü r dieses
Fach Standard vorherrschend ist. E twa i m p e r s ö n -
lichen Kontakt mit dem Schüler, zu Beginn der Schul-
stunde, zur Auflockerung, zur Besprechung von
Organisatorischem oder als E rk lä rungsh i l f e , wenn
es in Hochdeutsch V e r s t ä n d i g u n g s s c h w i e r i g k e i t e n
gibt, f ü r Zurechtweisungen, u m Aufmerksamkei t
herzustellen, in der Klassenstunde allgemein, in Dis-
kussionen, f ü r Arbei tsanweisungen, i n Gruppenar-
beiten oder in Rollenspielen, im privaten G e s p r ä c h
w ä h r e n d einer P r ü f u n g . 2 9
Selten reden die Schü le r untereinander, die Leh-
rer untereinander oder Schü le r mit Lehrern aus-
serhalb der Schulstunden Hochdeutsch. Dies ge-
schieht vor al lem i m G e s p r ä c h mit f remdsprachi-
gen Kommunikat ionspar tnern , die die Mundar t
nicht verstehen. In Nachahmung von F i l m und
Fernsehen gebrauchen die Schü le r untereinander
hie und da das Standarddeutsch.
Jene, die die Mundar t in den Schulstunden be-
wusst als didaktisches Mittel einsetzen, bezwecken
damit folgendes: Al lgemein z u m A u f b a u von per-
Oberstufe ' ' Unterstufe! Kindergarten
Ol Of ' Of
/o /o /o
8 ' 11; * •, 64
33: " 29 l • * \ 32
33 39 \ * 4
22 • * 2i .0.
4 * Ö .0
Stellenwert Mda. sehr hoch
hoch
mittel
niedrig
sehr niedrig
166
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
sön l i chem Kontakt, u m Erzäh l t e s realistischer er-
scheinen zu lassen, um eine bessere V e r s t ä n d i g u n g
zu erzielen, u m Vertrauen zu gewinnen, zum A b -
bau von Sprachbarrieren, u m den emotionalen Zu-
gang zu einem Thema zu f ö r d e r n , zur Differenzie-
rung von p e r s ö n l i c h e n und offiziellen Situationen,
um eine lockere und ungezwungene A t m o s p h ä r e
zu schaffen.
Über 60 Prozent der Lehrer setzen die Standard-
sprache als didaktisches Mittel ein, um folgendes zu
bezwecken: Al lgemein , we i l Deutsch gelernt werden
muss, zur Verbesserung der Schreib- und Sprach-
kompetenz, zur Herstellung von Distanz zwischen
Schüler und Lehrer, u m Strenge zu zeigen, zur Dif-
ferenzierung von p e r s ö n l i c h e n und offiziellen Situa-
tionen, zur P r ä z i s i e r u n g der Formul ierung, wei l
Standard exakter ist, oder als Vorbi ldfunkt ion f ü r die
Beherrschung des Deutschen.'
G e m ä s s 91,5 Prozent der befragten Lehrer gibt
es in den Schulen keine Sprachformen, Mundar ten
oder Sprachen, die vermieden oder deren Sprecher
auf Grund der sprachlichen Andersart igkeit d iskr i -
miniert werden. Jene Lehrer, die f inden, dass die
genannte Diskr iminierung stattfindet, stellen fest,
dass davon vor al lem T ü r k e n , Jugoslawen und
Sprecher mit Entlehnungen aus ö s t e r r e i c h i s c h e n
Dialekten oder die E inwohner von Triesenberg mit
ihrer Walsermundart betroffen sind.
Bei 88,8 Prozent der Lehrer ist Mundar t und
Mundartl i teratur nach eigenen Angaben kein Un-
terrichtsthema. H ö c h s t e n s in E r z ä h l u n g e n aus den
Dör fe rn , in Gedichten von Liechtensteinern und in
der Sprachgeschichte Liechtensteins wi rd die
Mundar t in seltenen Fäl len in die Schulstunden
miteinbezogen. Von einer Mundartpflege in der
Schule kann also nicht gesprochen werden. Dieser
Meinung schliessen sich 95 Prozent der befragten
Lehrer an. So ergibt der Sprachgebrauch in den
Schulstunden auch kaum Anlass zu Diskussionen.
Lediglich bei 15 Prozent aller Lehrer ist die Ver-
wendung der Mundar t i m Unterricht ein kontrover-
ses Thema.
G e m ä s s unseren Erhebungen gibt es i m schuli-
schen Bereich keine Anlässe , in denen Mundar t ge-
schrieben wi rd . Im ausserschulischen, privaten
Umgang unter Lehrern und Schü le rn herrscht, wie
i m allgemeinen Sprachgebrauch die Regel der dia-
lektalen P r ä f e r e n z . Die sprachliche Situation in den
Schulstunden w i r d geregelt durch die Fachdiglos-
sie.
2.4.5.
ÖFFENTLICHKEIT
«So se lbs tve r s t änd l i ch sich Schweizerdeutsch und
Schriftdeutsch in die Funkt ionen der Umgangs-
sprache einerseits, der Schreib- und Lesesprache
anderseits teilen, so zerfahren wirk t ihr Verhä l tn i s
i m Bereich der ö f fen t l i chen Rede. Die Wahl der
Sprachform h ä n g t hier von den verschiedensten,
oft ganz ä u s s e r l i c h e n U m s t ä n d e n ab und erscheint
nicht selten mehr von Zufa l l oder Willkür denn
von einer sinnvollen Aufgabentei lung b e s t i m m t »
(Schwarzenbach 1969, S. 241). Diese «baby lon i -
sche S p r a c h v e r w i r r u n g » scheint f ü r die Sprachver-
wendung i n der Öffent l ichkei t auch i n Liechten-
stein feststellbar zu sein. Es fällt daher schwer, K r i -
terien f ü r eine Analyse zu f inden.
Unter ö f fen t l i cher Kommunika t ion verstehen
wir : a) die direkte Rede vor einem anwesenden Pu-
b l ikum (Rede, Vortrag i m h e r k ö m m l i c h e n Sinn)
und b) die indirekte Rede ü b e r ein technisches Me-
d ium an ein disperses, nicht direkt anwesendes Pu-
b l ikum (Massenmedien).
Liechtenstein hat kein eigenes Fernseh-Pro-
g ramm und besitzt erst seit 1995 eine eigene pr i -
vate Radio-Station. Per Verkabelung sind in allen
Haushalten bis zu 20 a u s l ä n d i s c h e Fernsehpro-
gramme und u n z ä h l i g e Radiosender zu empfan-
gen. Die lokale Information geschieht ü b e r das
Fernsehen DRS (Schweiz) und ORF (Österreich) , so-
wie ü b e r die Radiostationen DRS1 , Ö l sowie ü b e r
Lokal rad ios . 3 1 Das Sprachverhalten der Liechten-
steiner richtet sich be im Auftreten in einem der
S e n d e g e f ä s s e nach dem Usus des einzelnen Sen-
ders. F ü r lokale Informationen gebraucht DRS fast
ausschliesslich die Mundart , der ORF verwendet
z u m g r ö s s t e n Teil die Standardsprache. Die Situati-
on bei Radio und Fernsehen DRS ist ein Spiegel der
167
deutschschweizerischen Sprachlandschaft. « F ü r
Nachrichten der Depeschenagentur, f ü r Internatio-
nales, Wissenschaftliches, Theologisches, Akade-
misch-Kulturelles, Literarisches und die P r ä s e n t a -
tion klassischer Musik bot sich das Hochdeutsch
an. F ü r Fami l i ä r e s , All tägl iches, Privates, Bäue r -
liches, Volks tümliches und die Unterhaltungsmusik
standen die Mundar ten zur Ver fügung ... 1970
betrug der Antei l der Mundar t bei Radio DRS 33
Prozent. 1979 war er auf 50 Prozent gestiegen,
heute, nach dem Hinzukommen von DRS 3, b e t r ä g t
er, ü b e r das ganze gesehen, etwa zwei Drittel»
(Fricker 1988, S. 30 f.). Noch h ö h e r liegen diese
Zahlen nach eigenen Erfahrungen f ü r das benach-
barte Lokalradio «Gonzen» . Allerdings s ind uns
hierzu keine detaillierten Untersuchungen be-
kannt. Anders gestaltet sich die Sprachsituation in
den ö s t e r r e i ch i s chen Medien. Sowohl i m Radio wie
i m Fernsehen ist kaum einmal Mundar t zu h ö r e n .
A u c h in den lokalen S e n d e g e f ä s s e n w i r d fast
durchwegs Hochdeutsch gesprochen. G e m ä s s Aus-
kunft des ORF gab es vor Jahren i m H ö r f u n k ein
Volkskundemagazin, das in Dialekt moderiert wur-
de. Heute besteht eine einzige Sendung zur Vorar l -
berger Mundartdichtung, die in Mundar t gestaltet
wi rd , die i m ganzen Sendeumfang kaum auffäl l t .
So liegen die dialektal moderierten Sendungen des
ö s t e r r e i ch i schen Rundfunks und des Fernsehens
klar unter der 5-Prozent-Grenze.
Zusätz l ich sind auch alle Programme der Bun-
desrepublik Deutschland ü b e r die Gemeinschafts-
antenne zu empfangen. Die Vorbi ldfunkt ion des
Hochdeutschen ist i n diesem Bereich sehr hoch.
F ü r das Standarddeutsch w i r d zumindest die pas-
sive Kompetenz stark ge fö rde r t .
F ü r die öffent l iche Rede i m h e r k ö m m l i c h e n
Sinn, die an ein anwesendes Publ ikum gerichtet ist,
haben w i r eine Untersuchung angestellt. W ä h r e n d
drei Monaten wurden die Daten zu sämt l i che Re-
den und Vor t r ägen erhoben, die i n dieser Zeit in
Liechtenstein gehalten wurden. Die Redner wurden
in einem T e l e p h o n g e s p r ä c h befragt. W i r inventari-
sierten 40 Reden, wovon fünf fü r die Auswer tung
nicht in Frage kamen, we i l der Redner entweder
nicht ausfindig gemacht oder nicht erreicht werden
konnte. W i r haben die V a r i e t ä t e n w a h l in A b h ä n -
gigkeit von folgenden Rededeterminanten unter-
sucht: Manuelle oder nicht-manuelle Berufs tä t ig -
keit, Bi ldung, Thema (politisch, kulturell , wissen-
schaftlich, wirtschaftl ich), Geschlecht, mundart-
kompetente und mundartinkompetente Z u h ö r e r -
schaft, Vorhandensein eines Manuskriptes.
Keine der Reden wurde von einer F r a u gehalten!
Zwei Redner haben einen manuellen Beruf, 16 ha-
ben eine akademische, 13 eine h ö h e r e Bi ldung und
sechs sch lös sen eine Berufslehre ab. 50 Prozent
der Reden hatten einen kulturellen Inhalt, 30 Pro-
zent einen politischen, 15 Prozent einen wissen-
schaftlichen und 5 Prozent einen wirtschaft l ichen.
83 Prozent der Vor t räge wurden ab Manuskr ipt ge-
lesen und waren in 43 Prozent an ein mundart-
kompetentes Pub l ikum gerichtet.
Rund die Hälf te der Reden wurde in Mundar t ge-
halten. 51 Prozent der Befragten gaben an, in ihren
Reden je nach Situation Hochdeutsch oder M u n d -
art zu gebrauchen. Entscheidend ist f ü r diese, ob
die Rede an eine mundartkompetentes Publ ikum
gerichtet ist oder nicht. Bei Z u h ö r e r n , bei denen
anzunehmen ist, dass sie die Mundar t nicht verste-
hen, w i r d Standard gebraucht. 43 Prozent sagten,
sie w ü r d e n ausschliesslich Standard b e n ü t z e n , und
6 Prozent sprechen nach eigenen Angaben in einer
öf fen t l ichen Rede nur Mundart . Nur f ü r eine Rede-
determinante konnte eine signifikante Korrelat ion
zur V a r i e t ä t e n w a h l festgestellt werden. 84 Prozent
der i n Mundar t gehaltenen Reden fanden vor
einem Publ ikum statt, von dem der Redner anneh-
men musste, dass er zu mundartkompetenten Per-
sonen sprach. N immt der Redner an, dass i m Pu-
b l ikum H ö r e r anwesend sind, die die heimische
Mundar t nicht verstehen, spricht er Hochdeutsch.
Das heisst, dass die W a h l der Var ie tä t h a u p t s ä c h -
lich von der vermuteten Dialektkompetenz und
dem sozialen Status des Publ ikums und ausserdem
vom Öffen t l ichke i t sgrad a b h ä n g t . Die Reden und
Vor t räge wurden aber nicht nur dann in Hoch-
deutsch gehalten, wenn anzunehmen war, dass mit
der Wahl der Ortsmundart V e r s t ä n d i g u n g s s c h w i e -
rigkeiten bestehen w ü r d e n , sondern auch, wenn
das Publ ikum z u m g r ö s s t e n Teil aus Vertretern der
168
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Regierung, des Klerus, des F ü r s t e n h a u s e s , allge-
mein aus Vertretern der öf fen t l ichen Ä m t e r be-
stand.
2.4.6.
FAMILIE, FREIZEIT UND VEREINE
In Liechtenstein gab es 1980 bei 2 7 7 0 0 E inwoh-
nern 5883 Familienhaushaltungen. Darunter ver-
steht das Statistische A m t « H a u s h a l t u n g e n , die we-
nigstens die Famil ie des Haushaltungsvorstandes
umfassen. Als Famil ie gilt ein Ehepaar (Vorstand
mit Ehepartner) oder ein Aszendenz-Deszendenz-
ve rhä l tn i s 1. Grades (Vorstand mit K ind ; Vorstand
mit Vater, Mutter)» (Volkszählung 1980, S. 8). In
diesen Fami l ien lebten 21 '200 Personen. Über die
Muttersprache oder die ehemalige S t a a t s b ü r g e r -
schaft der Ehegattinnen und Ehegatten konnte
weder das Statistische A m t noch die Einwohner-
kontrolle der Gemeinden Auskunf t geben. Leider
gibt es in den Statistischen J a h r b ü c h e r n keine kon-
kreteren Angaben ü b e r die Dialektsprecher in
Liechtenstein. A n n ä h e r u n g e n ü b e r die Zah l der
Mundartsprecher in den Fami l ien e rhä l t man ü b e r
Hochrechnungen. Von 12'600 verheirateten Perso-
nen waren ca. 70 Prozent Liechtensteiner M u n d -
artsprecher (vgl. S. 154 f).
Wie i n den bisherigen Kapiteln bereits aufge-
zeigt wurde, gibt es nur wenige Faktoren, die einen
Mundartsprecher dazu bewegen, Flochdeutsch zu
sprechen. Die Famil ie , die Freizeit und zum gröss -
ten Teil auch die Vereine summieren all jene Bedin-
gungen auf sich, die f ü r den mundart l ichen Sprach-
gebrauch Voraussetzung sind: f ami l i ä r e , private
Situierung, all täglicher, spontaner, einfacher Ge-
s p r ä c h s g e g e n s t a n d sowie vorhandene Dialektkom-
petenz. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass im
f ami l i ä r en Bereich nur dann Hochdeutsch gespro-
chen wi rd , wenn der Kommunikat ionspar tner die
Mundar t nicht versteht. So bei Besuchen aus
Deutschland oder bei Fremdsprachigen, die nur
Standard sprechen. Inwieweit der Sozialstatus der
Sprecher auch in Liechtenstein einen Einfluss auf
die Variantenwahl hat, wie dies in Deutschland und
Ös te r re i ch der Fa l l i s t , 3 2 wurde nicht untersucht. Es
ist schon mehrmals betont worden, dass s ich
Liechtenstein, was die Sprachpragmatik anbetrifft,
zur Schweiz stellt. « M u n d a r t w i r d erstens aus-
nahmslos von allen sozialen Schichten gesprochen;
zweitens reicht ihr Geltungsbereich i m pragmati-
schen Sinne weit ü b e r den irgendeiner in Deutsch-
land gesprochenen Mundar t hinaus. Sie ist nicht
nur die Sprache des f a m i l i ä r e n Umgangs, sondern
auch die weiter Bereiche des öf fen t l i chen Lebens»
(Ris 1973, S. 35). Und dennoch wurde in Vorge-
s p r ä c h e n und durch teilnehmende Beobachtung
festgestellt, dass im Sprachkontakt mit Personen
aus dem s ü d d e u t s c h e n oder ö s t e r r e i c h i s c h e n
Raum, die eine mundar t l ich g e f ä r b t e Umgangs-
sprache sprechen, auch von Liechtensteinern diese
Umgangssprache oder das Hochdeutsch g e w ä h l t
w i r d , auch wenn bekannt ist, dass der G e s p r ä c h s -
partner die Mundar t des Landes versteht. Es muss
hier festgehalten werden, dass dies die Ausnahme
ist, die die Regel bes tä t ig t . In G e s p r ä c h e n , i n denen
w i r den G r ü n d e n f ü r diesen atypischen Sprachge-
brauch nachgingen, wurde immer wieder g e ä u s -
sert, es seien sozial Bessergestellte, oder solche, die
es gerne w ä r e n , die Llochdeutsch sprechen. Es
g ä b e eben auch solche, f ü r die das Standarddeut-
sch mehr Prestige besitze als die Mundart .
Demzufolge wurde versucht, die Untersuchung
des Sprachgebrauchs in der Famil ie so anzulegen,
dass die Rededeterminante der Sch ich tzugehör ig -
keit in die Analyse miteinbezogen wurde. Eine
Schichtung i m klassischen Sinn (Unter-, Mit tel- und
Oberschicht) fällt schwer, we i l in Liechtenstein die
Oberschicht, vertreten durch ein starkes B ü r g e r t u m ,
durch Industriemagnaten, einen hohen Klerus, eine
bedeutende Regierungskaste oder durch reiche F i -
nanciers, fehlte. Liechtenstein war bis Ende des
Zweiten Weltkrieges ein armes Bauernland, das
durch die F ü r s t e n von Liechtenstein i n Stellvertre-
tung von Wien aus regiert wurde. Wohl gibt es heu-
te Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber anderen
Schichten m ü s s e n diese nicht a n g e h ö r e n , zumal die
Arbeitgeber g röss ten te i l s Arbei terkinder sind; zu-
dem läss t der relative Wohlstand aller potentiell
vorhandene Grenzen noch undeutlicher werden.
169
«Die empirische Basis dieser Schichtzuteilung
sind die sozialen Z u s t ä n d e der Bundesrepublik (...),
die aber nicht unbesehen auf alle westlichen Indu-
striestaaten ü b e r t r a g e n werden d ü r f e n . Ebensowe-
nig ist es statthaft, die sozialen und gesellschaft-
lichen Bedingungen der USA, die als Hintergrund
fü r amerikanische soziolinguistische Untersuchun-
gen dienen, unbesehen auch f ü r deutsche Verhäl t -
nisse anzunehmen. Solche Merkmalbeschreibun-
gen gelten nicht universell, woh l nicht e inmal f ü r
ein ganzes Land insgesamt. M a n muss mit grossen
Unterschieden auch regionaler Ar t rechnen. (...)
Bei der genannten Unsicherheit i n der Abgrenzung
sozialer Schichten und der Schwierigkeit zu be-
stimmen, welche sprachlichen Eigenheiten auf
Schichtmerkmale oder auf andere Ursachen (...)
z u r ü c k g e h e n , muss g röss te Vorsicht gelten bei der
Annahme von <schichtspezifischen Codes>, so als
s p r ä c h e jede soziale Schicht ihre eigene S p r a c h e »
(Löffler 1985, S. 41).
Trotzdem w i r d der Versuch einer Schichteintei-
lung unternommen, um die A b h ä n g i g k e i t des
Sprachgebrauchs von eben dieser Determinante -
falls vorhanden - zu untersuchen. Es ist nicht un-
ser Ziel , schichtspezifische Varianten zu elaborie-
ren, sondern die Hypothese der U n a b h ä n g i g k e i t
der V a r i e t ä t e n w a h l von der sozialen Zuordnung
der Mundartsprecher zu verif iz ieren.
E i n Promil le der liechtensteinischen Bevölke-
rung, unterteilt i n Ober-, Mittel- , und Unterschicht,
wurde ü b e r den Spachgebrauch in der Famil ie be-
fragt. Die Probandenauswahl f ü r unsere «infor-
mel le» Schichteinteilung erfolgte auf Grund der
Information einer G e w ä h r s p e r s o n in jeder Gemein-
de. Diese wurden beauftragt, nach folgenden Krite-
r ien weitere Probanden zu nennen:
Tabelle 8: Sprachgebrauch
in den Familien
Datengewinnung: Frage-
bogen
Versand: 274
Rücklauf: 156 (N) = 57 %
Familienhaushaltungen:
5883
Probandenauswahl: Teil-
erfassung mit strukturier-
ter Vorauswahl
Spezifi- 'Ober- Mittel? Unter-:
kation Schicht - Schicht Schicht
* Aussagen der Probanden über andere.
*"* Mundart Liechtensteins mit.fremden Einflüssen.
% % %
Präferenz', für* Mda, F L J 83 89 80
FL fremd** 4 8 ' 0
Gemisch 4 1 20
Hd. * 4 1 0
Fremdsprache 5. 1 0
Aktive Mundartkompetenz 100 % 62 : 75 40
der Familienmitglieder* ,75 % ' 18 22 , , 40
50 % 16 •2 0
25 % ! o" 1 20
0% , 4 0 0
Andere' Varietät der Familienmitglieder, Hd. 72 65 66
die nicht, Mundart sprechen* ändere Mda,* 2-3. 15 33
Fremdsprache '5 : 5 0
Gemisch 0 15 0
Familienmitglieder, die Mundart verstehen* 96 98 100
Sprachkontakt mit Hd. Hd. i 100 100 100
Sprachsituation mit Hd. im Bekanntenkreis* 80 ' 47 ' 20
170
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Oberschicht: sehr hohes E inkommen
sehr grosser Besitz
hohes Ansehen i n der Gemeinde
hohe Stellung im Beruf
Mittelschicht: gutes E inkommen
durchschnitt l icher Besitz
gutes Ansehen in der Gemeinde
gute Stellung i m Beruf
Unterschicht: geringes E inkommen
geringer Besitz
geringes Ansehen in der Gemeinde
niedrige Stellung i m Beruf
Die Zahl der Probanden, die uns von den G e w ä h r -
spersonen in den Gemeinden genannt wurden, war
relativ zur E inwohnerzah l der Gemeinde und be-
trug aus der Oberschicht 18 Prozent, der Mittel-
schicht 79 Prozent und der Unterschicht 12 Pro-
zent. 3 3 W i r glauben damit eine A u s w a h l getroffen
zu haben, die g e m ä s s unseren Beobachtungen den
Verhä l tn i s sen in Liechtenstein entspricht. Dieses
Vorgehen wurde gewäh l t , we i l die V e r m ö g e n s - und
E r w e r b s v e r h ä l t n i s s e der Probanden nicht in E r fah -
rung zu bringen waren, als solche aber unabding-
bare Konstituenten einer Schichtzuteilung in einer
kapitalistischen Gesellschaft sind. Ruoff meint hier-
zu, dass ein Proband woh l lieber seine aussereheli-
chen L iebesverhä l tn i s se dartut, falls vorhanden, als
dass er Einbl ick in seine f inanziel len Verhä l tn i s se
geben w ü r d e . 3 4
Die Auswertung dieser r e p r ä s e n t a t i v e n Umfrage
zeigt, dass i m Sprachgebrauch zwischen den ein-
zelnen Schichten keine Unterschiede bestehen, die
es rechtfertigen w ü r d e n , von schichtspezifischen
Codes zu sprechen. Ledigl ich die Sprachsituation,
in der i m Bekanntenkreis Hochdeutsch gesprochen
wi rd , zeigt Unterschiede, indem in der Oberschicht
i m G e s p r ä c h mit hochdeutschsprechenden Be-
kannten in 80 Prozent der Fälle auch von den
Liechtensteiner Mundartsprechern Hochdeutsch
gesprochen wi rd , w ä h r e n d in der Mittelschicht 47
Prozent und in der Unterschicht 20 Prozent der Be-
fragten angegeben haben, dass die Mitglieder ihrer
Familie hier Standard benutzen. Die Aussage von
Ris fü r die Sprachpragmatik der Schweiz kann also
voll und ganz auf Liechtenstein ü b e r t r a g e n werden.
Die Verwendung von Hochdeutsch oder Mundar t
i m f a m i l i ä r e n Bereich korreliert nicht mit der Re-
dedeterminante der Sch ich tzugehör igke i t .
2.4.6.1.
FÜRSTENHAUS
F ü r s t F ranz Josef II. war der erste Vertreter seines
Geschlechts, der seinen s t ä n d i g e n Wohnsitz in
Liechtenstein genommen hatte. Der Vater des nun
amtierenden F ü r s t e n ist nicht i n Liechtenstein auf-
gewachsen und sprach demzufolge auch nicht die
Mundar t des Landes. Dessen Gemahl in , F ü r s t i n
Gina von Liechtenstein, war eine gebür t ige Öster-
reicherin. Beide sprachen Hochdeutsch oder eine
Umgangssprache aus ih rem Geburtsland. Deren
Kinder und Kindeskinder sind alle in Liechtenstein
aufgewachsen und haben auch i n ih rem Heimat-
dorf die Grundschule besucht. Daher hat sich die
zweite und dritte Generation der in Liechtenstein
lebenden Mitglieder des F ü r s t e n h a u s e s eine aktive
Mundartkompetenz erworben. Zuhause in der Fa-
mil ie und auch vielfach i m Umgang mit Mundart-
sprechern benutzen die von Liechtenstein Hoch-
deutsch oder eine dem Hochdeutsch sehr naheste-
hende Umgangssprache, die durch ihre Verb in-
dung nach Ös te r re ich , speziell nach dem Wiener
Raum g e p r ä g t ist. Al lgemein w i r d i m F ü r s t e n h a u s
also ü b e r w i e g e n d Hochdeutsch gesprochen. Die
Phase einer aktiven Verwendung der Mundar t re-
duziert sich bei der zweiten und dritten Generation
der in Liechtenstein lebenden Familienmitgl ieder
auf die Zeit der Grundschule. M a n darf hierbei
nicht vergessen, dass nur ein kleiner Teil der gan-
zen Famil ie von Liechtenstein auch i n ihrem Land
lebt. Die Kontakte nach der Schulzeit mit den E i n -
wohnern des Landes sind b e s c h r ä n k t und f ö r d e r n
den Mundartgebrauch nicht.
171
2.4.7.
ARBEITSWELT
«Nach einem rasanten Aufschwung in den letzten
drei Jahrzehnten hat das industrielle Schaffen in
Liechtenstein einen hohen Standard erreicht. Eine
starke, leistungs- und w e t t b e w e r b s f ä h i g e Export-
industrie ist zur wesentlichen volkswirtschaft l ichen
Basis g e w o r d e n » (Kindle o. J . , S. 107). Die Erwerbs-
tä t igen i n Liechtenstein wurden fü r unsere Unter-
suchung in zwei Klassen aufgeteilt, u m zu sehen,
ob h ö h e r qualifizierte Arbei ter mehr Hochdeutsch
verwenden als weniger hoch qualifizierte. Der
Liechtensteinischen Industrie- und Handelskam-
mer sind 31 Betriebe angeschlossen, die etwas
mehr als 6000 Mitarbeiter be schä f t i gen . In den
Banken, Versicherungen und B e r a t u n g s g e s c h ä f t e n
arbeiten ca. 2600 Personen. Die Vorgesetzten die-
ser 8600 Arbei tnehmer bi lden die erste Klasse der
Befragten, die zweite rekrutiert sich aus den der
Gewerbe- und Wirtschaf tskammer angeschlos-
senen Mitgliedern, die ca. 7500 Mitarbeiter be-
s c h ä f t i g e n . 3 5 F ü r die Untersuchung konnten nicht
alle Betriebe angefragt werden. A u f Grund der
Kenntnis der Be t r i ebsg rösse und A n z a h l der Be-
schäf t ig ten wurde durch uns eine Auswah l getrof-
fen. Die Differenz in der Zah l der versandten F ra -
gebogen und der damit in die Untersuchung mit-
einbezogenen Mitarbeiter ergibt sich aus der unter-
schiedlich grossen Zah l von Gewerbe- und Indu-
striebetrieben (Gewerbe- und Wirtschaftskammer:
ü b e r 1000 Mitglieder; Industrie- und Handelskam-
mer: 31 Mitglieder).
Die Befragung der Vorgesetzten in den Betrieben
Liechtensteins ergab, dass sowohl i m p e r s ö n l i c h e n
wie auch i m geschä f t l i chen Bereich i n Industrie
und Gewerbe die Mundar t vorherrschend ist. Sie
wi rd g rundsä t z l i ch immer dann gebraucht, wenn
der Kommunikat ionspar tner die Mundar t Liech-
tensteins versteht, beispielsweise in den Arbeits-
pausen, mit einheimischen Kunden , in Bespre-
chungen, in Service und Küche , i m Verkauf, auf der
Baustelle, in der Werkstatt, i m Büro , bei der Pro-
duktion. Hochdeutsch w i r d generell immer dann
gesprochen, wenn der Kommunikat ionspar tner die
Mundar t nicht versteht oder allgemein i m Kontakt
mit Standardsprechenden. Hochdeutsch w i r d bei-
spielsweise in Besprechungen mit technischem In-
halt, bei Bestellungen aus Deutschland, i m direkten
Kundenkontakt , bei V e r s t ä n d i g u n g s p r o b l e m e n mit
A u s l ä n d e r n , be im Anle rnen von a u s l ä n d i s c h e n A r -
b e i t s k r ä f t e n , i m Verkauf, mit deutscher K u n d -
schaft, am Telefon mit Deutschen, in der A d m i n i -
stration, an der Rezeption, mit speziellen Kunden
und allgemein mit a u s l ä n d i s c h e n Mitarbei tern ge-
braucht.
Die Zahlen der Tabelle zeigen, dass eine Zweitei-
lung der Arbei t i n h ö h e r und niedriger zu qualif i-
zierende Arbei t und deren Korrela t ion mit der Va-
r i e t ä t e n w a h l nicht sinnvoll ist. In s ä m t l i c h e n A r -
beitsbereichen benutzt der Liechtensteiner die
Mundart , sofern der Kommunikat ionspar tner diese
versteht. Na tür l i ch sind i n den Banken und Indu-
strien mit ihren internationalen G e s c h ä f t s v e r b i n -
dungen die Sprechsituationen bedeutend häuf iger ,
in denen die Angestellten auf Hochdeutsch umstel-
len m ü s s e n . Daraus ist zu folgern, dass die Fäh ig -
keit der Angestellten i m Umgang mit dem Stan-
darddeutsch h ö h e r ist, als bei jemandem, der sehr
wenig in Situationen kommt, in denen verlangt
wi rd , Hochdeutsch zu sprechen. Teilnehmende Be-
obachtungen k ö n n e n dies bes t ä t igen .
W i r beobachteten ausserdem i m Hoch- und Tief-
bau die Verwendung von Pidgin-Deutsch, den ver-
s t ü m m e l t e n Gebrauch des Dialekts als Anpassung
an morphologische und syntaktische Strukturen
einer Fremdsprache.
172
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Spezifikation Industrie
/o
Gewerbe
o/
/o
Muttersprache der Mitarbeiter* Mda. FL
i andere Mda.
Hd.
Fremdsprache
57 '
3:5
2
6
45
45
6
4
Sprache im alltäglichen Gebrauch* Mda, FL
Ff fremd**
Gemisch
Hd,
Fremdsprache
53 •
13
34 .
0
0
4.1
15
44
0
0
Snrarhp im Srirarhicnntatct mit
jemand, der Mundart spricht*
Mda.
Hd. 5
92
8
Sprache ihr Sprachkontakt mit
jemand,-der Hochdeutsch spricht*
Mda.
Hd..
7
93
8
92
Rede, Vortrag Hd.
Mda.
beides
.keine. Antwort
21
57'
- . 5
17
43
44
13
0
Aktive Mda.-Kompetenz*' 100%
75 %
50%
25 %
.0%
. 18
29
29
• 19
5
25
20
26
22
7
Alternative Varietät derjenigen, die
nicht Mundartisprechen*
ändere Mda.
Hd.
Fremdsprache
Gemisch
66
•4.
14
16
74
11
5
10
Mitarbeiter, die. die Mda. nicht verstehen' 15 1
Bewertung.der-Mundart sehr hoch
hoch
•mittel
niedrig
sehr niedrig
keine Antwort
:45
31
12
0
.0
12
38
49
13
0
0
0
Tabelle 9: Sprachgebrauch
in der Arbeitswelt
* Aussagen der Probänden über ändere^
** Mundart Liechtensteins mit fremden Einflüssen.
Datengewinnung Industrie:
Fragebogen
Versand: 45
Rücklauf: 39 (N) = 86,7 %
Mitarbeiter: 5736
Probandenauswahl: Teil-
erfassung
Datengewinnung Gewerbe:
Fragebogen
Versand: 180
Rücklauf: 42 (N) = 23,3 %
Mitarbeiter: 827
Probandenauswahl: Teil-
erfassung
173
2.4.8.
ZUSAMMENFASSUNG
Grundsä tz l i ch w i r d der Sprachgebrauch durch die
mediale Diglossie bestimmt. M a n spricht Mundar t
und schreibt Hochdeutsch und dies ohne Ansehen
von Schicht, Bildung, Stellung i m Beruf oder ande-
ren Rededeterminanten. Ausnahmen sind auf be-
stimmte D o m ä n e n b e s c h r ä n k t . Diese d ü r f e n nicht
so gross gehalten werden wie bei F i shman. Bereits
zu Beginn dieses Kapitels waren wi r uns bewusst,
dass hier zu differenzieren ist. Der Sprachgebrauch
in den verschiedenen D o m ä n e n muss f ü r jede
Sprachgemeinschaft neu eruiert werden. D o m ä n e n
des Hochdeutschen - Kirche , Bildungswesen und
Gerichte - lassen sich nur bedingt als Konglomerat
von Einstellungen, Funkt ionen und Situationen zu-
sammenfassen. A u c h hier gibt es immer wieder
Anlässe , in denen die Mundar t als verbales K o m -
munikationsmittel gebraucht w i r d , wie es auch i n
den postulierten M u n d a r t d o m ä n e n immer wieder
Hochdeutschnischen gibt.
Hier w i r d ü b e r w i e g e n d Hochdeutsch gesprochen:
- allgemein i m Umgang mit Sprechern, die die
Mundar t nicht verstehen
- i n G e s c h ä f t s g e s p r ä c h e n mit Hochdeutschspre-
chenden
- in öf fent l ichen Reden und Vor t r ägen vor einem
Publ ikum, das nicht zur Gänze aus Z u h ö r e r n be-
steht, die die Mundar t verstehen
- in kirchl ichen Messfeiern (ausser Jugendmess-
feiern), teilweise bei Taufen und Hochzeiten
- i m Landtag
- in Vor t rägen und Referaten vor Gericht
- vor Gericht, wenn alle Parteien des Hochdeut-
schen aktiv und passiv m ä c h t i g sind, auch wenn
die Kommunika toren native Mundartsprecher
sind
- allgemein in kursorischen F ä c h e r n in der Schule
(vgl. S. 163-166)
- in bestimmten Sprechsituationen in der Schule
- in öf fen t l ichen Reden an besonders feierlichen
A n l ä s s e n oder in prestigebeladenen Situationen
- im F ü r s t e n h a u s
Hier w i r d ü b e r w i e g e n d Mundar t gesprochen:
- allgemein i n p e r s ö n l i c h e n , f ami l i ä r en , nicht öf-
fentlichen Sprechsituationen
- allgemein i m Umgang mit Sprechern, die die
Mundar t verstehen
- allgemein in musischen F ä c h e r n in der Schule
- i n G e s c h ä f t s g e s p r ä c h e n mit Mundartsprechen-
den
- in öf fen t l ichen Reden und Vor t räge vor einem
Publ ikum, das zur Gänze aus Z u h ö r e r n besteht,
die die Mundar t verstehen sowie wenn der Cha-
rakter der Veranstaltung fami l i ä r und freund-
schaftl ich ist
- vor Gericht, wenn eine Partei starke Schwierig-
keiten hat, sich in Hochdeutsch a u s z u d r ü c k e n
- in Gemeindeparlamenten
- bei Jugendmessen, teilweise bei Taufen, Hoch-
zeiten
- in Famil ien , in der Freizeit, in Vereinen
- allgemein i n G e s c h ä f t s g e s p r ä c h e n , wenn alle
G e s p r ä c h s p a r t n e r die Mundar t verstehen
- allgemein bei der Arbei t , wenn aUe G e s p r ä c h s -
partner die Mundar t verstehen
2.4.9.
VERGLEICHE ZUR SCHWEIZ UND ZU
ÖSTERREICH
E i n Vergleich der Sprachlandschaft Liechtensteins
mit derjenigen der Schweiz beruht auf einer Gegen-
ü b e r s t e l l u n g der vorangehenden Ergebnisse mit den
Resultaten i n Schwarzenbachs «Die Stellung der
Mundar t i n der deutschsprachigen Schweiz» (1969).
Ös te r re ich und Liechtenstein vergleichen w i r auf
Grund der Arbei t von Wiesinger «Das Schweizer-
deutsche aus ö s t e r r e i c h i s c h e r Sicht» (1986).
In Ös te r re i ch findet sich generell Polyglossie,
«. . . wobei man durchschnit t l ich an einem Ort von
vier Sprachschichten und bei jedem Sprecher von
der mehr oder minder gekonnten Beherrschung
dieser Sprachschichten ausgehen kann. Obwohl
der Sprachwissenschaftler die einzelnen sprach-
lichen Erscheinungsformen klassif iz ieren und zu-
ordnen kann und es durchschnittl iche, vom Ge-
174
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
s p r ä c h s p a r t n e r und der Situation a b h ä n g i g e gesell-
schaftliche Gebrauchsnormen gibt, vollzieht sich
ein gleitendes Kont inuum. Im allgemeinen ist auf
dem Land der Basisdialekt die b o d e n s t ä n d i g e , a l l -
tägl iche Sprachform der ä l t e ren , alteingesessenen
Bevö lke rung und weist daher ör t l iche bis k l e in räu -
mige Unterschiede auf. Die j ü n g e r e Generation
zeigt dort dagegen i m a l l täg l ichen G e s p r ä c h allerlei
Abweichungen, die meistens vom Dialekt der kultu-
rel l die Region beherrschenden Stadt ausgehen
und den regionalen Verkehrsdialekt a u s m a c h e n »
(Wiesinger 1986, S. 106).
Die Standardsprache geniesst besonders in
Öster re ich hohes Prestige. Das Hochdeutsche be-
kommt als soziale Kennzeichnung ein besonderes
Gewicht und ist sprachsoziologischer Ausdruck f ü r
Elite und Stand. So ist in der Schule und in den
Medien viel seltener Mundar t zu h ö r e n als in der
benachbarten Schweiz. E in wenig anders liegen
die sprachpragmatischen Begebenheiten in Vorar l -
berg. Kennzeichnend ist, dass dieses Randgebiet
zwischen alemannischen und bayerischen Dialek-
ten eben auch aus pragmatischer Sicht eine Z w i -
schenstellung einnimmt. Die Mundar t beherrscht
hier viel mehr D o m ä n e n als i m restlichen Öster-
reich und besitzt - ähn l i ch wie i n der Schweiz -
Identifikationscharakter zur Betonung der poli t i-
schen und kulturellen E igens tänd igke i t . Anderer-
seits w i l l man aber nicht «h in t e r Wien z u r ü c k s t e -
h e n » und ist aus diesem Grund na tü r l i ch darauf
bedacht, den negativ besetzten Dialekt durch eine
el i tär wirkende Umgangssprache zu ersetzen. «Sie
hat eindeutig soziale H i n t e r g r ü n d e , da diejenigen,
die sie sprechen, vorwiegend A n g e h ö r i g e von F a -
brikantenkreisen, sich von jenen sprachlich distan-
zieren, welche nicht so reich s ind wie sie ... Es
wi rd wohl selten eine Sprachform geben, deren
Ursprung so eindeutig i n den sozialen Verhä l tn i s -
sen zu suchen ist» (Gabriel 1973, S. 75).
Das «Böde ledeu t sch» , « G a n a h l d e u t s c h » und
« P f ä n d e r d e u t s c h » 3 6 findet in den Mundartbeschrei-
bungen von Jutz noch keine Aufnahme. Gabr ie l hat
sich damit bislang marginal befasst. Es scheint,
dass sich der Gebrauch einer Umgangssprache erst
in den letzten Jahrzehnten auf immer breitere Be-
v ö l k e r u n g s s c h i c h t e n auszudehnen beginnt, und
dass die j ü n g e r e n Vorarlberger, beeinflusst durch
zentrale Medien, den Fremdenverkehr, die Wir t -
schaft und die gestiegene Mobil i tä t diese Umgangs-
sprache auch immer mehr benutzen. Die Unter-
schiede aber zwischen dem schweizerischen
Rheintal und dem Vorar lberg s ind klar. Hier Diglos-
sie mit Mundar t und Standard. Dort Polyglossie mit
Mundar t und Hochdeutsch und dazwischen ein
umgangssprachliches Kont inuum, das sich offen-
sichtl ich auf immer g r ö s s e r e Sprechergruppen aus-
dehnt.
Der Sprachformengebrauch in der Schweiz und
in Liechtenstein unterscheidet sich nicht wesent-
l ich . Sowohl i n der Schweiz wie auch in Liechten-
stein w i r d g r u n d s ä t z l i c h ein zweistufiges Sprach-
system verwendet. «Da die gesprochene F o r m des
Schriftdeutschen, die Vortragssprache, auf die
Schule, einzelne Institutionen und Berufe einge-
s c h r ä n k t bleibt, fällt dem Schweizerdeutschen zu-
dem von alters her die Aufgabe einer allgemeinen
Umgangssprache zu, . . .» (Schwarzenbach 1969,
S.69).
Die g r ö s s t e n Unterschiede bezügl ich des Sprach-
formengebrauchs haben w i r f ü r die Kirche fest-
gestellt. W ä h r e n d in Liechtenstein i n der Kirche
fast ausschliesslich Standarddeutsch gesprochen
w i r d , was damit z u s a m m e n h ä n g t , dass die meisten
Priester keine Liechtensteiner sind, gibt es nach
Schwarzenbach i n der Schweiz i n den Ki rchen die
unterschiedlichsten Situationen, in denen Mundar t
gesprochen wi rd . Sei dies nun das freie Gebet 3 7 , die
Mundar tpredigt 3 8 , die Feldpredigt 3 9 oder der
Jugendgottesdienst 4 0 . E in besonderes Zeichen fü r
den Unterschied des Sprachformengebrauchs in
der Kirche ist die Tatsache, dass eine Bibe lüberse t -
zung in Liechtensteiner Dialekt i m Gegensatz zur
Schweiz nicht existiert und unserer Ansicht nach
von den Liechtensteinern auch als sehr f remd emp-
funden w ü r d e .
A u c h Schwarzenbach fällt es schwer, f ü r die öf-
fentliche Rede oder den öf fen t l i chen Vortrag Fakto-
ren zu f inden, die den Gebrauch von Mundar t oder
Hochdeutsch definieren. So kann f ü r verschiedene
D o m ä n e n wie Reden bei S c h ü t z e n e m p f ä n g e n , B u n -
175
3 .
Die Liechtensteiner Mundart.
Beharrung und Veränderung
desfeierreden, s t a a t s m ä n n i s c h e Reden, Trauerre-
den, Vor t räge und Referate woh l das Vorherrschen
der einen oder anderen Sprachform beschrieben
werden, dies aber nie ohne Ausnahme. «Was der
Mundartrede ihre Stellung heute sichert, ja noch
immer erweitert, ist ihre N ä h e z u m G e s p r ä c h , die
zum Kennzeichen der heutigen öf fen t l ichen Rede
ü b e r h a u p t geworden ist. Dass sich daneben i m ge-
schlossenen Vortrag und in FachgeseOschaften das
Schriftdeutsche seinerseits eine wesenseigene Stel-
lung bewahrt hat, ja auch einmal bei einer Gele-
genheitsrede ohne weiteres verwendet werden
kann, g e h ö r t zu den Freiheiten unseres Sprachge-
brauchs, der individueller Gestaltung so weiten
Spielraum lässt , s chöpfe der Redner nun die Mög-
lichkeiten mundart l ichen oder schrif tsprachlichen
Ausdrucks oder gar beider in ihrer gegenseitigen
E r g ä n z u n g a u s » (Schwarzenbach 1969, S. 311).
Die A u s f ü h r u n g e n von Schwarzenbach bezüg-
l ich des Sprachformengebrauchs vor Gericht be-
s c h r ä n k e n sich auf den Kanton Zür ich . Vor allen
Instanzen w i r d in Mundar t befragt und auch so ge-
antwortet. Die Vor t räge von Staatsanwalt und Ver-
teidiger erfolgen in Hochdeutsch. Al lgemein ist
auch hier die Mundar t in der Minderhei t . Dies gilt
auch f ü r die Liechtensteinischen Gerichte, wo i n
offiziellen Situationen kaum Mundar t gesprochen
wi rd .
Der Sprachformengebrauch in den kantonalen
Parlamenten der Schweiz ist unterschiedlich. A u f
Bundesebene w i r d allgemein Hochdeutsch, in den
Gemeindeversammlungen meist Mundar t gespro-
chen. In Liechtenstein w i r d in den Gemeindeparla-
menten durchwegs die Mundar t und i m Landtag
durchwegs das Schriftdeutsche verwendet. E i n zu-
sammenfassender Vergleich des Sprachgebrauchs
in den Schulen ist auf Grund der U n ü b e r s e h b a r k e i t
nicht mögl ich . W i r verweisen hier auf die a u s f ü h r -
liche Arbei t von Sieber/Sitta 1986.
3.1.
ALLGEMEINES ZUR BASISMUND A R T
Die Beschreibung der Laute der Basismundart , des
Lautwandels, der Lautvariat ion und damit die Dar-
stellung der Ortsmundarten auf lautlicher Ebene
bildet den Inhalt der folgenden Untersuchung. Der
kontrastive Vergleich der heute de facto verwende-
ten Sprachformen mit der Basismundart be-
schreibt die Ortsmundarten. Der Vergleich von Ba -
sismundart und Ortsmundart dokumentiert den
Lautwandel und die Variat ion.
Die Analyse b e s c h r ä n k t sich auf das Lautsystem.
V e r ä n d e r u n g e n sind in allen grammatischen Berei-
chen zu erwarten, aber vor al lem die Lexik hat in
den vergangenen Jahrzehnten Ä n d e r u n g e n durch-
gemacht, die augenscheinlich und leicht nachvoll-
ziehbar s ind. Jeder weiss um das Verschwinden
von W ö r t e r n und die Aufnahme von neuen Lexe-
men in die deutsche Sprache, wie sie i n den letzten
Jahrzehnten als Zeichen des Wandels unserer Ge-
sellschaft mit besonderer Vehemenz geschehen ist.
Dies zeigt eine d iesbezüg l i che Untersuchung (Ban-
zer 1990) deutlich. Es wurden acht Texte von ver-
schiedenen Sprechern i n unterschiedlichen Situa-
tionen untersucht. Die Texte umfassen insgesamt je
4105 Wör ter , davon g e h ö r e n 403 oder 9,8 Prozent
nicht zur Basismundart . Die Texte 1 bis 8 zeigen
signifikante Unterschiede in der A n z a h l der nicht-
basismundart l ichen Wör te r . Die Prozentzahlen
nichtbasismundart l icher W ö r t e r schwanken z w i -
schen 1,5 f ü r Text 1 und 21,2 Prozent f ü r Text 8.
Besonders betroffen davon sind die Substantive.
Von total 547 (21 Prozent der Gesamtmenge) Sub-
stantiven entstammen 213 oder 39 Prozent nicht
der Basismundart . Hoch sind die Zahlen f ü r die
Texte der ä l t e r en G e w ä h r s p e r s o n mit 61,2 Prozent,
53,6 Prozent und 54,8 Prozent. Von den nichtba-
sismundart l ichen W ö r t e r n sind 213 (60%) Sub-
stantive, 68 (19 %) Verben, 50 (14 %) Adjektive und
21 (5 %) üb r ige . 291 (72 %) der nichtbasismundart-
l ichen W ö r t e r s ind hochdeutsche, 99 (24 %) sind
nichthybride F r e m d w ö r t e r 4 1 und 13 (3 %) sind hy-
bride Wörter . Die Interferenzen sind vor allem f ü r
die Texte 5 bis 8 besonders stark. Dies w i r d belegt
176
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
durch die Tatsache, dass die Substantive i n unse-
rem Fa l l 21 Prozent des Textvolumens ausmachen,
und dass beispielsweise i n Text 6 61,2 Prozent der
Substantive nichtbasismundart l ich sind. Die Ge-
bersprache ist hierbei fast ausschliesslich das
Hochdeutsche. Wenn m a n bedenkt, dass viele
F r e m d w ö r t e r mit grosser Wahrscheinl ichkeit ü b e r
das Hochdeutsche i n die Mundar t vermittelt wer-
den, kann bezügl ich der Lexik in diesem F a l l von
einer starken Nehmer-Geber-Beziehung zwischen
Mundar t und Hochdeutsch gesprochen werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die
Korrelat ion der Interferenzen mit extralinguisti-
schen Determinanten. Hier Hessen sich eindeutige
Ergebnisse zeigen. Die Interferenzen korrel ieren
mit dem Alter der G e w ä h r s p e r s o n , mit dem Ge-
s p r ä c h s t h e m a und mit dem Öffen t l ichke i t sgrad .
Evident ist i n diesem Zusammenhang die Zunahme
der nichtbasismundartl ichen W ö r t e r bei grosser
Öffentl ichkeit und Anst ieg der Wissenschaft l ich-
keit / In te l lektual i tä t der Texte. Zweigeteilt ist die
Alterskurve. Sie entspricht i m Bereich der Famil ie
und der Freunde i n etwa der Norm: « H o h e s Alter -
wenig nichtbasismundartl iche W ö r t e r » und wider-
spricht dieser i m Bereich der Öffent l ichkei t g ä n z -
lich, indem es hier heisst: «Hohes Alter - viel W ö r -
ter, die nicht zur Basismundart g e h ö r e n » . Die
Mundar t Liechtensteins w i r d auf lexikalischer Ebe-
ne durch das Hochdeutsche am deutlichsten beein-
flusst.
Dennoch untersuchen w i r die Lautung, wei l die-
se unserer Ansicht nach das p r i m ä r - q u a l i f i z i e r e n d e
Charakteris t ikum der Mundar t in den einzelnen
Gemeinden Liechtensteins ist. Der Wortschatz dif-
ferenziert die Dialekte nicht so stark wie dies bei
unterschiedlichen Fremdsprachen der Fa l l ist. Die
Wortgeographie kann zwar areal deutliche Ge-
brauchsunterschiede zeigen, und es kann zwischen
weit entfernten Dialekten sicher auch auf Grund
der Lexik zu V e r s t ä n d i g u n g s s c h w i e r i g k e i t e n kom-
men, bei so nahe verwandten Ortsmundarten wie
in Liechtenstein ist dies mit Ausnahme der Walser-
siedlung Triesenberg jedoch nicht der Fa l l , obwohl
lokal bedingte Wortschatzunterschiede vorhanden
waren und mög l i che rwe i s e noch heute vorhanden
sind. So sagte man beispielsweise f r ü h e r im Unter-
land f ü r den Zapfhahn am Most- oder Weinfass
«p ipa» und i m Oberland « schp i i na» .
3.2.
BASISMUNDART - ORTSMUNDART
Die Lautvariat ion und der Lautwandel werden ü b e r
den Vergleich Basismundar t - Ortsmundart erho-
ben. W i r gebrauchen die Basismundart f ü r unsere
Arbei t als ein sprachtheoretisches Konstrukt. «Mit
Basisdialekt meinen w i r ein archaisches Ideal-
system, das aus den vari ierenden ortsmundartl i-
chen Inventaren, die durch die kommunikat iven
Normen der Sprachgemeinschaft gesteuert wer-
den, konstruiert w i rd . E r ist ein linguistisches M o -
dell» (Jakob 1985, S. 12). Dieses System be rück -
sichtigt weder die His tor iz i tä t noch He t e rogen i t ä t
der Mundar t , es ist eine sprachtheoretisch homo-
gene Konstrukt ion. Die Unterscheidung von Basis-
mundart und Ortsmundart dient als Grundlage zur
empir ischen Beschreibung der Variat ion und des
Lautwandels und postuliert keine wi rk l i ch existen-
te homogene, ä l t e re , reine Mundart , wie dies in
alten Mundartbeschreibungen ö f t e r s geschieht. W i r
verstehen den Begriff der Basismundart in einem
eng definierten Sinn. Arno Ruoff (1973, S. 48) bei-
spielsweise benutzt den Begriff « G r u n d m u n d a r t »
in einem weiteren Sinn: «Un te r Mundar t (oder Dia -
lekt) verstehe ich also die durch den Lautstand
r e p r ä s e n t i e r t e , in einem engeren Gebiet gült ige
Sprachform, wie sie von der M e h r z a h l der Einhei -
mischen im normalen, a l l tägl ichen G e s p r ä c h ge-
braucht w i rd . Mundar t mit eindeutig ör t l i cher Aus-
p r ä g u n g bezeichne ich als Ortsmundart, die derzeit
<tiefste>, ä l tes te Schicht dieser Ortsmundart als
Grundmundart , deren V e r ä n d e r u n g sich wohl lang-
samer vollzieht als die der anderen Sprachschich-
ten, die aber keinesfalls als völlig stagnierend auf
eine zeitliche Schicht feststellbar ist .»
In den vorangegangenen Kapi te ln wurden die
Begriffe Mundar t und Dialekt benü tz t , ohne Re-
chenschaft ü b e r deren Bedeutung und Umfang ab-
gelegt zu haben. Das war auch nicht nötig, w i r d i m
177
folgenden jedoch unabdingbar, wenn es um die U n -
terscheidung zwischen Basismundart und Orts-
mundart geht.
« M u n d a r t ist stets eine der Schriftsprache vor-
angehende, ört l ich gebundene, auf m ü n d l i c h e Rea-
lisierung bedachte und vor allem die n a t ü r l i c h e n
Lebensbereiche einbeziehende Redeweise, die
nach eigenen, i m Verlauf der Geschichte durch
nachbarmundart l iche und hochsprachliche E i n -
f lüsse entwickelten Sprachnormen von einem gros-
sen heimatgebundenen Personenkreis in best imm-
ten Sprechsituationen gesprochen w i r d » (Sowinski
1974, S. 180). Diese Defini t ion k ö n n t e durchaus
durch eine andere ersetzt werden. W i r verwenden
sie, we i l sie relativ offen gehalten ist und trotzdem
die nö t igen Aspekte der Linguistik, der geographi-
schen Geltung, des sozialen Verwendungsbereichs
und der His tor iz i tä t und LIeterogenität beinhaltet.
W i r definieren Ortsmundart als de facto ge-
brauchtes Kommunikat ionsmit te l i m Gegensatz
zum linguistischen, theoretischen Konstrukt der
Basismundart . Unter Ortsmundart (ungleich M u n d -
art, Dialekt; ungleich Basismundart) sind sämt l i che
in Gebrauch stehenden Inventare oder Var ie tä ten
zu verstehen, die durch die sozialen Normen der
Sprachgemeinschaft eines Ortes als dialektal emp-
funden und geduldet werden und nicht zur Stan-
dardsprache oder zu einer Fremdsprache g e h ö r e n .
Ortsmundarten sind keine abgeschlossenen, homo-
genen Grössen . Variat ion, He t e rogen i t ä t und Histo-
r iz i tä t sind konstituierende Elemente.
« S p r a c h e ist nicht homogen, sondern heterogen.
D a sie sich zweckgebunden an die Unterschiede in
den menschlichen Tä t igke i ten anpasst, kann man
ihre funktionale Variat ion nur verstehen, wenn
man den sozialen Kontext in die Sprachbetrach-
tung von vornherein einbezieht. Gerade aufgrund
der sprachlichen Variat ion k ö n n e n fü r verschiede-
ne kommunikat ive Zwecke flexibel stilistische Var i -
anten g e w ä h l t werden . . .» (Dittmar 1982, S. 27).
Unser Begriff der Ortsmundart ist gleichzusetzen
mit der Definit ion, die A m m o n (1986, S. 227 ff.) f ü r
den Dialekt gibt. Sie passt besonders gut in die l iech-
tensteinische Diglossiesituation, we i l Standard-
deutsch nicht als Referenz miteinbezogen w i r d .
Eine Ortsmundart liegt dann vor,
1. wenn es sich u m eine Var ie tä t handelt,
2. die keiner anderen Var ie tä t ü b e r g e o r d n e t ist,
3. die nicht standardisiert ist.
Ortsmundarten sind Sprachen i m Sinne von V a -
r i e t ä t en , deren funktionale Normen ausschliesslich
durch die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft de-
finiert werden. Var ie tä ten funkt ionieren immer in
Abhäng igke i t von aussersprachlichen Determinan-
ten und k ö n n e n sich auf allen grammatikal ischen
Ebenen unterscheiden, der phonetischen, morpho-
logischen, syntaktischen und lexikalischen. Varie-
t ä t e n k ö n n e n durch verschiedene Determinanten
unterschieden werden: r ä u m l i c h - g e o g r a p h i s c h , h i -
storisch, funktional , sozial wertend. Eine Orts-
mundart ist keiner anderen Ortsmundart ü b e r g e -
ordnet, nach den Worten von A m m o n ü b e r d a c h t
sie keine andere Var ie tä t derselben Sprache.
« W e n n m a n die Region einer Var ie tä t als Menge
von Gebietspunkten auffasst, so kann man es auch
folgendermassen formulieren: die Region einer sol-
chen Var ie tä t a, die [R.B.: eine Ortsmundart] ist,
bildet keine echte Obermenge ü b e r der Region ir-
gendeiner anderen Var ie tä t b derselben S p r a c h e »
(Ammon 1986, S. 228). Es w ä r e also falsch, von
einer liechtensteinischen Ortsmundart zu spre-
chen. Es gibt nur eine bestimmte Zah l von Orts-
mundarten, die zusammen die Liechtensteinische
Mundar t ergeben. Ortsmundarten sind nicht stan-
dardisiert. Das heisst, dass es keine schrif t l ich nie-
dergelegten, verbindl ich geltenden Regeln gibt, die
den Sprachgebrauch bestimmen. Es liegt keine
Grammat ik vor, die p r ä sk r ip t i v gebraucht w i rd .
3.2.1.
DIE ERHEBUNG DER L A U T E DER
BASISMUNDART
Die Basismundart ist g e m ä s s unserer Defini t ion ein
archaisches Idealsystem, die idealisierte Sprach-
fo rm der Orte Liechtensteins in homogener und
konstanter F o r m . Die Lautung der Basismundart
der Orte des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein w i r d i n
diachroner Analyse sprachgeographisch darge-
178
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
stellt. Als Ordnungsprinzip dient das mittelhoch-
deutsche Normalsystem, das als solches nie ge-
sprochen wurde, in der Literatur aber als normati-
ves System einheitlich gebraucht wurde. «Es ent-
spricht dialektologischer Tradit ion, die mundart-
lichen Laute auf das <normalmittelhochdeutsche>
Vokalsystem zu beziehen. Se lbs tve r s t änd l i ch be-
steht kein Zweifel daran, dass ein <einheitliches>
Normalmittelhochdeutsch nie bestanden hat, es ist
ja auch nicht denkbar, dass eine so w e i t r ä u m i g e
Sprache je hä t t e einheitlich sein k ö n n e n » (Haas
1978, S. 107). Es m ü s s e n alle mittelhochdeutschen
Laute in allen mög l i chen Wortstellungen und in
allen mög l i chen Vokal- oder Konsonantenverbin-
dungen in ihrer Entwicklung zu den bestehenden
mundartl ichen Entsprechungen untersucht wer-
den. Daraus ergibt sich, welche Laute sich i n wel-
cher Umgebung wie entwickelt haben. Es zeigen
sich Tendenzen g l e i chmäss ige r Entwicklungen
(z.B. Einfluss des Nasals), vor allem aber zeigen
sich jene Wortstellungen und Lautkombinat ionen,
die keinen Einfluss auf die Entwicklung der mittel-
hochdeutschen Laute gehabt haben. W i r untersu-
chen Lautentwicklungen und k ö n n e n dadurch fü r
die Basismundart Entwicklungsregeln festhalten,
die wi r nachfolgend definieren.
Nachdem sich Jutz als erster unter diesem
Aspekt mit der Liechtensteinischen Mundar t aus-
einandergesetzt hat, kennen w i r die linguistischen
Bedingungen der Lautentwicklung. G e m ä s s Unter-
suchungsanlage werden Basismundarten und die
Ortsmundarten i m Jahr 1989 miteinander vergli-
chen, um somit den Lautwandel und die Lautvaria-
tion zu erheben. Die Ergebnisse von Jutz aus dem
Jahr 1925 k ö n n e n daher nicht ü b e r n o m m e n wer-
den, die basismundart l ichen Daten f ü r unseren
Vergleich m ü s s e n fü r 1989 erhoben werden.
3.2.2.
UNTERSUCHUNGSANORDNUNG
In einem ersten Arbei tsgang wurden sämt l i che bei
Jutz festgestellten Lautentwicklungen extrahiert,
systematisiert und zu einem Katalog zusammenge-
fasst. Nach einer Ü b e r p r ü f u n g der Volls tändigkei t
wurden die bei Jutz genannten Beispiele aufgelistet
und wenn nöt ig e rgänz t , damit f ü r die Erstellung
des Fragebogens pro Lautentwicklung normaler-
weise drei Belege zur V e r f ü g u n g standen. Bei den
Nasalen war dies nicht immer mögl ich . Daraus er-
gab sich eine Liste mit z i rka 430 W ö r t e r n . 4 2
Die Datenerhebung erfolgte durch direkte Befra-
gung mit Hilfe eines Fragebogens. Die Fragen sind
geschlossen und lassen nur eine richtige Antwor t
zu, eben die Nennung jenes Wortes, i n welchem
der Laut steht, der von uns in dieser Stellung erho-
ben werden s o l l . 4 3
Die Fragen wurden nach Themenbereichen ge-
ordnet, u m somit ein freies G e s p r ä c h zu ermögl i -
chen. Die Antwor ten wurden zur Kontrolle auf Ton-
band aufgenommen. Wenn mögl ich wurde jedoch
w ä h r e n d der Aufnahme der vom Proband produ-
zierte Laut i n phonetischer Schrift auf einem Aus-
wertungsbogen transkribiert .
Pro Gemeinde wurden zwei G e w ä h r s p e r s o n e n
befragt (vgl. Liste i m Anhang). Eine Ausnahme
machte hier lediglich die Gemeinde Schellenberg,
wei l in der Mundar t der G e w ä h r s l e u t e i m Weiler
Hinterschellenberg z u m Teil vom Rest der Gemein-
de abweichende Formen auftreten. Hier wurden
vier A u f n a h m e n gemacht.
Die G e w ä h r s p e r s o n e n e r fü l l t en folgende Voraus-
setzung: Hohes Alter, Verbundenheit mit dem Dorf,
keine l ä n g e r d a u e r n d e n Auslandsaufenthalte, Mut-
ter und Vater aus Liechtenstein (wenn mögl ich aus
dem gleichen Dorf). Pro Dorf wurden eine F r a u und
ein Mann befragt. Der Fragebogen lag lediglich
dem Explorator vor.
U m die erhobenen Daten zu vergleichen, muss
die G e s p r ä c h s s i t u a t i o n mit den Rededeterminanten
Aufnahmeort , G e s p r ä c h s i n h a l t , Intention, A n z a h l
der Kommunika toren , Stil und Öffen t l ichke i t sgrad
sowie Al ter der G e w ä h r s p e r s o n g rundsä t z l i ch fü r
jede Aufnahme identisch sein. Die Rededetermi-
nante Aufnahmeor t ist f ü r uns dann f ü r alle iden-
tisch, wenn der Grad der Vertrautheit des Proban-
den mit den sozialen und situativen Faktoren m ö g -
lichst hoch ist. Die mentale Einstel lung zum Ort be-
stimmt den Grad der Vertrautheit. Es ist entschie-
179
den wichtiger, alle Probanden an einem von ihnen
a u s g e w ä h l t e n und gut bekannten Ort zu befragen,
als beispielsweise alle i n das gleiche Schulz immer
zu bitten, nur um der Regel vom gleichen A u f n a h -
meort Genüge zu tun.
Fast alle Fragen entstammen dem b ä u e r l i c h e n
Leben und sind somit ganz besonders auf die Ge-
w ä h r s p e r s o n e n zugeschnitten, da diese einem
« J u n g e n » gerne aus ihrer Er fahrung und aus ver-
gangenen Zeiten e r zäh l t en . Es war denn auch viel-
fach eher ein Problem, ausschweifende Exkurse zu
bremsen, als die Befragten zur Auskunf t zu animie-
ren. Die metakommunikative Aufmerksamkei t auf
das Tonband und den unbekannten Explorator
konnte meist schon nach wenigen Minuten abge-
baut werden. Bei den Aufnahmen gelang es da-
durch, eine ungezwungene Unterhaltung auf Ton-
band festzuhalten, die dem starren Frage-Antwort-
rhythmus nicht unterlag. Ort, Inhalt, Intention, A n -
zahl der Kommunikatoren , Stil und Öffent l ichkei ts-
grad wurden so gewähl t , dass in allen Fäl len eine
vertraute und pe r sön l i che G e s p r ä c h s s i t u a t i o n ent-
stand. In einem kurzen V o r g e s p r ä c h wurde die In-
tention der Unterhaltung umschrieben. Damit wur-
de eine Situation «weise Alte» - « in t e r e s s i e r t e r
J u n g e r » geschaffen, die den Probanden i n die Rolle
des Kundigen brachte. M a n kann also davon aus-
gehen, dass durch diese Voraussetzungen ein Kor-
pus produziert wurde, in dem die einzelnen Laute
na tü r l i ch realisiert wurden.
3.2.3.
AUSWERTUNG
Die Explorat ion der Daten erfolgte i n direkter Me-
thode, f ü r die Darstellung wurde ein Weg gewähl t ,
der von der bisherigen Aufarbei tung sprachgeogra-
phischer Inventare in k l e i n r ä u m i g e n Grammatiken
oder Sprachatlanten abweicht. Sowohl die karto-
graphische (vgl. unter anderem SDS und VALTS)
wie auch die « e r z ä h l e n d e » Bearbe i tung 4 4 der areal-
linguistischen Daten haben neben vielen Vorteilen
einen entscheidenden Nachteil: sie bieten keinen
G e s a m t ü b e r b l i c k ü b e r die Entwicklung der einzel-
nen mittelhochdeutschen Laute. Be im ersten ver-
lieren sich die Daten auf den Karten, be im zweiten
im Text. Beide Nachteile k ö n n e n durch die Darstel-
lung anhand einer Tabelle umgangen werden. Die
diachrone Betrachtungsweise zeigt s ämt l i che Ent-
wicklungen der mittelhochdeutschen Laute i n allen
Gemeinden des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein in tabel-
larischer Anordnung .
Innerhalb der Beschreibung eines mittelhoch-
deutschen Lautes werden zuerst die qualitativen
und dann die quantitativen Entwicklungen aufge-
füh r t . Innerhalb der qualitativen Entwicklungen
werden jene zuerst a u f g e f ü h r t , die dem mhd . Laut
g e m ä s s Normalsystem (Haas 1978, S. 107 f f J ent-
sprechen und am häu f ig s t en vorkommen. Die Be-
l egwör t e r werden standarddeutsch geschrieben,
wenn sie zur Lexik des Standarddeutschen gehö-
ren. Wörter , die lediglich i n der Lexik der Mundar t
vorkommen, werden nach den Diethschen Regeln
geschrieben.
3.3.
DIE L A U T E DER BASISMUNDART
Die nachfolgenden A u s f ü h r u n g e n basieren in ihrer
Anlage ebenso auf der Arbei t von Jutz 1925 wie
diejenigen ü b e r die Vokale. In den Fragekatalog zur
Basismundart wurden W ö r t e r i n jenen Kondi t ionen
aufgenommen, von denen durch Jutz bekannt war,
dass mögl i che Abweichungen vom Mittelhochdeut-
schen zu erwarten waren.
« W ä h r e n d die Entwicklung der Vokale und
Diphthonge in S ü d v o r a r l b e r g und Liechtenstein
grosse Mannigfalt igkeit zeigt und besonders das
B i ld der heute geltenden Qual i tä ten sehr bunt ist,
haben die Konsonanten i m allgemeinen eine mehr
einheitliche Entwick lung genommen. Allerdings
f inden sich auch i m Konsonantismus mancherlei
Verschiedenheiten, die zwar dem Charakter dieser
Laute entsprechend nicht immer deutlich ins Gehör
fallen, sich aber dennoch bei genauerer Beobach-
tung als tiefgreifend erweisen. Indes erstrecken
sich in der Regel gemeinsame Verhä l tn i s se auf
g r ö s s e r e Gebiete, so dass heute nicht jene Zersplit-
180
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
terung festgestellt werden kann, wie sie den Ver-
hä l tn i s sen beim Vokalismus e igen tüml ich ist» (Jutz
1925, S. 184).
Die folgende tabellarische Auswer tung be-
schreibt die Basismundart der Gemeinden des Für -
stentums Liechtenstein. Pro Gemeinde wurden in
unserer Untersuchung drei Personen befragt. Pro
Lautentwicklung wurden von der G e w ä h r s p e r s o n
drei oder mehr W ö r t e r mit dem entsprechenden
Laut produziert .
3.3.1.
DIE VOKALE
3.3.1.1.
DIE K U R Z E N V O K A L E
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R Sb HSb Tb
M l , .1
Mna. a
a in geschlossener Silbe,
J 1925, S. 56«
'Achsel', 'Backe', 'Hammer' a a a a a a a a a a a a
a, im einsilbigen Wort
vor r + Konsonant
'schwarz' a a a a a a a a a a a a:
'March ' 4 6 a a a a a a a a a a a a:
'Markt' a a a a a a a a a a a a
a vor sc/*, G 1981, S. 181;
J 1925, S. 109
'Asche', 'Tasche', 'waschen' e e B E e 33 33 33 33 33 e 33
a, Nasalierung 4 7
'an-' a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a
a, Dehnung in offener Silbe im Ul,
J 1925, S. 57
'Gabel', 'Magen', 'Wagen' a a a a a a: a: a: a: a: a 4 8 a
'Hase' a: a a a a a: a: a: a: a: a a
a, Dehnung vor r + Konsonant,
G 1981, S. 197
'Abfahrt', 'Garten', 'warm' a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a:
a, Dehnung im einsilbigen Wort
'Gras' a: a: a: a: a: 33. aa: 33: ae: aa: 33: a
Tag' a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a: a
a, Sonderfälle
'Lärche' 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 e:
'sägen', 'tragen' e: s: B: s: B: e: 33: B: B: B: B: 33.
'sagen' 4 9 s e B s s as: 33: aa: as: B: B 33
'sparen', J 1925, S. 110 s B B s s as: 33: as: 33: 33: B: a
Mhd. e
e, Hebung, Dehnung in
offener Silbe
'eben' e e e e e e: e: e: e: e: e 33
ledig' e e e e e e: e: e: e: e: e e
'Zehen' e e e e e e: e: e: e: e: e e:
e vor / + Konsonant, J 1925, S. 65
'Feld', 'Geld' e B B s e B B e B e e SB:
e vor nasaler Konsonanz
'Lehne' e: e: e: e: e: e: & e: e: e: e: 33:
181
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R S b HSb Tb
e, Senkung vor r + Konsonant,
G 1981, S. 198
'Berg', 'Ferse', 'Gerste' 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33:
Senkung
'gesehen', 'scheren' e e B e s B E B 6 B £ e:
Kürzung
'Herrgott', 'herrlich' e e E e B B £ E £ E B 33
Hebung
'sechs' e e e e e e e e e e e 33
Dehnung in offener Silbe,
G 1981, S. 204; J 1925, S. 62
'Besen', 'kleben', 'weben' s e B e e B: E: B: E: E: 6 33
'Läger' s: s: e: E: e: B: B: s: B: B: B: 33
'Reben' e: s: s: E: B: B: B: B: B: E: B: 33:
Dehnung im einsilbigen Wort,
J 1925, S. 158 f.
'gelb' s: e: e: B: e: E: B: B: B: B: E: 33:
'Mehl' e: e: s: E: s: B: E: B: E: B: B: 33
'Bär' e: e: s: E: B: B: B: s: E: s: B: 33
'Vieh' s: e: e: B: E: E: E: B: B: B: B: e:
[hd. e
vor oraler Konsonanz
'Beck', 'Bett', 'Kessel' e e e e e e e e e e e e
'Kette' e e e e e e e e e e e 0
vor nasaler Konsonanz,
J 1925, S. 108 und 148
'denken', 'Hemd',
menga 'mancher' e e e e e e e e e e
'Pinsel' e e e e e £ e e E e B e
Rundung, J 1925, S. 64 und 106
'Apfel', 'dreschen', 'Schwester' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Diphthongierung vor
r + Konsonant, G 1981, S. 201
'Herbst', 'Kerze', 'März ' 5 2 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 id 19 19 19 19 19 B
'hart' e 1:9 1:9 1:9 1:9 19 19 19 19 19 19 B
Diphthongierung und Rundung
vor r +Nasal, G 1981, S. 201
'Ärmel', 'Wärme' 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 Y9 Y9 X9 Y9 X9 Y9 e
Dehnung in offener Silbe
'Beeren', Enir'3 'Grossvater' e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e:55 e
'legen', 'reden' e e e e e e: e: e: e: e;54 e:56 e
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R S b HSb Tb
Mhd. i
i, Senkung vor oraler Konsonanz,
G 1981, S. 194;
J 1925, S. 69 und 72
'Biss', 'Milch', 'Tisch' e e e e e e e e e e e i
aber: 'dick' e i i i i e i i i i i i
'Sieb' e e i: e e i: e i: i: e e i
'sieben' (7) e e i / e e e e e e e i
i, Senkung vor nasaler Konsonanz,
J 1925, S. 72
'bringen', 'K ind ' 5 7 / i i i i i ; i i i i i
i, Diphthongierung vor r
'dir' 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 Li
'mir' 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 Y.-e 1:9 X:9 Y:S Y:9 Y:9 I:<
i, Rundung und/oder Diphthon-
gierung vor r + Konsonant,
G 1981, S. 201; J 1925, S. 72
'Wirt' 0 0 0 0 0 Y9 19 Y9 Y9 Y9 Y9 y
'T-Iir'tp' ' WircfVi1 mite . rillsun i. c 1. c 1. Ö 1 . o l.Cf I'3
'Birne' 1:9 e 1:9 1:9 V.B 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 1:9 f
i, Rundung, J 1925, S. 73
'Schimmel' y y y y y y y y y y y y
i, Dehnung in offener Silbe
'schielen', 'Wiese' e e e e e e: e: e: e: e: e: i
i, Dehnung im einsilbigen Wort
'Schmied' e e e e e e: e: e: e: e: e: i
'Stiel' e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: i
Mhd. o
o, keine Senkung vor /
'folgen', 'Holz', 'Wolle' 0 0 0 0 0 0 0 0 o o 0 o
o, Senkung 5 8 (und Dehnung
in offener Silbe)
Cotta 'Patin', Ross 'Pferd' 3 o D 0 0 0 0 0 0 0 o 0
'Boden', 'Hose' 0 0 0 0 0 O: 0: 0: 0: 0: 0: o
'Hof , 'Trog' 0: 0: 0: O: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0
o, Senkung vor r + Konsonant
'Dorn', 'Korn', 'Morgen', 'Torkel' 0 0 0 0 0 a a a a a 0 o:
o, teilweise Senkung
'flott' 0 0 0 0 0 0 o 0 0 0 o o
'Frosch' 0 0 0 0 0 0 o 0 0 0 0 o
o, vor nasaler Konsonanz
'kommen' 5 9 0 o o 0 0 o 0 D 0 0 0 o
o, Dehnung in offener Silbe
'hobeln', 'Ofen', 'Vogel' o 0 o 0 0 o: o: o: o: o: o o
Mhd. u
u, keine Senkung vor
nasaler Konsonanz
'Hund', 'Sommer' 6 0 u u u u u u u u u u u u
183
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R Sb HSb Tb
u, Senkung vor oraler Konsonanz
'Brücke', 'Küche' o 0 0 o o o o 0 0 0 0 u
'Rücken' o o o o o 0 o 0 o 0 0 y
aber: 'Fuchs' 0 o o u o u 0 0 u u u u
u, Diphthongierung vor
r + Konsonant, G 1981, S. 201
'Wurzel' 0 o 0 0 0 U9 US aa aa aa u
'Burg* u u o u u aa ua aa aa aa aa u
u, Dehnung in offener Silbe,
G 1981, S. 201
'Stube', 'Zuber' 0 0 0 0 0 o: o: o: o: o: o: u
u, Dehnung im einsilbigen Wort
'Zug' 0 o o 0 o o: o: o: o: o: o: u
Mhd. ä
ä vor oraler Konsonanz
'prächtig' B B B e s 33 33 33 33 33 33 33
ä vor r + Konsonant, J 1925, S. 107
'Erbsen', 'gerben' B61 B B B B B B B B B ß as:
' färben' 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 33 as:
ä vor nasaler Konsonanz
(Dehnung in offener Silbe)
Fähnli 'Fähnlein' e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: as:
ä, Dehnung in offener Silbe, G 1981,
S. 198 und 203; J 1925, S. 108
'Gläser' B: B: B: B: B: 33: 33: 33: e: 33: e: e
'Gräber' B: B: B: B: B: e: e: e: e: 33: e: e
'Räder* B: B: B: B: B: as: as: 33: 33: e: e: e
Flädli 'Flädchen' B: B B B B 33: as: as: 33: aa: £ as:
Rädli 'Rädchen' B: s: El s: B: 33: 33: 33: as: 33: e
Mhd. ö
ö vor oraler Konsonanz,
G 1981, 195; J 1925, S. 113
Götti 'Pate' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
'hübsch' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 y
ö vor nasaler Konsonanz
'können' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 -62
ö, Dehnung in offener Silbe
'Öfen' 0 0 0 0 0 0: 0: 0: 0: 0: 0.- 0
ö, Senkung vor r + Konsonant 6 3
'Dörflein', 'Körblein' ce OB ce ce ce 33 33 33 33 33 OB 0;
ö, Senkung und analoge Dehnung
in offener Silbe 6 4
Hösli 'Höschen' 03 ce 03 ce ce ce: ce: ce: ce: ce: ce: 0
Mhd. ü
ü, Senkung vor oraler Konsonanz,
G 1981, S. 195; J 1925, S. 117, 119
'Füchse', 'Schlüssel' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 y
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R Sb HSb Tb
ü, keine Senkung vor nasaler
Konsonanz, J 1925, S. 120
•fünf y y: y: y y y y y y y y y
'wünschen' y y: y: y y y y y y y y y
ü, Diphthongierung vor r + Konsonant,
J 1925, S. 117 und 119
'Bürger', Türken 'Mais' 0 0 0 0 0 YS YS YS YS YS YS y
ü, Hochalemannische Dehnung
'Türe' 0: 0: 0: 0: 0: Y:S Y;S Y.-S Y:S Y/S Y.S y
ü, Sonderfälle
'dürfte' ce: ce: ce: ce. ce: as: as: as: 7:S6: ' 33: 0:
Kürbsen 'Kürbisse' 0 0 0 0 0 19 19 YS 19 /s 6 6 YS y
'mögen' ce ce ce ce ce ce: ce: ce: ce: ce: ce: u
3.3.1.2.
DIE L A N G E N V O K A L E Mhd. ä
ä, Verdumpfung, J 1925, S. 59
'Adern', 'Abend', 'Schwager' 0: o: 0: o-. c: o: 0: 0: 0: o: o: a:
aber: 'Rahm' 6 7 a: a: a: a: o.- o.- a: 0: o: o: 0: o-.u
d, Hebung, Nasalierung,
J 1925, S. 60
Omet 'Emd', 'Mond', 'Samen' o: o: o: o: o: 5; 5: 5.- 5; 5: 5: a:
äw, J 1925, S. 62
'blau', 'grau' o:u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u o-.u a:
ä, Sonderfall, Hebung
'Montag' e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e:
ä, Sonderfall, Kürzung
'Monat' (mhd. mänöt) o o o o o 5: 5: 5: 5: 5: 5: a:
Mhd. e
e vor oraler Konsonanz, J 1925, S. 67
rära, grätsa 'weinen' 6 8 E: e: e: e: e: E: E: E: E: E: E: as:
e vor nasaler Konsonanz
'zehn' e e e e e e: e: e: e: e: e: as
e, Hebung
'kehren', 'Lehrer', 'Schnee' e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e: e:
e, Hebung, Kürzung, G 1981, S. 205
'Melodie' e e e e e e e e e e e e
Mhd. 1
i vor oraler Konsonanz ausser w,
G 1981, S. 205;
J 1925, S. 73
'Eis', 'fein', 'Weib' /: /: f; i: i: i: i: i: i: i: i: i:
i vor nasaler Konsonanz
'Biene', 'sein' (spontan erhoben) /: /: k h i: i: i: i: i: i: i: i:
185
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R S b HSb Tb
i, Diphthongierung im Hiatus und
Auslaut vor w
'Blei', 'schneien' sj ej sj sj sj sj sj sj sj sj sj sj
1 Kürzung vor t, G 1981, S. 208;
J 1925, S. 73
'reiten', 'Scheit' / ;' / / /' / / / / / / i:
i, Sonderfälle, G 1981, S. 208;
J 1925, S. 68, 73 u. 120
Zelata "Zeile' e e e e e e e e e e e i
Mhd. 6
6 vor oraler Konsonanz
'Brot', 'Rosen' o: o: o: o: o: o: o: o: o: o: o: o:
6, vor nasaler Konsonanz,
G 1981, S. 205;
J 1925, S. 80
'Bohnen'
6, Sonderfall
'Gehorsam', 'Osten'
Mhd. ü
ü vor oraler Konsonanz,
G1981.S . 209; J 1925, S. 83
'Maus', 'Schaufel'
ü, Kürzung vor nasaler Konsonanz,
G 1981, S. 208; J 1925, S. 85
'Daumen'
'Pflaumen'
aber: 'Laune' (spontan erhoben)
ü, Diphthongierung im Hiatus und
Auslaut vor w, J 1925, S. 85
'Bau'
'Sau', 'Säue' (Ol)
ü, Kürzung vor t, G 1981, S. 208
'Euter', 'Haut'
Mhd. ce
ae vor oraler Konsonanz, G 1981,
S. 198; J 1925, S. 108 und 110
Teer', 'Schere', 'zäh' e: e: e: e: e: as: as: as: as: as: as: e:
as, Rundung, vor nasaler Konsonanz
'Späne' 0: 0: 0: 0: 0: ce: ce: ce: ce: ce: ce: -69
ae, Rundung
'häkeln', 'Schwägerin' ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: as:
'später' ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: ce: e:
Tschöka 'Beine' s: ce: 7 , 1 a:
ae, Diphthongierung, J1925.S . 111
'mähen' , 'sähen' e.j s:j e:j s:j s:j e:j s:j e:j s:j e:j s:j e:
0: 0: 0: 0: 0: 5: 5: 5: 5: 5: 5: 0:
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
u: u: u: u: u: u: u: u: u: u: u: u:
u u u u u u u u u u u u:
u u u u u u u u u u u u
u: u: u: u: u: u: u: u: u: u: u: u:
ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou
ou ou ou ou ou u: u: u: u: u: u: ou
u u u u u u u u u u u u:
186
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Mhd., Bern., Beispiel B T V S p E M G R Sb HSb Tb
ae, Kürzung, G 1981, S. 198
gäbig S e e e e « e e e
ae vor nasaler Konsonanz
'käme' e: s: e: ßj et e: e: e: e: e: e: _71
Mhd. ce
03 vor nasaler Konsonanz,
J 1925, S. 116
'Föhn', 'schön' 0: 0: 0: 0: 0: ce: ce: ce: ce: ce: ae: 0:
ce, Hebung, J 1925, S. 115
'böse', 'Grösse' 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0:
Mhd. iu
iu vor oraler Konsonanz,
G 1981, S. 203; J 1925, S. 98
'Fliegen' y: y y y y y y y y y y cey
'Mäuse' y: y y y y y y y y y y y
ausserdem: 'drei' (neutrum) y: y y y y y y y y y y y
iu vor nasaler Konsonanz,
J 1925, S. 98
'bräunen' y: y y y y y y y y y y- y
aber: nünt 'nichts' y y y y f 2 Y Y Y y
iu, Diphthongierung im Hiatus
und Auslaut vor w
'neu' (spontan erhoben),
'reuen' (spontan erhoben) Q3j 03] cey ce/' 03J ce/ cey cey cey cey cey cey
'Säue ' 7 2 19 ou ou
'Knie' 03j 03j 03j cey 03j y y y y y y cey
iu Kürzung vor t, G 1981, S. 208
'Kreuz', 'Leute', 'läuten' y y y y y y y y y y y y
3.3.1.3.
DIE D I P H T H O N G E Mhd. ei
ei. Monophthongierung,
G 1981, S. 211; J 1925, S. 91
'Leiter', 'Mädchen', 'Teil' aa: as: as: as: as: a: a: o: o: o: sj sj
Leiterli 'Leiterchen',
'Teile', 'Seile' as: as: as: as: as: as: as: ce: ce: ce: sj sj
ei, Monophthongierung u.
Nasalierung, J 1925, S. 122
'daheim', 'Stein', 'Zeine' as: as: as: as: as: 5: 5: 5: 5: 5: 5: sj
'Steine' as: as: as: as: as: ce: ce: ce: ce: ce: ce: sj
ei, Sonderfall, keine Mono-
phthongierung7 3, J 1925, S. 88
'Eier', 'Fleisch', 'heilig' sj sj sj sj sj ej sj sj sj ej sj ej
'Geiss' 7 4, 'Geissel' as: as: as: as: as: sj sj sj sj sj sj sj
'Weizen' sj as: as: as: as: sj sj ej ej sj sj sj
187
Mhd., Bern., Beispiel B T V S P E M G R S b HSb Tb
Mhd. öu
öu, Monophthongierung,
J 1925, S.124
'Freude', 'geraucht', 'Heu' 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: 0: cej
öu vor nasaler Konsonanz,
Monophthongierung
söömla 'säumen' 0: 0: 0: 0: 0: de: ce: ce: de: ce: de: -75
öu. Monophthongierung im Hiatus,
J 1925, S. 125
'freuen', 'heuen', 'streuen' cej cej cej cej cej cej cej cej cej cej cej cej
öu. Monophthongierung u. Kürzung
'Bäume' c e c e c e c e c e c e c e c e c e c e c e e
Mhd. ou
ou vor oraler Konsonanz,
Monophthongierung zu
geschlossenem Vokal,
G 1981, S. 210; J 1925, S. 96
'Augen', 'Laub', 'Taufe' o: o: o: o: o: o: o: o: o: o: o: ou
'Glaube' 0 0 0 0 0 0 : o: o: o: o: o: ou
ou vor nasaler Konsonanz,
Monophthongierung zu
offenem Vokal
'Baum' 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
ouw, J 1925, S. 96
'Frau', 'hauen' ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou ou
Mhd. ie
ie vor oraler Konsonanz
Kriesi 'Kirsche', 'Ziegel' t:9 1:9 i:s l:B 1:9 1:9 r.s i:B 1:9 1:9 1:9 1:9
ie, Monophthongierung vor nasaler
Konsonanz, J 1925, S. 100
'Riemen', niena 'nirgends',
'Verdienst' v.s i:9 r.s v.s v.9 e: e: e: e: e: e: 1:9
Mhd. üe
üe vor oraler Konsonanz,
J 1925, S. 125, 161
'Frühling', 'Küfer', 'Kühe' YS1(
üe, Monophthongierung
vor nasaler Konsonanz (Ul)
'Blümlein', 'grün' Y:S
Mhd. uo
uo Diphthong erhalten
'Kuh', 'Stuhl' 0:9
uo vor nasaler Konsonanz
'Blume', 'tun' u:s
YS Yd YS Yd Y9 Yd YS YS YS YS YS
Y-.s Y-.s Y:s Y.s ce: de: de: de: de: de: Y:S
U:S U:S U:8 U:S U:8 U:S U:9 U:S U:S U:9 U:8
U:S U:S U:S U:S 5: 5: 5: 5: 5: 5: U:S
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
3.3.1.4.
A B W E I C H U N G E N Z U J U T Z
Die vorliegenden Unterschiede in der Lautung von
Jutz und unserer Arbe i t gehen z u m g r ö s s t e n Teil
auf die unterschiedliche Transkr ipt ion zu rück . Der
Transkript ion der Hochzungenvokale i, ü, u durch
Jutz als offenes [}, u] entspricht in unserer
Transkript ion [e, 0, o]. Jutz macht auf diese Tatsa-
che selbst aufmerksam: « . . . d o c h w ä h r e n d die ge-
schlossenen Vokale i m aUgemeinden quaü ta t iv sehr
fest und g le i chmäss ig s ind, zeigen diese [R.B.: die
offenen Vokale] mancherlei , wenn auch nur gering-
fügige Schwankungen nach beiden Sei ten» (Jutz
1925, S. 199). Es handelt sich demzufolge bei den
meisten Abweichungen nicht u m Lautwandelvor-
g ä n g e , sondern u m Unterschiede in der Transkrip-
tion. Die Fälle, wo sich die Laute unserer Erhebung
von derjenigen von Jutz unterscheiden, s ind mit *
bezeichnet.
Z u erheben, ob in der Zeit seit der Erhebung
durch Jutz ein Lautwandel stattgefunden hat, ist
nicht Z ie l unserer Untersuchung.
Betrifft bei Jutz Beispiel unsere Erhebung
a nach nK La] (57) 'machen' la] *
e, Senkung vor mhd. h [?1 'gesehen' (V, S) le]
e vor r im Auslaut 1/1 (106) 'Beere' le.]
i vor Reibelauten Li] (69) 'gepfiffen' [ej
Li] (69) 'gebissen' Ie]
1/1 (69) 'Mist' [e]
auch in Li] (69) 'schwitzen' Ie]
i vor / und /-Verbindungen m (69) 'gespielt' le]
[/] (69) 'billig' [e]
auch in Li] (69) 'Schmitte' le]
i vor r + Konsonant [ia] (106, 183) 'Hirte' L7.e?]*
o vor r + Konsonant [a.] (77) 'Korn' [a]*
u iu} (81) 'Nutzen' lo]
[u] (81) Tupfen' [0]
ö m (H4) 'Öl' [0.1
ü [#(117) 'Flügel' [0]
[£] (118) 'Türe' [0.J
ä vor m, n [ö] (60) 'Samen' lo:, 0':]*
e I/] (67) 'Ehre' le:]
W (67) 'weh' le:}
IT\ (67) 'kehren' le:]
i in (74) 'fein* Ii:]
189
Betrifft bei Jutz Beispiel unsere Erhebung
ö W (79) 'Brot' [o.-l
[ü] (79) 'bloss' lo:]
M (79) 'zwei' n. lo:]
6 vor nK [öl (80) 'donnern' lo]*
03 [#(115) 'hören' [0.]
iu im Auslaut vor w [Qu] (99) 'Säue' [ou]*
öu vor nK [Ü] (124) 'Heu' [0.'1
ou [ü] (95) 'Laub' lo:]
[$ (95) 'taufen' lo:]
[gl (95) 'Auge' lo.-l
3.3.2.
DIE KONSONANTEN
3.3.2.1.
H A L B V O K A L E
Mhd. > Mda. Beispiele
Mhd. w
w > [v]
w > [m]
uow > [oeb]
w in ouw
fällt aus
Mhd.j
j > Ü]
y fällt aus
allgemein im Anlaut, [vslu] <waschen', [vi:] <Wein', [Velpe] <Wes-
pe', in Triesenberg [viar] <wir'
im Anlaut in wenigen Wörtern, [mier] 'wir', [munlsig] munzig
'winzig'
[rnabc] 'ruhen'
[fran] 'Frau'
in den Verben, [bkans] 'blühen', [se:je] 'säen'
in Triesenberg in den Verben, [se:B] 'säen', [me:B] 'mähen'
3.3.2.2.
LIQUIDE Mhd. r
> [r] - allgemein im An- und Inlaut, [ra:m] 'Rahm', [re:] 'Reh'
r fällt aus - im Auslaut, [agelte] Agaschta 'Elster', [me:] 'mehr'
Mhd. /
/ > [1] - allgemein im In- und Anlaut, [le:r] 'Lehrer'
- im Auslaut nach langem Vokal, [me:l] 'Mehl', [tae.-l] 'Teil'
/ > [II] - im Auslaut nach kurzem Vokal, [moll] moll, [voll] 'voll'
/ fällt aus - in Wörtern in schwachtoniger Satzstellung, [as], [ase] 'als'
190
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
3.3.2.3.
N A S A L E Mhd. > Mda. Beispiele
Mhd. m
m > [m] - im Anlaut allgemein, [me:jB] 'mähen'
- im Inlaut nach r und /, [i:erml] 'Ärmel'
- im Auslaut nach r und /, [wa:rm] 'warm'
- im Auslaut, [bom] 'Baum'
- intervokalisch, [pTarntj] 'Pflaume'
m > [n] - vor Dental, [khunj] '(du) kommst'
-mb- > Im] - Assimilation, [imme] Imme 'Biene' 7 7, Lfimml] 'Schimmel'
m fällt aus - Tb, [cuj] '(du) kommst
Mhd. n
n > [n] - allgemein in allen Umgebungen, [khorn] 'Korn', [nase] 'Nase',
[wmtar] 'Winter'
nn > [nn] - zwischen Vokalen, [khonns] 'können', [tsennß] zenna 'verspotten',
n > [m] - nur in: [bemsl] 'Pinsel', [hampfh?] hampfla 'Handvoll'
n fällt aus - mit Ersatzdehnung vor Spirans [fy.f] ' fünf
- im Auslaut [jtae:] 'Stein', [a:] 'an'
- in Triesenberg Vokalisierung im Auslaut, [do:re] 'Dornen', [ho:rß]
'Horn', [xo:re] 'Korn'
- Ausfall in 'Fenster', [fejtar]
- in Triesenberg aber: [faenjter]
3.3.2.4.
L A B I A L E Mhd. pf, ph™
pf > [pf] - in Anlaut, [pfar] 'Pfarrer', [pflummB] 'Pflaume'
- im Auslaut nach m [khrampf] 'Krampf, [/trumpf] 'Strumpf
- nach r, [kharpfe] 'Karpfen' (sp), aber: [Ja:rf] 'scharf
- nach kurzen Vokalen, [epfj] 'Apfel', [tsapfe] 'Zapfen'
Mhd. p
p > [pl - in der Verbindung sp, [hajpl] 'Haspel'
- in Lehnwörtern, [plate] 'Platte', [pres] 'Presse'
p > [p] - im Auslaut [rap] 'Rabe'
p > [b] - [bemzj] 'Pinsel', [budle] Budle 'Flasche'
Mhd. b
b > [b] - im Anlaut erhalten, [bom] 'Baum'
- im Inlaut, [faerbe] 'färben'
- im Auslaut, [khorb] 'Korb'
b > [p] - Anlautverhärtung bei den Vorsilben be-, ge- und Synkope, [paöt]
'gebaut'; ausserdem [pu-.r] 'Bauer'
- Fortisierung vor Konsonant bei Synkope eines Vokals, [hierpft]
'Herbst'
- Tb, [dope] 'droben', [ajopu] 'heroben'
Mhd. / v
f > [f] - allgemein in allen Wortstellungen, [loft] 'Luft', [elf] 'elf, [fae:] 'Vieh'
/ > hf] - anlautend in bestimmten Wörtern, [pTegl] 'Flegel', [pfo:] 'Föhn'
191
3.3.2.5.
G U T T U R A L E Mhd. > Mda. Beispiele
Mhd. k, ck
k > [kl - nach [rj], [turjkj] 'dunkel', [rarjk] 'Rank'
k > [kh] - allgemein im Anlaut, [khind] 'Kind' , [khoa] 'Kuh ' 7 9
ck > [kh] - [bekh] 'Beck'
k > [c] - im Auslaut nach / und r, [khalc] 'Kalk', [marc] 'March'
- in Triesenberg im Anlaut, [calx] 'Kalch', [ce:rg] 'kehren', [gxafar]
Chüefer 'Küfer'
[cyrbse] 'Kürbse'
k > [g] - in Triesenberg nach [rj], [turjgj] 'dunkel', [rang] 'Rank'
k > [x] - in Triesenberg, [calx] 'Kalk', [marx] 'March', [melxe] 'melken'
Mhd.gr
g > [gl - unregelmässig im Anlaut, [geld] 'Geld'
- regelmässig im In- und Auslaut ausser nach n, [wage] 'Wagen',
[wo:g] 'Waage',
g > [k] - unregelmässig im Anlaut, [kmaemd] 'Gemeinde', [kfel] 'Glück',
[kcjmpe] gumpa 'hüpfen'
n9 > tOgl - [menge] menga 'mancher'
g fällt aus - in der 2./3. Pers. Sing. Präs. in den Verben 'sagen', 'legen',
'tragen', [se:jt] '(du) sagst'
Mhd. h
h > [h] - allgemein im Anlaut, [hammar] 'Hammer', [hentje] Hentscha 'Hand-
schuh'
- in der Verbindung mhd. ht, [nact] 'Nacht'
h > [k] - im Inlaut vor s, [seks] 'sechs'
h fällt aus - unregelmässiger Schwund im Auslaut, [tse:] 'zäh'
- in Triesenberg, [kse:] 'gesehen'
h > [x] - in Triesenberg im In- und Auslaut, [raexe] 'Rechen', [naxt] 'Nacht',
[tS33:X] 'zäh'
Mhd. ch
ch > [5] - im Auslaut nach Vokal, [tac] 'Dach'
ch > [h] - zwischen Vokalen, [bahe] 'backen', [mang] 'machen', [ksehe]
'gesehen'
ch > [x] - in Triesenberg, [baxe] 'backen', [tax] 'Dach', [maxe] 'machen'
3.3.2.6.
D E N T A L E Mhd. t, d
t > [t] - allgemein im Anlaut, [tonnare] 'donnern', [torkj] 'Torkel'
- im In- und Auslaut nach Liquid, [wort.] 'Wort'
- im In- und Auslaut nach Vokal, [Jmete] 'Schmiede'
t > [d] - in Triesenberg Auslautlenisierung, [bro:d]'Brot' 8 0, [hu:d]'Haut',
[nitsigend] nitzigend
d > [d] - allgemein im Anlaut, [donjtig] 'Donnerstag', [donne] 'drunten'
- im Oberland allgemein im In- und Auslaut, [haJde] 'Halde',
[hund] 'Hund'
- in Triesenberg, [ba:ld] 'bald', [gaeld] gell
192
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Mhd. > Mda. Beispiele
t, d fä l l t aus - im Unterland regelmässiger Ausfall des d in den Kombinationen
-nd, -Id-, [halB] 'Halde', [nun] 'Hund', [va:l] 'Wald', [ba:l] 'bald',
[gel] gells\ [hinns] hinna 'hinten', [hunns] hunna 'herunten'
- im Oberland Ausfall des d in den Wörtern 'bald', gell, 'hinten',
'herunten'
tw > [tswl - [tswag] 'Zwang', [tswerg] 'Zwerg'
Mhd. z, tz
z > [Is] - im Anlaut, [tsiegj] 'Ziegel', [fcapfe] 'Zapfen'
- im Inlaut nach /, r, n, [ha:rts] 'Harz'
zz > [ts] - [wa;:tSB] 'Weizen'
Mhd. s, z (lang)
s > [z] - allgemein im An-und Auslaut, [ze:jB] 'sähen', [gra:z]'Gras',
- im Inlaut vor /, [hazlg] Hasla 'Haselstauden', [1sy:zlB] 'zeuseln',
[bemzj] 'Pinsel'
s > [s] - [ros] 'Ross'
zz > [ss] - Geminata blieb erhalten, [g33:ss] 'Geiss', LflossJ] 'Schlüssel',
[wasser] 'Wasser'
s > [f] - allgemein vor p und t, teilweise auch vor ', m, n, w, LfprirjB]
'springen', [alt] 'Ast',
[lletB] 'Schlitten', [Imed] 'Schmied', [Inabl] 'Schnabel'
- nach starktonigem Vokal vor r, [ferli] 'Ferse'
- in Triesenberg: [i:l] 'Eis', [hyji] 'Häuslein ' 8 2
s fällt aus - [b:nd] '(sie) lassen' 8 3, [narniB] nämma 'weiss nicht was'
Mhd. sch
sch > [|] - allgemein in allen Wortstellungen, LfimmJ] 'Schimmel', [dreh]
'Dresche'
193
3.4.
SPRACHGEOGRAPHISCHE UNTERSCHIEDE
3.4.1.
DAS UNTERLAND
Liechtenstein ist aufgeteilt in zwei Landschaften,
das Ober- und das Unterland. Diese Teilung b e g r ü n -
det sich aus der Geschichte. Der heutige Staat
Liechtenstein entstand durch den Kauf der Herr-
schaft Schellenberg (16991 und den Kauf der Graf-
schaft Vaduz (1712) von den Grafen von Hohenems
durch die Familie Liechtenstein. Die Trennung der
beiden Landschaften lässt sich aber noch weiter i n
der Geschichte zurückver fo lgen . Im Frühmi t t e l a l t e r
gehör te das Unterland als Teil des Bistums Chur
zum Drusianischen Kapitel , das einen grossen Teil
Vorarlbergs umfasste, w ä h r e n d d e s s e n das Oberland
zum Kapitel Unter der Landquart gehör te . Diese re-
ligiöse Teilung lässt sich i m Karolingerreich auch
auf politischer Ebene beobachten. So gehör t e das
Unterland zum Drusianischen Minis ter ium und das
Oberland zum Minis ter ium Unter der Landquart.
Die beiden Landschaften waren bis in unser
Jahrhundert geographisch und topographisch ge-
trennt. Das ausgedehnte Ried zwischen Schaan als
nörd l i chs te r Gemeinde des Oberlands und dem U n -
terland war zwar kein u n ü b e r w i n d l i c h e s Hindernis,
ve r s t ä rk t e durch die grosse Ausdehnung die A b -
grenzung aber deutlich. Der Scheidgraben, der die
beiden Landschaften heute noch trennt, ist so i m -
mer noch eine deutliche Sprachgrenze zwischen
den Mundarten des Ober- und Unterlandes.
Der Zollvertrag mit Österreich (1852) und die Be-
deutung Feldkirchs als Marktstadt bewirkten eine
deutliche Anbindung des Unterlandes an das öster-
reichische Nachbarland. Noch heute ist zu spüren ,
was bis zum Zollabschluss mit der Schweiz (1924) viel
Abb. 1: Die sprachgeo-
graphischen Unterschiede
zwischen dem Oberland
(Ol) und dem Unterland
(Ul).
Er Merkmal Beispiel Ol Ul
1 DoS Magen' fal fal
6 a vor sch 'Asche' N [ae]
8 e vor nK 'denken' W m
9 germ e 'Weg' W [ae]
13 i vor r + Kons 'Wirt' [0] [xe]
16 o vor r + Kons 'Korn' [0] [a]
17a cen vor nK 'Föhn' [0-.] [ce:]
18 ö vor r + Kons 'Körblein' [ce] N
21 u vor r + Kons 'Wurzel' [o] [O0]
24 ü vor r + Kons 'Bürger' [0] [X6]
26 ä vor nK 'Samen' [o:] [5:]
27 ce vor nK 'käme' I«:] m
28 6 vor nK 'Bohnen' [o:] [5:]
30 ei vor oK 'Leiter' [ae;] [Ö:,d:]
30a ei vor oK 'Fleisch' [ae:ßj] [sj]
31 ei vor oK, Plural 'Seile' [ae:] [Ö3:,88:]
35 ei vor nK 'Stein' [ae:] [5:]
36 ei vor nK, Plural 'Steine' [ae:] [Ö3:]
40 ie vor nK 'Riemen' [US] m
41 uo vor nK 'Blume' M l [5:]
42 üe vor nK 'grün' [*:a] [ce:]
194
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
deutlicher war: Feldkirch in Vorarlberg war Orientie-
rungspunkt fü r das Liechtensteiner Unterland.
Diese politische, rel igiöse, wirtschaftliche und
kulturelle Ausrichtung des Unterlandes mag auch
Grund sein fü r die doch erheblichen Unterschiede in
den Mundarten des Ober- und Unterlandes. Auffäl-
lig ist in diesem Zusammenhang, dass es zwischen
der nörd l i chs ten Gemeinde des Oberlandes und der
südl ichs ten Gemeinde des Unterlandes keinen kon-
tinuierlicher Ü b e r g a n g in den Lautungen gibt, in -
dem sich die fü r das Unterland typischen Lautungen
in ihrer Häufigkei t des Auftretens in unterschied-
lichen Kondit ionen von Norden nach Süden verlie-
ren. Im Gegenteil: der Scheidgraben trennt die Dia-
lekte des Oberlandes und des Unterlandes bis auf
wenige Ausnahmen mit einem harten Schnitt. So
lassen sich fü r Schaan in unserer Untersuchung nur
vereinzelt Laute finden, die eine N ä h e zu den Unter-
l ä n d e r Mundarten zeigen. Schaan als Grenzgemein-
de zum Unterland gehör t sprachlich eindeutig zum
Oberland.
Das Ergebnis der dialektgeographischen Diffe-
renzierung ist sehr auffäll ig. Was sich auf Grund der
geschichtlichen Grundlagen vermuten Hess, trifft
auch sprachlich zu. Das Oberland und das Unter-
land unterscheiden sich in ihren Mundarten deut-
lich. A n der Grenze Ober- und Unterland f inden sich
g e m ä s s den Erhebungen zur Basismundart 22 Iso-
phone als Grenzlinien, die die Ausdehnung der
O b e r l ä n d e r und U n t e r l ä n d e r Mundarten b e s c h r ä n -
ken. Die Isophone betreffen vor allem die unter-
schiedliche Entwicklung der mhd. Laute in den
Kondit ionen Vokal in nasaler Umgebung, Vokal vor
r und Konsonant und die unterschiedliche Entwick-
lung des mhd. ei. Lediglich ein Isophon beschreibt
die Entwicklung eines mitthochdeutschen Konso-
nanten, näml ich den Schwund von mhd. d i m In-
und Auslaut. Typisch f ü r das Unterland ist auch die
konsequente Dehnung der Vokale in offener Silbe.
Diesbezügl iche , weiter unten beschriebene Ausnah-
men betreffen vor allem den Weiler Hinterschellen-
berg in der Gemeinde Schellenberg.
Unterland (E, M, G, Sb, HSb) Beispiel Oberland (B, T, V, S)
Er l 8 4 Konsequente Dehnung Partielle Dehnung
in offener Silbe in offener Silbe
[ma:gE] 'Magen' [magB]
[Ja:bB] 'Schaben' [Jabe]
[wa:ge] 'Wagen' [wagB]
[tra3:gB] 'tragen' [tre:gB]
[zae:gB] 'sägen' [ze:gB]
Er 6 Mhd. a > [33] vor sch Mhd. a > [e] vor sch
[seih] 'Asche' leih]
[teejjn] 'Tasche' [teih]
[WSSJJB] 'waschen' [weih]
Er 7/9 Die mda. Entsprechungen Die mda. Entsprechungen
von mhd. e und ä von mhd. e und ä sind
unterscheiden sich qualitativ. qualitativ gleich
[mes] 'Messe' [mes]
[we:g] 'Weg' [we:g]
[basgh] 'Bächlein' [beeil]
[taedi] 'Täli' [te:ll]
Er 8 Mhd. e > [e] vor Nasal Mhd. e > [e] vor Nasal
[derjkB] 'denken' [derjkB], in Balzers [e]
195
Unterland (E, M, G, Sb, HSb) Beispiel Oberland (B, T, V, S)
Er 13 Konsequente Diphthongierung
des mhd. i vor r + Kons
[w*ert]
[hrart]
'Wirt'
'Hirte'
Partielle Diphthongierung
des mhd. i vor r + Kons
[wart]
[liiert]
Er 16 Mhd. o > [a] vor r + Kons
[darn] 'Dorn'
[kharn] 'Korn'
[marn] 'morgen'
Er 17a Mhd. ce > [ce:] vor Nasal
[pfVje:] 'Föhn'
Er 18 Mhd. ö > [a?] vor r + Kons
[dasrn] 'Dornen'
[khsrbli] 'Körblein'
[khaernli] 'Körnlein'
Mhd. o > [o] vor r + Kons
[dorn]
[khorn]
[morn]
Mhd. oe > [0:] vor Nasal
[pfo:]
Mhd. ö > [ce] vor r + Kons
[dcern]
[khoerbli]
[khcernli]
Er 21 Diphthongierung des mhd. u
vor r + Kons
[buerg]
[wu:8rtsk?]
Keine Diphthongierung
des mhd. u vor r + Kons
'Burg' [borg]
'Wurzel' [worfele]
Er 24 Diphthongierung des mhd. ü
vor r + Kons
[bx erger]
[t*erke]
Keine Diphthongierung
des mhd. ü vor r + Kons
'Bürger' [borger]
Türken [torke]
Er 26 Mhd. ä > [5:] vor Nasal
[5:met] 'Emd'
[z5:me] 'Samen'
Mhd. ä > [0:] vor Nasal
[o:met]
[zo:me]
Er 27 Mhd. a3 > [e.-] vor Nasal
[khäm]
Er 28 Mhd. ö > [5:] vor Nasal
[böme]
'käme'
'Bohnen'
Er 30 Mhd. ei > [a:, 0:] vor Oral
[lo:tere, -a:-] 'Leiter'
[mo:tli, -a:-] 'Mädchen'
[to:l, -a:-] 'Teil'
Er 30a Keine Monopthongierung
Mhd. ei > [ej]
[flejj] 'Fleisch'
[gejs] 'Geiss'
[wejtse] 'Weizen'
Mhd. 33 > [e:] vor Nasal
[khe:m]
Mhd. ö > [o:] vor Nasal
[bo:na]
Mhd. ei > [33:] vor Oral
[la3:tere]
[m33:tll]
[faerl]
Partielle Monopthongierung
Mhd. ei > [33:, ej]
[flaaij, -ej-]
[g33:S, -ej-]
[w33:tSB, -ej-]
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Unterland (E, M , G, Sb, HSb) Beispiel Oberland (B, T, V, S)
Er 31 Mhd. ei > [ae:, ce:]
vor Oral, Plural
[103:t8rll, -33:-]
[ZCB:1, -33:-]
[t03:l, -33:-]
Er 36 Mhd. ei > [ce:]
vor Nasal, Plural
'Leiterchen'
'Seile'
'Teile'
Er 35 Mhd. ei > [5:] vor Nasal
[deh5:m] 'daheim'
[/tos] 'Stein'
[ t sömB] 'Zeine'
Steine'
Er 40 Mhd. ie > [§:] vor Nasal
[nemu] 'nirgends'
[re:me] 'Riemen'
[verdemjt] 'Verdienst'
Er 41 Mhd. uo > [5:] vor Nasal
[bl5:me] 'Blume'
[tö:] 'tun'
Er 42 Mhd. üe > [ce-.] vor Nasal
[blö3:mli] 'Blümlein'
[grce:] 'grün'
Er 48 Regelmässiger Ausfall des d in
den Kombinationen
-nd (im Auslaut) und -Id-
[ha:lB] 'Halde'
[hun] 'Hund'
[wa:l] 'Wald'
Mhd. ei > [ae:]
vor Oral, Plural
[l33:terll]
[Z33:l]
[tae:l]
Mhd. ei > [ae-.] vor Nasal
[dahae:m]
[Jtae:]
[tS33:ne]
Mhd. ei > [ae:]
vor Nasal, Plural
[ftSß:]
Mhd. ie > [v.a] vor Nasal
[ni:enB]
[ri:amB]
[vardi:enjt]
Mhd. uo > [n:e] vor Nasal
[blu:emB]
[to:a]
Mhd. üe > [Y:e] vor Nasal
[bk:amh]
[gn£:a]
Kein Ausfall des d in den
Kombinationen -nd
(im Auslaut) und -Id-
thaddu]
[hund]
[wa:ld]
197
3.4.1.1.
DAS A- U N D DAS O-GEBIET IM U N T E R L A N D
Im Unter land gibt es dialektgeographisch zwei Ge-
biete, die sich in der Lautung unterscheiden. Das a-
Gebiet umfasst die Gemeinden Eschen und M a u -
ren. Hier w i r d mhd . ei vor oraler Konsonanz zu
[a:]. Das o-Gebiet umfasst die Gemeinden Gam-
prin/Bendern, Schellenberg (nicht Hinterschellen-
berg) und Ruggell. Hier w i r d mhd. ei vor oraler
Konsonanz zu [o:]
Abb. 2: Die sprachgeogra-
phischen Unterschiede
zwischen dem a-Gebiet
(Eschen, Mauren) und dem
o-Gebiet (Gamprin, Schel-
lenberg, Ruggell).
Er Merkmal Beispiel o-Gebiet a-Gebiet
30 ei vor oK 'Leiter' [a:] [o:]
31 ei vor oK, Plural 'Seile' [se:] [ce:]
Das a-Gebiet
Eschen, Mauren
Er 30 Mhd. ei > [a:] vor Oral
[la:t8re]
[ma:tli]
[tad]
Er 31 Mhd. ei > [33:]
vor Oral, Plural
[lae:terli]
[za3:l]
ttae:l]
Das o-Gebiet
Beispiel Gamprin, Ruggell, Schellenberg
Mhd. ei > [0 : ] vor Oral
'Leiter' [b:terB]
'Mädchen' [mo:tli]
'Teil' [to:l]
Mhd. ei > [ce:]
vor Oral, Plural
'Leiterchen' [lce: ter Ii]
'Seile' [zoe:l]
'Teile' [te:l]
198
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
3.4.1.2.
H I N T E R S C H E L L E N B E R G
Der Weiler Hinterschellenberg hebt sich in einzel-
nen Lautentwicklungen von den Weilern Mittel-
schellenberg und Vorderschellenberg ab. Auffällig
ist hier das Zusammengehen verschiedener Lautun-
gen mit dem Oberland. So realisieren die G e w ä h r -
spersonen vom Hinterschellenberg die mda. Ent-
sprechungen zu mhd. e, ä und o, ö vor r + Konso-
nant gleich wie i m Oberland. Ausserdem werden
die Vokale in offener Silbe im Gegensatz zum Unter-
land nur partiell, und zwar gleichgehend mit dem
Oberland, gedehnt. Ortstypisch fü r den Hinterschel-
lenberg ist die Entwicklung von mhd. ei vor Oral (im
Gegensatz zum a- oder o-Gebiet) zu mda. [ej:]. Die
Unterschiede zum U n t e r l ä n d e r Dialekt lassen sich
teilweise durch die geographische Lage des Hinter-
schellenbergs b e g r ü n d e n . Der Weiler liegt am nö rd -
lichen Abhang des Eschnerbergs, unmittelbar an
der Grenze zu Österre ich . G e m ä s s Auskunft von
Hinterschellenberger G e w ä h r s p e r s o n e n haben die
Hinterschellenberger immer wirtschaftlichen und
kulturellen Kontakt zur ös t e r r e i ch i schen Nachbar-
gemeinde Nofels gehabt. G e m ä s s VALTS realisieren
die Einwohner von Nofels von den Lautentwicklun-
gen, bei denen der Hinterschellenberg vom Unter-
land abweicht, lediglich mhd. ae gleich wie die E i n -
wohner des Hinterschellenbergs. Gabriel notiert i m
VALTS auf Karte 2 sowohl fü r das Oberland, Unter-
land und Nofels in den W ö r t e r n Faden, Wagen lange
Quant i tä t des Haupttonvokals. G e m ä s s unserer Er-
hebung ist die Dehnung in offener Silbe im Ober-
land und in Hinterschellenberg nur partiell durch-
ge füh r t worden und gilt f ü r Faden, Wagen nicht.
Er Merkmal Beispiel Sb HSb
1 DoS 'Magen' [a:] [a]
7 ä im Diminutiv 'Bächlein' [ae] M
16 o vor r + Kons 'Korn' [a] W
18 ö vor r + Kons 'Körblein' N [ce]
30 ei vor oK 'Leiter' [o:]
31 ei vor oK, Plural 'Seile' [ce:] leJT
35 ei vor nK 'Stein' [ae:] [5:]*
* nicht gleich wie im Oberland
Abb. 3: Die sprachgeogra-
phischen Unterschiede
zwischen Schellenberg
und Hinterschellenberg.
199
Schellenberg Beispiel Hinte.rschellenberg
Konsequente Dehnung
in offener Silbe
Er 1 [ma:ge] 'Magen'
[ja.:b,B] 'Schaben'
[wa:ge] 'Wagen'
[trae:gB] 'trägen'
[za3:gBi 'sägen'
,Er 7/9 Die mda. Eritspfechungen von
mhd. e! und ä unterscheiden sich ,
von mhd. e und ä sind
qualitativ
[mes] 'Messe'
twe:g] ( 'Weg'
[baecli] * 'Bächlein'
[ta3:li] Ta l i '
Partielle Dennungln offener
Silbe ['
[mage] -
Üabe]
[wäge]
ltre:gt?| ,
[Ze":ge] '\ l
Die mda. Entsprechungen
qualitativ,gleiclr»
[mes]
[we:g| :
[bech]
[te:h]
Er 16 Mhd. o > [a] vor r + Kons
[darn]
[kharn]
[marri]
Er 18 Mhd. ö > las] vor r + Kons
[daerrp
[khajrbli]
[khasrnh]
Mhd. o > |D] vor r 4- Kons
'Dorn' Idbrn] : V :"
'Korn' [khorn] * , f
'morgen' , Imornl •
Mhd. ö > Joe] vor r f- Kons
'Dornen' [dcern]
'Kqfbleln' [khcerbli] •
'Körnlein'- [khcernliL.
Er 30 Mhd. ei > |o:l vor Oral
[lodere]
[ma:tli]
lto:l]
Er 31 Mhd. ei > |u;:|
vor Oral, Plural
[Ice-tarli]
[zcel]
[t03:l]
Mhd. ei S> ,[ej] vor Oral }
'Leiter' 'Dejterp] - ; |
'Mädchen' [m'ejtli]
'Teil' '( tteji]
i ' { ; / |
Mi.d.. ei >|['ej] :*
VQi Oral,; Plural * , .
'Leiterchen' [lejterli]
'Seile' [zejl] 4
Teile'' [tejl] ' ;
D I E M U N D A R T D E S F Ü R S T E N T U M S L I E C H T E N S T E I N
R O M A N B A N Z E R
3.4.2.
DAS OBERLAND
3.4.2.1.
B A L Z E R S
Als südl ichs te Talgemeinde i m Oberland an der
Grenze zu G r a u b ü n d e n hebt sich die Gemeinde Ba l -
zers in ihrer Lautung von den sonst gäng igen Reali-
sationen der Lautungen in den O b e r l ä n d e r Ortschaf-
ten ab. Die Einwohner von Balzers sind noch heute
wegen einiger sprachlicher Besonderheiten gerne
Anlass zu Spott und Neckereien durch die Nachbar-
gemeinden. Bislang wurde aber weder das Sprech-
tempo, noch die eigene Klangfarbe wissenschaftl ich
untersucht, obwohl diese als besonderes Charakte-
ris t ikum von Balzers gelten. W i r haben uns in unse-
rer Arbeit auf die Entwicklung der mhd. Laute i m
Hauptton b e s c h r ä n k t und k ö n n e n somit zu den
oben genannten Balzner Eigenheiten keine Aussage
machen. «Das hier eigenartige und langsame
Sprechtempo ist i m Lande wohlbekannt; sie (R.B.:
Balzner Mundart) darf als die klangvollste Orts-
mundart des Landes bezeichnet werden. Nach
freundlicher Mitteilung von R. Hotzenköcher le , der
sie sich bei meiner zweiten Lautaufnahme i m Jahre
1964 a n h ö r t e , klingt sie wie die der B ü n d n e r Herr-
schaft, mit der der Ort seit jeher geographisch und
wirtschaftl ich mehr verbunden war als das übr ige
L i e c h t e n s t e i n . » 8 5 Auffäll ig ist in diesem Zusammen-
hang die Entwicklung der Laute vor Nasal. Wie w i r
nach unserer Erhebung durch Beobachtung festge-
stellt haben, verhalten sich die Balzner in der Reali-
sation von Vokalen vor Nasalen auch noch in ande-
ren Fäl len als bei mhd. e vom restlichen Oberland
abweichend. So in [bcene] statt [bY:ni] Bühne und
[kcenne] statt [k0nns] können.
Balzers Beispiel Oberland
Er 8 Mhd. e > [e] vor Nasal
IterjkB]
[hemp]
[merjB]
'denken'
'Hemd'
'mancher'
Mhd. e > [e] vor Nasal
[terjkE]
[hemp]
[merjB]
Er 11 Konsequente Senkung
der Hochzungenvokale
[tekh] 'dick'
keine konsequente Senkung
der Hochzungenvokale
[tikh], [tekh]
Er 15 Mhd. o > [o, o]
[folgB]
[WOIIB]
[flot]
[froj]
'folgen'
'Wolle'
'flott'
Frosch'
Mhd. 0 > [0]
[folg«]
[wo IIB]
[flot]
[froj]
Er 30a Mhd. ei > [ej] oder [33:]
[flcjil
[ge:S]
[wejiSB]
'Fleisch'
'Geiss'
'Weizen'
Mhd. ei > [33:]
[flejh, [fte-J]
[ge:S]
[W33:tSB]
201
3.4.2.2.
T R I E S E N B E R G
E i n Sonderfall unter den Mundarten Liechtensteins
ist die Gemeinde Triesenberg. Die östlich oberhalb
von Triesen gelegene Bergseite wurde um zi rka
1280 durch einwandernde Walser besiedelt. So
kann ich zwar die Aussage von Gabr ie l 8 6 , dass sich
die Mundart von Triesenberg unbehelligt von allen
Einf lüssen bis heute als reine Walsermundart erhal-
ten hat, nicht teilen, da die S p r a c h w a n d e l v o r g ä n g e
i n den letzten Jahrzehnten auch vor Triesenberg
nicht Halt gemacht haben, dennoch ist sicher, dass
i n Triesenberg auch heute noch ein Walserdialekt
gesprochen wi rd , der sich deutlich von den Tal-
mundarten abhebt. Hierzu hat sicher die Isolation
der Berggemeinde ü b e r Jahrhunderte hinweg bei-
getragen. Als e igens tänd ige Mundart , in ihrer A n -
dersartigkeit g e g e n ü b e r den Talmundarten, w ü r d e
diese der Davoser Gruppe zugeteilte Walsermundart
eine eigene, aus füh r l i ch Abhandlung, wie sie i m
vorliegenden Rahmen nicht gegeben werden kann,
verdienen. Toni Banzer hat i n seiner Arbei t (Banzer
Toni 1990/1991) einen ersten wichtigen Schritt ge-
tan. Die unten a u f g e f ü h r t e n Entwicklungsregeln
entstanden aus der Gegenübe r s t e l l ung der Mundart
von Triesenberg und den Mundarten der Talge-
meinden i m Oberland. Die Werkzeuge der Sprach-
datenerhebung, ausgearbeitet f ü r die Talgemein-
den, wurden u n v e r ä n d e r t auf die Gemeinde Trie-
senberg ü b e r t r a g e n . Es ist daher gut möglich, dass
durch den kontrastiven Vergleich nicht alle fü r Trie-
senberg e igen tüml ichen Lautentwicklungen erho-
ben wurden.
Triesenberg Beispiel Oberland
Er 3 Keine Dehnung im einsilbigen
Wort vor auslautender Lenis 8 7
[gras]
[itil]
[tag]
'Gras'
'Stiel'
'Tag'
Dehnung im einsilbigen
Wort vor auslautender Lenis
lgra:z]
[Jte:l]
[ta:g]
Er 6 Mhd. a > [39]
[ae/ls] 'Asche'
Mhd. a > [e]
leih]
Er 7 Mhd. ä > [as]
[bfflxli] 'Bächlein'
Mhd. ä > [e]
[becli]
Er 9 Mhd. e > [ae]
[faeld] 'Feld'
Mhd. e > [e]
[feld]
Er 11 Mhd. i > [i]
[bis] 'Biss'
Mhd. i > [e]
[bess]
Er 13 Mhd. i > [y] vor r + Kons
[wyrt] 'Wirt'
Mhd. i > [0] vor r + Kons
[w0rt]
Er 18 Mhd. ö > [0] vor r + Kons
[eorrbli] 'Körblein'
Mhd. ö > [ce] vor r+Kons
[khcerbli]
Er 19 Mhd. u > [u]
[fuks] 'Fuchs'
Mhd. u > [0]
[foks]
202
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Triesenberg Beispiel Oberland
Er 21 Mhd. u > [u] vor r + Kons
Iburg] 'Burg'
Mhd. u > [o] vor r + Kons
[borg]
Er 22 Mhd. ü > [y]
tfyks] 'Füchse'
Mhd. ü > [0]
[foks]
Er 24 Mhd. ü > [y] vor r + Kons
[byrger] 'Bürger'
Mhd. ü > [0] vor r + Kons
[b0rgar]
Er 25 Mhd. ä > [a:]
[a:dsre]
[|wa:ger]
'Adern'
'Schwager'
Mhd. ä > [o:]
[o:dere]
[jwo:ger]
Er 26 Mhd. ä > [a:] vor Nasal
[zäune] 'Samen'
Mhd. ä > [o:] vor Nasal
[zo:me]
Er 30 Mhd. ei > [ej]
[lejtere]
T4- 111
ItejI]
'Leiter'
"7Y.il'
leu
Mhd. ei > [aa:]
[lse-.tere]
r+~, I i 1133: lj
Er 31 Mhd. ei > [ej] Plural
[zejl] 'Seile'
Mhd. ei > [33:] Plural
[Z33:l]
Er 35 Mhd. ei > [ej] vor Nasal
[Jtej] 'Stein'
Mhd. ei > [33:] vor Nasal
Lftae:]
Er 36 Mhd. ei > [ej]
vor Nasal, Plural
Lftej] 'Steine'
Mhd. ei > [33:]
vor Nasal, Plural
Lftae:]
Er 38 Mhd. ou > [oo]
[ouge]
[bom]
[hob]
'Augen'
'Baum'
'Laub'
Mhd. ou > [o:, o]
[0:ge]
[bom]
[lo:b]
Er 39 Mhd. öu > [oej]
[frcejd]
[krcejgd]
[hcej]
'Freude'
'geraucht'
'Heu'
Mhd. öu > [0:]
[fr0:d]
[kr0:gd]
[h 0 :]
Er 43 Mhd. n bleibt erhalten
[fasnjter] 'Fenster'
Mhd. n fällt aus
[fejtar]
Er 47 Mhd. ch bleibt erhalten
[Ii] 'sich'
Mhd. ch fallt aus
Isi]
Er 50 Mhd. s > [fjvor und nach Mhd. s > [s, z] vor und nach
palatalen Vokalen palatalen Vokalen
[hy:Ji] 'Häuslein' [hy:zli]
[i:J] 'Eis' [i:z]
[Ii:] 'sie' [zi:]
203
Triesenberg Beispiel Oberland
Er 51 Mhd. k > [x, c] im Anlaut
[xa3:z] 'Käse'
[cmd] 'Kind'
[xue] 'Kuh'
Mhd. k > [kh] im Anlaut
[khe:z]
[khmd]
[ k h ö 8 ]
Er 52 Mhd. k > [g] nach Nasal
[toogl]
[xrarjg]
[trioge]
Er 53 Mhd. ch > [x] intervokalisch
[maxe]
'dunkel'
'Rank'
'trinken'
machen
Mhd. k > [kh] nach Nasal
[döQkhJ]
[rankh]
[trirjkhe]
Mhd. ch > [h] intervokalisch
[mahB]
Ausserdem f inden sich in Triesenberg vom rest-
l ichen Oberland abweichende Lautungen, die w i r
in der Zusammenfassung (S. 205) und i m Inventar
der var iablen Entwicklungsregeln auf den Seiten
218 bis 220 nicht a u f g e f ü h r t haben. Dies wei l w i r
die Gemeinde Triesenberg in die Untersuchung be-
züglich Lautwandel und Lautvariat ion nicht mit
einbeziehen. Wie schon an anderer Stelle argu-
mentiert, h ä t t e eine d ie sbezüg l i che Untersuchung
auf Grund der Stellung der Triesenberger Mundar t
als Walsermundart den Rahmen dieser Arbei t ge-
sprengt.
Triesenberg in Oberland
Mhd. a > [aa] 'sagen' Mhd. a > [e]
Mhd. e > [33] 'eben' Mhd. e > [e]
Mhd. e > [a3:] 'Lehne' Mhd. e > [e:]
Mhd. e > [33] 'Besen' Mhd. e > [e]
Mhd. e > [33:] 'Berg' Mhd. e > [as]
Mhd. e > [e],Diph vor r + K 'Herbst' Mhd. e > [i:e]
Mhd. i > [i] 'Wiesen' Mhd. i > [e]
Mhd. ä > [33], vor r + K 'Erbsen' Mhd. ä > [e]
Mhd. ä > [33:] 'Flädli' Mhd. ä > [e]
Mhd. u > [Y] 'wünschen' Mhd. ü > [*:]
Mhd. u > [0:] 'dürfte' Mhd. u > [ce:]
Mhd. 6 > [u:] 'Haut' Mhd. 6 > [u]
Mhd. ou > [0] 'Baum' Mhd. ou > [0]
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
3.4.3.
ZUSAMMENFASSUNG
Er betrifft Beispiel
1 DoS 'Magen'
3 DlsW 'Gras'
5 Plural 'Ross'
6 a vor sch 'Asche'
7 ä im Diminutiv 'Bächlein'
8 e vor nK 'denken'
9 germ e 'Weg'
11 i vor oK 'Biss'
13 i vor r + Kons 'Wirf
15 o vor oK Gotta
16 o vor r + Kons 'Korn'
17 ö vor nK 'könnte'
17a ce vor nK 'Föhn'
18 ö vor r + Kons 'Körblein'
19 u vor oK 'Küche'
21 uvor r + Kons 'Wurzel'
22 üvor oK 'Füchse'
24 ü vor r + Kons 'Bürger'
25 ä vor oK 'Adern'
26 d vor nK 'Samen'
27 ce vor nK 'käme'
28 d vor nK 'Bohnen'
30 ei vor oK 'Leiter'
31 ei vor oK, Plural 'Seile'
35 ei vor nK 'Stein'
36 ei vor nK, Plural 'Steine'
38 ou vor oK 'Auge'
39 ö« vor oK 'Freude'
40 ie vor nK 'Riemen'
41 wo vor nK 'Blume'
42 üe vor nK 'grün'
48 d in -wd, -/cr1- 'Wald'
50 s 'Eis'
51 k im Anlaut 'Kasten'
52 £ nach nK 'dunkel'
53 ch intervokalisch 'machen'
Ol B Tb Ul EM GRSbHSb
1 1 11 I 1 I I 11 I 1 I 1
a a a a: a: a: a
a: a: a 33: se: ae: ae:
0 0 0 0 0 0 0
e e 33 33 33 as 33
e e 33 33 33 33 e
e e e e e g e
e: e: 33 e: e: e: e:
e e i e e e e
0 0 y Y9 xs Y9
0 0 0 0 0 0 0
0 0 o: a a a 0
0 0 _88 0 0 0 0
0: 0: 0: CE: ffi: ce: de:
ce ce 0: ae 33 33 03
o 0 u 0 0 0 0
0 0 u na 09 ne vs
0 0 y 0 0 0 0
0 0 y 3C9 YS 3C9 Y9
o: 0: a: 0: 0: 0: 0:
o: o: a: 5: 5: 5: 5:
e: e: _89 e: e: e: e:
o: o: o: 5: 5: ö: 5:
38: 33: ej a: 0: ej
as: 33: ej ae: ce: ej
33: 33: ej 5: 5: 5: 5:
33: ae: ej (B: Ö3: ce: Ö3:
o: o: oo o: o: o: o:
0: 0: cej 0: 0: 0: 0:
1:9 1:3 1:9 e: e: e: e:
ö:9 V.S 13:9 5: 5: Ö: 5:
Y:9 1:9 Y:S ce: de: 03: ce:
d d d
S S J s s S s
kh kh X kh kh kh kh
kh kh 9 kh kh kh kh
h h X h h h h
205
3.5.
ETYMOLOGISCHE
KORRESPONDENZEN
3.5.1.
MONOPHTHONGE
F ü r die folgende Auf-
listung haben w i r bezüg-
lich der Nasalierung
nicht differenziert.
Mda. Mhd. Mda. Mhd.
la] a, o [a.] a, ä (Tb), ei (E, M)
[»3 a (Ul), e, ä, e (Tb) [33:1 a.e (Tb), ä, e (Tb), ce,
M a, e, e, ä, e, ce le:] a,e, ä, e
[e] e, i, ä (Tb), e, i te-.l e, e, i, ä, e, ce (Tb)
Ii] i m i
[il i, i [i:] i, i
[0] o, 6, ou [0:1 o, ä, 6, ei
[0] o, u, ä, 6 (Tb), ou [0:] o, u, 6, ou
[Ol u [O:]
[U] u, ü [U:] u, ü
[y] i, u (Tb), ö, ü (Tb), iu [yO ü, i, iu
M iu M
[0] e, i, o, ö, ü [0:1 ö, ü, ce, ce, öu
[03] ö [ce:] ö, ü, ce, ce, ei, öu, üe
3.5.2.
DIPHTHONGE LeJJ
[OU]
[oej]
[XB]
[18]
[oe]
ei
iu, ou
iu (Tb), öu
e, i
e, ie (Tb)
u
N ]
[0:ü]
[CB:j]
[X:9]
[i:e]
[o:e]
i (Tb)
ä
iu (Tb)
üe
e, i, ie
u
m
206
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
4 .
Lautwandel und Lautvariation
4 .1 .
THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN
Die Begriffe Lautwandel und Lautvariat ion be-
schreiben ein grosses Feld an U n t e r s u c h u n g s m ö g -
lichkeiten. Es folgen daher vorweg zur E i n s c h r ä n -
kung und Zielsetzung dieses Teils der Arbei t defini-
torische Ü b e r l e g u n g e n . Die Sprache allgemein und
damit auch die Var ie t ä t en oder Dialekte sind hete-
rogen, d.h. sie sind V e r ä n d e r u n g e n unterworfen
und Teile davon variieren in Abhäng igke i t von so-
zialen Faktoren. Die Sprache ist kein homogenes
und u n a b ä n d e r l i c h e s und auch kein kategorisch-
p räsk r ip t ives System. Kommunika t ion beinhaltet,
in Abhäng igke i t von extralinguistischen Faktoren,
linguistische Variat ion und Lautwandel, wei l unter-
schiedliche Menschen i n unterschiedlichen Sprech-
situationen unterschiedlich sprechen.90 «Ferd i -
nand de Saussure (1916) hat bestimmte U n r e g e l -
mäss igke i t en ) als f ü r das Sprachsystem irrelevante
Elemente der Ebene der <parole> zugeschlagen. Da-
mit werden diese P h ä n o m e n e aus dem p r i m ä r e n
Interessengebiet der Linguist ik wegge rück t , oder
vielmehr: sie k ö n n e n v e r n a c h l ä s s i g t werden. Ob
ü b e r h a u p t von einem homogenen Sprachsystem
ausgegangen werden kann, und wie eine solche
Gruppe mit homogenem Sprachgebrauch allenfalls
aussieht, ist im Laufe der Wissenschaftsgeschichte
der Dialektologie und der modernen Var ie tä ten i in-
guistik unterschiedlich beantwortet w o r d e n » (Chri-
sten 1988, S. 37).
Die Begriffe des Lautwandels und der Lautvaria-
tion sind heute in der Mundar t forschung allgemein
anerkannt, und bedeutende S t r ö m u n g e n moderner
Linguistik basieren auf der Annahme, dass sich die
Sprachen dauernd ä n d e r n und in Abhäng igke i t von
verschiedenen situativen und sozialen Faktoren
variieren. Ausschliessl ich diachrone oder syn-
chrone Untersuchungen treten in den Hintergrund
und werden immer mehr von einer dynamischen
Sprachtheorie abgelös t , die versucht, « sowoh l das
f u n k t i o n i e r e n ) wie das <Sich-verändern> als von
einander a b h ä n g i g e und somit miteinander zu ver-
einbarende <Fähigkeiten> von Sprachen (zu) be-
schreiben und beide auf die gleichen Voraussetzun-
gen z u r ü c k ( z u ) f ü h r e n » (Haas 1978, S. 2). Homo-
gene Sprachsysteme und E r k l ä r u n g s v e r s u c h e der
Varia t ion durch koexistierende Systeme wurden als
nicht haltbar ve rwor fen . 9 1
Die V a r i e t ä t e n g r a m m a t i k ist der Versuch, den
Anforderungen der dynamischen Sprachtheorie
gerecht zu werden. «Die korrelative Soziolinguistik
befasst sich . . . mit Variat ion. Sie untersucht also
auf den genannten sprachlichen Teilgebieten Er-
scheinungen, die innerhalb der Realisierungen
eines Sprachsystems variabel sind, was genau ge-
nommen heisst, dass ein und dieselbe Person die
Varianten der Variablen nebeneinander verwendet.
Korre l ieren heisst dann, die Verschiebungen in der
Verwendung dieser Varianten feststellen, die mit
einer Reihe von pragmatischen Faktoren ü b e r e i n -
st immen. Genau genommen liegt also keine Varia-
tion vor, wenn innerhalb einer Gesellschaft in einer
bestimmten Teilgruppe eine sprachliche Erschei-
nung und in einer anderen Teilgruppe eine entspre-
chende andere jeweils kategorisch angetroffen
w i r d » (Goossens 1986, S. 257). In Ü b e r e i n s t i m m u n g
mit der generellen E i n s c h r ä n k u n g der Untersu-
chungsausrichtung dieser Arbe i t auf die lautliche
Ebene, m ü s s e n die Fragen auf den Lautwandel und
die Lautvariat ion, deren Vorkommen in den Liech-
tensteinischen Ortsmundarten, deren geographi-
sche Distr ibution und deren Korrelat ion mit sozia-
len und situativen Faktoren ausgerichtet sein.
4.1.1.
ENTWICKLUNGSREGEL
W i r stellen fest, dass die Sprachlautungen der Orts-
mundarten des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein schwan-
ken. Je nach Sprechsituation und linguistischer
Kondi t ion kann sich die Realisation eines Lautes in
den Ortsmundarten von jener in der Basismundart
unterscheiden, d.h. dass nicht alle Laute der Orts-
mundarten gleich wie in der Basismundart reali-
siert werden. In den Ortsmundarten gibt es variie-
rende Laute. W i r untersuchen die Schwankungen
der Laute und eruieren, welche Laute der Orts-
mundarten in welcher Form nicht der Basismund-
207
art entsprechend realisiert werden. Die Vergleich-
barkeit der Laute basiert auf der Hypothese, dass
der Lautwandel r ege lmäss ig ab läuf t , so dass in
allen Gemeinden, oder i n definierten Zusammen-
fassungen einzelner Gemeinden, Laute i n Ab le i -
tung von mhd. Ausgangselementen eine identische
Entwicklung durchmachen. Die Schwankungen
k ö n n e n - m ü s s e n aber nicht - ein Indiz fü r Verän-
derungen i m System sein.
Die Beschreibung der Variat ion w i r d mit Hilfe
von historisch formulierten Entwicklungsregeln
d u r c h g e f ü h r t . Die Grundlage ist demzufolge ein h i -
storisches, diachrones Vorgehen. Die Basismund-
art als theoretisches Konstrukt postuliert die iden-
tische Realisation der Lautklassen i m Idealfall.
Daraus ergaben sich die i m vorhergehenden K a p i -
tel formulierten kategorischen Entwicklungsregeln
(kEr). Die nicht den basismundart l ich Entwick-
lungsregeln entsprechenden Lautentwicklungen
der Ortsmundarten werden durch variable Ent-
wicklungsregeln (vEr) beschrieben, die jenen Zeit-
punkt des Verlaufs des Lautwandels festhalten, i n
dem die alte und die neue F o r m nebeneinander
existieren.
Fü r unseren Fa l l erfolgt die Beschreibung des
Status der Variabi l i tä t einer variablen Entwick-
lungsregel nicht nach Wahrscheinl ichkei tsprinzi-
pien. Den kategorisch und variabel gebrauchten
Lauten einer Entwicklungsregel werden aus der
Analyse des Korpus Prozentzahlen zugeordnet, die
zeigen, welcher Laut i n welcher Gemeinde fü r den
beschriebenen Fa l l von den vier Probanden wie
h ä u f i g gebraucht w i rd .
kEr :
M h d . [xj w i r d in einer bestimmten linguistischen
Kondi t ion in der Gemeinde Y zu [zj.
vEr :
M h d . [x] w i r d unter bestimmten linguistischen und
extralinguistischen Kondi t ionen in
der Gemeinde A in y l % zu [zl]
der Gemeinde B i n y2 % zu [z2]
der Gemeinde C i n y3 % zu [z3]
der Gemeinde n i n yn % zu [znj.
Die extralinguistischen Kondit ionen s ind i m kom-
menden noch zu k l ä ren .
4.1.2.
BASISMUNDARTLICHES WORT
W i r unterscheiden zwischen basismundart l ichem
Wort (bmW) und nichtbasismundart l ichem Wort
(nbmW). Die Defini t ion des Terminus «n i ch tbas i s -
mundartl iches Wor t» fällt schwer, we i l es keine ob-
jektiven oder l inguistischen Werte gibt, die eine
eindeutige Zuordnung vorschreiben. W i r gebrau-
chen eine Arbei tsdefmit ion, die sich an die Be-
g r i f f s e r k l ä r u n g des Terminus « B a s i s m u n d a r t » an-
schliesst. E in Wort ist nichtbasismundart l ich, wenn
es eine oder mehrere der nachfolgend genannten
Bedingungen erfüll t .
a) Wenn ein Wort von den Benutzern als nichtba-
sismundart l ich empfunden und nicht geduldet
wi rd , d .h . wenn das Sprachverhalten der Pro-
banden die Fremdartigkeit dadurch bes tä t ig t ,
dass das Wort vermieden oder ü b e r s e t z t w i rd ,
oder aber allgemein Schwierigkeiten in der
Lautproduktion verursacht.
b) Wenn historisch a b g e s c h ä t z t werden kann, dass
ein Lexem erst in j ü n g s t e r Vergangenheit in die
Ortsmundarten aufgenommen wurde.
Tabelle 10: Variabilität •-• - — - : - .—=—- -
Tnvariabilität * Variabilität Inväriabilität
. . .. • ; " s | _
' /kliuni/ ; u) /kharti/ , /kliOni/ |
\ j§,/khOfri/ "• \. -f
208
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
c) Wenn es im W ö r t e r b u c h von Jutz nicht enthalten
ist.
d) Wenn es g e m ä s s der Kompetenz des Verfassers
als nativer Mundartsprecher nicht zur Basis-
mundart gehör t .
4.2.
EMPIRISCHE ANALYSE UND
UNTERSUCHUNGSANORDNUNG
Die nachfolgende Untersuchung muss die var iablen
Entwicklungsregeln der Ortsmundarten festhalten.
W i r erstellen ein Inventar von potentiell var iablen
Entwicklungsregeln und testen in einer Erhebung,
ob der Gebrauch der dar in verwendeten Laute i n
der Sprachwirkl ichkei t variiert, wovon die Var ia -
tion a b h ä n g t und wie h ä u f i g die Variat ion auftritt.
Die Inventarisierung der potentiell v E r erfolgt i n
zwei Stufen. Erstens durch die Inventarisierung
der Unterschiede der einzelnen Dör fe r auf Grund
der in der Basismundart festgehaltenen Entwick-
lungen der Laute. Daraus ergibt sich ein Inventar
von potentiell vEr, das sich lediglich auf mögl iche
Neuerungen in basismundart l ichen W ö r t e r n be-
zieht. Zweitens untersuchen w i r die nichtbasis-
mundart l ichen W ö r t e r auf mögl iche Neuerungen.
Wi r sind uns bewusst, dass auf Grund dieses Vor-
gehens nicht mit Sicherheit festgestellt werden
kann, ob alle Variablen in die Untersuchung einge-
schlossen sind. W i r k ö n n e n daher f ü r die weitere
Arbei t nicht behaupten, dass nicht auch andere
Laute unter bestimmten Bedingungen vari ieren.
4.2.1.
INVENTAR DER POTENTIELL VARIABLEN
ENTWICKLUNGSREGELN IN
BASISMUNDARTLICHEN WÖRTERN
F ü r den Verlauf des Ausgleichs und dessen B e g r ü n -
dung gibt es verschiedene Theorien. Die bekann-
teste ist woh l diejenige von Schirmunski , welche
besagt, dass be im Ausgleich zweier i n Kontakt ste-
hender Dialekte die p r i m ä r e n Merkmale , also jene,
die den einen Dialekt durch ihre Auffäl l igkeit vom
andern unterscheiden, angeglichen werden, w ä h -
renddessen die s e k u n d ä r e n , unau f fä l l i gen Merk-
male erhalten bleiben. W i r ü b e r n e h m e n diese U n -
terscheidung f ü r unsere Arbe i t und betrachten jene
Laute in basismundart l ichen W ö r t e r n als potentiell
var i ierend, bei denen ein Ungleichgewicht z w i -
schen basismundart l icher und ortsmundartl icher
Variante besteht. A u f der Seite 209 wurden diese
zusammengestellt.
4.2.2.
INVENTAR DER POTENTIELL VARIABLEN
ENTWICKLUNGSREGELN IN NICHTBASIS-
MUNDARTLICHEN WÖRTERN
In einer Analyse von je einem Text aus dem Ober-
land, Unterland und der Gemeinde Triesenberg
stellen w i r Abweichungen vom Mater ia l der bishe-
rigen Inventarisierung fest. Vor al lem ist es Auf-
gabe der Textanalyse, standarddeutsche Importe
festzuhalten. Es wurden drei Texte mit insgesamt
drei Stunden G e s p r ä c h s d a u e r ausgewertet. Sie
stammen aus Triesen (Text 1; Familie) , Schellen-
berg (Text 2; Gemeinderat) und Triesenberg (Text
3; Sitzung der Fre izei tkommiss ion Triesenberg).
Die G e s p r ä c h e wurden auf Tonband aufgenommen,
transkribiert und in einem weiteren A b h ö r v o r g a n g
auf jene Laute untersucht, die mit der Basismund-
art nicht ü b e r e i n s t i m m e n . Diese Gesp rächs s t e l l en
wurden phonetisch transkribiert . Die Texte 1 und 2
wurden dabei vol l s tändig auf Abweichungen zur
Mundar t untersucht. F ü r den Text aus Triesenberg
war dies schwerer. So ist bereits an dieser Stelle
darauf aufmerksam zu machen, dass die Inventari-
sierung f ü r Triesenberg m ö g l i c h e r w e i s e unvoll-
s t ä n d i g ist.
Die drei Texte wurden a u s g e w ä h l t , we i l die dar in
vorkommenden Sprecher das folgende ideale A n -
forderungsprof i l erfüllten-.
- geringes Al ter (20-30)
- schwache Orts loyal i tä t
- Aufenthalte i m Aus land
209
- keine Bindung zu Grund und Boden durch den
Beruf (keine Bauern, Förs ter , Landarbeiter, etc.)
- Vater oder Mutter sollen nicht gebür t ige Liech-
tensteiner sein
- mit sozialem Netzwerk ausserhalb des eigenen
Dorfes
- wenig Mitgliedschaften in Dorfvereinen
- Pendler.
Auszug aus Text 2: «Guet, i m ö ö c h t eu zor hö t iga
Setzig b e g r ü a s s a , speziell b e g r ü a s s a m ö ö c h t i d 'r
Herr Frommelt , Büro Sprenger und Steiner. D ' r
Herr Frommelt het scho vor meerera Woche, ja i
wet ned säga , s'Leitblatt, aber zo mindestens us
sira Verantwortig ussa, het er d'r Wusch güsse re t ,
dass er emool k ö n n t e die ganz Situation vo d'r
Wasserversorgig, i m D ü e r a w a a l d , em Gmoonds-
root nomool voorbringe. E r isch einfach der Uuffas-
sig, dass des Projekt, der Kostenrahma wo mier
gsproche hond, ü ü s ned das bringt und vor allem
Probleem i d'r Wasserversorgig w ö r e n u f t r ä t e , i
glob i m wesentliche goots jo u m der k l in i Schacht,
wo vorgseha ischd, er köön t üs , wetti s äga , vo der
fachl icha Sita hera, o d 'Konsequenza vor Ooga
f ü e r a , was jetzt die sogenannt Minimal löösig , wie's
mier eigentlich v o r g s ä h a hetten, br inga w ö r d , zom
andera, köön t er ü ü s aber oo ufzooga, was an Uus-
bau noch em hö t iga technischa Stand vom Wessa
und oo us sirer Erfahr ig , wo 'n er i d 'r Praxis hä t ,
w ie ' n er mier gset het, het er praktisch s ämt l i che
Sanierige i da liechtesteiner Alpegebiet gmacht,
glob i d'r Schwiz o no, und Herr Frommel t i m ö c h t
Ihne gad s Wort g e e . » 9 2
Aus der Analyse der Texte ergaben sich mda.
Entsprechungen z u mhd . Lauten i n basismundart-
l ichen W ö r t e r n und mda. Entsprechungen zu mhd .
Lauten in nichtbasismundart l ichen W ö r t e r n , die i m
bisherigen Inventar nicht a u f g e f ü h r t sind. Das In-
ventar der potentiell v E r mit basismundart l ichen
W ö r t e r n w i r d durch weitere Entwicklungsregeln
e rgänz t , die untersucht werden m ü s s e n .
Aus beiden Analysen ergibt sich ein Inventar
von potentiell vari ierenden Lauten, das in der Ta-
belle 12 zusammenfassend dargestellt ist. In Spalte
eins steht die N u m m e r der Entwicklungsregel. In
Spalte zwei steht die Beschreibung der Entwick-
lungsregel. In Spalte drei steht ein Beispiel zur Ent-
wicklungsregel. Die vierte Spalte zeigt, ob eine Ent-
wicklungsregel aus der Analyse der Basismundart
stammt. Die f ü n f t e Spalte zeigt, ob eine Entwick-
lungsregel aus der Analyse der Texte stammt. Hat
eine Entwicklungsregel einen positiven Eintrag i n
den Spalten vier und fünf, dann ist eine potentielle
Variable aus dem Inventar der Basismundart auch
Tabelle 11: Zusätzliche
potentiell variable
Entwicklungsregeln aus
den Texten
Laut bmW/nbmW Beispiel
ö vor nK bmW
Plural mit Umlaut bmW
Restitution, des n bmW
Restitution des r bmW
Restitution des x bmW
ä in -nd, -Id-, im Komp nbmW
i vor oK. nbmW
i vor f 4 Kons nbmW
6: vor nK nbmW
ü vor oK nbmW
ü vor oK nbmW
ei vor oK nbmW
ez'vornK nbmW
r nbmW
X nbmW
'könnt'
Flösser
'Fenster'
'nur'
'sich'
'Waldweg' •
'Abriss'
'Landwirtschaftsamt'
'Kommission'
'Einfluss''
'geäussert''
'Eigenheim'
'Einheiten' ,
'mehrfach'
'grundsätzlich'
[ce] statt [0]
[ce] statt [o]
[fenjier] statt [fejtsr]
[nur] statt [no]
[sig] statt [si]
[d] »fällt aus •
Iii statt [eL : ,
[i] statt [0], [xa] •
[ö] statt [5]
[u] statt [o]
M statt [0]
[ej] >statt [ae:], [a-], [o:]
[ej] statt ,[5]
[me;p] statt |mo:-|
[-lic] statt [-Ii]
210
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Tabelle 12: Inventar der
potentiell variierenden
Laute
hr Betrittt Beispiel BmW Text Ul/ EL/ T Tlo /
Ula/
T Tl / Ul/ U l /
T Tl Ul r> D UlO U C K T L 1D
i i DUO ividgeii + + +
o U0o, nDulW 'darlegen +
*> JJ1SW 'Gras' + + +
A
4 u i sw, nDmw Stil + r
D Plural mit Umlaut Rösser +
6 a vor sch 'Asche' + + - - + +
7 ä im Diminutiv 'Bächlein' + + + + +
8 e vor nK 'denken' + +
y germ e rem + + +
1 A
IU
germ e, nbmW 'vorgesehen' + +
11 ivor oK 'Biss' + + + +
1 o
Iii
i vor oK, nbmW 'Abriss' + +
"1 O
l o i vor r+Kons Wirt +
+ + +
14 i vor r+Kons,
nbmW
'Landwirt-
schaftsamt'
+ +
10 o vor oK nott + +
l o o vor r+Kons 'Korn' + + + +
1 / o vor nK 'könnte' +
1 7 r»
1 / a
ce vor nK 'Föhn' + +
18 o vor r+Kons 'Körblein' + + + +
i y u vor oK 'Fuchs' + +
zu u vor oK, nbmW 'Einfluss' + +
o 1 <ii u vor r+Kons 'Burg' + + +
o o üvor oK 'Füchse' + +
oo ü vor oK, nbmW 'geäussert' + +
O yl Z4 ü vor r+Kons 'Bürger + + + +
25 d vor oK 'Adern' + - - - +
26 d vor nK 'Samen' + + + +
O 7 2 / vor nK 'käme' + +
28 d vor nK 'Bohnen' + + + - - - +
i y d vor nK, nbmW 'Kommission' + + +
30 ei vor oK 'Leiter' + + + + + + +
30a ei vor oK, neu 'Fleisch' + + +
öl ei vor oK, Plural 'Seile' + + + + +
o o
3Z
ei vor oK, Komp,
nbmW
'Eigenheim' + + + + +
o o SS ei vor oK, nbmW Leitßlatt + + + + +
o4 ei vor oK, hd Suffix,
nbmW
'Wahrheit + + * + + +
o c 30 ei vor nK Stein + + + +
o ei vor nK, Plural 'Steine' + + +
St ei vor nK, nbmW 'Einheiten' + + +
38 ou vor oK 'Auge' + + +
oy öw vor oK 'Freude + +
40 ie vor nK 'Riemen' + +
41 HO vor nK 'Blume' + +
42 üe vor nK 'grün' + + +
43 Restitution n 'Fenster' + +
44 Restitution r 'nur' +
45 r, nbmW mehrfach +
46 Restitution x 'sich' + +
47 x, nbmW 'grundsätzlich' + +
48 d in -nd, -Id- 'Wald' + + +
49 d in -nd, -Id-, nbmW 'Waldweg' + +
50 s 'Eis' + +
51 k im Anlaut 'Kasten' + +
52 k nach nK 'dunkel' + +
53 ch intervokalisch 'machen' + +
211
i n der Textanalyse als von der kategorischen Ent-
wicklungsregel abweichend aufgefallen. Neben
einer Zusammenfassung der potentiell vari ieren-
den Laute gibt die Tabelle 12 i n den Spalten sechs
bis zehn Auskunf t da rübe r , ob sich der Laut fü r die
entsprechende Gemeinde / Region von einer ande-
ren Gemeinde/Region unterscheidet. Diese Spalten
beantworten mit Ja (+) oder Nein (-), ob das in der
Entsprechungsregel genannte M e r k m a l die i m
Spaltenkopf genannte Region/Gemeinde von der
n ä c h s t g r ö s s e r e n Region/Gemeinde unterscheidet.
Hier kommen alle Gemeinden, das Oberland (Ol),
das Unterland (Ul), das a-Gebiet im Unterland
(Eschen und Mauren), das o-Gebiet i m Unterland
(Gamprin, Ruggell und Schellenberg) in Frage.
4.2.3.
DAS UNTERSUCHUNGSINSTRUMENTARIUM
Es muss praktisch untersucht werden, ob die durch
die theoretische Analyse als potentiell variabel f i -
xierten Entwicklungsregeln in den Ortsmundarten
auch variabel gebraucht werden. Dazu muss ein
Untersuchungsinstrumentarium gefunden werden,
das optimal den A n s p r ü c h e n der geringen Bearbei-
tungszeit und maximalen Validität gerecht w i r d .
Zur Erhebung der Sprachdaten verwenden wi r ein
Corpus von Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e n . W i r kennen die
Vorbehalte, die gegen dieses Verfahren der Daten-
erhebung immer wieder ins Feld g e f ü h r t werden.
Stellvertretend m ö c h t e n wi r i m folgenden die si-
cherlich ernst zu nehmenden E i n w ä n d e von Ruoff
diskutieren. Ruoff bezweifelt vor allem die Validität
der Sprachdatenerhebung durch die W e n k e r s ä t z e
auf den Ebenen der Morphologie, Syntax und Le-
xik, nicht aber auf jener der Phonetik. «Die mögli -
chen Ergebnisse der Wenkersatz-Aufnahme sind
auf andere Weise - und besser - zu erreichen, denn
andere als spezifisch laut- und wortgeographische
Erkenntnisse sind aus der Tonaufnahme dieser
Sätze nicht zu e r w a r t e n » (Ruoff 1965, S. 112). M e h r
wollen wi r f ü r unsere Untersuchung nicht. Den-
noch versuchen wi r unsere Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e so
zu bauen, dass sie der Kri t ik von Ruoff standhalten
k ö n n e n , die zusammenfassend so formuliert wer-
den kann.
- Die Sätze m ü s s e n sowohl bezügl ich Morpholo-
gie, Lexik und Syntax mundartgetreu sein, d. h.
sie m ü s s e n der Grammat ik der Basismundart
entsprechen.
- Die Sä tze m ü s s e n r e a l i t ä t s n a h sein. Es d ü r f e n
keine Sätze zur lautlichen Ü b e r s e t z u n g vorgelegt
werden, die i m Leben des Probanden keinen
S inn ergeben. «Der Bezug auf eine wirkl iche
oder wenigstens mögl iche , gedachte Real i tä t der
Sache oder des Satzes ist aber nöt ig , selbst wenn
es nur um den Lautstand des betreffenden Wor-
tes geh t» (Ruoff 1965, S. 101).
- Auffäll ige P r o b l e m h ä u f u n g e n in einem Satz sol-
len vermieden werden. Der Satz «Was sitzen da
fü r Vögelchen auf dem M ä u e r c h e n » wi rk t durch
den doppelten Gebrauch des Diminutives ge-
stellt.
«Man kann sich wohl die gegenseitige Bedingtheit
i m Bezug von Gedanke - Laut - Wort - Satz nicht un-
ausweichlich genug vorstellen. Nur im normalen Ge-
s p r ä c h erscheinen normale Sätze und darin normale
Laute. Eine wunde Stelle in diesem Zusammenhang
zieht das ganze Korpus in Mitleidenschaft: Auch die
Satzkette taugt eben nur so viel wie ihr s c h w ä c h s t e s
Glied» (Ruoff 1965, S. 107). Bei der Erstellung der
Überse t zungssä tze haben w i r versucht, den Anfor-
derungen von Ruoff gerecht zu werden. Die Liste der
Wörter , die abgefragt werden, ergibt sich aus dem
Inventar potentiell vEr.
Nichtbasismundart l iche W ö r t e r
Abr iss , anstreben, Beitrag, Bereich, bereit, bereits,
darlegen, Eigenheim, Eigenleitung, eigentlich, E i n -
fluss, Einheiten, einzeln, einzelne, geäus se r t , ge-
spiesen, g rundsä t z l i ch , Hügel , jeweils, Kommis -
sion, Landwirtschaftsamt, Leistung, Leitblatt,
mehrfach, Mehrheit , Möglichkeit , reichen, richtig,
Schwierigkeit, Situation, steil, Stil, Subvention,
teils, Telephon, unterbreiten, vorgesehen, Wahr-
heit, W a l d w e g 9 3 , wir tschaft l ich.
212
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Basismundartl iche W ö r t e r
Adern , Alpmeister, Augen, Äste , Baum, Bächle in ,
Beispiel, Besen, Blumen, Blümlein, Bohnen,
Brücke , Burg, Bürger, daheim, dick, Dorn, Dornen,
drei, dunkel, d ü r f e n , einfach, Eis , E m d , Feld, Fen-
ster, Fleisch, flott, folgen, Föhn , Freude, Frosch,
Fuchs, Füchse , f ü r c h t e n , Gartenarbeit, gär, Geiss,
Geissei, g e r ä u c h t , getragen, graben, Gras, g r ü n ,
haben, Halde, Häus le in , heben, Heizung, Hemd,
her, Heu, Holzbödil i , Hund , h ü b s c h , ih iworga,
k ä m e , Käse , kein, K i n d , Korn , k ö n n t e , Körble in ,
Körnlein , krachen, K u h , Küche , lachen, lassen
(sie), Laub, leer, leisten, Leiter, Leiterchen, Leitung,
Liechtenstein, Lohn, machen, Magen, M ä d c h e n ,
menga, Messe, Monat, Mond , morgen, n ä h m e , nir-
gends, nur, Rank, Rechen, rein, Riemen, Rohre,
Rösser, Rücken , sagen, Samen, s ägen , Schaben,
Schafe, Schlüssel , schon, s chön , Schüsse l , Schwa-
ger, schwer, Seile, sich, Sicht, sie, Stein, Steine,
Tag, Tasche, Täli, tät , Teile, tun, T ü r k a , ü b e r h a u p t ,
Verdienst, vielleicht, Vorteil , Wagen, Wald , Wald-
weg, waschen, weben, Weg, Weizen, wichtig, Wie-
se, w i rd , wi rk l i ch , Wirt , Wolle, Wurze l , zäh , Zeine,
Zeinen, zur.
Entsprechend der Häuf igke i t des Auftretens i n
den Texterhebungen werden auch im Fragebogen
einzelnen P h ä n o m e n mehr oder weniger Belegwör-
ter zugeordnet.
Spezielles Augenmerk w i r d der Entwicklung der
Nasalierung i m Unterland geschenkt werden. Die
Erhebungen zur Basismundart haben h ie rzu wenig
gebracht. Nasalierungen waren nur mehr verein-
zelt festzustellen.
A u c h teilnehmende Beobachtungen und das A b -
h ö r e n von Tonmaterial b e k r ä f t i g e n die Llypothese,
dass die Nasalierung i m Unter land i m Rückzug
begriffen ist, nachdem sie f r ü h e r nach den A r b e i -
ten von Jutz e inmal viel s t ä r k e r vertreten war . 9 4 Es
muss festgestellt werden, ob und wie stark die N a -
salierung in den U n t e r l ä n d e r Ortsmundarten noch
vorhanden ist. Die Erhebung erfolgt mittels Wort-
listen, sämt l i che Laute werden sowohl in an-, i n -
wie auch auslautender Stellung abgefragt.
4.2.3.1.
A U S W A H L DER R E D E D E T E R M I N A N T E N
Es gilt f ü r unser Experiment die Determinanten zu
definieren, die die Sprachproduktion bestimmen,
und deren A n z a h l soweit zu reduzieren, dass ne-
ben den linguistischen Ergebnissen auch ü b e r ein-
zelne extralinguistische Faktoren, die unser
sprachliches Handeln h a u p t s ä c h l i c h bestimmen,
Aussagen gemacht werden k ö n n e n . Verschiedene
soziale und situative Determinanten beeinflussen
die Sprachprodukt ion . 9 5
- Determinanten auf der Kommunikatorsei te sind:
Berufs tä t igke i t , Intention, psychischer Zustand,
Alter, soziales Geschlecht, Bi ldung, Pendlersta-
tus, Muttersprache, Nat ional i tä t .
- Determinanten auf der Rezipientenseite sind:
angenommene Sachkompetenz, vermuteter Rang,
Thema, A n z a h l der Hörer .
- Determinanten auf der Gegenstandsseite sind:
Thema/Inhalt , Stil, Vorbereitung, Raum, Öffent-
lichkeit, Untersuchungsinstrument.
Nicht alle sozialen und situativen Faktoren k ö n n e n
in die Untersuchung miteinbezogen werden. Aus
diesem Grund ist es f ü r die Validität der Arbei t un-
er läss l ich , sich Rechenschaft zu geben, inwieweit
einzelne Faktoren v e r n a c h l ä s s i g t werden k ö n n e n ,
ohne die Untersuchung und damit die Ergebnisse
negativ zu beeinflussen. Es stellt sich i n unserem
Fal l die Frage, welche Rededeterminanten f ü r den
Lautwandel i n unserem Land h a u p t s ä c h l i c h ver-
antwortl ich sind. W i r diskutieren den Einbezug der
wichtigsten sozialen und situativen Faktoren in die
Untersuchung.
Wie Untersuchungen 9 6 belegen, korrelieren lexi-
kalische Interferenzen mit dem Alter der Proban-
den, dem G e s p r ä c h s t h e m a und dem Grad der Öf-
fentlichkeit eines G e s p r ä c h s . In der Untersuchung
der a l l täg l ichen Sprache der M u n d a r t d o m ä n e n 9 7
verzichten w i r auf die Be rücks i ch t igung der beiden
Determinanten <Grad der Öffentl ichkeit) und G e -
s p r ä c h s t h e m a ) , wei l diese f ü r alle Befragungen in
etwa identisch sind.
213
Die Dialektal i tä t der Sprache der Mundartspre-
cher e r h ö h t sich mit steigendem Al te r . 9 8 Die sozio-
psychologische Forschung unterscheidet verschie-
dene Altersstufen, unter anderem das Erwachse-
nenalter, wobei die Entwicklungspsychologie das
Erwachsensein des Menschen mit 20 oder 25 Jah-
ren ansetzt. Es darf dabei allerdings nicht verges-
sen werden, dass gerade auch i m Erwachsenen-
alter noch V e r ä n d e r u n g e n vor sich gehen, die der
Theorie der « r u h i g e n Pe r iode» widersprechen.
A u c h in diesem Altersbereich findet durch die
starke soziale Einbindung und die h ä u f i g e n K o n -
takte eine andauernd starke Konfrontat ion mit der
Sprache statt.
W i r haben uns d a f ü r entschieden, f ü r unsere
Untersuchung das Alter 25 bis 45 Jahre anzuset-
zen. Einerseits kann davon ausgegangen werden,
dass in dieser Zeit jugendliche Slangbildung und
Freude zur V e r ä n d e r u n g nicht mehr so gross sind
und somit von einer bestimmten «Einhei t l ichkei t»
ausgegangen werden kann. Andererseits bezieht
sich die Untersuchung (wie nachfolgend e r l äu t e r t
wird) auf die Arbe i t s t ä t igen und hier vertritt die
Gruppe der 25- bis 4 5 - j ä h r i g e n die Mehrhei t des
Landes. 1 3 ' 0 0 0 9 9 Arbei ter innen und Arbei ter sowie
3200 Hausfrauen, die in der Statistik als Nicht-
e r w e r b s t ä t i g e g e f ü h r t werden, ergeben eine Grup-
pe von 16'200 Arbe i t s t ä t igen . 9000 davon entspre-
chen unserem Altersideal . Das sind 56 Prozent
der Arbe i t s t ä t i gen oder 30 Prozent der gesamten
W o h n b e v ö l k e r u n g .
Die g e s c h l e c h t s a b h ä n g i g e n Unterschiede in der
Sprachproduktion interessieren uns hier nicht. In
das Sample sollen gleich viele Frauen wie M ä n n e r
integriert werden. Dies war f ü r kleine Gemeinden
nicht immer mögl ich , we i l es schwer war, hier
Frauen zu f inden, die nicht pendeln und nicht
manuel l arbeiten. Aus diesem Grund s ind nur 36
Prozent Probandinnen i n die Untersuchung mitein-
bezogen w o r d e n . 1 0 0 Sollte es sich zeigen, dass
signifikante Unterschiede auf Grund des «soz ia len
G e s c h l e c h t s » 1 0 1 auftauchen, so werden diese i n den
Ergebnissen aufberei tet . 1 0 2
Die Zugehör igke i t zu einer Ortsmundart w i r d
folgendermassen definiert. A l l jene, die seit dem
Besuch des Kindergartens i n Liechtenstein leben,
sind nach unserer Auffassung Sprecher einer l iech-
tensteinischen Ortsmundart. Damit sind auch alle
in das Sample eingeschlossen, die keine liechten-
steinische S t a a t s b ü r g e r s c h a f t besitzen, aber schon
seit ihrer Kindhei t i m Land leben.
Liechtenstein hat sich i n den vergangenen 50
Jahren mit Riesenschritten vom armen Bauern-
staat zum reichen Industrieland entwickelt. Damit
kamen mit einem neuen berufl ichen und auch so-
zialen Umfe ld G r e n z g ä n g e r und A u s l ä n d e r nach
Tabelle 13: Pendlertum 1 0 3
Gemeinde Erwerbs- Stationäre Wegpendler Wegpendler Zupendler Zupendler
tätige % %
Planken 121 35 86 71 % 4 3 %
Mauren 1203 461 742 62% 167 14%
Ruggell 523 204 319 61 % 49 9 %
Triesen 1557 639 918 59% 220 14%
Gamprin 396 165 231 58% 259 65%
Schellenberj l 293 123 170 58% 11 4 %
Eschen 1361 628 733 54% 332 24 %
Triesenberg 1040 593 447 43% 53 5 %
Schaan 2472 1628 844 34% 1316 53%
Balzers 1518 950 568 37% 382 25 %
Vaduz 2421 1810 611 25 % 2151 89%
Total 12905 7236 5669 51 % 4944 28 %
214
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Liechtenstein. Somit wurde die einheimische Be-
vö lkerung durch die Auf lösung bäue r l i ch -dö r f l i che r
Strukturen, die sprachl ich ihre Spuren hinterlassen
hat, vermehrt mit benachbarten und fremden Idio-
men konfrontiert . W i r stellen daher die Hypothese
auf, dass die Arbe i t s tä t igke i t und das Pendlertum
h a u p t s ä c h l i c h verantwortl ich sind f ü r die sprachli-
chen V e r ä n d e r u n g e n . «Durch das Datenmaterial
konnte mit statistischer Signif ikanz nachgewiesen
werden, dass am Untersuchungsort Knu twi l eine
Reihe von Grundfaktoren f ü r den Vokalisierungsge-
brauch bestimmend sind. Die deutlichsten Vokal i -
sierungsunterschiede kommen durch die Ar t der
Berufs tä t igkei t zustande, w ä h r e n d der Einfluss der
Berufsposition weniger klar w i r d » (Christen 1988,
S. 207). A u c h andere Untersuchungen haben die
Relevanz dieses sozialen Faktors belegt. 1 0 4
Aufgrund der gleichen sprachpragmatischen
Verhä l tn i sse in der Schweiz und in Liechtenstein
sowie aufgrund der vergleichbaren wir tschaft l ich-
sozialen Verhä l tn i s se (Wirtschaftszentrum mit dörf-
licher Umgebung) nehmen w i r an, dass dieser
Faktor auch fü r unser Untersuchungsgebiet von
entscheidender Bedeutung ist. W i r unterteilen also
die Probanden in manuell tä t ige (m) und nicht ma-
nuell tä t ige (nm) und postulieren die Abhäng igke i t
der Sprachproduktion von der Arbei t s tä t igkei t .
Nicht weniger wicht ig f ü r den Sprachausgleich
innerhalb des Landes ist unserer Meinung nach
das Zu- und Wegpendeln der E inwohner Liechten-
steins vom Wohn- zum Arbeitsort . Der Einfluss des
Wirtschaftszentrums (Schaan und Vaduz) vor al lem
auf die Ortsmundarten des Unterlandes hat sich in
den Voruntersuchungen der Texte gezeigt. Wi r un-
terteilen in Pendler (P) und S t a t i o n ä r e (St) und po-
stulieren die Abhäng igke i t der Sprachproduktion
vom Pendlertum.
Die restlichen Determinanten werden konstant
gehalten oder sind fü r unsere Untersuchung nicht
von ausschlaggebender Bedeutung. Dies f ü h r t zu
einer Einengung der Untersuchung. M a n darf aller-
dings nicht vergessen, dass i m Rahmen der vorlie-
genden Arbei t nicht mehr realisierbar ist, zudem
muss man sich vor Augen halten, dass in der A n a -
lyse die sozialbedingte Abhäng igke i t von fast 50 va-
r iablen Lauten untersucht w i r d und es aus arbeits-
technischen G r ü n d e n nicht mögl ich ist, eben diese
Variablen mit mehreren Rededeterminanten zu
korrel ieren.
4.2.3.2.
DIE P R O B A N D E N
Die A u s w a h l der Probanden erfolgt durch eine ge-
schichtete S t ichprobe . 1 0 5 Die G e w ä h r s l e u t e werden
von Referenzpersonen vorgeschlagen. Nach stati-
stischen Regeln e r g ä b e sich an die Forderung der
R e p r ä s e n t a t i v i t ä t eine viel zu hohe Zahl an Proban-
den, die nie zu bewä l t i gen w ä r e . Die Untersuchung
w i r d e i n g e s c h r ä n k t auf E r w e r b s t ä t i g e , die ihren
Arbeitsort i m Wohnort haben oder zur Arbei t weg-
pendeln. Pro Dorf werden vier Probanden befragt,
woraus sich die folgende Struktur ergibt:
Planken w i r d in diese Untersuchung nicht aufge-
nommen, wei l die 290 E inwohner z ä h l e n d e Ge-
meinde bei der Analyse der Basismundart in der
Lautung keinerlei Abweichungen von der Nachbar-
gemeinde Schaan zeigte . ' 0 6 Zusä tz l ich w i r d der
Weiler Hinterschellenberg in der Gemeinde Schel-
lenberg in die Untersuchung aufgenommen, wei l
die A u f n a h m e n zur Basismundart hier Abweichun-
gen zur restlichen Gemeinde belegen.
s Tabelle 14: Probanden
pro Dorf , , ' Total
1 Pendler, manuell l l Pendler, manuell
1 Pendler, nicht manuell 11 Pendler, :nicht manuell
1 Stationärer, manuell 11 Stationärer, manuell
1 Stationärer, nicht manuell 11 Stationärer, nicht manuell
215
Der Proband oder die Probandin sollen g r u n d s ä t z -
l ich folgendem idealen Anforderungsprof i l entspre-
chen:
Berufs tä t igkei t : manuel l oder nicht manuel l
Pendlerstatus: Pendler oder S t a t i o n ä r
Alter: 25-45 Jahre
Bildung: indifferent
Muttersprache: Liechtensteinische Ortsmundart
Nat ional i tä t : F L und andere
Die Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e und deren Auswertung
m ü s s e n folgendes beantworten:
1. Gibt es fü r mhd. [x] mda. var iabel /p / oder /q/?
2. Werden die potentiellen Variablen variabel ge-
braucht?
3. Wie lautet die variable Entwicklungsrege]
(vEr)?
4. Woher stammen die neuen Variablen?
5. In welchen Ortsmundarten gilt die vEr?
6. Welches sind die Variablen in den vEr?
7. Wie lautet die v E r i m linguistischen Zusam-
menhang?
8. Korrel ier t der Gebrauch der v E r mit r ä u m -
lichen und linguistischen Faktoren?
9. Korrel ier t der Gebrauch der vEr mit sozial be-
dingten Rededeterminanten?
10. Lassen sich aus der geographischen Lokalisie-
rung der Neuerungen A n g l e i c h u n g s v o r g ä n g e
der Ortsmundarten erkennen?
11. Besteht ein Zusammenhang zwischen Laut-
neuerung und lexikalischer Neuerung?
12. Gibt es Lautwandel?
4.2.4.
DAS INTERVIEW
Die Sprachdatenerhebung geschah mit Überse t -
z u n g s s ä t z e n in einer direkten Erhebung. Die Pro-
banden wurden gebeten, die auf Papier vorliegen-
den Sätze in Mundar t zu formulieren. Der Explora-
tor hielt auf einem nur i h m vorliegenden Auswer-
tungsbogen w ä h r e n d des Interviews die jeweils zu
erhebenden Laute fest. Dieser Arbei tsgang wurde
dadurch erleichtert, dass der Auswertungsbogen in
der Ar t des multiple-choice vorstrukturiert war.
Mögliche Varianten des zu produzierenden Lautes
waren auf dem Auswertungsbogen vorgegeben und
konnten bei der Erhebung angestrichen werden.
Abweichungen davon wurden notiert. Die Inter-
views mit den Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e n wurden nicht
auf Tonband festgehalten. W i r glaubten dadurch
die G e s p r ä c h s s i t u a t i o n , die durch das Vorlesen von
Sä tzen ohnehin « u n n a t ü r l i c h » genug ist, nicht noch
mehr zu belasten. Die Determinaten auf der Rezi-
pienten- und Gegenstandsseite wurden bei allen
Interviews gleich gehalten.
Determination auf der Rezipienten- und Gegen-
standsseite:
angenommene
Sachkompetenz: hoch
vermuteter Rang: indifferent
Thema/Inhalt: Information
A n z a h l Höre r : 1
Stil: fo rmal
Vorbereitung: nicht vorbereitet
Raum: Heim des Probanden
Öffentl ichkeit : keine
Untersuchungs-
instrument: Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e
Den Probanden wurden zu Beginn des Interviews
drei Sätze zur Probe vorgelegt, die nicht in die
Erhebung aufgenommen wurden. Hier konnten die
Vorgehensweise und mögl i che Probleme aufgezeigt
werden. Die Erhebungen haben gezeigt, dass die
Ü b e r s e t z u n g s s ä t z e bis auf wenige Ausnahmen kei-
nerlei Schwierigkeiten bereiteten.
4.3.
ERGEBNISSE
Wenn der He te rogen i t ä t sbegr i f f l änge r brauchte,
bis er mit Ü b e r w i n d u n g des Strukturalismus i n den
Sechziger Jahren Einlass i n die deutsche Dialekto-
logie fand, ist der Vorgang der Durchmischung und
des Ausgleiches unter den Mundar ten schon l änge r
ein Thema. «Bekann t l i ch e rk l ä r t e seinerzeit Ferdi -
216
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
nand Wrede Mischung und Ausgleich fü r die alle-
zeit gül t igen Hauptgesetze der Mundartentwick-
lung. Unter Ausgle ich verstand er nichts anderes
als Durchsetzung der Mischungsergebnisse, die
Vereinheitl ichung an Stelle eines f r ü h e r e n Neben-
e i n a n d e r » (Trost 1968, S. 823). W i r haben uns also
mit zwei Begriffen und zwei Inhalten zu beschä f t i -
gen - dem Lautwandel und der Lautvariat ion. Die
Trennung zwischen Lautwandel und -Variation ist
eine theoretische Abstrakt ion. Beide Vorgänge sind
eng miteinander verbunden.
Die Variat ion kann als Vorstufe des Wandels ge-
sehen werden . 1 0 7 Neben der Feststellung der Var ia -
bil i tät der Ortsmundarten und der Interdependenz
von Sprache und Gesellschaft beschreiben wi r den
Status der Variabi l i tä t . F ü r die Theorie des Laut-
wandels folgen w i r den A u s f ü h r u n g e n von Haas
(1978) und fassen kurz zusammen. Lautwandel
erfolgt nicht nach dem Pr inzip der Gradua l i t ä t . Es
sind nicht mikroskopisch kleine Schritte, die aus
einem Laut im Verlauf der Zeit durch mannigfache
Abschleifungen einen anderen Laut entstehen las-
sen. E i n Sprecher ü b e r n i m m t eine Innovation als
se lbs tänd iges Element und gebraucht dieses neben
dem alten. Dabei sind Zwischenstufen nicht ausge-
schlossen. Diese bi lden eine e igens t änd ige Lautver-
schiebung i m Sinne einer schrittweisen Merkmals -
v e r ä n d e r u n g . W i r unterscheiden Lautwandel , ind i -
viduelle Innovation und Neue rung 1 0 8 als Begriffe zur
Beschreibung des Verlaufs des Lautwande ls . 1 0 9
W i r verwenden den Begriff der Innovation nach der
Definition von Haas nur dann, wenn es sich u m eine
individuelle Innovation handelt. Eine Innovation
wi rd zur Neuerung, wenn sie in den Sprachgebrauch
einer Sprachgemeinschaft ü b e r n o m m e n wi rd .
Lautwandel und Lautvariat ion sind konstitu-
ierende Elemente jeder Sprache. A u c h die Orts-
mundarten des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein var i -
ieren und wandeln sich in Abhäng igke i t von unter-
schiedlichen linguistischen und sozialen Faktoren.
W i r haben ein Inventar der potentiell variablen
Entwicklungsregeln erstellt und durch die Auswer-
tung der F r a g e b ö g e n festgestellt, dass die unter-
suchten Entwicklungsregeln kategorisch oder va-
riabel angewandt werden.
W i r k ö n n e n mit unserer Untersuchung belegen,
dass verschiedene L a u t w a n d e l v o r g ä n g e stattgefun-
den haben. Eine konstante Entwicklungsregel wur-
de hierbei variabel , die Neuerung v e r d r ä n g t e die
basismundartl iche Variante immer mehr, bis
schlussendlich die neu e i n g e f ü h r t e Variante zur
neuen Konstanten wurde (Er 8; e vor Nasal , den-
ken; i m U l nicht [e] sondern [e]). Diese Vorgänge
sind selten. Häu f ige r trifft m a n den Fa l l , dass Neue-
rung und ehemalige Konstante der Basismundart
als Varianten in einer var iablen Entwicklungsregel
nebeneinander gebraucht werden. Diese Fäl le der
Lautvariat ion k ö n n e n , m ü s s e n aber nicht zu einem
Lautwandel f ü h r e n . Das Leveling der variablen
Entwicklungsregeln ist unterschiedlich weit fortge-
schritten. Die A n z a h l der variablen Entwicklungs-
regeln ist pro Gemeinde unterschiedlich gross. Sie
ist i m Unter land g r ö s s e r als im Oberland. Die
Neuerungen s tammen h ä u f i g aus dem Hochdeut-
schen und den benachbarten Dialekten. Die Orts-
mundarten des Unterlandes werden vor allem
durch die Ortsmundarten des Oberlandes beein-
flusst. Die lautliche Angle ichung an das Oberland
ist augenfä l l ig , wo hingegen der umgekehrte Wan-
delvorgang nicht beobachtet werden konnte.
Von Neuerungen besonders betroffen sind die
Hochzungenvokale [i, ü, uj . zehn Entwicklungsre-
geln enthalten einen Hochzungenvokal . A u c h das
mhd. ei kommt i n den Entwicklungsregeln häu f ig
vor, nicht weniger als neun Entwicklungsregeln be-
schreiben den Gebrauch des mhd. Diphthongs ei i n
den Ortsmundarten Liechtenstein.
Tabelle 15 beschreibt die Variat ion i n den Ent-
wicklungsregeln fü r die einzelnen Gemeinden. Pro
Gemeinde wurden g e m ä s s Untersuchungsanord-
nung vier Probanden befragt. Pro Entwicklungsre-
gel wurden den Probanden drei oder mehr Beispie-
le vorgelegt. M a n kann also davon ausgehen, dass
f ü r das Oberland N = 60, f ü r das Unterland N = 72,
f ü r eine einzelne Gemeinde N = 12 ist.
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Entwick-
lungsregeln und beschreibt, wie oft welche Var ian-
te in welcher Kondi t ion in welcher Ortsmundart
durchschnit t l ich gebraucht w i rd . Die basismund-
artliche Variante ist fett gedruckt. Die beiden Be-
217
griffe Stabi l i tä t und Variabi l i tä t beschreiben in Pro-
zentzahlen den Gebrauch von basismundart l ichen
und nichtbasismundart l ichen Varianten in einer
variablen Entwicklungsregel (vEr).
W i r wiederholen und betonen auch an dieser
Stelle noch einmal, dass sich die Angaben lediglich
auf das untersuchte Korpus beziehen. Das heisst,
dass weder mit Sicherheit alle variablen Entwick-
lungsregeln einer Gemeinde a u f g e f ü h r t sind, noch
alle Einwohner eine Entwicklungsregel in der un-
ten vorgeschriebenen F o r m produzieren. Dies war
lediglich f ü r unsere Probanden der Fa l l .
Tabelle 15: Basismundart-
liche (fett) und nichtbasis-
mundartliche Varianten in
den Entwicklungsregeln
4.3.1.
INVENTAR DER VARIABLEN
ENTWICKLUNGSREGELN
1 DoS Ol 100.0% kurz
'Magen' Ul 94.0 % lang
6.0 % kurz
2 DoS, nbmW Ol 100.0 % kurz
'darlegen' Ul 83.1 % lang
16.9 % kurz
3 D l sW FL 100.0 % lang
'Gras'
4 DlsW, nbmW FL 100.0 % lang
'Stil'
5 Plural mit Umlaut Ol 68.0 % kein
Rösser Umlaut
32.0% Umlaut
Ul 57.8 % kein
Umlaut
42.2 % Umlaut
6 a vor sch Ol, Sb, HSb 100.0 % / £ /
'Asche' E, M , G, R 58.7 % /ae/
39.1 % Isl
2.2 % M
7 ä im Diminutiv Ol, Sb, HSb 100.0 %
'Bächlein' E, M , G, R 73.5 % /3t}/
26.5 % fsl
8 e vor nK Ol 100.0 % /e/
'denken' Ul 0.0 % /e/
9 germ e Ol, Sb, HSb 100.0 % /e/
'Feld' E, M, G, R 86.3 % /ae/
13.7% /£/
10 germ e, nbmW Ol, Sb, HSb 100.0 %
'vorgesehen' E 75.0 % Isl
25.0% /ae/
11 i vor oK FL 71.7 % /e/
'Biss' 28.3 % Iii
218
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
12 i vor oK, nbmW Ol 27.1 % / i /
'Abriss', u.a. 35.2 % /e/
12.8 % 4s/
24.9 % /sj/
Ul 53.0 % /e/
23.5 % / i /
23.5 % / e j /
13 i vor r + Kons Ol 1 OO 0 % lol
'Wirt' Ul 52.3 % / Y . 8 /
33.7 % As/
14.0 % /0/
14 i vor r + Kons, nbmW Ol 97.0 % /»/
'Landwirtschaftsamt' Ul 3.0% /ia/
53.7 %
25.3 % lldl
21.0% M
15 o vor oK FL 86.7 %
'flott' 13.3 % /Ol
16 o vor r + Kons B, T, V 1 on n % /Ol
'Korn' S 87.5 % 10/
12.5 % M
Ul 67.5 % /Ol
c l .y /o Ist/ 1 tu
9.6 % 1X9/
1.0% /0l
17 ö vor nK Ol 100.0 % /»:/
'könnte' Ul 100.0 % lo:f
17a am vor nK Ol 100.0 % lo:/
'Föhn' Ul 62.5 % /CK/
37.5 % lad
18 ö vor r + Kons Ol 100.0 % /oe/
'Körblein' Ul 91.4 % / C E /
8.6 % /ae/
19 u vor oK FL 92.6 % lol
'Fuchs' 7.4 % IvJ
20 u vor oK, nbmW Ol, E, M, R 100.0% lol
'Einfluss' G, Sb 62.3 % lol
37.7 % lul
21 u vor r + Kons Ol 66.6 % lol
'Burg' E ,M,G , R, HSb 33.4% IvJ
Sb 92.0 % / O B /
8.0 % /Ü/
22 ü vor oK FL 74.2 % lol
'Füchse' 25.8 %
23 ü vor oK, nbmW Ol 84.5 % lol
'geäussert' 15.5 % ¥
Ul 58.5 % lol
41.5% ¥
24 ü vor r + Kons Ol 100.0 % lol
Bürger' Ul 97.2 % IIBI
2.8 % lol
25 d vor oK FL 100.0 % 10:1
'Adern'
26 ä vor nK Ol 68.7 % lo:l
'Samen' 31.3 % la-.l
Ul 70.8 % 15:, Öl
20.8 % lel
6.3 % /a:/
2.1 % /de:/
27 vor nK Ol, Sb, HSb 100.0 % IE:/
'käme' E, M, G, R 62.5 % 18:/
16.7 % /ae:/
20.8 % /e:/
28 d vor nK Ol 100.0 % /O:/
'Bohnen' Ul 90.0 % /5:, 5 /
10.0 % lol
29 d vor nK, nbmW Ol 100.0 % lo:l
'Kommission' Ul 56.0 % 15:1
44.0 % /o:l
30 ei vor oK Ol 18.8 % /ej/
'Leiter' 74.9 % /ae:/
6.3 % /a:/
Ul 2.0 % /ej/
64.6 % /O:/
31.4% /a: /
2.0 % /33:/
30a ei vor o K 1 1 0 Ol 67.0 % /ej /
'Fleisch' 32.3 % /33:/
0.7 % /a:/
Ul 96.8 % /ej /
1.6% /33:/
0.5 % /a:/
1.1 % lo:/
219
31 ei vor oK, Plural Ol 93.8 % /ae:/
'Seile' 6.2 % /ej/
E, M 41.7 % /33:/
41.7 % /Sj/
16.6 % /a:/
G, R, Sb, HSb 2.1 % /33/
23.9 % /ej/
63.4 % /C9:/
10.6 % /O:/
32 ei vor oK, Komp, Ol 69.0 % /ej/
nbmW 31.0 % /ae:/
'Eigenheim' Ul 50.5 % /ej/
44.5 % /&/
5.0 % /a:, 33:/
33 ei vor oK, nbmW Ol 87.1 % /Sj /
'Leitblatt' 12.9 % /ae:/
Ul 89.5 % /ei/
10.5 % /o:/
34 ei vor oK, hd Suffix, Ol 65.8 % /sj /
nbmW 34.2 % lel
'Wahrheit' Ul 76.7 % /s j /
23.3 % /e/
35 ei vor nK Ol 100.0 % /ae/
'Stein' Ul 88.3 % /Ö:, 5/
8.3 % /ej/
3.4 % /33:/
36 ei vor nK, Plural Ol 100.0% /ae:/
'Steine' Ul 100.0 % A B /
37 ei vor nK, nbmW FL 91.7% /ej/
'Einheiten' 8.3 % /ae, 5/
38 ou vor oK FL 81.6% Mon
'Auge' 18.4% Diph
39 öu vor oK FL 100.0 % /&'./
'Freude'
40 ie vor nK Ol 100.0 % / » /
'Riemen' Ul 78.3 % /e:/
21.7% Ae/
41 uo vor nK Ol 100.0 % /o:e/
'Blume' Ul 66.3 % /Ö:/
33.7 % /ö:9/
42 «e vor nK Ol 100.0%
'grün' Ul 87.5 % /de:/
12.5 % /y.-a/
43 Restitution « Ol 93.5 % *
'Fenster' 6.5 % /n/
Ul 53.0 % *
47.0 % /n/
44 Restitution r Ol 87.5 % *
'nur' 12.5% /r/
Ul 66.6 % *
33.4 % A7
45 r, nbmW FL 45.7 % *
'mehrfach' 54.3 % Irl
46 Restitution x FL 77.5 % *
'sich' 22.5 %
47 nbmW FL 50.9 % *
'grundsätzlich' 49.1 % nu
48 d in -nd, -/d- Ol 100.0% /d/
'Wald' Ul 57.0 % *
43.0 % /d/
49 d in -zzd, -Id-, nbmW Ol 100.0% /d/
'Waldweg' Ul 50.0 % *
50.0 % /d/
50 s FL 100.0% Iii
'Eis'
51 k im Anlaut FL 100.0 % nu
'Kasten'
52 k nach nK FL 100.0% nu
'dunkel'
53 ch intervokalisch FL 100.0 % nu
'machen'
* = fällt aus
220
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
4.3.2.
BASISMUNDARTLICH - NICHTBASISMUND-
ARTLICH
In basismundart l ichen W ö r t e r n werden mehr ba-
sismundartliche Varianten gebraucht (80 %) als
in nichtbasismundart l ichen W ö r t e r n (59 %). Die
Mundartsprecher var i ieren bei nichtbasismundart-
lichen W ö r t e r n h ä u f i g e r als bei den basismundart-
lichen. Im Unterland vari ieren die Mundartspre-
cher bei nichtbasismundart l ichen W ö r t e r n häu f i -
ger als i m Oberland. Dies trifft aber auch bei basis-
mundart l ichen W ö r t e r n zu.
Die Stabi l i tä t von basismundart l ichen Lauten i n
nichtbasismundartl ichen W ö r t e r n variiert stark.
Das Spektrum liegt zwischen 100 Prozent basis-
mundart l icher und 100 Prozent nichtbasismund-
artlicher Realisation eines Lautes. Die Resultate i n
Tabelle 17 sind uneinheit l ich und a b h ä n g i g von
den W ö r t e r n . W i r vermuten, dass die basismund-
artliche Realisation eines Lautes in einem nichtba-
sismundartl ichen Wort von verschiedenen Fakto-
Tabelle 16: Stabilität in
bmW - nbmW,
N/Gemeinde = 12
Tabelle 17: Stabilität der
Laute in nichtbasismund-
artlichen Wörtern in %,
N/Gemeinde = 12
B T V S E M G R Sb HSb Ol Ul FL
bmW(%) 88 87 86 85 79 73 73 69 74 74 86 73 80
nbmW(%) 67 62 65 63 54 62 52 55 53 46 64 54 59
Er Betrifft Beispiel B T V S E M G R Sb HSb
2 DoS, nbmW 'darlegen' 100 100 100 100 100 100 100 66 60 73
4 DlsW, nbmW 'Stil' 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
10 germ e, nbmW 'vorgesehen' 100 100 100 100 75 100 100 100 100 100
12 ivoroK, nbmW 'Abriss' 36 31 36 38 55 57 50 42 33 23
14 i vor r + Kons, nbmW 'Landwirtschaftsamt' 100 100 100 88 63 57 63 63 75 63
20 u vor oK, nbmW 'Einfluss' 100 100 100 100 100 100 50 100 100 75
23 ü vor oK, nbmW 'geäussert' 100 88 62 88 66 86 47 62 62 28
29 ö vor nK nbmW 'Kommission' 100 100 100 100 37 37 56 19 87 100
32 ei im Komp, nbmW 'Eigenheim' 21 37 47 19 0 19 0 93 87 68
33 eivoroK, nbmW 'Leitblatt' 21 11 12 7 14 20 13 12 4 0
34 ei vor oK, hd Suffix, nbmW 'Wahrheit' 56 12 50 19 12 6 37 35 29 21
37 ei vor nK, nbmW 'Einheiten' 0 25 33 0 0 25 0 0 0 0
45 Restitution r, nbmW 'mehrfach' 66 25 0 66 100 100 100 0 0 0
47 Restitution x, nbmW 'grundsätzlich' 50 50 75 50 25 50 50 66 50 25
49 d in-nd,-ld-, nbmW 'Waldweg' 100 100 100 100 75 50 25 25 50 75
221
ren a b h ä n g t . Z u diesen Faktoren k ö n n e n neben
mög l i chen anderen folgende g e h ö r e n : Die Grösse
der Sprachgemeinschaft, die eine Neuerung be-
nutzt; das «Alter» eines nichtbasismundart l ichen
Wortes; die N ä h e zu anderen Neuerungen.
Nichtbasismundart l iche Wörter , deren Laute sel-
ten basismundart l ich realisiert werden, s ind oft
sehr « junge» Neuerungen (Leitblatt).
Be i den nichtbasismundart l ichen W ö r t e r n stellt
sich die Frage nach der Fäh igke i t der Mundart ,
fremde Lexeme aufzunehmen und anzupassen.
W i r unterscheiden nichtbasismundartl iche W ö r t e r
mit mundartkonformer Morphologie (z .B. Eigen-
heim) und nichtbasismundartl iche W ö r t e r mit
mundartf remder Morphologie (z .B. Schwierigkeit).
Die grosse Zah l an hochdeutschen Neuerungen i n
der Phonetik ist vor al lem in Zusammenhang mit
der Lexik und Morphologie zu sehen. Hochdeut-
sche W ö r t e r mit mundar tkonformer Morphologie
werden phonetisch angepasst. Bei der Ü b e r n a h m e
von hochdeutschen W ö r t e r n mit mundar t f remder
Morphologie erfolgt zum g rös s t en Teil keine vol l -
s t änd ige Anpassung an die Ortsmundarten Liech-
tensteins. Als Beispiel seien hier die hochdeutschen
Suffixe -heit oder -keit genannt, die ü b e r den Im-
port standarddeutscher W ö r t e r immer h ä u f i g e r
Verbreitung finden und das mda. native - i (/dymi/,
D ü m m i <Dummheit>), das o r ig inä r zur Suff ixbi l -
dung aus Adjekt iven dient, immer mehr ver-
d r ä n g e n .
Z u beachten ist hier der interessante Fa l l des
nichtbasismundart l ichen Komposi tums (Eigen-
heim). Dieses Komposi tum, bestehend aus zwei ba-
sismundart l ichen W ö r t e r n /as:gq/ (Ol), / ä : g q / (Ul),
<eigen> und /hse:m/ (Ol), /hä~ :m/ (Ul) <heim>, ist ein
nichtbasismundartl iches Wort. W ä h r e n d jeder Tei l
f ü r sich wenig Neigung zur Varia t ion zeigt, s ind die
Laute in den Komposi ta stark variabel . 39,1 Pro-
zent aller Probanden haben das mhd . ei nichtbasis-
mundar t l ich produziert .
Die Untersuchung Banzer 1990 zeigt, dass eine
Aussage zur A n z a h l der nichtbasismundart l ichen
W ö r t e r in den Ortsmundarten nicht ohne weiteres
generalisiert werden kann. Vor al lem das Alter, das
G e s p r ä c h s t h e m a und der Öffen t l i chke i t sgrad s ind
ausschlaggebend f ü r den Gebrauch von nichtbasis-
mundart l ichen W ö r t e r n .
Die Untersuchung zum Wandel des Lexikons der
Mundar ten des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein erfolgt
anhand eines eigens erhobenen Korpus . Hierbei
wurden freie G e s p r ä c h e auf Tonband aufgenom-
men und transkribiert . Die Probandenwahl erfolgte
mit gewissen E i n s c h r ä n k u n g e n nach dem Zu-
fal lspr inzip. Dadurch ergaben sich acht Texte. «Ein
Text besteht aus durchschnit t l ich 513 W ö r t e r n (N).
Das entspricht einer G e s p r ä c h s d a u e r von etwa fünf
Minuten. ... Die Texte umfassen insgesamt 4105
Wörter , davon g e h ö r e n 403 oder 9,8 Prozent nicht
zur Basismundart . Die Texte 1 bis 8 zeigen signif i-
kante Unterschiede i n der A n z a h l der basismund-
artl ichen W ö r t e r » (Banzer 1990, S. 351). Wenn hier
ein Mit te l von rund 10 Prozent nichtbasismundart-
licher W ö r t e r i m Alltagsgebrauch angenommen
w i r d , so muss m a n sich bewusst sein, dass in den
Lexik FL
Tabelle 18: Varianten und
Lexik, N = 4105 Wörter
nbmW
10%
bma fremd
produziert produziert
59 % 41 %
bma fremd
produziert produziert
80% 20%
222
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
dort untersuchten Texten 1,5 Prozent bis 21,2 Pro-
zent nichtbasismundartl iche W ö r t e r des Gesamt-
textes ermittelt wurden.
4.3.3.
TRIESENBERG
Keine Ergebnisse resultieren aus der Untersuchung
f ü r die Walsergemeinde Triesenberg. Bereits nach
den ersten zwei A u f n a h m e n zeigte sich, dass der
b e n ü t z t e Fragebogen nicht die e r w ü n s c h t e n Resul-
tate erbrachte. Aus teilnehmenden Beobachtungen
ist uns bekannt, dass einige E inwohner Triesen-
bergs ihren Walserdialekt fast bis zur G ä n z e aufge-
ben, wenn sie mit mehreren E inwohnern einer an-
deren Gemeinde a u s w ä r t s kommuniz ieren . Sie
sprechen dann meist eine den o b e r l ä n d i s c h e n Orts-
mundarten angepasste Varie tä t , die sie aber so-
gleich wieder aufgeben, wenn sie z u r ü c k in ihre
Heimatgemeinde kommen. So k ö n n e n Pendler an
ihrem Arbeitsort völlig anders als zu Hause spre-
chen. Dieser Wechsel der Var ie t ä t en , der vor al lem
bei der j ü n g e r e n Generation h ä u f i g zu beobachten
ist, h ä n g t von der G e s p r ä c h s s i t u a t i o n ab, die
h a u p t s ä c h l i c h bestimmt ist durch die G e s p r ä c h s -
teilnehmer, den Ort, die soziale Einbindung und
mög l i che rwe i se auch stark durch die Bewertung
des eigenen Idioms. Toni Banzer konnte in seiner
Arbei t die Abhäng igke i t der Sprachproduktion vom
Faktor Alter f ü r Triesenberg belegen (Banzer Toni
1990/91, S. 59). U m den Sprachwandel in A b h ä n -
Tabelle 19: Stabilität der
nasalierten Vokale in %,
N/Gemeinde = 12
gigkeit vom Pendeln zum Arbei tsort beschreiben
zu k ö n n e n , m ü s s t e ein anderes Untersuchungsin-
strumentarium angewandt werden als die von uns
verwendeten F r a g e b ö g e n . Direkte teilnehmende
Beobachtungen und Tonbandaufnahmen von Ge-
s p r ä c h e n am Arbeitsort k ö n n t e n hier unter U m -
s t ä n d e n weiterhelfen.
4.3.4.
DIE NASALIERUNG IM UNTERLAND
Nach Jutz ist die Nasal ierung i m Unterland auf be-
stimmte Laute b e s c h r ä n k t und i m Oberland nur
mehr als Individualismus vorhanden, obwohl die
Nasal ierung auch hier e inmal gegolten hat. Vetsch
schrieb 1910 bezügl ich der Nasal ierung i m Appen-
zell : «Auf dem ganzen Gebiete w i r d von den ä l t e ren
Leuten noch jeder Vokal in nasaler Umgebung na-
saliert gesprochen. Die Nasal ierung ist also sowohl
progressiv als regressiv und betrifft Kürze und Län-
ge; auch wo der Nasal i m Auslaut geschwunden ist,
ist die Nasal ierung meist erhalten. Die j ü n g e r e Ge-
neration jedoch hat ausser i n I (R.B.: Innerrhoden)
die Nasal ierung in weitem Umfange aufgegeben,
doch mit starken individuellen S c h w a n k u n g e n »
(Vetsch 1910, S. 104). Diese Feststellung von Vetsch
aus dem Jahre 1910 f ü r die Appenzel ler M u n d -
arten gilt teilweise auch f ü r das Liechtensteiner
Unter land. Wenn Jutz (1925) g r u n d s ä t z l i c h fü r alle
Vokale in nasaler Umgebung Nasal ierung mit
unterschiedlichen S t ä r k e g r a d e n erhoben hat, so
Er Betrifft E M G R Sb HS Ul
8 e vor nK 0 0 0 0 0 0 0.0
17 ö vor nK 66 75 84 84 75 66 75.0
26 d vor nK 93 81 87 68 87 93 84.8
27 ce vor nK 60 0 10 0 100 100 45.0
28 6 vor nK 85 90 95 90 90 90 90.0
35 ei vor nK 83 79 74 66 76 84 77.0
36 ei vor nK 100 100 100 100 100 100 100.0
40 ie vor nK 100 92 73 55 75 75 78.3
41 uo vor nK 75 62 62 62 75 62 66.3
42 üe vor nK 75 62 100 87 87 75 81.0
223
waren bereits bei unseren A u f n a h m e n zur Basis-
mundart grosse individuelle Unterschiede vorhan-
den, was uns schliesslich auch veranlasst hat, die
Nasalierung in den Erhebungen zu den Ortsmund-
arten mittels eines besonderen Teils i m Fragebo-
gen gesondert zu betrachten.
Die d ie sbezüg l i chen Auswertungen haben erge-
ben, dass heute in frappanter Konsequenz bei allen
Probanden sowohl an-, i n - und auch auslautend
nur mehr die kurzen und langen o- und ö- Laute
nasaliert werden. Eine Ausnahme macht hier das
-o- i m Personennamen Anton, das i n dieser stand-
ardnahen F o r m nicht nasaliert w i rd . In der mund-
artlichen A b k ü r z u n g Tone, Toni hingegen w i r d das
-o- klar mit nasaler F ä r b u n g gesprochen. Dies be-
legt die Auswertungstabelle der Ortsmundarten des
Unterlandes i m Anhang .
Wie Tabelle 22 zeigt, erhielten w i r andere Er -
gebnisse, als w i r die Laute in nasaler Stellung nicht
gesondert, sondern i m Rahmen der allgemeinen
Untersuchung erhoben haben. Hier haben wi r her-
ausgefunden, dass auch andere Laute ausser den
-o- und -ö- Lauten noch nasaliert gesprochen wer-
den. Zudem hat sich hier ergeben, dass auch bei
den -o- und -ö- Lauten die nasalierte F o r m nicht
durchwegs gebraucht wi rd . Wieso diese Differen-
zen?
Unserer Ansicht nach gibt es h i e r f ü r zwei
F laup tg ründe . Bei der Erhebung wurden unter-
schiedlich Lexeme gebraucht. Wahrscheinl ich un-
terscheiden sich diese Lexeme im Leve l ing . 1 1 1
Die Aufnahme der Neuerungen ins Lexikon
scheint in den einen Fäl len bereits abgeschlossen
zu sein, w ä h r e n d d e s s e n die anderen noch im Sta-
d ium der Variabi l i tä t stehen. Zudem ist auch
durchaus mögl ich, dass durch die Untersuchungs-
anlage, in der die Nasalierung in einem gesonder-
ten Block zusammengefasst wurde, Beeinflussun-
gen bei der Sprachproduktion entstanden.
4.3.5.
DIE KONSONANTEN
Lediglich 11 von 53 Entwicklungsregeln beschrei-
ben die Entwicklung der mhd. Konsonanten i n den
Ortsmundarten des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein.
Auffa l lend ist die starke Resistenz der Konso-
nanten gegen Neuerungen. Nur in sehr wenigen
Fäl len konnten wi r hier Unterschiede zur Basis-
mundar t feststellen. Diesen haftet unserer Ansicht
nach sehr stark der Beigeschmack der Innovation
an, also der subjektiven Variable. Dies scheint bei
/ s ix / «sich», /fenjter/ «Fenster» u.a. so zu sein.
4.4.
NEUERUNGEN UND INTERFERENZEN
In den variablen Entsprechungsregeln der Orts-
mundarten werden als Varianten zu den basis-
mundart l ichen Lauten Neuerungen gebraucht. Die
nachfolgende Tabelle listet die Varianten auf, die
einen basismundart l ichen Laut ersetzen. Woher
stammen die Neuerungen? Verschiedene Möglich-
keiten bieten sich an:
a) Ausgleich innerhalb der liechtensteinischen
Ortsmundarten
b) Neuerungen aus benachbarten Dialekten
c) Neuerungen aus der Standardsprache
d) Koinzidente Interferenz. Eine Neuerung oder
auch Auswei tung oder Veral lgemeinerung kann
gleichzeitig ein Laut sowohl einer fremden
Mundar t als auch der Standardsprache sein. W i r
sprechen in diesem Fa l l von einer koinzidenten
Neuerung.
e) « a u t o c h t h o n e » Innovationen, die i m eigenen
System entstehen.
Als G e b e r v a r i e t ä t e n werden s ä m t ü c h e Gemeinden
Liechtensteins, das Ober- und das Unterland, die
benachbarten Kantone der Schweiz, St. Gallen (SG)
und G r a u b ü n d e n (GR), das ö s t e r r e i ch i s che Bundes-
land Vorar lberg (Vrlbg) und das Standarddeutsche
(Lid) untersucht.
224
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Wenn hier von G e b e r v a r i e t ä t gesprochen w i r d ,
k ö n n t e der Eindruck entstehen, dass durch die
Neuerungen Laute in die Ortsmundarten aufge-
nommen werden, die vorher nicht vorhanden wa-
ren. Dies ist eindeutig nicht der Fa l l . Keine neue
Variable ist nicht gleichzeitig i n einer anderen l i n -
guistischen Umgebung bereits vorhanden. Es han-
delt sich i m weitesten S inn u m Veral lgemeinerun-
gen ( « A n w e n d u n g der Regel in mehr Kontex ten»)
oder u m Ausweitungen ( « A n w e n d u n g der gleichen
M e r k m a l s v e r ä n d e r u n g auf mehr Ausgangselemen-
te») (Haas 1978, S. 80).
4.4.1.
NEUERUNGEN IN ALLEN ORTSMUNDARTEN
14 Entwicklungsregeln werden mit den beschrie-
benen Varianten i n allen Ortsmundarten variabel
gebraucht. Besonders stark von Neuerungen be-
troffen sind die Entwicklungen aus dem mhd. ei,
dies betrifft die Entwicklungsregeln 30 -37 . Grund
h i e r f ü r d ü r f t e sein, dass die aus dem mhd . ei ent-
standenen Monophthonge p r i m ä r e s Unterschei-
dungsmerkmal zu den benachbarten Dialekten der
Ostschweiz sind. Mundar t f remde Lautungen kom-
men vor al lem in Neologismen vor, in jenen lexika-
lischen Neubildungen, die meist aus dem Hoch-
deutschen in die Liechtensteinische Mundar t auf-
genommen werden. Dass in diesem Fa l l die dipht-
hongische Lautung ei f ü r das Hochdeutsche und
die benachbarten Dialekte in vielen Fäl len gleicher-
massen gilt, w ä h r e n d d e s s e n die Ortsmundarten
Liechtensteins in den entsprechenden Kondit ionen
meist einen Monophthong haben, f ö r d e r t derartige
Neuerungen.
Er 5
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 11
Basismundart:
Variante h
mögliche Gebervarietät:
Er 12
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 15
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät: Er 19
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 22
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 23
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 33
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 34
nbmW
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 38
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Umlaut
kein Umlaut, z.B. /ros/
Umlaut, z.B. /rceser/
Verallgemeinerung
i vor oK
/e/, z.B. /bes/
IM, z.B. /bis/
SG, GR, Vlbg, Hd, Tb
i vor oK, nbmW
lel, z.B. /*abres/
IU, z.B. /abris/
Hd
o vor oK
lol, z.B. /froj/
lol, z.B. /froj/
B, Verallgemeinerung
der Senkung von mhd. o
u vor oK
lol, z.B. /foks/
IvJ, z.B. /fuks/
SG, GR, Vlbg, Hd, Tb
« vor oK
lol, z.B. /f0ks/
lyl, z.B. /fyks/
SG, GR, Vlbg, Hd, Tb
ü vor oK, nbmW
lol, z.B. /*k0S9rat/
lyl, z.B. /kyseret/
Hd
ei vor oK, nbmW
Ist:/, z.B. /*l33:tblat/
/ej/, z.B. /lejtblat/
Hd
ei vor oK, hd Suffix,
lal, z.B. /*wo:rat/
/ej/, z.B. /W0:hejt/
SG, GR, Hd
ou vor oK
Mon, z.B /o:g/
Diph, z.B. /aug/
GR, Hd
225
Er 43 Restitution n
Basismundart: fällt aus, z.B. /fejtsr/
Variante 1: /n/, z.B. /fenjter/
mögliche Gebervarietät: Hd
Er 44 Restitution r
Basismundart: fällt aus, z.B. /no/
Variante 1: /r/, z.B. /nur/
mögliche Gebervarietät: Hd
Er 46 Restitution x
Basismundart: fällt aus, z.B. /si /
Variante 1: /x/, z.B. /six/
mögliche Gebervarietät: Hd
Er 47 x, nbmW
Basismundart: fällt aus, z.B.
/*grunzetsli/
Variante 1: /x/, z.B. /grunzetslix/
mögliche Gebervarietät: Hd
4.4.2.
NEUERUNGEN IN DEN ORTSMUNDARTEN DES
OBERLANDES
Acht Entwicklungsregeln werden mit den beschrie-
benen Varianten in allen Ortsmundarten des Ober-
lands variabel gebraucht. Wie f ü r das ganze Land
kann auch f ü r das Oberland festgestellt werden,
dass die Entwicklungen aus dem mhd. ei stark
vari ieren. Es fällt auf, dass das Unterland f ü r das
Oberland nur in einem Fa l l mögl iche G e b e r v a r i e t ä t
ist. Die Neuerungen stammen ü b e r w i e g e n d aus
dem Hochdeutschen. Wie auf den Seiten 231 ff. ge-
zeigt, s ind die Verhä l tn i s se i m Unterland völlig ent-
gegengesetzt.
Er 21 u vor r + Kons
Basismundart: /o/, z.B. /borg/
Variante 1: /u/, z.B. /bürg/
m f\cf Ii f*r>o ( -r» i ~ » 7 * S yi Ö+Q t • I l l U g U C l l t ! V J C J J C I V d r i c L a L . C C H R U f l
Er 24 ü vor r + Kons
Basismundart: /0, ce/, z.B. / b 0 r g s r /
Variante 1: / y / , z.B. / b y r g a r /
I I l U g l l L l l t ; O B J J ü r V a l T t i l a l . er r .R H H
Er 26 d vor nK
Basismundart: /o:/, z.B. /zo:mB/, /o:met/
Variante 1: /a:/, z.B. /za:me/
uioguciie vjejjervarieiai. T h c.u H H
Variante 2: /e/, z.B. /emd/
mögliche Gebervarietät: Hd
Er 30 ei vor oK
DdSIMIl uiiudn. /ce./, Z . D . /ice.i9re/
Variante 1: /cj/, z.B. /lejtare/
mögliche Gebervarietät: SG, GR, Hd
Variante 2: /a/, z.B. /la:tere/
mögliche Gebervarietät: E, M
Er 30a ei vor oK, neu
Basismundart: /ej/, Z .B. /flejj/
Variante 1: /ae:/, z.B. /flae.-J/
mögliche Gebervarietät: FL, SG, GR, Hd
Er 31 ei vor oK
Basismundart: /ae:/, z.B. /zae:y
Variante 1: /ej/, z.B. /zejl/
mögliche Gebervarietät: SG, GR, Hd, Tb
Er 32 ei vor oK, Komp, nbmW
Basismundart: /ae:/, z.B. /*cE:g8ha3:m/
Variante 1: /ej/, z.B. /ejgehejm/
mögliche Gebervarietät: SG, GR, Hd, Tb
Er 37 ei vor nK, nbmW
Basismundart: /ae:/, Z .B. /*33:hejt/
Variante 1: /ej/, z.B. /ejnhejt/
mögliche Gebervarietät: SG, GR, Hd
226
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
4.4.2.1.
N E U E R U N G E N IN D E R O R T S M U N D A R T V O N
S C H A A N
Schaan grenzt an das Unterland. A u f den Seiten
196 ff. haben w i r die dialektgeographischen Unter-
schiede beschrieben. Neben der unten genannten
Entwicklungsregel, mit der sich die Sprecher von
Schaan von den ü b r i g e n Gemeinden des Oberlan-
des unterscheiden, haben w i r nach der Untersu-
chung noch weitere Variat ionen beobachtet. So
sprechen die Schaaner Note [note] mit offenem,
kurzem o wie i m Unterland. Jutz schreibt, dass
sich in Schaan in nasaler Umgebung noch oft nasa-
lierte Vokale neben rein oral gesprochenen wahr-
nehmen lassen. (Jutz 1925, S. 148) W i r stellen fest,
dass i n Schaan die Nasal ierung ganz aufgegeben
wurde. Allerdings sind wie i n Note gezeigt, die offe-
nen, nicht nasalierten Qua l i t ä ten vereinzelt noch
anzutreffen. Wie Eugen Gabr ie l i n seiner Arbei t
(Gabriel 1985, S. 127) sagt, wurden f r ü h e r in
Schaan noch Laute (gleich wie i m Unterland) ge-
braucht, wie sie heute nicht mehr übl ich sind. W i r
k ö n n e n diese Aussage bes t ä t i gen . M a n spricht i n
Schaan heute [o] vor r + Konsonant statt f r ü h e r [a]
wie i m Unterland, z .B . [korn] statt [karn] Korn.
Die folgende Neuerung kommt nur i n der Orts-
mundart von Schaan vor. Zudem sind hier auch
alle Neuerungen der Ortsmundarten des Oberlan-
des belegt.
Er 16 o vor r + Kons 1 1 2
Basismundart: /o/, z.B. /ihiworge/
Variante 1: /a/, z.B. /ihiworge/
mögliche Gebervarietät: ?
4.4.3.
NEUERUNGEN IN DEN ORTSMUNDARTEN DES
UNTERLANDES
18 Entwicklungsregeln werden mit den beschriebe-
nen Varianten in allen Ortsmundarten des Unter-
landes var iabel gebraucht. In 16 Fäl len ist das
Oberland mögl i che Gebe rva r i e t ä t . Nur zwei Ent-
wicklungsregeln betreffen einen Konsonanten. Das
Unter land ist f ü r das Oberland i n einem Fa l l mög-
liche Gebe rva r i e t ä t . Das Gebe r -Nehmer -Verhä l tn i s
ist einseitig, das Unter land gleicht sich an das
Oberland an. Als Grund h i e r f ü r sehen w i r die wirt-
schaftliche Entwicklung in Liechtenstein, zumal
weder die sprachliche N ä h e zu den Dialekten der
schweizerischen und vorarlbergischen Nachbar-
schaft noch die g r ö s s e r e Unterscheidung vom
Hochdeutschen i m Vergleich mit den Mundar ten
des Oberlandes als E r k l ä r u n g dienen kann. Das
wir tschaft l ich Zentrum Liechtensteins befindet sich
i n Vaduz und Schaan. Viele Arbe i t s t ä t ige aus dem
Unter land pendeln i n dieses Zentrum. Entspre-
chende Zahlen f inden sich in der Tabelle 13 auf
Seite 218. W i r konnten beobachten, dass die Spre-
cher des Unterlandes, ü b r i g e n s wie die Triesenber-
ger, sich in ihrer Sprache stark dem O b e r l ä n d e r an-
passen, wenn sie abseits der Sprachgemeinschaft
der Ortsmundart mit O b e r l ä n d e r n sprechen. Offen-
sichtl ich verursacht dieses Code-switching zumin-
dest teilweise den Sprachwandel der Ortsmundar-
ten. Elemente, die i m Berufsleben an die benach-
barten Ortsmundarten angepasst werden, s ind
W a n d e l v o r g ä n g e n besonders ausgesetzt.
Diese Neuerungen gelten i n allen Gemeinden
des Unterlandes. Zudem sind hier auch die Neue-
rungen aller Ortsmundarten belegt.
Er 1
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
lang / kurz
lang, z.B. /ma:gB/
kurz, z.B. /mage/
Ol
Er 8
Basismundart:
e vor nK
/e/, z.B. /deckt?/
227
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 13
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 14
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 17a
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 18
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 24
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 26
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 28
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 30
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
/e/, z .B. /denke/
Ol, SG, GR, Hd
i vor r + Kons
/xa/, Z . B . /w*art/
/ia/, z .B. /wiart/
Verallgemeinerung
/&/, z .B . /wort/
Ol
z vor r + Kons, nbmW
/*a/, z .B.
/*landwYartjaftsamt/
/0:, 0/, z.B.
/Iandw0rtjaftsamt/
Ol, SG, GR
ce vor nK
/ce:/, z.B. /pfce:/
/0:/, z.B. /pfo:/
Ol, SG, GR
ö vor r + Kons
/ae/, z.B. /khaerbli/
/ce/, z.B. /khcerbli/
Ol, SG, GR
ü vor r +Kons
/Y.8/, z.B. /biarger/
/0/, z.B. /borgar/
Ol
d vor nK
/5:/, z . B . /zö.me/,
/5:mat/
/a:/, z.B. /za:me/
Tb, SG, GR, Hd
/e/, z.B. /emd/
Hd
d vor nK
/5:/, z . B . /bö:ne/
/o:/, z.B. /boma/
Ol
ei vor oK
fo-J, /a:/, z.B. (E, M)
/la:tare/, (G, R, Sb)
/b:tare/
/ej/, z .B. /lejtare/
SG, GR, Hd
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 31
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 32
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 35
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 40
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 41
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 42
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 48
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 49
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
/ae:/, z .B. /las:tarE/
Ol
ei vor oK
/ae:/, /ce:/, z .B. (E, M)
/Z33:l/, (G, R, Sb) /zce:l/
/ej / , z .B. / ze j l /
SG, GR, Hd
/ O : / , Z . B . /Z0:1/
Verallgemeinerung von
mhd. ei > [o:]
ei vor oK, Komp, nbmW
/5:/, z .B. /*5:gahö:m/
/e j / , z .B . /ejgahejm/
SG, GR, Hd
/a?:/, z .B . /ae:gaha3:m/
Ol
ei vor nK
/Ö:, 57, Z . B . /ft5:/
/e j / , z.B. /Jtej/
SG, GR, Hd
/SB-J, Z . B . //tas.-/
Ol
ie vor nK
/§ : / , z .B. /re:me/
/ja/, z .B . /name/
Ol, SG, GR, Vlbg
uo vor nK
lö-.l, z .B. /blö:mB/
Diph, z .B . /blname/
Ol, SG, GR, Vlbg
üe vor nK
/ce:/, z.B. /grtie:/
/*:a/, z .B. /grx:a/
Ol
c? in -nd, -Id-
fällt aus, z.B. /wa:l/
/d/, z.B. /wa:ld/
Ol, Hd
d in -nd, -Id-, nbmW
fällt aus, z.B./*wa:lwe:g/
/d/, z .B. /waldwe:g/
Ol, Hd
228
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
4.4.3.1.
N E U E R U N G E N IN D E N O R T S M U N D A R T E N V O N
E S C H E N , M A U R E N , G A M P R I N U N D R U G G E L L
4.4.3.2.
N E U E R U N G E N IN D E N O R T S M U N D A R T E N V O N
G A M P R I N U N D H I N T E R S C H E L L E N B E R G
Die folgenden Neuerungen gelten nur in den Orts-
mundarten von Eschen, Mauren , Gampr in und
Ruggell. Zudem sind hier auch die Neuerungen
aller Ortsmundarten und diejenigen des Unter lan-
des belegt.
Er 20
Basismundart:
Variante 1;
mögliche Gebervarietät:
u vor oK, nbmW
/o/, z.B. /*i:flos/
/u/, z.B. /i-.flus/
SG, GR, Hd
4.4.3.3.
N E U E R U N G E N IN D E R O R T S M U N D A R T V O N
E S C H E N
Er 6
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
Er 7
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Vlbg
Er 9
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Er 27
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
Variante 2:
mögliche Gebervarietät:
a vor sch
/&/, z .B. /aslle/, /asjjt/
/e/, z .B. /ejje/
Ol, Sb, HSb, SG, GR,
Vlbg
/e/, z .B . /ejt/
Verallgemeinerung von
mhd. e > [e] vor oraler
Konsonanz
ä im Diminutiv
/se/, z .B. /bsscli/
M, z .B. /becli/
Ol, Sb, HSb, SG, GR,
germ e
33:, z .B. /fa3ld/
e:, Z . B . /feld/
Ol, Sb, HSb, SG, GR,
Vlbg
ae vor nK
§:, z .B . /khe:m/
c:, Z . B . /khe:m/
Ol
33:, Z . B . /k33:m/
Verallgemeinerung von
mhd. ae > [ae:] vor
oraler Konsonanz
Er 10
Basismundart:
Variante 1:
mögliche Gebervarietät:
germ e, nbmW
/33:/, Z .B. /*V0:rkS33:hB/
/e/, z.B. /vo:rksehe/
Ol, Ul, SG, GR, Hd
229
4.5.
DIE SOZIALEN UND SITUATIVEN R E D E -
DETERMINANTEN
Eine Abhäng igke i t der Sprachproduktion i m allge-
meinen und des Lautwandels und der Lautvaria-
tion i m besonderen von extrasprachlichen (ausser
der sprachgeographischen) Rededeterminanten
konnte nicht nachgewiesen werden. Weder die Be-
einflussung der Ortsmundarten durch die Arbei ts-
tät igkei t noch durch das Pendlertum waren durch
unsere Arbei t zu verif izieren. Die d iesbezügl iche
Diskussion folgt unten.
In der Anlage der Untersuchung haben w i r uns
auf die Bearbeitung von zwei Rededeterminanten
b e s c h r ä n k t . Die Ergebnisse waren f ü r uns sehr
ü b e r r a s c h e n d . Die aufgestellten Hypothesen, dass
die Ar t der Arbei t (manuell - nicht manuell) und
Tabelle 20: Laute in bmW
und nbmW des Oberlan-
des, N = 168
das Wegpendeln zum Arbeitsort Einfluss auf die
Sprache der Probanden haben, konnte nicht belegt
werden. Die Tabellen zeigen, dass die Abweichun-
gen zu den l a n d e s ü b l i c h e n Mittelwerten gering
sind. A u c h f ü r das Unterland, das in seinen Orts-
mundarten stark vom Oberland beeinflusst w i r d ,
konnte keine Korrela t ion zwischen der Sprachpro-
duktion und den genannten sozialen und situativen
Faktoren aufgezeigt werden.
4.5.1.
DAS OBERLAND
Die Tabellen 20 bis 23 zeigen zweier lei deutlich.
Erstens ist die A n z a h l der basismundart l ichen Va-
rianten in basismundart l ichen W ö r t e r n entschei-
dend h ö h e r als in nichtbasismundart l ichen Wör -
Gemeinde Qualifikation basismundart. basismundart.
Varianten in bmW
%
Varianten in nbmW
%
Balzers Pendler, manuell 96 53
Balzers Pendler, nicht manuell 94 62
Balzers stationär, manuell 96 62
Balzers stationär, nicht manuell 95 62
Triesen Pendler, manuell 95 70
Triesen Pendler, nicht manuell 95 62
Triesen stationär, manuell 94 38
Triesen stationär, nicht manuell 96 47
Vaduz Pendler, manuell 97 65
Vaduz Pendler, nicht manuell 90 62
Vaduz stationär, manuell 96 82
Vaduz stationär, nicht manuell 93 50
Schaan Pendler, manuell 89 38
Schaan Pendler, nicht manuell 93 50
Schaan stationär, manuell 96 50
Schaan stationär, nicht manuell 94 47
Tabelle 21: Korrelation
Rededeterminanten /
Lautwandel im Oberland,
N = 168
Durchschnitt- Pendler Stationäre Manuell Nicht-Manuell
basismundart. Varianten in bmW
basismundart. Varianten in nbmW
%
94.3
56.3
%
93.6
57.7
%
95.0
54.8
%
94.9
57.3
%
93.8
55.3
230
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
tern. Zweitens konnten w i r nicht nachweisen, dass
die Arbei t s tä t igke i t und das Pendlertum signif ikan-
ten Einfluss auf den Gebrauch der Varianten ha-
ben. Die Abweichungen der einzelnen Gruppen i n
Tabelle 21 (Pendler, S ta t ionäre r , Manuel l , Nicht-
Manuell) vom Durchschnittswert ist mit max ima l
0,7 Prozent f ü r basismundartl iche Varianten und
maximal 1,4 Prozent fü r nichtbasismundartl iche
Varianten verschwindend klein.
Im Fragebogen wurden 168 W ö r t e r erhoben,
wovon 34 nichtbasismundart l ich waren. Die A b -
weichungen vom Durchschnitt (56,3 %) der basis-
mundart l ich produzierten Laute in nichtbasis-
mundart l ichen W ö r t e r n liegen f ü r einzelne Proban-
den maximal 25,7 Prozent ü b e r oder max ima l 18.3
Prozent unter dem Durchschnittswert. Diese Streu-
ung zeigt, dass einzelne Probanden mehr zur Über-
nahme von Neuerungen neigen als andere. Es ist
allerdings nicht gelungen, gewisse sprachliche Ten-
denzen einzelnen sozialen oder situativen Faktoren
zuzuordnen.
W i r wiederholen und betonen auch an dieser
Stelle noch einmal, dass sich die Angaben lediglich
auf das untersuchte Korpus beziehen. Das heisst,
dass weder mit Sicherheit alle variablen Entwick-
lungsregeln einer Gemeinde a u f g e f ü h r t sind, noch
alle Einwohner eine Entwicklungsregel in der von
uns beschriebenen vorgeschriebenen F o r m produ-
zieren. Dies war lediglich f ü r unsere Probanden
der Fa l l . In allen Tabellen handelt es sich immer
um die untersuchten Laute.
4.5.2.
DAS UNTERLAND
Auch fü r das Unterland konnten wi r nicht nachwei-
sen, dass die Arbe i t s t ä t igke i t und das Pendlertum
signifikanten Einfluss auf den Gebrauch der Var i -
anten haben. Wie i m Oberland sind auch i m Unter-
land die Abweichungen der einzelnen Gruppen (in
Tabelle 23) vom Durchschnitt mit max ima l 0,6 Pro-
zent fü r basismundartl iche Varianten und maximal
4,2 Prozent fü r nichtbasismundartl iche Varianten
unbedeutend.
Im Fragebogen wurden 168 W ö r t e r erhoben,
wovon 35 nichtbasismundartl iche W ö r t e r waren.
Eines mehr als i m Oberland, wei l «Wiese» i m U n -
terland nicht basismundart l ich ist. Im Unterland
werden i m Unterschied zum Oberland sowohl in
basismundart l ichen wie auch in nichtbasismund-
artl ichen W ö r t e r n mehr Laute f remd realisiert.
Bringt man diese Aussage in Verbindung mit den
Ergebnissen auf den Seiten 231 f f , wo wi r feststell-
ten, dass fü r die meisten Neuerungen als mögl iche
G e b e r v a r i e t ä t das Oberland vorkommt und den Er-
gebnissen aus Tabelle 15, wo w i r sehen, dass i m
Unterland mehr Entwicklungsregeln vari ieren,
kommen w i r zum Schluss, dass das Potential zu
Neuerungen und damit m ö g l i c h e r w e i s e zum Laut-
wandel i m Unter land deutlich h ö h e r anzusetzen ist
als im Oberland.
Wi r waren ü b e r r a s c h t , dass unsere Untersu-
chung nicht die erwarteten Resultate brachte. A u c h
Toni Banzer hat in seiner Arbeit , die zeitlich paral-
lel zu der vorliegenden entstanden ist, deutlich ge-
zeigt, dass die in unserer Arbe i t untersuchten Re-
dedeterminaten (Pendler, Arbeit) isoliert betrachtet
keinen Einfluss auf die Sprachproduktion der Wals-
ergemeinde Triesenberg haben. «Fas t schon iden-
tisch mit den Ergebnissen f ü r die Variable Berufs-
Ar t fällt die Auswer tung zur Variable Berufs-Ort
aus. Die Triesenberger Mundar t scheint in ihrem
Wandelprozess auch von diesem Faktor nicht be-
einflusst zu werden, wenn er isoliert bewertet
w i r d » (Banzer Toni 1991, S. 73). Offenbar bedin-
gen kleinmaschigere Faktoren das komplizierte Zu-
sammenspiel von Sprache und sozialem Geflecht.
Diese wurden in unsere Analyse offensichtlich
nicht aufgenommen. W i r vermuten, dass die Rede-
determinanten des G e s p r ä c h s p a r t n e r s und des Ge-
s p r ä c h s o r t e s hier nicht h ä t t e n ve rnach l ä s s ig t wer-
den d ü r f e n . In nachfolgenden Beobachtungen ist
uns vor al lem aufgefallen, dass Probanden bei der
Erhebung durch den Fragebogen zu Hause viel n ä -
her an der Basismundart sprachen, als wenn sie
bei ge schä f t l i chen oder gesellschaftlichen An lä s sen
auftraten und so das p r i m ä r e soziale Netzwerk der
Famil ie oder der engen Freunde verliessen. Ganz
besonders konnte dies f ü r die Gemeinden des U n -
231
terlandes und f ü r Triesenberg festgestellt werden.
M a n stelle sich einen Ruggeller (Pendler, Nicht-
Pendler) in folgenden G e s p r ä c h s s i t u a t i o n e n vor.
- G e s p r ä c h s s i t u a t i o n 1:
Ort: Vaduz
G e s p r ä c h s p a r t n e r :
ein Balzner, Vaduzer, Schaaner und Ruggeller
G e s p r ä c h s a r t : Unterhaltung
- Gesp rächs s i t ua t i on 2:
Ort: Ruggell
G e s p r ä c h s p a r t n e r :
vier Ruggeller und ein Schaaner
G e s p r ä c h s a r t : Unterhaltung
Unseren teilnehmenden Beobachtungen zufolge
passt sich der Pendler der G e s p r ä c h s s i t u a t i o n da-
hingehend an, dass er i m ersten Fal l die P r i m ä r -
merkmale seiner Ortsmundart stark an die Orts-
mundarten des Oberlandes anpasst. Dies ist f ü r
den Nicht-Pendler nicht in gleichem Mass der Fa l l ,
we i l er nicht «ge le rn t» hat, sich der f remden Va-
r ie tä t anzupassen. In der zweiten G e s p r ä c h s s i t u a -
ton sprechen sowohl der Pendler als auch der
Nicht-Pendler eine der Basismundart nahe Orts-
mundart .
Die Fäh igke i t des Code-switching b e s c h r ä n k t
sich hier nicht nur auf das Umschalten von Mundar t
und Hochdeutsch. W i r konnten eine a u s g e p r ä g t e
Fäh igke i t der Var ia t ion innerhalb der Mundar t fest-
stellen. Mundartsprecher w ä h l e n zwischen basis-
mundartnaher und basismundartferner Variable je
nach Sprechsituation. Diese Beobachtung wurde
hier nicht weiter untersucht. Der Einfluss der Be-
fragungsart (Fragebogen) wurde besonders deut-
l ich. Zu erwartende Ergebnisse blieben teilweise
aus. Dennoch konnten w i r deutliche Unterschiede
zwischen dem Oberland und dem Unter land auf
den vorangehenden Seiten herausarbeiten.
Tabelle 22: Laute in bmW
und nbmW des Untertan- Gemeinde Qualifikation basismundart. basismundart.
des, N = 168 Varianten in bmW Varianten in nbmW
Ol Ol
lo lo
Eschen Pendler, manuell 75 50
Eschen Pendler, nicht manuell 84 76
Eschen stationär, manuell 86 56
Eschen stationär, nicht manuell 84 44
Mauren Pendler, manuell 74 50
Mauren Pendler, nicht manuell 75 38
Mauren stationär, manuell 69 41
Mauren stationär, nicht manuell 77 65
Gamprin Pendler, manuell 88 24
Gamprin Pendler, nicht manuell 91 24
Gamprin stationär, manuell 90 21
Gamprin stationär, nicht manuell 86 32
Ruggell Pendler, manuell 83 20
Ruggell Pendler, nicht manuell 84 38
Ruggell stationär, manuell 88 70
Ruggell stationär, nicht manuell 84 35
Schellenberg Pendler, manuell 85 18
Schellenberg Pendler, nicht manuell 82 14
Schellenberg stationär, manuell 90 32
Schellenberg stationär, nicht manuell 84 47
Hinterschellenberg Pendler, manuell 87 41
Hinterschellenberg Pendler, nicht manuell 82 23
Hinterschellenberg stationär, manuell 83 41
Hinterschellenberg stationär, nicht manuell 82 32
232
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Tabelle 23: Korrelation
Rededeterminanten /
Lautwandel im Unterland,
N = 168
Tabelle 24: Basismundart-
liche Varianten in Er mit
Konsonanten in %, N/Ge-
meinde = 12
Durchschnitt- Pendler Stationäre Manuell Nicht-Manuell
basismda. Varianten in bmW
basismda. Varianten in nbmW
%
83,0
38,8
%
82,5
34,6
%
83,6
43,0
%
83,2
38,7
%
82,9
39,0
Nr. Betrifft Beispiel B T V s E M G R Sb HSb
43 Restitution n 'Fenster' 87 100 100 87 87 62 50 37 37 50
44 Restitution r 'nur' 100 100 100 50 100 75 50 50 75 50
45 K nbmW 'mehrfach' 66 25 0 66 100 100 100 0 0 0
46 Restitution x 'sich' 75 75 75 100 100 100 50 50 75 75
47 x, nbmW 'grundsätzlich' 50 50 75 50 25 50 50 66 50 25
48 d in -nd, -Id- 'Wald' 100 100 66 100 66 50 80 58 55 33
49 d in -nd, -Id-, nbmW 'Waldweg' 100 100 100 100 75 50 25 25 50 75
50 s 'Eis' 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
51 k im Anlaut 'Kasten' 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
52 k vor nK 'dunkel' 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
53 ch intervokalisch 'machen' 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100
4.6.
SCHLUSS
« E u r o p a s Trottel, die n iemand mehr ve r s t eh t» titelt
Jost auf der M a u r polemisierend in der Weltwoche
vom 2. A p r i l 1992 und stellt fest, dass die Mundar t
in der Schweiz immer mehr Bereiche einnimmt.
«Nur f ü r eine Minderhei t ist es se lbs tve r s t änd l i ch ,
mit Deutschen und Ö s t e r r e i c h e r n sofort in der
Schriftsprache zu sprechen. Die Mehrhei t hä l t m i n -
destens so lange am Dialekt fest, als die Vers t änd i -
gung sichergestellt ist. Die Hochsprache ist unbe-
liebt. Der Unterschied zwischen Deutschschwei-
zern und Deutschen w i r d als bedeutender empfun-
den als zwischen Romands und Franzosen oder
Tessinern und I ta l i enern .»
In dieser Situation war besonders interessant zu
erfahren, in welchem Verhä l tn i s Mundar t und
Hochdeutsch i m F ü r s t e n t u m Liechtenstein zu-
einander stehen. Die Nachbarschaft zweier unter-
schiedlicher Sprachsysteme, das zweistufige
(Mundart - Hochdeutsch) der Schweiz und das
mehrstufige (Mundart - Umgangssprachen - Hoch-
deutsch) in Ös te r re ich , bot f ü r unseren Untersu-
chungsraum eine beachtenswerte Ausgangslage.
M a n h ä t t e annehmen k ö n n e n , dass die Einbindung
i n den ö s t e r r e i c h i s c h e n Wir tschaf ts raum noch zu
Beginn dieses Jahrhunderts Spuren i m Sprach-
sytem Liechtensteins hinterlassen hat. Dies konnte
durch unsere Untersuchung widerlegt werden.
Teilnehmende Beobachtungen, die darauf h inwei-
sen, dass durch liechtensteinische Mundartspre-
cher eine dem Ös te r re ich i sch nahestehende U m -
gangssprache gebraucht wi rd , s ind die grosse Aus-
nahme und b e s c h r ä n k e n sich auf enge Kreise, die
in starkem und dauerndem Kontakt zu Bekannten
i m Nachbar land stehen. Die Sprachsituation Liech-
tensteins ist beinahe deckungsgleich mit derjenigen
der Schweiz. Die Ausnahmen hierzu wurden auf
den Seiten 174 f. dargestellt. Der Begriff der « m e -
dialen Diglossie» (man spricht Mundar t und
schreibt Hochdeutsch) ist als Faustregel auch auf
233
Liechtenstein anwendbar. Erstmals konnte der
Sprachgebrauch in Liechtenstein i n dieser Aus-
führ l ichke i t dokumentiert werden. Die in der Aus-
gangslage der Arbei t angestrebten Ziele wurden
erreicht. Die Vorherrschaft der Mundar t in fast
allen m ü n d l i c h e n Kommunikationssi tuat ionen und
die grosse Bereitschaft der Mundartsprecher, auf
Standarddeutsch umzuschalten, wenn sie merken,
dass der G e s p r ä c h s p a r t n e r V e r s t ä n d n i s s c h w i e r i g -
keiten hat, sind wichtige Merkmale der Sprachsi-
tuation i m F ü r s t e n t u m Liechtenstein.
Besonders zeitaufwendig und arbeitsintensiv
war die Erarbei tung der Grundlagen zur Beschrei-
bung der Basismundart . Die Interviews mit den Ge-
w ä h r s p e r s o n e n nahmen jeweils einen halben Tag
in Anspruch . Es muss hier aber auch e r w ä h n t wer-
den, dass diese Aufnahmen zu den wohltuenden
Abwechslungen vom Büroa l l t ag g e h ö r t e n und dem
Autor einen Einbl ick in eine b ä u e r l i c h e Kul tur und
Lebensform e rmögl i ch ten , wie diese wohl nicht
mehr lange anzutreffen sein w i rd . Dem grossen
A u f w a n d entsprechend wurde i m Kapitel «Die
Liechtensteiner Mundart . Beharrung und Ve rände -
r u n g » ein mögl ichs t umfassender Überb l ick ü b e r
den Lautstand der Basismundart gegeben. Bereits
bei diesen Aufnahmen zeigte sich die Enge und
Starrheit einer homogenen Dialektbescheibung,
zumal schon zu diesem Zeitpunkt manche Variat i -
on augenfä l l ig zu Tage trat. Hi l f re ich f ü r die Erstel-
lung unserer Interviewmanuskripte war das Vor-
bi ld der F r a g e b ü c h e r zum « S p r a c h a t l a s des Vorar l -
bergs mit Einschluss des Allgäus , Liechtensteins
und Tirols». Diese reiche Fragensammlung, die E u -
gen Gabriel f ü r seine Aufnahmen gebrauchte, ba-
siert ihrerseits wiederum auf den F r a g e b ü c h e r n
zum Schweizerdeutschen Sprachatlas. Darauf auf-
bauend und auf Grund der Er fahrung des Verfas-
sers als Explorator des Liechtensteiner Namenbu-
ches ergab sich eine reiche und umfassende Erhe-
bung zur Basismundart . Pro Gemeinde wurden
zwei Probanden befragt. Abweichungen anderer
Mundartsprecher einer Gemeinde von unseren M a -
terialien sind daher nicht nur mögl ich , sondern
sehr wahrscheinl ich. Die Darstellung der Ergebnis-
se in Tabellenform e rmögl i ch t einen raschen und
vo l l s t änd igen Überbl ick . Hier zeigte sich einmal
mehr der Vortei l der Kleinhei t des untersuchten
Gebietes. Wo sonst noch kann m a n mit der sprach-
l ichen Beschreibung von elf Gemeinden zu recht
behaupten, man h ä t t e die basismundart l ichen Lau-
te eines ganzen Landes dargestellt?
Das a n f ä n g l i c h e Unterfangen, den Lautwandel
auch i n Abhäng igke i t von der Morphologie zu un-
tersuchen, mussten w i r i m Verlauf der Untersu-
chung aufgeben. Die d a f ü r benö t ig te Zeit hä t t e un-
sere Kapaz i t ä t en bei weitem ü b e r s c h r i t t e n . Als Be-
obachtung konnten w i r dennoch feststellen, dass
Neuerungen i m Lautstand der Ortsmundarten des
F ü r s t e n t u m s Liechtenstein i n starkem Zusammen-
hang stehen mit der Aufnahme von neuen Lexe-
men in den Wortschatz, die in ihrer hochdeutschen
Morphologie von denjenigen der Ortsmundarten
abweichen. Als Beispiel sei die Substantivbildung
aus Adjekt iven genannt. W ä h r e n d die Substantive
in den Ortsmundarten durch A n h ä n g u n g eines -i
(Dümmi , Schöni) gebildet werden, realisiert das
Standarddeutsche dasselbe durch -keit, -heit
(Dummheit, Schönhe i t ) . Die Ü b e r n a h m e f remder
Lexeme mit andersartiger Morphologie verursacht
Ä n d e r u n g e n i m Lautstand der Mundart . E i n tref-
fendes Beispiel ist das Wort « E i g e n h e i m » . Das
nichtbasismundartl iche Kompos i tum besteht aus
zwei W ö r t e r n , die nativ mundar t l ich sind: «e igen»
und « h e i m » . Deren Realisation geschieht in den
Ortsmundarten immer durch Monophthong. Im
Komposi tum ergeben sich die unterschiedlichsten
Formen /ae:geha3:m/, /ejgahejm/, /ae:g8hejm/,
/ejgahcB.-m/, /o.-geho.m/, /sjgshö-.m./, o:gehej:m/.
Die Lautung der Ortsmundarten ist Wandelvor-
g ä n g e n und Varia t ionen besonders ausgesetzt, al-
lerdings bei weitem nicht i m gleichen Ausmass,
wie dies be im Wortschatz geschieht. Die d i e sbezüg-
liche gegenseitige Abhäng igke i t ist offensichtlich.
Die V e r ä n d e r u n g e n des Wortschatzes wiederum
scheinen i n starker Abhäng igke i t von sozialen Er -
neuerungen der liechtensteinischen Gesellschaft in
den letzten fünfz ig Jahren vor sich zu gehen. Die
G r ü n d e h i e r f ü r liegen in der Industrialisierung und
der Aufgabe der b ä u e r l i c h e n Tradit ion in den letz-
ten fünfz ig Jahren. Das Verschwinden von Gerä t -
234
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
Schäf ten, Tä t igke i ten und Lebensformen zieht auch
das Verschwinden der damit verbundenen W ö r t e r
nach sich. Besonders deutlich läss t sich dieser
Wandelvorgang durch die Namenkunde belegen.
Hans Stricker schreibt: «Wer die tiefgreifenden
V e r ä n d e r u n g e n i n unserer Natur- und Kul tur land-
schaft w ä h r e n d der letzten Jahre verfolgt hat, kann
unschwer ermessen, dass mit solchen Vorhaben
(R.B.: Namenbuch) nicht mehr lange zugewartet
werden darf. Nicht nur schwindet mit dem Rück-
gang der b ä u e r l i c h e n Bevö lke rung die Zahl der
kompetenten Informanten immer mehr, sondern
auch die Namen selber sind heute einem beschleu-
nigten Wandel unterworfen: viele alte Flurbezeich-
nungen verschwinden infolge v e r ä n d e r t e r Nut-
zungsformen; die allgemeine Verf lachung der
Mundar t geht auch am noch erhaltenen Namen-
schatz nicht spurlos vorüber , und mit der Ausbre i -
tung moderner, h a l b s t ä d t i s c h e r Lebensformen und
Denkweisen tritt mehr und mehr eine Namen-
schicht in den Vordergrund, die, wenn sie ü b e r -
haupt noch spontan entsteht, doch einer ganz an-
deren als der altererbten b ä u e r l i c h e n Anschau-
ungswelt en t sp r ing t» (Banzer/Stricker 1986, S. 5).
H i n z u kommen die von A u f der M a u r in besag-
tem Ar t ike l festgehaltenen Motive, die auch fü r den
Wandel unserer Ortsmundarten verantwort l ich
sein k ö n n e n . «Die eigentliche Bedrohung f ü r den
kultivierten Umgang mit der deutschen Hochspra-
che geht vielmehr von der a n g e l s ä c h s i s c h e n Welt
aus, wobei nicht allein entscheidend ist, dass Eng-
lisch heute die Geschä f t swe l t und die Naturwissen-
schaften dominiert. Von durchdringender, kultur-
imperialistischer Wucht ist die Unterhaltungsindu-
strie, einer der wenigen wi rk l i ch b l ü h e n d e n Ex-
portzweige der US-Wirtschaft . Sie hat die M e n -
schen hier und ihre freie Zeit erobert. Der g röss t e
Binnenmarkt der Welt mit seiner einheitl ichen
Sprache und Kul tur hat eine a l lmäch t ige Pro-
grammindustrie hervorgebracht, deren internatio-
nal kompatibles <Massenentertainment> sich spie-
lend bei uns einsetzen lässt . Die musikalische
Unterhaltung in allen Schattierungen, die F i lmpro-
duktion fü r Kino und Fernsehen, die Spiele fü r
Video und Computer mit ihrer chiffreart igen Spra-
che, die Videoclips, die die Wirkl ichkei t in Frag-
mente zerhacken, sie haben uns eine aufregende
Bildsprache beschert, gegen die die Schrift l ichkeit
der deutschen Kul tur nicht a n k o m m t . »
Was fü r den Umgang mit dem Hochdeutschen
zutrifft , vervielfacht sich f ü r die Ortsmundarten.
Diese stehen nicht nur unter dem Einfluss des Eng-
lischen. Das Hochdeutsche und die benachbarten
Dialekte sind ebenso potentielle Quellen f ü r Angle i -
c h u n g s v o r g ä n g e . Allerdings mag ich in das Lied
der sterbenden Dialekte nicht einst immen. Ich f ü r
meinen Teil füh le mich durch diese Arbei t in mei-
ner Annahme bes tä t ig t , dass die Mundar ten in un-
serem Sprachraum, bedingt durch die politischen
und kulturellen U m s t ä n d e , ihre Stellung wahren
k ö n n e n und dies auch i m Zuge der grassierenden
Angst vor der Gleichmacherei i n einem gemeinsa-
men Europa .
235
Anhang
5.
ANMERKUNGEN
1) Es handelt sich hierbei um eine Zusammenfassung der Zeittafel
von Paul Vogt: Historische Daten zur Geschichte Liechtensteins.
In: Fürs tentum Liechtenstein, S. 5-8.
2) Die Angaben beruhen auf den Zahlen des Statistischen Jahrbuches
1996.
3) Vgl. Mattheier 1980, S. 176; Kolde 1985. S. 8.
4) Löffler (1985, S. 105) unterscheidet nach Jakobson die referentiel-
le, emotive, konative. phatische, metasprachliche und poetische
Funktion der Sprache.
5) Vgl. Mattheier 1980, 178; Jakob 1985. S. 7.
6) Vgl. Löffler 1985, S. 161.
7) Vgl. Gabriel 1981, S. 175.
8) Was auf S. 211 ff. belegt wird.
9) Vgl. dazu Haas 1.982, Karte 1; Jutz 1931, Karte und S. 18 ff.;
Wiesinger 1983, S. 829 ff.
10) Vgl. dazu S. 211 ff.
11) Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass die liechten-
steinische Einbürgerungsprax is sehr restriktiv ist. So leben 3600
Schweizer mit Niederlassungsbewilligung in Liechtenstein, 1400
(40%) davon seit über 15 Jahren (Statistik 1988, S. 76).
12) Diese Zahlen beruhen auf den Angaben des «Statistischen Jahr-
buches 1987 für das Fürs ten tum Liechtenstein», S. 20 ff., und sind
auf- oder abgerundet. Die Zahlen zu den Mundartsprechern sind
Hochrechnungen des Verfassers.
13 und 14) Wir verwenden die Begriffe Hochdeutsch, Standard und
Standarddeutsch synonym. Vgl . dazu auch Jakob 1985, S. 7 f.; Kolde
1981, S. 66 f. und 99; Sieber/Sitta 1986, S. 29.
15) Vgl. Heller 1987, S. 783.
16) Vgl. Fishman 1975; Haas 1982, S. 106; Kolde 1981, S. 68;
Kremnitz, 1987; L ü d i l 9 8 8 ; Ris 1973, S.45 f; Sieber/Sitta 1986, S.20.
17) Vgl. Kremnitz 1987, S. 209.
18) Übernommen wurde dieser Begriff (gemäss Haas 1986, Anm. 11)
von Gottfried Kolde, der den Begriff in seinem Buch «Sprachkontakte
in gemischtsprachigen Städten». Wiesbaden 1981, S. 65 ff. eingehend
erläutert .
19) Haas 1986, Sieber 1987.
20) Rein 1983, S. 1443 ff; Ruoff 1973, S. 247 ff.
21) Fishman 1975, S. 50.
22) Poplack/Sankoff 1988, S. 1175 ff.
23) Fishman 1975. S. 43 ff.
24) Vgl. zur direkten und indirekten Erhebungsmethode: Werlen
1984, S. 8 f.
25) Mattheier. In: HSK 1.1.1982. S. 625.
26) Die Angaben dazu entstammen einem Gespräch mit Frau lic. iur.
Brigitte Feger, dem Liechtensteinischen Staatskalender und Kranz
1976.
27) Wir möchten an dieser Stelle daraufhinweisen, dass die vorlie-
genden Tabellen zum grössten Teil auf indirekt erhobenen Daten ba-
sieren, weil Zweite über Dritte Auskunft geben. Gerichtsvorstände.
Amtsstellenleitor, Lehrer usw. geben Auskunft über den Sprachge-
brauch von Drittpersonen. Besonders deutlich wird dies an jener
Stelle der Tabelle, deren erste Linie wie folgt zu lesen ist. « 7 7 % der
Amtsleiter sagen, dass 100% der Angestellten die Mundart Liechten-
steins aktiv beher r schen .» Wo die Probanden nicht zu ihrem eigenen
Sprachgebrauch befragt werden, sind die Auswertungen in der
Tabelle mit einem Stern * gekennzeichnet.
28) In der Terminologie halten wir uns an die Vorgaben des Liech-
tensteinischen Schulamtes. Auch die hier aufgeführ ten Zahlen stam-
men aus der Schulstatistik 1988 des Schulamtes, sofern sie nicht
dem Statistischen Jahrbuch 1988 entnommen sind.
29) Vgl. metaphorischer Wechsel S. 160.
30) Die Erhebung ergibt hierzu keine detaillierten Zahlen.
31) Vgl. Schwarzenbach 1969, S. 380 ff. und Fricker 1988. S. 28 ff.
32) Vgl . Rein 1983, S. 1452; Ruoff 1973. S. 191.
33) Die Prozentaufteilung der Probanden für die einzelnen Schichten
wiederspiegelt die Grösse der Schicht. Die Zahlen richten sich
approximativ nach der Schulbildung und der Stellung im Beruf aus
Statistik 1988. S. 100 und S. 289. Durch den unterschiedlichen Rück-
laufergeben sich für die Auswertung folgende Zahlen: 81% der
retournierten Fragebögen gehören zur Mittelschicht, 15% zur Ober-
schicht und 4% zur Unterschicht. Verschiedene Personen, die uns die
Namen der Probanden vermittelt haben, haben die Meinung geäus-
sert, dass es in ihrer Gemeinde schwer gefallen sei, Mitglieder der
Unterschicht zu nennen, weil es fast keine gäbe .
34) Vgl. Ruoff 1973. S. 191.
35) Die Zahlen entstammen dem Statistischen Jahrbuch 1988.
36) Ausgangs- und Benennungspunkte für die ehemaligen Gruppen-
sprachen nach den geographischen Punkten «Bödele» und «Pfänder»
und nach der Textilfabrik «Ganahl». Vgl. dazu Gabriel 1973, S. 75
und Wiesinger 1986, S. 112.
37) Vgl. Schwarzenbach 1969. S. 219.
38) Ebenda, S. 223.
39) Ebenda, S. 225.
40) Ebenda, S. 228.
41) Nichthybride F remdwör t e r sind Wörter, deren Einzelelemente
nicht aus verschiedenen Sprachen stammen.
42) Diese 430 Wörter bildeten die Basis für den Fragebogen.
43) Uns standen durch die bereitwillige Unters tützung von Robert
Allgäuer, Vaduz. Kopien von den Fragebüchern zur Verfügung, die
Eugen Gabriel für seine Aufnahmen für den VALTS gebraucht hat.
44) Vgl. unter anderem Berger 1913, Gabriel 1981. Jutz 1925,
Meinherz 1920.
45) Die Seitenzahlen verweisen auf Jutz 1925 und Gabriel 1981.
236
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
46) Dieses Wort wurde in einer Nacherhebung aufgenommen.
47) Allgemein tritt die Nasalierung eines Vokals nur im Unterland
ein. Jutz konnte offenbar in Schaan und Vaduz noch leichte Nasalie-
rung feststellen. Dies ist für unsere Aufnahmen nicht mehr der Fall,
so wie sich die Nasalierung auch im Unterland immer mehr zurück-
zubilden scheint. Auch Vetsch konnte 1910 feststellen, dass im Kan-
ton Appenzell die Nasalierung hauptsächl ich von der jüngeren Gene-
ration mit starken individuellen Schwankungen langsam aufgegeben
wird. «Alle geschlossenen Vokale sowie ae erscheinen in der Ma.
auch nasaliert. Die Nasalierung betrifft sowohl die Kürzen als auch
die Längen, doch werden durch dieselbe bzw. ihre Begleiterschei-
nungen die Quantitäten manchmal geänder t» (Jutz 1925, S. 23).
Die von Jutz 1925, S. 57 aufgeführ te Nasalierung des a in inachen
kann heute nicht mehr festgestellt werden. Gabriel 1981, S. 240;
Jutz 1925, S. 155ff.
48) Die Dehnung in offener Silbe ist in Hinterschellenberg uneinheit-
lich durchgeführ t . Gemäss Gabriel (1981, S. 203) erfolgt die Dehnung
regelmässig, wenn auf die offene Silbe ein Liquid oder Nasal folgt.
Ansonsten sind die Verhältnisse uneinheitlich. Im Gegensatz zum
restlichen Unterland wird das a in folgenden Wörtern kurz gespro-
chen: Gabel, Hafer, hageln, schlagen, Schnabel, Wade. Weitere kurz
gesprochene Laute unterscheiden den Hinterschellenberg vom Rest
der Gemeinde. So werden die Haupttonvokale in [hörn] 'heim',
[motle] 'Mädchen ' , [nemard] 'niemand' im Hinterschellenberg im
Gegensatz zum übrigen Schellenberg kurz gesprochen.
49) Für nhd. sagen setzen wir mhd. sagen an. Vgl Lexer: Mhd.
Wörterbuch.
50) Die Lautentwicklung zu offenem ä ist selten. Sie ist ein Merkmal,
durch das die Balzner Mundart charakterisiert werden kann.
51) Die Nasalierung, die regelmässig nur im Unterland eintritt, ist in
diesem Fall sehr schwach. Vgl. Jutz 1925, S. 108.
52) Das i wird in diesen Fällen im Oberland gedehnt.
53) heisst in Triesenberg [aeti] Äti.
54) Die Dehnung in offener Silbe ist. nur im Unterland konsequent
durchgeführ t . Im Oberland ist sie ohne Regelmässigkeiten partiell
distribuiert.
55) Siehe Anmerkung 47.
56) Ebenda.
57) Diese Belege stammen von Jutz und wurden in der Aufnahme
lediglich als Spontanmaterial erhoben. Zu beachten ist der Trans-
kriptionsunterschied zwischen Jutz und unserer Arbeit. Jutz: [(]
entspricht in etwa unserem [el.
58) Durch Vokalspaltung kann für mhd. o einmal geschlossens [o],
einmal offenes [o] eintreten. Durch die Senkung von mhd. ü zu
mda. geschlossenem o, ö kam es zu einer Gleichlautung mit den
Entsprechungen von mhd. o,ö (vgl. Gabriel 1985. S. 127).
59) Bei den Aufnahmen im Unterland konnten wir individuelle
Schwankungen bezüglich der Nasalierung feststellen.
60) Ebenda.
61) In einzelnen Fällen hat der Sekundärumlau t im Unterland eine
offenere Qualität als im Oberland. Diese Feststellung, die Jutz (1925,
S. 108) noch konsequent für die Gemeinden Gamprin/Bendern,
Eschen, Ruggell, Schellenberg gemacht hat, gilt heute so auch in
Mauren. Die Gewährs leute in Mauren sehen das [ae] als typisches
Mundartmerkmal ihrer Ortschaft. Vor allem die Gemeinde Schellen-
berg aber zeigt nach unseren Erhebungen einen anderen Wert als
das übrige Unterland, nämlich den qualitativ gleichen wie das
Oberland. So sagt man in Ruggell zum Beispiel sääga (sagen) oder
Slrääl mit [ae], in Schellenberg aber mit [e].
62) Dieser Laut wurde nicht erhoben.
63) Gabriel (1981, S. 199) notiert für diese Wörter überoffene
Qualität. Diese konnten wir bei unserer Erhebung nicht feststellen.
64) Die Dehnung stammt hier von der unumgelauteten Grundform
Hose, wo das o in offener Silbe steht.
65) In dieser Gemeinde ist neben diesen Ausnahmen auch die
Normalform möglich.
66) Ebenda.
67) Basismundartlich ist das mhd. ä in gleicher phonetischer Form
nicht erhalten geblieben. In ganz Liechtenstein hat sich hauptsäch-
lich der Wandel zu offenem o: schon f rüh vollzogen.
68) Das Wort rära ist im Unterland nicht belegt. Hier heisst esgrätsa.
69) siehe Anm. 62.
70) Ebenda.
71) Ebenda.
71a) Ebenda.
72) Die mda. Form [SOÖS] Säue als Pluralform zu [su:] Sau kann
nicht direkt auf mhd. iu zurückgeführ t werden. Mhd. setzen wir für
das Unterland siu zum Singular sü an. Entsprechend der Normalent-
wicklung in dieser Kondition w ä r e für das Unterland *[soej] zu er-
warten. «Im Hiatus und vor w ist in ganz Südvorar lberg und Liech-
tenstein Diphtongierung, und zwar fast allgemein zu pu eingetreten.»
(Jutz 1925, S. 99) Gabriel (1981, S. 209) hat [kny:] für das Unterland
erhoben. Jutz stellt sie mit Ausnahme von Balzers für das ganze
Land fest (Jutz 1925, S. 100).
73) Diese Entwicklung widerspricht der Regel der Monophthongie-
rung des mhd. ei als besonderes Mundartmerkmal Liechtensteins.
Vereinzelt haben wir auch Monophthonge gefunden. Im Hiatus ist
die diphthongische Entsprechung [sj] regelmässig, Eier. Dieses Wort
wird im Unterland als Pluraletantum gebraucht.
74) Gabriel notiert hier für Gamprin, Ruggell und Schellenberg offenes
o in [go:s] und für Eschen und Mauren [a:]. Diese Unterscheidung
ergab sich durch unsere Aufnahme nicht mehr. Es heisst entweder
[gsjs], [go:s] oder auch [gu:s]. Vgl. auch Jutz 1925, S. 91.
75) siehe Anm. 62.
76) Die Quant i tä tsunterschiede entsprechen den Ausführungen von
Jutz 1925. 161, indem die Dehnung des ersten Bestandteils der
Diphtone nicht durchwegs Regel ist.
77) Imma und Biene sind beide in der Basismundart gebräuchlich.
78) Die Gliederung der Konsonanten richtet sich nach der mhd.
Phonetik. Hintangestellt werden die mhd. Graphemvarianten.
79) Für mhd. k stellen Jutz 1925 und VALTS im In- und Auslaut mit
wenigen Ausnahmen mda. [k] und im Anlaut [kh] fest.
237
80) In Triesenberg erfolgt Lenisierung im absoluten Auslaut.
81) Im Unterland (ohne Hinterschellenberg) entfällt das d regelmäs-
sig nach / und n im In- und Auslaut. Im Oberland fällt das d am
Wortende nur selten aus.
82) In Triesenberg wird vor palatalen Vokalen i. ö, ü mhd. s > mda. [J]
83) Für [b:nd] setzen wir mhd. län- an. Der Füllpartikel heisst in
Triesenberg neissa.
84) Die hier gebrauchten Nummern entsprechen jenen, die auf
S. 213-216 für die Entwicklungsregeln eingeführt werden.
85) Gabriel 1981. S. 180.
86) Ebenda, S. 214.
87) Ausserdem gibt es mit wenigen Ausnahmen auch keine Dehnung
in offener Silbe. Die mhd. Kürze ist allgemein erhalten.
88) Siehe Anm. 62
89) Ebenda
90) Vgl. S.153 ff.
91) Vgl. Haas 1978, S. 62.
92) Textauszug aus der Gemeinderatssitzung von Schellenberg.
93) Nach Jutz 1960 ist Waldweg ein basismundartliches Wort. Wir
haben es als nbmW aufgenommen, weil es von den Probanden im
Unterland vielfach als fremd empfunden wurde.
94) Jutz 1925, S. 152.
95) Vgl. u.a. Christen 1988, S. 154: Rein 1983, S. 1452, und Ruoff
1973, S. 181 ff. 1.
96) Vgl. Banzer 1990, S. 341 ff.
97) Vgl. S. 153-175.
98) Vgl. Mattheier 1980. S. 42 ff. und 1987, S.78 ff. 22.
99) Statistik 1988, S. 91 und 96. Die Zahlen sind gerundet.
100) Vgl . Mattheier 1980, S. 34 ff. und Ruoff 1973, S. 191.
101) Vgl. Ausführungen dazu im Einleitungskapitel zum Sprachfor-
mengebrauch.
102) Ausführl iche Darstellung der einzelnen Rededeterminanten und
deren Einfluss auf die Sprachproduktion in HSK 3.2. Kapitel II. Vgl.
auch Werlen 1984.
103) Zu den Zahlen vgl. Statistisches Jahrbuch 1988. S. 96.
104) Vgl. Ammon 1973.
105) Vgl. dazu König 1982, S. 473 ff.
106) Dies ist zwar auch bei den Gemeinden Schaan. Vaduz und
Triesen der Fall, wo sich die Unterschiede mit ziemlicher Sicherheit
lediglich auf den Nebentonvokalismus und auf die Lexik beschrän-
ken. Als wirtschaftliche Zentren werden diese Orte aber dennoch
untersucht, um die Anzahl der Probanden des Oberlandes (16)
gegenüber dem Unterland (24) nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht
kommen zu lassen.
107) Vgl. Christen 1988, S. 40, und Haas 1978, S. 80 ff.
108) Wir verwenden den Begriff Innovation nach der Definition von
Haas nur dann, wenn es sich um individuelle Innovation handelt.
Eine Innvovation wird zur Neuerung, wenn sie von einer Sprachge-
meinschaft in ihren Sprachgebrauch ü b e r n o m m e n wurde.
109) Haas (1978) spricht in seinem Kapitel «Sprachwandel als
Gesamtprozess» nicht von Laut- sondern Sprachwandel.
110) Beim neuerlichen Auftauchen von [flaej ], wie es Jutz noch als
basismundartlich notiert, handelt es sich um die Ausbreitung einer
«alten» Lautung. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass die
Lautung [ae:] bei der Erhebung zur Basismundart nur mehr von
zwei oder drei Probanden als «alte» Variante zu [sj] e rwähn t wurde.
111) Unter Leveling verstehen wir den Übergang einer Innovation
(vgl. Anm. 108) zu einer Neuerung, oder einer Neuerung zu einem
Lautwandel.
112) Hier könnte man auch obd. u voraussetzen, aber [o] deutet auf
mhd. o.
238
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ROMAN BANZER
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242
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
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vor allem Werdenbergs
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Sprachlandschaft Rheintal
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Strukturen (1983)
Tendenzen, Formen und
Strukturen der deutschen
Standardsprache nach
1945. Vier Beiträge zum
Deutsch in Österreich, der
Schweiz, der Bundesrepu-
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Deutschen Demokrati-
schen Republik. Von Ingo
Reiffenstein, Heinz Rupp
u.a. Marburg, 1983.
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Germanistik 3)
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Ternes Elmar: Einführung
in die Phonologie. Darm-
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Vetsch Jakob: Die Laute
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Werlen Erika: Studien zur
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243
7.
ABKÜRZUNGEN
absA
absoluter Auslaut
aD
anderer Dialekt
bg
beides gleich
bmW
basismundartliches Wort
DlsW
Dehnung im einsilbigen
Wort
Deh
Dehnung
Delab
Delabialisierung
Diph
Diphthongierung
DoS
Dehnung in offener Silbe
FL
Mundart des Fürstentums
Liechtenstein
Fs
Fremdsprache
Gern
Gemisch
HaD
Hochalemannische Deh-
nung
Heb
Hebung
HuAw
Hiatus und Auslaut vor w
Kür
Kürzung
Lab
Labialisierung
Mon
Monophthongierung
N
Stichprobenmenge
Nas
Nasalierung
nbmW
nichtbasismundartliches
Wort
nr
nicht regelmässig
Nf
Normalfall
nK
nasale Konsonanz
oK
orale Konsonanz
Pal
Palatalisierung
Plo
Plosiv
r+Kons
r + Konsonant
r+Nas
r + Nasal
Sen
Senkung
Sf
Sonderfall
sp
spontan erhobenes Materi-
al
Ula
A-Gebiet im Unterland,
vgl. S. 201
Ulo
O-Gebiet im Unterland,
vgl. S. 201
Vel
Velarisierung
7.1.
G E O G R A P H I S C H E
ABKÜRZUNGEN
B
Balzers
E
Eschen
EMa
Eschen und Mauren
(a-Gebiet)
G
Gamprin
GRSbo
Gamprin, Ruggell und
Schellenberg (o-Gebiet)
HSb
Hinterschellenberg
Ol
Oberland
M
Mauren
R
Ruggell
S
Schaan
Sb
Schellenberg
T
Triesen
Tb
Triesenberg
Ul
Unterland
V
Vaduz
244
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
8.
ZUR TRANSKRIPTION
Zur Transkript ion verwenden w i r die Lautschrif t
API . Zwei G r ü n d e haben uns zu dieser Entschei-
dung veranlasst. Einerseits ist computertechnisch
weder hard- noch s o f t w a r e m ä s s i g eine sinnvolle
Möglichkeit vorhanden, die Lautschrift des SDS
umzusetzen, andererseits entspricht die Verwen-
dung der API-Lautschrif t durchaus dem linguisti-
schen Gebrauch. A l l jene, die sich mit der Realisie-
rung einer Lautschrift auf Computer befasst haben,
k ö n n e n die daraus entstehenden Schwierigkeiten
bes tä t igen . Bei vereinzelten phonetischen Trans-
kriptionen im laufenden Text, etwa bei Angaben
von Beispielen, wurde die « S c h w y z e r t ü t s c h ! Dia -
läktschr i f t» nach Dieth verwendet, sofern durch die
Weglassung der API-Lautschrif t die Transparenz
der Aussage nicht bee in t r äch t ig t wurde. Der E i n -
fachheit halber w i r d bei ein- und zweisi lbigen Wör -
tern auf die Setzung des Akzents verzichtet, we i l
die Haupttonsilben durch die Erstbetonung in
zweisilbigen W ö r t e r n ohnehin gegeben sind. Aus-
nahmen werden gekennzeichnet. Es bleibt noch
darauf hinzuweisen, dass i m Text entsprechend
den alten Schreibtraditionen die m ä n n l i c h e F o r m
gebraucht w i r d , obwohl unter bestimmten Begrif-
fen auch Frauen gemeint sein k ö n n e n . Es heisst
also Probanden und nicht Probandlnnen. W i r sind
uns der diskr iminierenden Elemente der deutschen
Sprache bewusst, sahen uns jedoch nicht in der
Lage, bereits in dieser Arbei t das Bekannte umzu-
setzen. Fü r die Zukunft soll hier Besserung ver-
sprochen sein.
Zum Transkriptionsalphabet: [b, d, g] und [z] be-
deuten hier die st immlosen Lenislaute [b , d , g , z. j .
9.
LISTE DER GEWÄHRSPERSONEN
Allgäuer Pia Eschen Basis
Banzer An ton Triesen V a r i a t i o n
Banzer Desiree Triesen Var i a t i on
Banzer Marie-Louise Triesen V a r i a t i o n
Banzer W i l l i Triesen Var i a t i on
Banzer K a r i n Schaan V a r i a t i o n
Batl iner Vinzenz Eschen Var i a t i on
Beck K la r a Planken Basis
Brendle Wi lhe lm Schellenberg Basis
Brunhar t Rosa Balzers Basis
Büchel F ranz Ruggell Basis
Büchel Gabi Mauren Var i a t ion
Büche l Gaby Balzers Va r i a t i on
Büchel Walter Gampr in Var i a t i on
Büche l Klaus Mauren V a r i a t i o n
Büchel Josef Schellenberg Var i a t i on
Fehr Franz Eschen Var i a t i on
Fr ick Helmuth Balzers Va r i a t i on
Gantner Heinr ich Planken Basis
Gerner Ludwig Eschen Basis
Goop Al f r ed Schellenberg Var i a t i on
Hasler E w a l d Gampr in Var i a t i on
Hasler Herbert Schellenberg Var i a t ion
klassier Alois Schellenberg Var i a t i on
Hassler E d i Schellenberg Var i a t i on
Heeb A l m e r i d a Gampr in Basis
Heeb Kreszenz Schaan Basis
Heeb E r w i n Gampr in Basis
Heidegger M a r i a Triesen Basis
Hemmerle E m i l Vaduz Basis
Hübe M a r i a Triesenberg Basis
Hoop Mar t ina Ruggell Basis
Kaiser Fredi Mauren V a r i a t i o n
245
10.
CURRICULUM VITAE
11.
DANKADRESSE
Ich wurde am 10. Januar 1957 als erstes von fünf
Kindern der Barbara und des Wi lhe lm Banzer-Kof-
ler i n Triesen geboren. In der Famil ie wuchs ich in
meinem Geburtsort auf und besuchte dort die
Volksschule. 1970 trat ich in das Gymnas ium Unte-
re Waid, Mörschwi l , ein und wechselte 1975 ord-
n u n g s g e m ä s s an das Gymnas ium Friedberg, Goss-
au, wo ich 1978 die Matura ablegte. Hernach be-
gann ich mein Studium an der Univers i tä t Fre iburg
in der Schweiz mit dem Hauptfach Germanische
Philologie bei Prof. Eduard Studer, mit dem ersten
Nebenfach Deutsche Literatur bei verschiedenen
Dozenten und mit dem zweiten Nebenfach Journa-
listik und Kommunikat ionswissenschaft bei Prof.
Louis Bosshart. Im März 1985 schloss i ch das Stu-
dium mit dem Lizentiat ab, wonach ich w ä h r e n d
drei Jahren beim Liechtensteiner Namenbuch als
wissenschaftl icher Mitarbeiter tä t ig war. Seit M a i
1988 arbeitete ich an der Dissertation. Im Januar
1990 trat ich die Stelle als Leiter der Arbeitsstelle
f ü r Erwachsenenbildung, Schaan, an.
F ü r die Hilfe bei der Erstel lung dieser Arbei t gilt es
zu danken. Ich tue dies von ganzem Herzen. Zuerst
m ö c h t e ich mich bei meinen G e w ä h r s l e u t e n bedan-
ken. Ohne ihre bereitwillige Mitarbei t w ä r e diese
Untersuchung nicht mögl ich gewesen. Das s ind all
jene, die ich p e r s ö n l i c h aufgesucht habe und die
mi r i n einem Interview Red und Antwor t gestanden
haben (Liste i m Anhang). Abe r auch jenen (ca.
500) Personen sei herzl ich gedankt, die namentl ich
nicht genannt werden und mit dem Ausfü l l en und
Z u r ü c k s e n d e n des Fragebogens die Kapi te l zur
Sprachpragmatik getragen haben. Wo aber bliebe
al l dies ohne finanzielle U n t e r s t ü t z u n g ? M e i n spe-
zieller Dank ergeht hier an Robert Al lgäuer (Kultur-
beirat der Regierung), Dr. Alois Ospelt (Historischer
Verein), Leonhard Vogt (Stipendien) und die Stifter
und Verwalter der Legerlotz Stiftung. Es ist m ü s s i g
zu sagen, dass ohne deren V e r s t ä n d n i s diese Arbei t
nicht mögl ich gewesen w ä r e ! Ich danke meinen
Lehrern. Prof. Walter Haas hat diese Arbei t wissen-
schaftl ich geleitet und ü b e r w a c h t . Seine Anregun-
gen und Ra t sch läge trugen massgeblich zum Inhalt
und zur jetzigen F o r m bei. Dank an Toni Banzer
und Herbert H ü b e f ü r manche Kleinkorrektur, die
Grosses bewirkt hat. Prof. E. Studer danke ich fü r
die F ü h r u n g durchs Grundstudium. Z u guter Letzt
bleibt noch der Dank an meine Famil ie , an Ver-
wandte, Freunde und Bekannte, die mi r geholfen
haben.
246
DIE MUNDART DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
ROMAN BANZER
A N S C H R I F T D E S A U T O R S
Dr. Roman Banzer
Am Bach 16
FL-9495 Triesen
247
D E N K M A L S C H U T Z
IN LIECHTENSTEIN:
AUS DER CHRONIK
DES JAHRES 1995
HANSJÖRG FROMMELT
250
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
HANSJÖRG F R O M M E L T
Dem Tätigkeitsbericht 1 der Denkmalschutz-Kom-
mission der Fürstlichen Regierung kann entnom-
men werden, dass diese sich im Jahr 1995 in be-
sonderem Masse - aber mit unterschiedlichen Re-
sultaten - dem Erhalt industriegeschichtlicher Zeit-
zeugen gewidmet hat.2 Ein Telefon-Freileitungs-
mast aus dem Jahr 1925 konnte restauriert, kon-
serviert und unter Schutz gestellt werden. Erfolglos
blieben hingegen die Bemühungen um den Erhalt
eines beachtenswerten Arbeiterwohnhauses an der
«Marianumstrasse» im «Unteren Mühleholz» in
Vaduz, welches sich zu jener Zeit im Besitz des
Landes Liechtenstein befunden hatte.3 Der Bau fiel
der Spitzhacke zum Opfer. Die Diskussion um die
Unterschutzstellung der stillgelegten Spinnerei der
Firma Jenny, Spoerry & Cie. in Vaduz blieb im Be-
richtsjahr ohne Ergebnis. 4 Seitens der Vertreter der
Gemeinde Vaduz wurde immer wieder in Frage ge-
stellt, ob eine «Unter-Denkmalschutz-Stellung in
Frage kommt» und inwieweit die Gefahr besteht,
dass durch eine entsprechende Schutzverfügung
der Entscheidungsspielraum der Gemeinde einge-
engt werden könnte. 5
1) Der Tätigkeitsbericht ist jeweils im Rechenschaftsbericht der
Fürst l ichen Regierung wiedergegeben. Vgl . für das Jahr 1995 den
Rechenschaftsbericht (1995).
2) Rechenschaftsbericht (1995), S. 218.
3) Ebenda.
4) Zur jüngs ten Geschichte des Fabrikareals: Frommelt (1997),
S. 281-283. Zur Problematik der Umnutzung: Ospelt (1995/2).
5) Ospelt (1995/1), S. 149.
A b b . 1: Vaduz. Arbei ter-
wohnhaus der «Rosen-
thal'schen Fab r ik» an der
« M a r i a n u m s t r a s s e » vor
dem Abbruch . Blick auf
die S ü d f a s s a d e des Rei-
henhauses
251
A b b . 2: Gamprin /Bendern .
«Pfar r s ta l l» . Beginn der
Bauarbeiten i m Herbst
1995. Totale Auskernung
des alten Pfarrhauses
Äusserst erfolgreich verliefen die Renovationen
in der Kapelle St. Peter in Schaan und beim
«Schädlerhaus» in Vaduz, wo die Gestaltung des
Vorplatzes in das Renovationskonzept mit einbezo-
gen werden konnte.6 Aus denkmalpflegerischer
Sicht weit weniger Erfolg verheissend hat im Be-
richtsjahr der Umbau des «Pfarrstalles» auf dem
Kirchhügel von Gamprin/Bendern mit einer voll-
ständigen Auskernung begonnen.7 So wird mit
einiger Berechtigung im Tätigkeitsbericht der
Denkmalschutzkommission festgestellt, dass «trotz
intensiver Bemühungen sämtlicher mit dem Erhalt
von Kulturgut beauftragter Institutionen des Lan-
des sowie der Gemeinden das Ausmass jährlich
zerstörten Kulturgutes (insbesondere Bauten) im-
mer noch höher als jenes des jährlich geschützten
liegt». 8 Im Bewusstsein dieses Missverhältnisses
hat das Fürstentum Liechtenstein wie in den bei-
den Vorjahren an den vom Europarat initiierten
Tagen des offenen Denkmals teilgenommen. Die Öf-
fentlichkeit sollte «vermehrt auf die Bedeutung und
die umfangreichen Aufgaben der Denkmalpflege»
aufmerksam gemacht werden. 9 Rund 1200 Perso-
nen - also bemerkenswerte fünf Prozent der Ge-
samtbevölkerung des Landes - nutzten am 17. Sep-
tember 1995 die Gelegenheit, eine Reihe von Denk-
mälern unter fachkundiger Führung besichtigen
und kennenlernen zu können. 1 0
In der nachfolgenden Aufstellung werden einige
der Denkmäler, die im Jahr 1995 Veränderungen
erfahren haben, kurz vorgestellt.11
6) Rechenschaftsbericht (1995), S. 219.
7) Über das Schicksal des seit 1984 unter Denkmalschutz stehenden
Objekts wird im Rahmen der Denkmalschutz-Chronik nach Ab-
schluss der Bauarbeiten berichtet.
8) Rechenschaftsbericht (1995), S. 219.
9) Ebenda.
10) Ebenda.
11) Peter Albertin (Bauforscher, Winterthur) und dipl. Arch . E T H
Michael Pattyn (Abt. Denkmalschutz beim Hochbauamt, Vaduz)
gaben mir wiederum wertvolle baugeschichtliche Hinweise zu den
Objekten. Ihnen sei gedankt.
252
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
HANSJÖRG F R O M M E L T
Erfolgreich abgeschlossene
Restaurierungs- und
Konservierungsarbeiten sowie
Unterschutzstellungen:
A b b . 3: Schaan. Kapelle
St. Peter an der «Ober-
gas s» . Blick in den Chor-
raum der Kapelle nach
Abschluss der Freilegungs-
und Konservierungs-
arbeiten. Aufnahme i m
Dezember 1995
253
SCHAAN, «OBERGASS» , K A P E L L E ST. P E T E R 1 2
5. Jh. Errichtung einer Saalkirche zwischen
Nordostturm und Hauptportal des teil-
weise zerstörten spätrömischen Ka-
stells. Anbau eines Baptisteriums mit
kreisrundem Taufbecken nur kurze
Zeit später.
842/843 Erwähnung eines Königshofes, zu wel-
chem eine Kirche gehörte, im Churräti-
schen Reichsgutsurbar.13 Mit grosser
Wahrscheinlichkeit bezieht sich diese
Nennung auf St. Peter.
9./10. Jh. Umbau und Erweiterung der Saalkir-
che unter Beibehalt des nun verklei-
nerten Baptisteriums.
1298 Erste Erwähnung der Kirche St. Peter
in einem Ablassbrief. Die Verleihung
des Ablasses dürfte in Zusammenhang
mit einem Neubau von St. Peter stehen.
In einem weiteren Ablass nur zwei
Jahre später wird St. Peter als Kapelle
bezeichnet.14
1499 Neubau oder Wiederinstandsetzung
nach dem Schwabenkrieg. Aus dieser
Zeit stammt die heutige Kapelle mit po-
lygonalem Chorgrundriss.
Zwischen 1603 und 1626
Restaurierung der Kapelle.
1849 Beschädigung des Daches durch den
Dorfbrand. Instandsetzung und Aus-
führung neugotischer Malereien im
Chor.
1911 und Restaurierungen innen und aussen.
1915 Die Zerstörung bedeutender mittelal-
terlicher Wandmalereien im Kapellen-
schiff geht auf diese Renovationsphase
zurück. 1 5
1951 Unterschutzstellung der Kapelle.
1958-1960 Renovation der gesamten Anlage. Neu-
bau des Glockenturms. Ausgrabung im
Innern der bestehenden Kapelle und
im angrenzenden Kastellbereich. 1 6
1995 Umfassende Innenrenovation. Freile-
gung, Reinigung und Konservierung
von Wandmalereien aus verschiedenen
Epochen. Statische Sicherung des Ge-
wölbes über dem Laienschiff. 1 7
Feuchtigkeits- und Verputzprobleme im Innern der
Kapelle gaben Anlass zur jüngst abgeschlossenen
Renovation. Neben der Behebung der Schäden,
deren Ursache auf filmbildende Farbanstriche zu-
rückzuführen war, konnte durch die Konservie-
rungsarbeiten der Kapelle St. Peter ein Teil der
ursprünglichen Farbigkeit wieder zurückgegeben
werden. Besondere Erwähnung verdient die rote
Ausmalung des Kreuzrippengewölbes, welche aus
der Zeit nach der Erbauung Ende des 16. Jahrhun-
derts stammt und offensichtlich auch die Verwüs-
tungen durch den Dorfbrand von 1849 unbeschadet
überdauert hat. Erstmals nach annähernd hundert
Jahren kann auch die neugotische Altarmalerei im
Chorhaupt der Kapelle wieder gezeigt werden.
Abgesehen von der Wahl der etwas aufdringlich
wirkenden Beleuchtungsanlage kann die Restaurie-
rung und Konservierung der Kapelle St. Peter aus
denkmalpflegerischer Sicht als Erfolg bewertet
werden.
254
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
H A N S JÖRG F R O M M ELT
VADUZ, «ST. FLORINSGASSE», «SCHÄDLER-
HAUS» UND ARCHÄOLOGISCHE BEFUNDE
DER AUSGRABUNG «FLORINSKAPELLE» 1 8
1873/74 Erstellung des dreigeschossigen Wohn-
und Praxishauses in Massivbauweise
mit klassizistischen Zierelementen. Die
Baupläne zeichnete der in Feldkirch
ansässige Baumeister und Architekt
Seraphin Pümpel . 1 9 Nach den Erbau-
ern Dr. Rudolph Schädler und Dr. A l -
bert Schädler wird das Haus heute
noch «Schädlerhaus» genannt.20 Dem
Neubau mussten der Turm der Florins-
kapelle und der «Tschaggaturm» -
wahrscheinlich ein mittelalterlicher
Wohnturm - weichen.
1889 Hangseitiger Anbau von Ökonomie-
bauten.
1894 Verglasung der ursprünglich offenen
Terrasse im 2. und 3. Stock.
1896 Erweiterung der Stallgebäude.
1905 Umbau und Erhöhung der Ökonomie-
bauten.
1968 Kauf des «Schädlerhauses» durch das
Land Liechtenstein. Nutzung als Ver-
waltungsgebäude .
1992-1995 Tiefbauarbeiten in der St. Florinsgasse
lösen archäologische Notgrabungen
auf dem südlichen Vorplatz des
«Schädlerhauses» aus. Untersuchung
der Vorgängerbauten der 1873/74 ab-
gebrochenen Florinskapelle. 2 1
1993 Baugeschichtliche Untersuchung.
1994/95 Renovation des Verwaltungsgebäudes
und neue Platzgestaltung.22 Der Verlauf
der anlässlich der archäologischen
Grabungen freigelegten Grundrisse der
Florinskapelle konnte im Gehbelag
nachgezeichnet werden. 2 3
1995 Unterschutzstellung der archäologi-
schen Bereiche «Florinskapelle» und
«Untere Hofkaplanei». 2 4
1996 Unterschutzstellung des «Schädlerhau-
ses».
12) Eine Zusammenfassung der baugeschichtlichen Daten bei
Poeschel (1950), S. 93-98; bei Degen (1978). S. 211-215. und bei
Oswald; Schaef'er; Senhauser (1971), S. 303-304.
13) «Est ibi ecclesia. cum Decima de ipsa uilla.» Vgl. LUB 1/1. S. 41.
Zum churrä t i schen Reichsgutsurbar und dessen Datierung; Clava-
detscher (1994). Zur Problematik der Zuweisung: Pepic (1996),
S. 138-140.
14) «ecclesia St. Petri» (1298) und «capella» (1300): Beide Perga-
menturkunden sind abgebildet und beschrieben bei Wanger (1991).
S. 19-20.
15) Fotos, welche das Aussehen der Kapelle nach dieser Innen- und
Aussenrenovation zeigen, bei Wanger (1991), S. 40-41. Die Kapelle
blieb in diesem Zustand bis 1958 unveränder t .
16) Die Ausgrabung wurde unter der Leitung von David Beck
durchgeführ t . H. R. Sennauser führ te 1960 eine Nachuntersuchung
durch. Die abschliessende Publikation aller Ausgrabungsbefunde
steht immer noch aus. Ein erster Ausgrabungsbericht bei Beck
(1958).
17) Die Presse berichtete laufend über den Stand der Arbeiten:
«Kirche St. Peter in neuem <altem> Glanz. Renovationsarbeiten an
der Kirche St. Peter sind im Gange». In: LVaterland, Donnerstag,
5. Januar 1995. S. 6; «Freilegung faszinierender Wandmalereien im
Schaaner St. Peter. Bisherige Restaurierungsarbeiten im ältesten
Schaaner Gotteshaus verlaufen sehr vielversprechend - F rühe re
Kultursünden ausmerzen» . In: LVolksblatt, Donnerstag, 16. Februar
1 995. S. 5; «Die Kapelle St. Peter in Schaan erstrahlt in neuem
Glanz. Nach einjähr iger Arbeit ist die Renovation St. Peter jetzt zur
Weihnachtszeit abgeschlossen - Blick in die Geschichte des Gottes-
hauses». In: LVolksblatt. Mittwoch, 27. Dezember 1995, S. 3.
18) Zur Geschichte des «Schädlerhauses»: Pattyn (1994/2).
19) Zu Seraphin Pümpel (1821-1930); Castellani Zahir (1993),
S. 59. Anni . 3.
20) Zu den Brüdern Rudolf und Albert Schädler: Rheinberger (1994)
und Rheinberger (1997).
21) Ein Vorbericht über die interessanten Ausgrabungsergebnisse
bei Frommelt (1995/2).
22) Zur Renovation: Pattyn (1995) und Rechenschaftsbericht (1995).
S. 189.
23) Zur Platzgestaltung: Hartmann & Eberle (1995). S. 20. Eine
Plandarstellung zum Konzept der Platzgestaltung im Rechenschafts-
bericht (1995). S. 219.
24) Pressemitteilung über die Unterschutzstellung: «Drei Objekte in
Vaduz werden unter Denkmalschutz gestellt. Schaffung eines ar-
chäologischen Schutzes St. Florinsgasse Vaduz» - Unterschutzstel-
lung eines historischen Telephonmastes von 1925. In: LVolksblatt,
Freitag, 29. Dezember 1995. S. 2.
255
Abb. 4: Vaduz, «St. Florins-
gas se» . Blick auf das
« S c h ä d l e r h a u s » nach
Abschluss der Renovation
1995. Im Vordergrund
sind die i m Rahmen der
Platzgestaltung nachge-
zeichneten Grundrisse der
einstigen Florinskapelle
erkennbar.
Mit der objektgerechten Renovation des «Schädler-
hauses» konnte eines der wenigen klassizistischen
Bürgerhäuser Liechtensteins konserviert werden.
Gleichzeitig wurde durch Anpassungsarbeiten die
Nutzung des Anwesens als Verwaltungsgebäude
verbessert. Der Miteinbezug der archäologischen
Befunde in die Platzgestaltung stellt eine Bereiche-
rung für das historische Amtsviertel von Vaduz dar.
256
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
HANSJÖRG F R O M M E L T
VADUZ, TELEFON-FREILEITUNGSMAST AUS
DEM «UNTEREN MÜHLEHOLZ» 2 5
1994 Abbau eines nicht mehr benötigten
Freileitungsmastes auf dem Areal der
ehemaligen Weberei Rosenthal im
«Unteren Mühleholz».
1995 Reinigung und Konservierung des
Mastes.
1995 Aufbau des konservierten Mastes auf
dem Areal westlich der stillgelegten
Spinnerei der Firma Jenny, Spoerry &
Cie. in Vaduz.
1995 Unterschutzstellung des Freileitungs-
mastes.2 6
Mit der Konservierung und durch die Unterschutz-
stellung konnte einer der wahrscheinlich letzten
Freileitungsmasten aus den Anfängen des Fern-
meldewesens im Fürstentum Liechtenstein erhal-
ten werden. Der Mast ist kurz nach dem in Kraft
getretenen Zollvertrag (1924) mit der Schweiz von
den PTT-Betrieben im Jahr 1925 aufgebaut wor-
den. Anlässlich der Konservierungsarbeiten konnte
das Herstellungsjahr 1925 im Innern des Mastes
freigelegt werden.
25) Zur Datierung des Freileitungsmastes: Frommelt (1994) S. 43
und Abb. 15, S. 41. Die Abbildung zeigt den Mast an seinem origina-
len Standort. Über die Geschichte des Telefonwesens in Liechten-
stein: Kobelt(1969).
26) Vgl . Rechenschaftsbericht (1995), S. 220. Presseberichte über
die Unterschutzstellung: «Historischer Telefonmast». In: LVaterland,
Montag, 26. Juni 1995, S. 5. «Telefonmast unter Denkmalschutz».
In: LVaterland, Freitag, 29. Dezember 1995, S. 9. «Drei Objekte in
Vaduz werden unter Denkmalschutz gestellt. Schaffung eines ar-
chäologischen Schutzes «St. Florinsgasse Vaduz» - Unterschutzstel-
lung eines historischen Telephonmastes von 1925. In: LVolksblatt,
Freitag, 29. Dezember 1995, S. 2.
A b b . 5: Historischer Tele-
fon-Freileitungsmast aus
dem « U n t e r e n Mühleho lz»
in Vaduz. Reinigung und
Konservierung i m Januar
1995.
A b b . 6: Historischer Tele-
fon-Freileitungsmast aus
dem « U n t e r e n Mühleho lz»
in Vaduz. Nach Abschluss
der Konservierungsarbei-
ten ist der Mast westlich
vor der stillgelegten Spin-
nerei der F i r m a Jenny,
Spoerry & Cie. in Vaduz
aufgestellt worden.
Abb. 8: Triesen. Haus Nr.
43 an der «Dor f s t r a s se» .
Nordostansicht des im
Jahr 1819 erbauten A n w e -
sens vor Renovationsbe-
ginn. Die Fassade folgt
dem Verlauf der «Dorf-
s t r a s s e » .
TRIESEN, « D O R F S T R A S S E » , HAUS NR. 43
Um 1386/87 Bau einer ersten Hofstätte.
1809 Erwähnung eines Hauses samt Stall im
Grundbuch.
1819 Erstellung des heute noch bestehenden
Hauses in Massivbauweise und Fach-
werktechnik. Teile des Kernbaus von
1386/87 wurden im Kellergeschoss
übernommen.
1907 Einbau eines Backofens, welcher um
1960 wieder abgebrochen worden ist.
1994 Baugeschichtliche Untersuchung.
1995 Beginn von Renovations- und Umbau-
arbeiten im Herbst.
1995 Unterschutzstellung.
Das Haus Nr. 43 an der Dorfstrasse steht an mar-
kantem Ort in einer Strassengabelung im histori-
schen Triesner Ortskern. Es zeichnet sich durch
guten baulichen Zustand und durch einen weitest-
gehend aus der Erbauungszeit stammenden Innen-
ausbau aus. Unerwartet ist der Bauhistoriker im
Keller des heutigen Hauses auf Teile eines älteren
Baus gestossen, dessen Entstehung sich mittels
dendrochronologischer Altersbestimmung von vor-
gefundenen Holzbalken in die Jahre 1386/87 datie-
ren lässt. Zweifelsohne gehören diese zum heuti-
gen Zeitpunkt zu den ältesten in Liechtenstein den-
rochronologisch datierten Bauhölzern.
258
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
HANSJÖRG F R O M M E L T
Verlust des Jahres 1995:
VADUZ, «MARIANUMSTRASSE» , ARBEITER-
WOHNHAUS
1865 Bau eines Webereitraktes durch die
Firma «Kaspar Honegger, mechani-
sche Baumwollweberei in Mühleholz-
Vaduz» im «Unteren Mühleholz». 2 7 Be-
ginn der Produktion ein Jahr später.
1869 Verkauf der Fabrik an die «k. k. privile-
gierte Spinnerei Rankweil». Der Betrieb
- in Liechtenstein nach den Haupt-
inhabern «Rosenthal'sche Fabrik» ge-
nannt - wird unter dem Namen «Me-
chanische Weberei Vaduz» weiterge-
führ t . 2 8
A b b . 9: Vaduz. Arbei ter-
wohnhaus der «Rosen-
thal'schen Fab r ik» an der
« M a r i a n u m s t r a s s e » vor
dem Abbruch . Blick auf
die Nordfassade des Rei-
henhauses.
27) Vgl. Ospelt (1972), S. 268, und Pattyn (1994/1), S. 48-49.
28) Ospelt (1972), S. 268. Angaben zur weiteren Geschichte der
Weberei bei Ospelt (1972) und Pattyn (1994/1).
259
Um 1885 Errichtung des Arbeiterreihenwohn-
hauses im «Unteren Mühleholz» mit
vier Wohneinheiten.2 9 .
1993 Baugeschichtliche Untersuchung und
industriearchäologische Würdigung.
1994 Antrag der Gemeinde Vaduz an die
Fürstliche Regierung auf Unterschutz-
stellung des Objekts.3 0
1995 Abbruch des Reihenhauses in der letz-
ten Augustwoche.3 1
Beim Arbeiterwohnhaus der «Rosenthal'schen Fa-
brik» handelte es sich um eine der ältesten noch in
weitestgehend ursprünglichem Bestand erhaltenen
Arbeiterunterkünfte in Liechtenstein. Überdies
konnte es zu den ersten im Land errichteten Rei-
henhäusern gezählt werden. 3 2 Unterlassene Unter-
haltsarbeiten führten zu einem verwahrlosten,
aber immer noch renovationsfähigen Zustand des
seit Jahren leerstehenden Gebäudes. Trotz den
Empfehlungen der Gemeinde Vaduz und der Denk-
malschutz-Kommission der Fürstlichen Regierung
ist das Reihenhaus im Herbst 1995 abgebrochen
worden. 3 3
29) Pattyn (1994/1), S. 49.
30) Ratstube (1994).
31) Rechenschaftsbericht (1995), S. 218-219.
32) Frommelt (1994), S. 43.
33) Gemäss der Beantwortung einer kleinen Anfrage im Landtag
veranlassten Verhandlungen für einen Bodentausch die Regierung,
das «Rosenthal 'sche» Reihenhaus abbrechen zu lassen. Die Regie-
rung wolle sich aber für den Erhalt eines Arbeiterwohnhauses in
Triesen einsetzen. Vgl. «Erhal tenswer ter Arbei terbau». In: LVater-
land, Donnerstag, 21. Apri l 1994, S. 4; und: «Für Erhalt der Triesner
Kosthäuser. Eine kleine Anfrage des FL-Abgeordneten Paul Vogt zu
einem Grundstücktausch (Areal Röckle/Schulzentrum Mühleholz) in
Vaduz». In: LVaterland, Mittwoch, 27. Apr i l 1994, S. 9.
260
D E N K M A L S C H U T Z IN L I E C H T E N S T E I N
HANSJÖRG F R O M M E L T
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der Pfarrkirche St. Lauren-
tius. Schaan, 1991.
ABBILDUNGSNACHWEIS
A b b . 1-6, 9: H a n s j ö r g
Frommelt , Archäo log ie F L ,
Triesen
Abb . 7 und 8: Peter Alber-
tin, Bauhistoriker, Winter-
thur
ANSCHRIFT DES AUTORS
H a n s j ö r g Frommel t
Landesverwaltung des
F ü r s t e n t u m s Liechtenstein
Archäo log ie
Messinastrasse 5
Postfach 417
FL-9495 Triesen
262
R E Z E N S I O N E N
Inhalt
Für Liechtenstein im Einsatz als Botschafter
des Sports 265
Geistliche und Bauern 268
Werdenberger Jahrbuch 1997 272
Das römische Gräberfeld von
Bregenz - Brigantium 279
264
REZENSIONEN/FÜR L I E C H T E N S T E I N IM EINSATZ
A L S B O T S C H A F T E R DES SPORTS
Für Liechtenstein im Einsatz
als Botschafter des Sports
Ende Oktober 1996 wurde in Balzers ein Buch vor-
gestellt, das es aus verschiedenen Gründen ver-
dient, hier kurz angezeigt und empfohlen zu wer-
den. Es handelt sich um die Lebenserinnerungen
des 1913 geborenen Xaver Frick, gemäss Balzner
Haus- und Sippenname «s Bibele-Kaspers Xaver».
Xaver Frick, der im sportlichen und alpinistischen
Bereich sowohl als Aktiver als auch auf Funk-
tionärsebene eine landbekannte Grösse ist, berich-
tet in seinem Buch über seinen «Einsatz als Bot-
schafter des Sports» von 1932 bis 1992. Dieser
Titel hätte, um das vorwegzunehmen, einer Ergän-
zung bedurft, besteht doch ein wesentlicher Teil
der «Erinnerungen» aus einprägsamen Schilderun-
gen von Wanderungen, Entdeckungen und Erleb-
nissen in der liechtensteinischen Bergwelt.
Das Buch, zusammengestellt und gestaltet von
Klaus Isele aus Eggingen (Edition Isele), kommt in
seinem transparenten Umschlag ungewohnt daher.
Die schlichte, aber gediegene und überaus anspre-
chende Graphik, die interessanten Bebilderungen,
die den lesefreundlich aufgemachten Text beglei-
ten, lassen einem das Buch gerne in die Hand neh-
men. Das Titelbild zeigt den noch jungen Xaver
Frick, wie er sich - in voller Kleidung und mit
einem etwas schüchtern-verschmitzten Lächeln -
an einer Sprossenwand festklammert. Vom Hals
baumelt ein Photoapparat, als ob Xaver Frick den
Moment (wie viele seiner Erlebnisse) gleich festhal-
ten und dokumentieren möchte. Das Bild spricht
für sich.
In einer wie ein munteres Bächlein stetig dahin-
rinnenden Sprache erzählt Xaver Frick mit einem
beeindruckenden Erinnerungsvermögen, das auch
kleinste Details gespeichert hat, über sechs Jahr-
zehnte aktives Sportlerleben. Der schnörkellose
und unprätentiöse Erzählstil macht die Lektüre
leicht und angenehm. Die «Erinnerungen» zeigen
eine geradlinige Persönlichkeit, welche die sport-
liche Entwicklung in Liechtenstein nicht nur über
einige Jahre, sondern über mehrere Jahrzehnte
hinweg aktiv mitgestaltet hat. In diesen Jahrzehn-
ten hat der Sport eine unglaubliche Entwicklung
erfahren, von einer in der Öffentlichkeit etwas ver-
pönten Leibesertüchtigung und einem Zeitvertreib
X A V E R FRICK: FÜR
L I E C H T E N S T E I N IM
EINSATZ A L S B O T S C H A F -
T E R DES SPORTS.
E R I N N E R U N G E N
1932 BIS 1992.
Vaduz, Schalun Verlag,
1996 .338 Seiten, C H F 48.-
ISBN 3-908186-06-4
265
hin zu einem durchorganisierten, weitgehend pro-
fessionalisierten und vielfach dominierenden Le-
bensbereich, ja fast hin zu einer, wie an anderer
Stelle behauptet wurde, «Ersatzreligion». Diese
Entwicklung lässt sich für Liechtenstein in ihren
wesentlichen Elementen auch in den «Erinnerun-
gen» von Xaver Frick mitverfolgen, aus denen sich
auch gesellschaftliche, sportsoziologische, pädago-
gische, mentalitätsmässige und wirtschaftliche Ver-
änderungen im liechtensteinischen Alltag heraus-
filtern lassen. Der Sportpionier Xaver Frick hat das
Sportgeschehen in unserem Lande wie kein zwei-
ter mitgemacht, gefördert, geprägt und mitverfolgt.
Er berichtet von seinen vielfältigen Erfahrungen,
spickt den Text mit amüsanten Anekdoten und
denkwürdigen Episoden, vermittelt viele kleine
Einblicke in das damalige Alltagsleben und würzt
die Ausführungen beiläufig mit trockenem Humor.
Im zweiten Teil der «Erinnerungen» berichtet
Xaver Frick von seinen Erlebnissen in den liechten-
steinischen Bergen, die man, falls man sie nicht
kennt, dank seiner Schilderungen gleichsam ent-
decken kann. Die «Erinnerungen» sind darum
auch in landeskundlicher Hinsicht interessant und
teilen viele Reminiszenzen und Bergerfahrungen
mit. Im Sommer und im Winter zog es Xaver Frick
in die Alpenwelt hinter dem Kulm, zu Wanderun-
gen, Skitouren, Abfahrten und Ausflügen. In diese
Erfahrungswelt gehören auch seine Funktionen im
Liechtensteiner Alpenverein, in dessen Vorstand er
über 30 Jahre mitgewirkt hat, davon 29 Jahre als
Präsident. Das ehrenamtliche Engagement Xaver
Fricks im Dienste von Vereinen und Verbänden
Liechtensteins ist insgesamt beeindruckend. Er
war Gründungsmitglied des Landessportverbandes
(1936), wo er die Fachgruppe Leichtathletik und
Turnen leitete, er war Mitbegründer des Nationalen
Olympischen Komitees, dessen Sekretär er 1935
wurde. In den Jahren zwischen 1936 und 1948
war er aktiver Sportler an Olympischen Spielen
und Europameisterschaften, danach folgten bis in
die beginnenden Neunzigerjahre hinein die Tätig-
keiten als Sportfunktionär, Kampfrichter, Pressebe-
richterstatter und Delegierter an Sporttagungen in
aller Welt. Die letzte im Buch vorkommende Illust-
ration zeigt Xaver Frick, wie er anlässlich seiner
Vermählung 1991 zusammen mit seiner soeben
angetrauten Gemahlin Luise Beck aus dem Schäd-
lerhaus in Vaduz (Zivilstandsamt) tritt. Auch dieses
Bild spricht für sich: die jahrzehntelange Tätigkeit
in der Öffentlichkeit ist abgeschlossen, und Xaver
Frick fährt mit energischem Schwung in den Hafen
der Ehe, sprich: in sein privates Glück hinein.
Die in fünfzig kurze Abschnitte aufgeteilten «Er-
innerungen» von Xaver Frick bieten insgesamt
weniger die eigene Lebensgeschichte als vielmehr
die Beobachtungen eines Zeitgenossen , der auf vie-
les neugierig war und keine Scheu hatte, Neuem zu
begegnen. Die Bescheidenheit des Erzählers, sich
selbst nicht immer in das Zentrum zu stellen, son-
dern die eigene Rolle als den Teil eines ganzen Ge-
schehens aufzufassen, hebt sich wohltuend ab von
Berichten, in denen sich Erzähler als das Mass
aller Dinge nehmen. Die «Erinnerungen» von Xa-
ver Frick erzählen - auch das gehört zum eigent-
lich Interessanten - nicht von den grossen Ereig-
nissen, sondern von den alltäglichen Freuden und
Beschwernissen etwa anlässlich der Olympischen
Spiele seit 1936 und bei anderen Wettkämpfen. Der
Blickwinkel ist auch deshalb besonders, weil die
liechtensteinischen Teilnehmer (später auch Teil-
nehmerinnen) keine Stars und Favoriten waren,
sondern sich nach dem Motto «Mitmachen ist
wichtiger als gewinnen» an den Wettkämpfen be-
teiligten. Das hiess aber nicht, dass die liechtenstei-
nischen Sportler keinen Ehrgeiz gehabt hätten.
Ganz im Gegenteil glaubt man aus dem Text von
Xaver Frick noch heute leichten Ärger heraus-
spüren zu können, wenn er von erfolglosen An-
strengungen erzählt, oder echtes Bedauern, wenn
er von fruchtlosen Bemühungen seiner Sportkame-
raden berichtet. In seinen Erzählungen spielen der
Muskelkater, der Kampf des Diskuswerfers mit
dem Wind, der Kauf eines ersten Fussballs, die
frühesten Regungen von lokalen Sportvereinen und
landesübergreifenden Verbänden ebenso eine Rolle
wie Erlebnisse im Berlin von 1936, in London 1948
oder Mexiko 1968. Wir lernen auch die Grössen
der liechtensteinischen Sportgeschichte kennen:
darunter etwa die Leichtathleten Oskar Ospelt und
266
REZENSIONEN/FÜR L I E C H T E N S T E I N IM EINSATZ
A L S B O T S C H A F T E R DES SPORTS
Gebhard Büchel, die Radrennfahrer Adolf Schrei-
ber und Adolf Fleeb, die ersten liechtensteinischen
Olympioniken, Trainer und Funktionäre.
Der Sport gab Xaver Frick in einer Zeit, wo Rei-
sen beschwerlicher gewesen sind und meist an
Geldmangel scheiterten, viele Möglichkeiten, die
Welt zu sehen und alle Erdteile zu besuchen: Ber-
lin, Oslo, London, Rom, Mexiko und andere Orte.
Der Leser seiner «Erinnerungen» spürt den Stolz
von Xaver Frick, dabei gewesen zu sein, und er
kann das Staunen nachempfinden, das jemand er-
fährt, wenn er andere, neue, unbekannte Welten
erlebt. Damals musste die Welt, wenn man sie ken-
nenlernen wollte, noch «erlesen» oder besucht
werden, sie kam noch nicht per Fernsehen, Satellit
und Internet in die gute Stube.
Es ist eine eigene Welt, von der Xaver Frick er-
zählt. Sie hat sich geändert und gekehrt. Die «Erin-
nerungen» vermögen deshalb ein Stück liechten-
steinischer Identität zu bewahren und zu vermit-
teln. Sie dokumentieren auch auf eigene Art und
anhand einiger bestimmter Bereiche den Verände-
rungsprozess, den Liechtenstein in den vergange-
nen sechzig Jahren erlebt hat. Dafür müssen wir
dem Autor dankbar sein - auch dafür, dass er keine
ausufernden Ergüsse von sich gibt, keine Zensuren
an Zeitgenossen und -genossinnen austeilt, son-
dern in flott lesbarer, humorvoller und spannender
Weise die interessierte Leserschaft an sechzig Jah-
ren seines Lebens teilhaben lässt.
ANSCHRIFT DES AUTORS
lic. phi l . Ar thur Brunhart
F ü r s t e n s t r a s s e 49
FL-9496 Balzers
267
Geistliche und Bauern
OSKAR V A S E L L A : GEIST-
LICHE U N D B A U E R N .
AUSGEWÄHLTE A U F -
SÄTZE Z U SPÄTMITTEL-
A L T E R U N D R E F O R M A -
TION IN GRAUBÜNDEN
U N D S E I N E N N A C H B A R -
G E B I E T E N .
Hrsg. von U. Brunold, W.
Vogler. Chur, Verlag Bünd-
ner Monatsblatt/Desertina
A G , 1996. 722 Seiten,
C H F 9 8 . -
ISBN 3-905241-68-4
GEISTLICHE
UND
BAUERN
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JI.I NirkbirEThwifi
Fünf Tage vor Weihnachten 1966 verstarb der
Bündner Historiker und Geschichtsschreiber Oskar
Vasella (*15. Mai 1904), der ein umfangreiches
Werk hinterlassen hat. Der populäre und wissen-
schaftlich hochgeachtete Freiburger Ordinarius für
Schweizergeschichte vermochte im Verlaufe seiner
akademischen Karriere zahlreiche Schüler um sich
zu sammeln, darunter auch Historiker aus Liech-
tenstein. Mit dem Tod Vasellas ging in der Schweiz
eine Epoche der «katholischen» Geschichtsschrei-
bung, wie man sie nennt, zu Ende.
Das Hauptinteresse seiner Forschungen galt
Themen des Spätmittelalters und der Reformation
in Graubünden, im Bistum Chur und in der Alten
Eidgenossenschaft. Vasella ging es - hier grenzte er
sich von den Tendenzen der konfessionalistischen
Historiographie früherer Jahrzehnte ab - um die
kritische quellenorientierte Ursachenforschung der
Reformation sowie der kirchlichen Missstände, die
zur reformatorischen Erneuerung, schliesslich
aber doch zu einer Spaltung und Aufsplitterung der
Kirche in der Frühen Neuzeit geführt hatten (S. VII).
Seine Forschungstätigkeit über Reformation, Ge-
genreformation und Katholische Reform trugen zur
Begriffsklärung und Erweiterung des Wissensstan-
des über die Epoche des 16. Jahrhunderts bei.
Ein geographisches Zentrum seiner Forschun-
gen bildeten für den Bündner Vasella Graubünden
und das Bistum Chur, damit auch das Alpenrhein-
tal und das heutige Fürstentum Liechtenstein.
Neben grösseren Studien über «St. Nicolai in
Chur», über die «Bildungsverhältnisse» im Bistum,
über «Abt Theodul Schlegel» vom Churer St. Luzi-
Kloster und seine Zeit - darüber hatte schon der
Liechtenstein-Bündner Peter Kaiser geforscht -
über «Reform und Reformation in der Schweiz»,
über die «Taufe totgeborener Kinder» sowie Quel-
leneditionen legte er eine ganze Reihe von Aufsät-
zen in wissenschaftlichen Zeitschriften und ande-
ren Periodika vor.
Ursus Brunold, Adjunkt am Staatsarchiv Grau-
bünden, und Werner Vogler, Stiftsarchivar von
St. Gallen, haben es unternommen, dreissig Jahre
nach dem Tod Vasellas eine Sammlung von zwan-
zig seiner wissenschaftlichen Aufsätze neu aufzule-
268
R E Z E N S I O N E N
GEISTLICHE U N D B A U E R N
gen. Diese sind dank des Bemühens, Sachverhalte
aus den Zeitverhältnissen heraus zu beurteilen,
ebenso aufgrund ihres quellenkritischen Ansatzes
und neuer Fragestellungen immer noch sehr nütz-
lich und brauchbar bei die Erforschung der früh-
neuzeitlichen Geschichte des Bündner Raumes. Die
Herausgeber haben sich deshalb ein Verdienst er-
worben, zumal einige der Aufsätze an schwer er-
reichbaren Orten publiziert worden sind. Die Ar-
beiten stammen aus der Zeit zwischen 1930 und
1967 (posthum veröffentlicht), umfassen also die
Zeitspanne seines ganzen Forscherlebens. Sie wei-
sen Vasella gleichsam aus als einen Vorläufer der
zeitgenössischen schweizerischen Mentalitäts- und
Kulturgeschichtsforschung, die das «Denken und
Fühlen des Menschen mit seinen Nöten und Pro-
blemen als historische Faktoren in die Erforschung
der Geschichte» einbeziehen will (S. VIII).
Die wieder abgedruckten Artikel - der Titel des
Sammelwerkes «Geistliche und Bauern» weist auf
die zentralen inhaltlichen Schwerpunkte hin - be-
treffen die Kirchen-, Bildungs-, Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte. Sie gruppieren sich um die The-
menbereiche: Biographische Forschung, Schul-
und Bildungswesen, Klerus und Bistum, Reformati-
on, bäuerlicher Widerstand, historische Statistik
und Archivkunde. Die Biographien betreffen den
Schulmeister Jakob Salzmann und seine Briefpart-
ner Bruno und Bonifaz Amerbach, dann den Bünd-
ner Reformator Johannes Comander, schliesslich
den gelehrten Magister artium Erhard Koch, Arzt,
Theologe und Astrologe des 15. Jahrhunderts.
Aspekte des Bildungswesen behandeln die Stu-
dien über «mittelalterliches Schulwesen in Grau-
bünden», über die Stadt «Zürich als Bildungsstätte
für Graubünden vor der Reformation» und das
«Problem der Klerusbildung im 16. Jahrhundert».
Andere Arbeiten behandeln Fragen der «bischöf-
lichen Kurie», des «Seelsorgeklerus», der «kirch-
lichen Statistik» (eine methodisch zukunftsweisen-
de Studie), schliesslich auch der Problematik um
den «Konkubinat des Klerus» und die «Priester-
ehen seit der Reformation», die weit verbreitet wa-
ren und von Katholischer Reform und Gegenrefor-
mation stark bekämpft wurden. Eine zentrale Stel-
lung nehmen die Studien ein, welche das 16. Jahr-
hundert im Zusammenhang mit Reform, Reforma-
tion und bäuerlichen Unruhen in der Schweiz und
in Graubünden behandeln. Die Aufsätze befassen
sich mit der «bündnerischen Täuferbewegung»,
mit «Bauernkrieg und Reformation» in Graubün-
den, «Urkunden und Akten» zur Churer Reforma-
tionsgeschichte und dem «1. Ilanzer Artikelbrief».
Zwei Studien gelten den «Bauernartikeln von
1526», in denen Vasella das Vorhandensein demo-
kratischer Tendenzen und einer gewissen lokalen
Selbstverwaltung sichtbar macht. Ein anderes The-
ma gilt dem «Bruch Bischof Paul Zieglers mit den
Drei Bünden im Jahre 1524», womit Vasella das
Phänomen der zunehmend schwindenden welt-
lichen Herrschaft des Churer Bischofs und seiner
Konflikte mit den Drei Bünden anspricht. Ein ande-
rer Aufsatz behandelt den «bäuerlichen Wirt-
schaftskampf und die Reformation in Graubün-
den». Vasella geht darin (wie in weiteren Studien)
den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der
Reformation in Graubünden nach. Schliesslich be-
fasste sich Vasella im Aufsatz «Reform und Refor-
mation in der Schweiz» mit den Anfängen der
Glaubenskrise im 16. Jahrhundert.
Neben den überregionalen und regionalen Bezü-
gen bringen die Studien Vasellas auch Informatio-
nen hinsichtlich der Grafschaft Vaduz und der
Herrschaft Schellenberg, und zwar im Bereich der
kirchlichen Rechtsgeschichte, Pfarreibesetzungen,
Reformation und Bauernunruhen des beginnenden
16. Jahrhunderts.
Wir lernen etwa den Magister Jodok Neyer aus
Schaan («J. Neyer de Schan») kennen, der nach
dem Studium in Erfurt als Baccalaureus artium
(1487) eine kuriale Laufbahn einschlagen hatte
und 1509 als Kämmerer des Ruralkapitels Chur
amtierte. 1513 finden wir ihn als Inhaber des wich-
tigen Siegelamtes; als solcher macht er sich in den
Akten durch seine «sehr wenig gepflegte Schrift»
bemerkbar. Der Siegler leitete das gesamte No-
tariatswesen der bischöflichen Kurie, das inner-
halb der Diözese eine zentrale Stellung einnahm
und durch Urteils- und Notariatsgebühren aller Art
eine wichtige Einnahmequelle darstellte. Auch war
269
der Siegler Schriftführer des Konsistorialgerichtes
(S. 68, 649).
Andere Ausführungen Vasellas betreffen die
Prozesse, Bussen und Dispense Bastian Kremeis
und der Anna Haslerin wegen gebrochenem Ehe-
versprechen und einer trotz bekannter Blutsver-
wandtschaft vollzogenen Heirat. Bastian Kremel
erscheint auch als Zeuge im Zehntenstreit (1536)
des Pfarrers von Eschen mit dem Abt von Pfäfers
(S. 83). Angesprochen wird auch der Fall des
Schaaner Kaplans Johannes Winzürn, der beim
Ehebruch ertappt und bald darauf erschlagen wur-
de, vermutlich von Verwandten seiner betrogenen
Frau. Das geistliche Gericht verhängte das Inter-
dikt (u.a. Verbot, den Gottesdienst zu besuchen)
über die Gemeinde Schaan, die Erben des erschla-
genen Geistlichen bedurften einer eigenen Erlaub-
nis zur kirchlichen Beerdigung des Kaplans. Die
Täter wurden nicht nur gezwungen, die gericht-
liche Absolution zu erwirken, sondern auch für die
Aufhebung des Interdikts verantwortlich gemacht.
Solche konkreten Einzelfälle zeigen einige negative
Seiten der Situation des Klerus in der ersten Hälfte
des 16. Jahrhunderts. Viele Geistliche trugen Waf-
fen, waren notorisch dem Trunk zugetan, und foch-
ten nicht selten untereinander Streitereien mit
Messer, Axt oder Schiesseisen aus, auch in der
Wirtschaft, wie etwa 1515 in Vaduz (S. 659 f.).
Diese aus den Quellen herausgearbeiteten Schilde-
rungen informieren nicht nur über sozialgeschicht-
liche und rechtliche Bedingungen sowie allgemeine
gesellschaftliche Verhältnisse jener Zeit, sondern
verdeutlichen auch die unerfreuliche, zu vielen Kla-
gen Anlass gebende Situation innerhalb des nie-
deren Klerus am Vorabend der Reformation und
während der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhun-
derts.
Namentlich bekannt werden in Vasellas Studien
auch die Schaaner Pfarrherrn Jakob Fry (Pfarrer
1512-1524) und Christoffel Fisel (Pfarrer 1516) so-
wie verschiedene Schaaner Einwohner (S. 86 u. ö.).
Ebenso wird der bekannte Prozess vom Mai 1543
zwischen dem Pfarrer von Bendern als dem Vertre-
ter des Abtes von Roggenburg auf der einen sowie
der Stadt Chur auf der anderen Seite vor dem Frei-
herrn Ulrich Philipp von Hohensax angesprochen.
Vertreter der Stadt Chur hatten die Herausgabe des
Zehnten verlangt, den das Kloster St. Luzi im links-
rheinischen Haag (das bis 1637 zur Pfarrei Ben-
dern gehörte) besessen hatte (S. 511 f.).
Wichtige Informationen bringt Vasella hinsicht-
lich der Wiedertäufer und der Bauernunruhen in
unserer Gegend. Die Täufer hatten, wie eine In-
struktion der Regierung in Innsbruck an Vogt Ul-
rich von Schellenberg vom 15. September 1531 über
das Vorgehen gegen die Täufer zeigt (S. 119), auch
in der vorarlbergischen Nachbarschaft - wenn
auch erfolglos - Bestrebungen für Missionierungen
in Gang gesetzt. Die Vorarlberger Täufer hatten
Verbindungen nach Süddeutschland und Graubün-
den. Im benachbarten Weisstannen etwa hatte sich
der Pfarrer Caspar Albrechtshofer um 1523 der
Täuferbewegung angeschlossen.
Im Sarganserland war seit 1523 eine von Geist-
lichen geführte bäuerliche Oppostionsbewegung
gegen das Kloster Pfäfers entstanden, das dort (wie
auch in der Herrschaft Schellenberg) reiche Zehn-
ten besass. Gleichzeitig hatte sich auch in Bludenz
eine kirchliche Opposition in Verbindung mit einer
bäuerlichen Bewegung gebildet. Sie war aus kirch-
lichen Missständen herausgewachsen und ver-
knüpfte sozialpolitische und religiöse Motive. 1525
liess die Regierung in Innsbruck deshalb Festun-
gen, Schlösser und Burgen in Verteidigungszustand
versetzen, darunter Vaduz und Gutenberg. 1525
erwarteten die aufständischen Bauern in Vorarl-
berg «starke Hilfe» aus der Flerrschaft Schellen-
berg und der Grafschaft Vaduz, nachdem von dort
«die Meldung vom Aufstande der Leute am Esch-
nerberg, der Vaduzer und Schaaner» (S. 147) er-
folgt war. Am 12. Juni 1525 berichtete Erzherzog
Ferdinand an den Vogt und Hubmeister zu Feld-
kirch, die Grafschaft Vaduz stehe «in heller
Empörung». Hier suchten die Bauern, wie Vasella
ausführt, «Verbindung im benachbarten Maienfeld
und in Chur, ja sie gelangten an den Bundestag in
Chur, mit der Hoffnung, auch hier eine Gemein-
schaft der Tat verwirklichen zu können» (S. 148).
Vaduz und Schellenberg spielten also in der breit
angelegten, aber rasch unterdrückten und darum
270
R E Z E N S I O N E N
GEISTLICHE U N D B A U E R N
in ihrer Zielsetzung gescheiterten Front der Bau-
ernschaft von Chur bis an den Bodensee eine Rolle
(S. 147 f.).
In einem Beitrag zur «kirchlichen Statistik vor
der Reformation» ging Vasella näher auf eine be-
sondere Quelle ein, nämlich ein Verzeichnis der
Kollekten für das ganze Bistum Chur. Der liechten-
steinische Geschichtsforscher Peter Kaiser (1793
bis 1864), der 1856 das Bündner Bürgerrecht an-
genommen hat, hatte diese Quelle als erster be-
kannt gemacht und in seiner 1847 erschienen «Ge-
schichte des Fürstenthums Liechtenstein» verwen-
det. Fast hundert Jahre danach wurde das interes-
sante Schriftstück von Vasella in kritischer und
sorgfältiger Weise ediert (S. 564, 581, 589).
Insgesamt erscheinen die neu vorgelegten Auf-
sätze, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort unter-
streichen (S. X), «aus der Perspektive heute aktuel-
ler Fragestellungen in einem neuen Lichte» und
bieten «ein immer noch tragfähiges Fundament für
die weitere Erforschung des Spätmittelalters und
der Frühen Neuzeit in Graubünden». Zum Schluss
sei ausserdem vermerkt, dass die Herausgeber die
umfangreiche Artikelsammlung verdienstvoller-
weise mit einem ausführlichen und sehr nützlichen
Namenregister versehen haben. Dadurch werden
die Studien neu erschlossen und besser nutzbar.
ANSCHRIFT DES AUTORS
l ic. phi l . Ar thu r Brunhart
F ü r s t e n s t r a s s e 49
FL-9496 Balzers
271
Werdenberger Jahrbuch 1997
W E R D E N B E R G E R J A H R -
B U C H 1997, BEITRÄGE
Z U G E S C H I C H T E U N D
K U L T U R DER G E M E I N -
D E N W A R T A U , S E V E L E N ,
B U C H S , G R A B S , G A M S
U N D S E N N W A L D .
10. Jahrgang, hrsg. von
der Historisch-Heimat-
kundlichen Vereinigung
des Bezirks Werdenberg.
Buchs, BuchsDruck und
Verlag, 1996, 334 Seiten,
vergriffen*
ISBN 3-905222-79-5
W E R D E N B E R G E R J A H R B U C H
* Wei l das Buch offiziel l
nicht mehr erhäl t l ich ist,
wurde diese Rezension -
mit Absicht - etwas aus-
f ü h r l i c h e r gestaltet.
Für den vorliegenden zehnten Band in der Gesamt-
reihe hat die Historisch-Heimatkundliche Vereini-
gung des Bezirks Werdenberg mit dem Schwer-
punkt «Strassen und Wege» ein Thema gewählt,
das zweifellos auf ein grosses Interesse stösst und
bisweilen starke Emotionen weckt. Wie das übrige
Alpenrheintal, so ist auch der Bezirk Werdenberg
von einem dichten Netz an Strassen und Wegen
durchzogen, vom Fusspfad bis zur grossen Linie
der Autobahn. Die Entstehungsgeschichte sowie
die unterschiedliche regionale und überregionale
Bedeutung dieser Wegverbindungen werden im
vorliegenden Buch dargestellt. Das 334 Seiten
starke Buch umfasst 33 Beiträge von 29 Autorin-
nen und Autoren. Allein 24 Beiträge sind dem
Hauptthema «Strassen und Wege» gewidmet.
«[Strassen und Wege] ermöglichen den Aus-
tausch zwischen Nachbarn, Gemeinden, Gegenden,
Ländern. Auf ihnen kommen andere Menschen
und neue Waren zu uns. Sie öffnen den eigenen
Raum und lassen Fremdes ein. Die dadurch mög-
lich gewordene Mobilität hatte u. a. zur Folge, dass
immer mehr fremde Menschen ins Rheintal kamen
und sich hier dauerhaft niederliessen». Hans
Schlegel als Autor des ersten Beitrags «Plädoyer für
offene Strassen und Wege» sieht in dieser von ihm
skizzierten (heutigen) Situation einen Gewinn. Er
plädiert für Wege und Zugänge, die ein «multi-
kulturelles Neben- und Miteinander» nicht als Last,
sondern als Bereicherung erlebbar und erfahrbar
machen. Hingegen hebt Otto Ackermann im folgen-
den zweiten Beitrag die Schattenseiten der heu-
tigen (Auto-)Mobilität hervor. Den Zürcher Kultur-
soziologen Hanspeter Meier-Dallach zitierend,
schreibt Ackermann: «Das Gefühl, im Längsschnitt
Dörfer, Städte, Täler, Pässe, Regionen zu passieren,
füllt einen beachtlichen Teil der Erlebniszeit der
mobilen Bevölkerung. Jeder durchschrittene Ort ist
in der Zeit pro Kilometerrechnung ein Orientie-
rungspunkt für die noch zu überwindende Strecke.
Die durchfahrene Kulturlandschaft bleibt dabei
förmlich auf der Strecke.» 1
Peter Martin Schindler weist im dritten Beitrag
allgemein auf die Bedeutung von Strassen und Ver-
kehrverbindungen in römischer Zeit hin. Er macht
272
R E Z E N S I O N E N
W E R D E N B E R G E R J A H R B U C H 1997
auch einen Exkurs in die Forschungsgeschichte,
weist hier vor allem auf die im 19. Jahrhundert
verbreitete Tendenz hin, viele Strassen als «rö-
misch» zu taxieren, die erst ab dem Mittelalter klar
nachweisbar sind. Schindler verweist auch die Vor-
stellung, dass jede Römerstrasse ein sauber ge-
pflasterter Weg war, ins Reich der Legenden. Es gilt
indessen - so Schindler - als sicher, dass seit der
römischen Kaiserzeit sowohl durch das werden-
bergische linksrheinische Gebiet wie auch durch
das rechtsrheinische, durch Liechtenstein führende
Gebiet eine befahrbare Verkehrsverbindung führte.
Schindler beschliesst seine Ausführungen mit Hin-
weisen auf frühmittelalterliche Verkehrswege und
Fortbewegungsmittel im Alpenrheintal.
Hans Schupbach stellt das «Inventar histori-
scher Wege der Schweiz» (IVS) vor. Dessen Aufgabe
bestehe darin, «ein Hinweisinventar von schüt-
zenswerten historischen Wegen für die Raumpla-
nung zu erstellen». Ebenso habe das IVS die
Pflicht, «Vorschläge für die sinnvolle Wiedernut-
zung der alten Verkehrsverbindungen zu machen»,
so zum Beispiel durch Einbezug ins Wanderweg-
netz.2 Das IVS ist für einzelne Kantone bereits er-
stellt, für den Kanton St. Gallen wurden jedoch erst
punktuelle Vorarbeiten geleistet.
Zum Thema «Verkehr und Verkehrssicherheit»
schreibt Fritz Rigendinger den darauf folgenden
Beitrag. Er erwähnt dabei eine Transportkosten-
liste, welche Mailänder Kaufleute für die Strecke
Konstanz-Biasca um 1400 erstellt hatten. Hier
wurden auch die einzelnen Stationen des Trans-
portweges aufgezeichnet. Im Rheintal zwischen
dem Bodensee und Chur waren es: Rheineck, Blat-
ten (bei Oberriet), Feldkirch, Schaan, Balzers,
Maienfeld und Zizers. Der Gütertransport erfolgte
meist durch einheimische Fuhrleute im Rodver-
kehr, d. h. in einer genau festgelegten Reihenfolge
waren die Fuhrleute eines Dorfes bzw. eines Rod-
bezirkes berechtigt, auf einem bestimmten Strek-
kenabschnitt Warentransporte durchzuführen. Die-
se Fuhrleute holten die für den Transport bestimm-
ten Waren in der Sust (im Lagerhaus, auch
«Zuschg» genannt), z. B. in Rheineck, ab und beför-
derten diese Güter bis zur nächsten Sust (in diesem
Fall südwärts bis Blatten). Von Blatten aus wurden
die Güter durch Fuhrleute eines anderen Rod-
bezirks weiterspediert. Für diese Rodfuhrleute -
durchwegs Bauern - war diese bezahlte Tätigkeit
ein willkommener Nebenverdienst. Kaufleute, de-
nen diese Art des Warentransportes zu langsam
ging, gaben ihre Güter (meist auswärtigen) Stracks-
fuhrleuten mit, die das Recht hatten, grössere
Strecken durchzufahren, ohne an jeder Sust aufge-
halten zu werden. Dieser Stracksverkehr wurde
eine starke Konkurrenz für den traditionellen Rod-
verkehr. Doch auch stracks durchgeführte Güter
waren - noch im frühen 19. Jahrhundert - vom Bo-
densee bis Chur drei Tage unterwegs.3
Der 740 Meter hohe Schollberg «wurde nicht
nur mit dem Verkehrshindernis des Felshügels
zwischen Vild und Azmoos verbunden, sondern
hat dem gesamten linksrheinischen Verkehr und
dessen Organisation den Namen gegeben.» 4 Otto
Ackermann berichtet über den mühseligen (Aus-)
Bau der Schollbergstrasse in den Jahren 1490 und
1) Werdenberger Jahrbuch 1997, S. 12. - Auf S. 13 ebenda konsta-
tiert Ackermann jedoch ein (langsam) wachsendes Bewusstsein über
die Verheerungen, welche die unbegrenzte Mobilität unserer Kultur
zugefügt hat: «Allerdings d ä m m e r t in Geschichten wie der von den
dänischen Kartoffeln, die in Italien gewaschen werden, um in Belgien
zu Pommes frites für England verarbeitet zu werden, die Einsicht,
dass ein gewaltiger Verkehrsstrom sinnlos wie eine Lawine zerstöre-
risch durch das eng besiedelte Europa und durch die Flaschenhälse
der Alpenpässe zirkuliert. Frische Erdbeeren unter dem Christbaum,
das Sonnenbad in der Karibik an Neujahr und viele weitere «Errun-
genschaf ten» des globalen Verkehrs pervertieren, d.h. verkehren
Sinn und Richtung von Orientierung und Empfindung.»
2) Ebenda, S. 30.
3) Ebenda, S. 32. Zum Thema «Das Rod- und Fuhrwesen im Fürsten-
tum Liechtenstein» schrieb Klaus Biedermann 1994 an der Univer-
sität Bern eine Lizentiatsarbeit Eine Zusammenfassung dieser
Arbeit in: Arthur Brunhart (Hrsg.): Historiographie im Fürs tentum
Liechtenstein. Grundlagen und Forschung im Überblick. Zürich,
1996. S. 157-162. Die gesamte Arbeit erscheint in einem der
kommenden J a h r b ü c h e r des Historischen Vereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein (JBL).
4) Werdenberger Jahrbuch 1997, S. 47.
273
1491 durch die expandierenden Eidgenossen,5
wodurch die linksrheinische Verkehrsroute attrak-
tiver gemacht werden sollte. Diese hatte bisher
immer etwas im Schatten der stärker frequentier-
ten, durch das heutige Fürstentum Liechtenstein
führenden rechtsrheinischen Strasse gestanden.
Die Titelseite des Werdenberger Jahrbuchs 1997
zeigt die Schollbergstrasse in einer zeichnerischen
Darstellung, geschaffen vom holländischen Künst-
ler Jan Hackaert im Jahre 1655. Die historische
Bedeutung dieser Verkehrsverbindung wird da-
durch gewürdigt. 6 Ackermann ergänzt diese histo-
rische Illustration durch aktuelle Fotos, welche
auch 1996 den einstigen Verlauf dieser spätmittel-
alterlichen Schollbergstrasse noch sichtbar werden
lassen.
Die Strassen- und Wegverbindungen im Alpen-
rheintal änderten sich in der frühen Neuzeit sub-
stanziell und qualitativ kaum. Zwar kam es im spä-
ten 18. Jahrhundert - so zum Beispiel in Liechten-
stein - zum Ausbau von bereits bestehenden
Durchgangsrouten, doch zur entscheidenden Anle-
gung neuer und schnellerer Verkehrswege kam es
erst im 19. Jahrhundert. Hans Jakob Reich be-
leuchtet in seinem Beitrag «Von alten Landstrassen
und dem Bau der Kantonsstrasse» unter anderem
die Strassenbaupolitik des 1803 gegründeten Kan-
tons St. Gallen. Es war die Absicht des noch jungen
Kantons, seine neu gewonnenen «Randgebiete»
Werdenberg und Sargans näher an die Kantons-
hauptstadt St. Gallen zu binden. Während der Bau
einer neuen Strasse am Fusse des Schollbergs un-
bestritten war,7 gab es im frühen 19. Jahrhundert
beim Strassenbau im Rheintal Streit um die Linien-
führung. Der Kanton St. Gallen plädierte für die
(schliesslich grösstenteils verwirküchten) «schnur-
geraden Dammstrassen mitten durch die Ebene»,
während einzelne Ortschaften wie Grabs, Garns
und Sennwald dagegen opponierten aus Furcht,
durch die neue Schnellstrasse vom Durchgangsver-
kehr abgehängt zu werden. 8 So eine «schnurgera-
de» Verbindungsstrasse entstand zum Beispiel
1836 zwischen Gams und Haag. Damals ahnte man
noch kaum, wie sehr diese gerade Linienführung
den modernen Bedürfnissen nach Mobilität ent-
sprechen sollte: Der im Zuge der Industrialisierung
forcierte Eisenbahnbau im (späteren) 19. Jahrhun-
dert und das Aufkommen des Automobils im
20. Jahrhundert verlangten nach möglichst direk-
ten, schnell passierbaren Verkehrswegen.9
Die oben genannte Verbindungsstrasse zwi-
schen Haag und Gams entstand sozusagen als Ver-
längerung der 1829 bis 1830 gebauten Toggen-
burgstrasse, mit welcher erstmals eine durchwegs
befahrbare Wegverbindung zwischen Wildhaus
und Gams geschaffen wurde. Die Geschichte der
Toggenburgstrasse wird im vorliegenden Buch von
Noldi Kessler dargestellt. Er berichtet auch über
den 1830 zwischen Wildhaus und Haag eingerich-
teten Postkutschenverkehr. Haag blieb die Endsta-
tion für diese Postkurse bis 1874, um dann von
Buchs - welches dank der Eisenbahn stetig an Be-
deutung gewonnen hatte - in dieser Funktion ab-
gelöst zu werden. Die Pferdekutschen wurden
schliesslich auf dieser Strecke ab 1919 durch Mo-
torfahrzeuge ersetzt.
Nachdem ab 1831 Bau und Unterhalt von
Hauptstrassen eine kantonale Angelegenheit wa-
ren, musste St. Gallen für einzelne Streckenab-
schnitte, welche zwecks Unterhalt an Pächter 1 0 ver-
geben wurden, schriftliche Richtlinien erlassen.
Eine solche Unterhaltsordnung stellt das 1867 er-
stellte «Pflichtenheft» für den Wegmacher Christian
Fuchs aus Salez dar, welches hier von Hansjakob
Gabathuler vorgestellt wird.
Ein besonderes Augenmerk verdient der Beitrag
von Andreas Sprecher zum Thema «Gassen und
Wege am Grabserberg», in welchem er - mit Unter-
stützung von Hans Stricker - die «Entwicklung und
Bedeutung eines verzweigten Verkehrsnetzes in
den Zeiten vor dem Strassenbau» aufzeigt. Spre-
cher belegt, wie die Ansprüche an Wegverbindun-
gen im Laufe der Zeit stetig gewachsen sind: «Be-
nutzte man [sie] anfänglich nur als Fusswege[e]
und für den Viehtrieb in den Alpen, so wurde all-
mählich nicht mehr alles auf dem Rücken transpor-
tiert, sondern es kamen auch Schlitten, Schleipfen
und Karren zum Einsatz.» 1 1 Andreas Sprecher be-
schreibt die zahlreichen, teilweise in Vergessenheit
geratenen Wegverbindungen am Grabserberg, illu-
274
R E Z E N S I O N E N
W E R D E N B E R G E R J A H R B U C H 1997
striert durch historische Bildaufnahmen und ak-
tuelle Fotos von Hans Stricker, auf denen die alten
Wegläufe zum Teil noch gut erkennbar sind. Viele
Wegverbindungen entstanden in der Folge der Al l -
mendauflösung um 1800, die auch zu einer gewis-
sen Zersiedelung führte: «Durch die Bedürfnisse
der Nutzung bedingt, entstand in der Folge ein
dichtes Netz schmaler Fussweglein, die jedes Ge-
höft, ja fast jede Parzelle erreichten und diese un-
tereinander verbanden. Dieses Wegnetz wurde bis
zum Anbruch der Motorisierung stark benutzt und
blieb - dank der von der bäuerlichen Bevölkerung
als Selbstverständlichkeit betrachteten sorgfältigen
Pflege - bis dahin ungeschmälert erhal ten.» 1 2
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wur-
de dann die herkömmliche Tendenz im Wegbau zu-
sehends in Frage gestellt. Die Planung der Grabser-
bergstrasse nahm keine Rücksicht mehr auf ge-
wachsenes Kulturland und auf Bewirtschaftungs-
grenzen. Dem erst 1915 vollendeten Bau dieser
Strasse ging ein jahrzehntelanger Streit zwischen
Befürwortern und Gegnern voraus. Die Bewohne-
rinnen und Bewohner des Grabserbergs waren es
seit jeher gewohnt, die meisten Lasten auf dem ei-
genen Rücken zu tragen. Viele waren folglich der
Ansicht, dass die alten Fusswege, die zudem ko-
stengünstig unterhalten werden konnten, ihren
Zweck erfüllten. Also sahen diese Leute nicht ein,
weshalb eine sehr teuere, 3,60 Meter breite Strasse
gebaut werden sollte. Diese Auseinandersetzungen
werden in einem Beitrag von Mathäus Lippuner ge-
schildert.
Ebenfalls von Mathäus Lippuner stammt der fol-
gende Beitrag «Tragen und Führen am alten Grab-
serberg. Transporte und Transportmittel vor der
Motorisierung». Lippuner beschreibt hier alte
Traggegenstände, wie zum Beispiel das «Reff», ein
Rückentraggestell, welches sich gut zum Transport
sperriger Gegenstände eignete. Ebenso erwähnt er
die für Milchtransporte gebrauchte Holztanse, die
heute - sofern noch vorhanden - «zum Schirmstän-
der oder zum Dekorationsstück degradiert» ist. 1 3
Weiters setzt Mathäus Lippuner einzelnen nament-
lich bekannten Warenträgern und Ausläufern ein
Denkmal, indem er ihren Arbeitsalltag schildert,
der zudem durch interessantes Bildmaterial doku-
mentiert ist. Die fortschreitende Motorisierung in
den fünfziger Jahren verdrängte diese naturscho-
nenden Transportformen, was für die betroffenen
Menschen zwar eine enorme physische Erleichte-
rung darstellte, jedoch einherging mit einem unwi-
derbringlichen Verlust an Kultur und Tradition.
Pferde als Zugtiere für Transporte werden je-
doch vereinzelt immer noch eingesetzt, so zum Bei-
spiel beim Holzrücken und Holztransport in
schwierigem Gelände. Dies belegt Jürg Trümpier in
seiner Abhandlung «Waldwege gestern und heute».
Das 1902 revidierte Forstgesetz schuf die juristi-
sche Grundlage und - mittels Subventionsspritze -
erst den Anreiz zum Bau von befahrbaren Waldwe-
gen, die jedoch primär der Waldnutzung dienten.
Das war speziell nach den beiden Weltkriegen eine
willkommene Arbeitsbeschaffung, doch heutzutage
5) Die «Sieben Orte» Zürich, Luzern. Zug, Ur i , Schwyz, Unterwaiden
und Glarus hatten 1483 die Herrschaftsrechte der Grafschaft Sar-
gans käuflich erworben; die Herrschaft Werdenberg wurde dann
1517 Untertanengebiet von Glarus.
6) Diese - im Gegensatz zum bis 1490 bestehenden alten Saumpfad
- auch für Fuhrwerke passierbare neue Schollbergroute wertete
aber nicht nur die linksrheinische Nord-Süd-Verbindung, sondern
auch die Ost-West-Verbindung auf. Die Schollbergroute dürf te zudem
bereits im Mittelalter für die vom Tirol in die Schweiz gehenden
Salztransporte ein wichtiger Durchgangsweg gewesen sein.
7) Dieser Bau war schon lange geplant, doch erst die Erfahrung der
Hungerjahre 1816/17. die das Fehlen eines leistungsfähigen Ver-
kehrsnetzes bei E rnäh rungsengpässen schmerzlich ins Bewusstsein
gerufen hatten, brachten Bewegung in die Strassenbaufrage.
Schliesslich bewilligte der St. Galler Grosse Rat 1821 die Summe von
61 000 Gulden für diesen Strassenbau.
8) Anders als heute wollten die Dörfer im 19, Jahrhundert noch den
Durchgangsverkehr, da er sich einerseits in er t rägl ichem Rahmen
hielt und andererseits Verdienst, Wohlstand und Abwechslung in die
Dörfer brachte.
9) Vgl . hierzu auch Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisen-
bahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahr-
hundert. München, Wien, 1993.
10) Diese Pacht konnte von Privatpersonen ü b e r n o m m e n werden,
doch auch einzelne Gemeinden konnten als Pächter innen auftreten.
11) Werdenberger Jahrbuch 1997, S. 124.
12) Ebenda. S. 126.
13) Ebenda, S. 160.
275
ist die Walderschliessung mittels Verkehrswegen
sehr weit (zu weit?) fortgeschritten. So macht der
Autor zum Standard der Werdenberger Waldwege
die folgende Feststellung: «Die Waldwege, wie wir
sie heute haben, genügen in ihrem Komfort - mehr
wäre fehl am Platz.» 1 4
Im Zeitraum 1951 bis 1961 verdreifachte sich
der Motorfahrzeugverkehr im Kanton St. Gallen,
und die bisherigen Durchgangsstrassen waren die-
sem enormen Verkehrsaufkommen nicht mehr ge-
wachsen. Hans Schmidt berichtet über diese Ver-
änderungen sowie über geplante und zum Teil
durchgeführte strassenbauliche Massnahmen. Die
alten Beläge - zumeist in Leichtbauweise erstellte
Schottertränkungen - hielten dem aufkommenden
Lastwagenverkehr nicht mehr stand und wurden
in den sechziger Jahren durch das heute noch ver-
wendete Kies-Bindemittel (= Teer)-Gemisch er-
setzt. Zur besseren Bewältigung des Verkehrsauf-
kommens wurden Strassen-Korrektionen und Ver-
breiterungen beschlossen, denen innerorts leider
auch historisch bedeutsame Gebäude zum Opfer
fielen. Hans Schmidt belegt zudem den Wandel im
Strassenunterhalt: Der altgediente Wegmacher
wurde immer mehr durch Strassenwärter ersetzt,
die zwecks Schutz vor dem wachsenden Verkehr
und zur besseren Sichtbarkeit orange eingekleidet
wurden.
Otto Ackermann berichtet über die Planungen
der Fünfzigerjahre für den schliesslich ausgeführ-
ten Autobahnbau im St. Galler Rheintal. Das beson-
ders vom Kanton forcierte Projekt stiess nicht zu-
letzt deswegen auf wenig Ablehnung, weil die Lini-
enführung nahe beim Rheindamm geplant wurde.
Es musste folglich nur wenig Landwirtschaftsfläche
geopfert werden. Hingegen wurde ein Grossteil des
Auenwaldes zerstört, was jedoch in einer Zeit, in
der Belange des Natur- und Landschaftsschutzes
noch keine Lobby hatten, kaum anstössig war. Als
einer der wenigen setzte sich Kreisoberförster Jo-
sef Widrig für die Belange des Auenwaldes ein. 1 5
Sein Engagement blieb erfolglos, wird aber im vor-
liegenden Buch von Otto Ackermann gewürdigt. In
mehreren Etappen erfolgte schliesslich in den Jah-
ren 1964 bis 1980 die Errichtung dieser Autobahn,
deren «Baugeschichte» von Max Boller dargestellt
wird. Viel zu reden gab dabei der Buchser Stras-
senanschluss an die Autobahn. Maja Suenderhauf
schildert, wie es zur heutigen Linienführung, die
anfangs heiss umstritten war, kam.
Die Zerstörungen, die durch den Autobahnbau
an der Natur verübt wurden, verlangten nach
Kompensation. Hans Schäpper, Vogelschutzob-
mann für Werdenberg und Liechtenstein, berichtet
über seinen hartnäckigen, aber schliesslich erfolg-
reichen Kampf zur Schaffung des Naturschutzge-
bietes «Wiesenfurt». In seinen «Gedanken zur N 13
aus der Sicht der Umwelt» fragt Heiner Schlegel, ob
man die Autobahn nicht umweltschonender hätte
realisieren können und ob verkehrstechnisch nicht
bessere Lösungen denkbar gewesen wären . 1 6 Zwar
meint Schlegel ziemlich illusionslos: «Die Autobahn
ist ein massiver Eingriff, dessen Wunden nie ver-
heilen für jene, welche die Verhältnisse vorher ge-
kannt haben.» Dennoch gibt er Anregungen, wie -
gerade auch im Bereich des Lärmschutzes - Scha-
densbegrenzung möglich wäre.
Da das Phänomen «Verkehr» immer komplexer
und dessen Beschleunigung gerade für schwächere
Verkehrsteilnehmer wie zu Fuss gehende Kinder
eine wachsende Gefahr geworden ist, legt die
St. Galler Kantonspolizei grossen Wert auf die schu-
lische Verkehrserziehung. Über diese Bemühungen
berichtet in diesem Buch Dominik Eberhard. Doch
nach Ansicht von Markus Hartmann und Jürg Lori
ging diese Verkehrserziehung lange Zeit davon aus,
dass die Fussgängerinnen und Fussgänger den
Verkehrsfluss störten, «und diese Störfaktoren
mussten beseitigt werden» . 1 7 In ihrem Beitrag «Die
Verdrängung der Menschen aus dem Strassen-
raum» beschreiben LIartmann und Lori diesen Pro-
zess, der in den dreissiger Jahren langsam einge-
setzt hatte und mit der heutigen, ungesund hohen
Motorisierung des Verkehrs praktisch abgeschlos-
sen ist. 1 8 Dieser Verdrängungsprozess wird ein-
drücklich veranschaulicht durch das Nebeneinan-
derstellen von Fotoaufnahmen, welche dieselben
Plätze und Strassen im frühen 20. Jahrhundert und
- als Vergleich dazu - im heutigen Zustand zeigen.
(Interessant am Rande: Erst das schweizerische
276
R E Z E N S I O N E N
W E R D E N B E R G E R J A H R B U C H 1997
Bundesgesetz von 1932 über den Motorfahrzeug-
und Fahrradverkehr verpflichtete die Fussgänger
zur Benützung des Trottoirs!)
Jürg Dietiker verweist in seinem anschliessen-
den Beitrag auf das Dilemma, in welchem er sich
als Verkehrs- und Raumplaner befindet, da er die
Interessen der Autobegeisterten und der Umwelt-
schützer gleichermassen zufrieden stellen sollte.
Doch Dietiker plädiert eindeutig für ein Umdenken
im Bereich Strassenbau. Er verweist kritisch dar-
auf, dass der Strassenbau bisher «eine ausschliess-
liche Männerdomäne» gewesen sei und dass gene-
rell in den letzten 40 Jahren in der Schweiz «mehr
gebaut» wurde «als in den 2000 Jahren davor»,
was alleine durch das Bevölkerungswachstum
nicht zu erklären sei. Er gibt sich nicht der Illusion
hin, dass kurzfristig ein massiver Rückgang des
Autoverkehrs stattfinden wird, sondern er plädiert
vielmehr dafür, dass vorerst ein «Anbau der priori-
tären Beanspruchung von Siedlungsräumen durch
den Autoverkehr» stattfinden müsse. Dies könne
geschehen durch eine verkehrsberuhigte Neuge-
staltung von Strassen und Plätzen innerorts, die
auch den schwächeren Verkehrsteilnehmern wie-
der einen sicheren Raum gewährt. Als Beispiel
hierfür wird die neugestaltete Bahnhofstrasse in
Buchs genannt. Hier haben Fussgängerinnen und
Fussgänger einen Teil der Strasse zurückerobert,
für grössere Wanderungen und Spaziergänge im
Bezirk Werdenberg wird seit einigen Jahren ein ge-
pflegtes Wanderwegnetz aufgebaut, über das im
folgenden Beitrag von Walter Schlegel berichtet
wird.
Das Werdenberger Jahrbuch 1997 enthält wei-
tere Beiträge, die nicht zum Hauptthema «Strassen
und Wege» gehören. Natürlich enthält das Buch die
alljährlich wiederkehrenden Rubriken wie den Jah-
resbericht der Historisch-Heimatkundlichen Verei-
nigung des Bezirks Werdenberg, den Jahresrück-
blick über die Ereignisse im Bezirk, statistische An-
gaben, Wahl- und Abstimmungsergebnisse, or-
nithologische Betrachtungen, Buchbesprechungen
sowie ein chronologisches Verzeichnis der Todes-
fälle im Werdenbergischen (nach Möglichkeit mit
einem Bild der Verstorbenen).
Doch daneben hat es noch mehrere kleinere Ab-
handlungen, die hier aus Platzgründen nur stich-
wortartig genannt werden: Reto Neurauter aus
Grabs schreibt über die Buchser Zeichnerin und Il-
lustratorin Constanza Filii Villiger, Elsbeth Maag-
Lippuner und Maja Suenderhauf stellen im Beitrag
«Werdenberger Lyrikschaffen» Gedichte von Peter
Böham (t), Katja Eggenberger und Maria Lutz-
Gantenbein (t) vor, Jakob Bill berichtet über im
Jahre 1883 in Salez gefundene Beile aus der Früh-
bronzezeit. Weiters stellt Werner Vogler eine Ur-
kunde aus dem Jahre 847 vor, in der Salez nament-
lich erwähnt wurde, Regula Steinhauser-Zimmer-
mann schreibt zum 30jährigen Bestehen der
St. Galler Kantonsarchäologie; die von August Hard-
egger entworfenen katholischen Diasporakirchen
in Buchs (erbaut 1896-1898; abgebrochen 1964)
und in Azmoos (erbaut 1891-1892) werden von Jo-
hannes Lluber vorgestellt. Emma Dürr-Kaiser be-
leuchtet das Schicksal eines ungarischen Kindes,
welches geschwächt und kränklich 1945 in die
Schweiz kam, kurz darauf aber starb. Werner
Hagmann würdigt den 1996 verstorbenen Lokal-
historiker Jakob Gabathuler, und Albert Bicker do-
kumentiert verloren gegangenes Brauchtum bei
Bestattungen in Grabs.
14) Ebenda, S. 174.
15) So schrieb Josef Widrig 1964: «Demnächs t müssen für den Bau
der Rheinstrasse, der Nationalstrasse Nr. 13, die Deutschland mit
Italien verbindet, weitere 40-50 ha Wald geopfert werden. Es ist
höchste Zeit, dass sich Volk und Behörden übe r die Bedeutung der
Rheinauen Rechenschaft geben und aus diesen Überlegungen heraus
die noch vorhandene Bestockung vor weiterer Dezimierung bewah-
ren» (Werdenberger Jahrbuch 1997, S. 198).
16) Wie schon vor ihm Kreisoberförs ter Josef Widrig kritisiert
Heiner Schlegel die Linienführung der Autobahn.
17) Werdenberger Jahrbuch 1997, S. 224: «... Die Fussgänger wur-
den auf verschiedene Arten diszipliniert oder verkehrserzogen, zu
ihrem eigenen Schutz, aber auch für einen möglichst reibungslosen
Ablauf des Automobilverkehrs .»
18) Ebenda, S. 222: «Frühe r noch war das Miteinander von ver-
schiedenen Verkehrsarten auf einer Fläche unproblematisch, weil
die Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den einzelnen Verkehrs-
mitteln nicht gross waren und der F lächenanspruch des einen nicht
zur Verdrängung des andern führte .»
277
Dem Redaktionsteam, bestehend aus Otto
Ackermann, Hansjakob Gabathuler, Hans Jakob
Reich, Hans Stricker und Maja Suenderhauf, ist es
gelungen, ein sehr ansprechendes und vielseitiges
Buch zu produzieren, dem viele aufmerksame Le-
serinnen und Leser zu wünschen sind. Besonders
gratuliert werden darf auch zur Wahl des Themas,
das zahlreiche historische Fragestellungen zulässt
und von bleibender Aktualität ist. Interessant wäre
allenfalls noch eine Darstellung der Geschichte der
Eisenbahn im Raum Werdenberg und hier beson-
ders auch die Wechselwirkung (Konkurrenz?) zwi-
schen Strasse und Schiene im Laufe der Zeit. Doch
das würde den Rahmen und Umfang dieses Buches
sprengen, in welchem mit dem Schwerpunkt
«Wege und Strassen» bereits ein sehr umfassendes
Thema aufgearbeitet wird.
ANSCHRIFT DES AUTORS
lic. phi l . Klaus Biedermann
Pradafant 24
FL-9490 Vaduz
278
R E Z E N S I O N E N / DAS RÖMISCHE GRÄBERFELD
V O N B R E G E N Z - B R I G A N T I U M
Das römische Gräberfeld von
Bregenz - Brigantium
Sechs Jahre nachdem Michaela Konrads Disserta-
tion an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen angenommen wurde, ist sie nun als Nr. 51 in
der Reihe der Münchner Beiträge zur Vor- und
Frühgeschichte unter dem Titel «Das Römische
Gräberfeld von Bregenz - Brigantium» Band I er-
schienen: Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Günter
Ulbert betreut und behandelt die spätrömischen
Körpergräber von Bregenz. Diese erstmals ge-
schlossene Bearbeitung des Bregenzer Gräberfeldes
kann auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken.
In Bregenz wurden schon seit der Mitte des
19. Jahrhunderts von wohlhabenden Bürgern Aus-
grabungen durchgeführt. Dr. Samuel Jenny (1837
bis 1901), Karl von Schwerzenbach (1850-1926)
und Adolf Hild (1883-1954) leisteten archäologi-
sche Pionierarbeit. Die Grabungsergebnisse wur-
den veröffentlicht und Fundmaterial in Einzelstudi-
en publiziert. Die Präsentation des Materials war
aber unvollständig und die mindere Qualität der
Abbildungen erlaubten keine wissenschaftliche
Auswertung. Da aber gerade die Bregenzer Mate-
rialien für die Vervollständigung der noch sehr
lückenhaften Kenntnisse über die Geschichte des
Bodenseeraums von grosser Bedeutung sind, war
eine komplette Neuauflage der Funde des Gräber-
felds ein dringendes Desiderat der Forschung. Die
Kommission zur archäologischen Erforschung des
spätrömischen Raetiens der Bayerischen Akademie
der Wissenschaften nahm schliesslich das römi-
sche Gräberfeld von Bregenz in ihr Publikations-
programm auf. Zunächst war es Jochen Garbsch
und später dann Michael Mackensen, die mit der
wissenschaftlichen Auswertung begannen, einen
ersten Gräberkatalog, Zeichnungen und Pläne er-
stellten. Ab 1986 übernahm Michaela Konrad die
weitere Bearbeitung.
Die Auswertung der Funde und Befunde dieser
Altgrabungen versprachen, Antwort auf eine Reihe
von Fragen geben zu können. Das Wesentlichste
des bisherigen Kenntnisstands der römischen Ge-
schichte von Bregenz lässt sich etwa folgendermas-
sen zusammenfassen:
In früherer und mittlerer Kaiserzeit existierte
eine Siedlung auf dem Bregenzer «Ölrain». Nach
. M I C H A E L A K O N R A D
D A S RÖMISCHE
GRÄBERFELD V O N
B R E G E N Z - B R I G A N T I U M 1
M I C H A E L A K O N R A D :
D A S RÖMISCHE GRÄBER-
F E L D V O N B R E G E N Z -
B R I G A N T I U M , I. DIE
KÖRPERGRÄBER DES
3. BIS 5. J A H R H U N D E R T S .
M ü n c h e n C . H . Beck'sche
Verlagsbuchhandlung
1997. 388 Seiten mit 22
Abbi ldungen und 13 Ta-
bellen i m Text, 107 Tafeln
und 10 Beilagen, C H F 8 9 -
ISBN 3-406380-34-4
C-H-BF.C-K'SUir. VKKI AGSl i l ICH H A N D L U N G
279
der Mitte des 3. Jahrhunderts wurde diese weitge-
hend aufgelassen und in der «Oberstadt» ein
geschützterer Ort aufgesucht. In spätrömischer Zeit
nahm Bregenz durch seine günstige strategische
und verkehrsgeographische Lage sowie durch sei-
nen Militärhafen eine Schlüsselposition im Boden-
seeraum ein. In der Notitia Dignitatum - einer Art
Staatshandbuch für den internen Dienstgebrauch
der römischen Behörden - ist ein Flottenkontin-
gent, ein «numerus barcariorum», überliefert.
Über die geschichtliche Entwicklung im Bregenzer
Raum in der Zeit zwischen dem Abzug der Mi -
litäreinheiten in der Mitte des 5. Jahrhunderts und
der Ankunft der beiden irischen Wandermönche
Gallus und Columban am Anfang des 7. Jahrhun-
derts fehlen bisher archäologische und schriftliche
Quellen.
Eine Reihe von Fragen sind bisher noch unbe-
antwortet. Welche Belege kann man für die Besied-
lungskontinuität finden? Inwieweit zeichnet sich
die Siedlungsverlagerung im Gräberfeld ab? Kann
man Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen
erkennen? Wie steht es mit der Dauer und der In-
tensität der Militärpräsenz? Wie viele Einwohner
hat man sich in Bregenz damals vorzustellen? Aus
welchen Volksgruppen setzt sich die Bevölkerung
zusammen? Wie sieht das Fortleben der Romanen
aus und in welchem Verhältnis steht dazu die ger-
manische Bevölkerung? Weiters soll die archäo-
logische Untersuchung neue Erkenntnisse über die
Entwicklung von Tracht- und Beigabensitte der
Grabbauten bringen
Mühsame Kleinarbeit ist nötig, um Antworten
auf all die Fragen zu erhalten. Die Autorin stellt an
den Beginn ihrer Auswertung eine Untersuchung
der in Bregenz vorhandenen Grabformen. Die un-
terschiedlichen Grabformen ergeben erste Hinwei-
se zur Datierung. Sie werden in Verbreitungskarten
eingetragen, um so datierte Belegungsareale her-
auszuarbeiten. Im wesentlichen erfolgt die Datie-
rung der Gräber durch die Grabbeigaben. Die Bei-
gaben wie Münzen, Geschirr, Gläser, Toilettegegen-
stände, Spinngeräte und so weiter und das Tracht-
zubehör - wie Gürte], Fibeln - und Schmuck wer-
den durch Vergleiche der Funde anderer datierter
Plätze nach Alter und Herkunft bestimmt. Die
Fundgruppenbearbeitung bringt nicht nur für die
Gesamtheit des Gräberfeldes, sondern auch für die
Fundgruppen selbst aufschlussreiche Ergebnisse.
Aus der Fülle der in Bregenz vorkommenden Fund-
gruppen seien hier nur einige herausgegriffen und
kurz vorgestellt.
Den Münzen wurden seit den Anfängen der Aus-
grabungen grosse Beachtung geschenkt. Schon von
den ersten Ausgräbern wurden Münzinventare auf-
gestellt. Die aktuelle Münzbestimmung geht auf
Bernhard Overbeck und Hans-Roland Baldus
zurück. Es zeigt sich, dass die Münzen in den Grä-
bern zur Datierung nur sehr bedingt tauglich sind,
da Münzen unterschiedlich lange im Umlauf wa-
ren. Ausserdem wurden den Toten bisweilen auch
Altstücke mitgegeben. Die Fundlage der Münzen -
die Stelle im Grab, wo die Münzbeigabe deponiert
wurde - ist ebenfalls Gegenstand der Untersu-
chung. Michaela Konrad stellt fest, dass in Bregenz
im Unterschied zu anderen zeitgleichen Nekropo-
len keine Münzgabe in den Mund üblich war. Die-
ser Brauch wird in spätrömischer Zeit als germa-
nisch erachtet.
Eine aussagekräftige Fundgruppe stellt die der
Gewandschliessen - der Fibeln - dar. In Bregenz
kommen sie vor allem in Form von Zwiebelknopf-
fibeln vor. Sie wurden in spätrömischer Zeit von
Angehörigen des Militärs oder von Beamten an der
rechten oder linken Schulter getragen. Für Konrad
gilt ihr Vorkommen als Beleg für Militäranwesen-
heit. Mit 44 Zwiebelknopffibeln verfügt Bregenz
über einen der grössten Bestände eines rätischen
Fundplatzes. Der Grossteil der Zwiebelknopffibeln
datiert in die Zeit zwischen 330-400 n. Chr.
Von den zahlreichen Schmuckfunden werden
hier nur die Armringe erwähnt. Armringe sind in
Bregenz in grosser Zahl und in vielen Arten zu
Tage gekommen. Am häufigsten sind Bronzearm-
ringe mit Tierkopfenden vertreten. Solche kennt
man auch von anderen spätrömischen Nekropolen
Raetiens und seiner östlich angrenzenden Gebiete.
Neuerdings sind sie ebenfalls zahlreich in Ober-
italien belegt. Früher als typisch rätisches Tracht-
element angesehen, kann man nun davon ausge-
280
R E Z E N S I O N E N / DAS RÖMISCHE GRÄBERFELD
V O N B R E G E N Z - B R I G A N T I U M
hen, dass Tierkopfarmringe im gesamten romani-
schen Gebiet während des 4. und 5. Jahrhunderts
verbreitet sind. Neben Metallarmringen enthält das
Bregenzer Fundgut etliche Beinarmringe. Armrin-
ge aus Pseudogagat oder Sapropelit kommen meist
paarweise vor und weisen aufgrund ihrer geringen
Grösse wohl auf Kinderbestattungen der zweiten
Hälfte des 3. und das erste Drittel des 4. Jahrhun-
derts hin.
Von grosser Bedeutung für das Leben nach dem
Tode war in der Antike die Beigabe von Trink- und
Essgeschirr. Michaela Konrad gelingt es, aus den
verschiedenen Geschirrkombinationen Trinkservi-
ces von Speiseservices zu unterscheiden. Ausser-
dem beobachtet sie das häufigere Vorkommen von
Trinkservices in Frauengräbern. Vielleicht deutet
dieser Umstand auf die Aufgabe der Herrin des
Hauses hin, Gäste mit dem Willkommenstrunk zu
begrüssen. Aus dem breiten Spektrum dieser
Fundgruppen sind die Gruppe der Terra-Sigillata-
Gefässe und der Lavez-Gefässe herausgegriffen.
Bei der Gefässkeramik ist es vor allem die Terra
Sigillata, die bei der Datierung helfen kann. Als
«Leitfossil» spätrömischer Zeit gilt die sogenannte
Argonnensigillata, die in Form von rädchenverzier-
ten Schüsseln und verschiedenen «glatten» - also
unverzierten - Tellern, Schälchen, Bechern und
Krügen in den Töpfereien des Argonnengebiets
(heute Frankreich) produziert worden ist. Über 50
komplette Gefässe sind im Gräberfeld gefunden
worden. Dass alle diese Gefässe aus dem Argon-
nengebiet stammen, ist aber durch ihre unter-
schiedliche Qualität recht zweifelhaft. Die Autorin
versucht, diese Keramik in fünf Qualitätsgruppen je
nach der Zusammensetzung, der Härte und Farbe
des Tons und nach der Beschaffenheit des Über-
zugs aufzugliedern. Den weicheren Ton und die
schlecht haftende Engobe verschiedener Gefässe
deutet sie als typisches Merkmal der spätrömi-
schen Produktionsphase von Rheinzabern, die der-
zeit von etwa 260 bis 350 n.Chr. datiert wird. Die
eigentliche Argonnensigillata hingegen wird durch
einen hart gebrannten Scherben mit gut haftender
Engobe und kräftig oranger Farbe charakterisiert.
Ausserdem scheint er erst ab dem ersten Drittel
des 4. Jahrhunderts in Bregenz vorzukommen.
Lavezgeschirr gehört ebenfalls zu den häufigeren
Funden in der Bregenzer Nekropole. Es wurde in
erster Linie als Kochgeschirr verwendet, wie noch
vorhandene Russspuren zeigen. Diese Art der Ver-
wendung macht die Autorin auch für Becher aus
Lavez, die bisweilen als Trinkgeschirr bezeichnet
worden sind, geltend.
Auf die Auswertung der verschiedenen Fund-
gruppen baut Michaela Konrad nun die «Gräber-
feldanalyse», auf. Zunächst erstellt die Autorin eine
absolute Chronologie des Gräberfeldes. Die chrono-
logisch relevanten Grabfunde werden in je einer
Kombinationstabelle für Männer- und Frauengrä-
ber zusammengestellt. Aus dem Hinzutreten, be-
ziehungsweise aus dem Verschwinden bestimmter
Fundgruppen, ergeben sich die charakteristischen
Merkmale einzelner Zeitphasen. Auf diese Weise
erarbeitet sie acht Zeitphasen zwischen 200 und
430 n. Chr. Die einzelnen Gräber werden diesen
nun zugeordnet. Die beigabenlosen Gräber, die 54
Prozent der Körperbestattungen in Bregenz aus-
machen, datiert Konrad aufgrund ihrer Lagebezie-
hungen zu den datierbaren beigabenführenden
Gräbern. Die Beobachtung der Graborientierungen
zeigt, dass die Grabausrichtung keinen zuverläs-
sigen Hinweis zur Datierung der Gräber erbringt.
Durch weitere Kombinationstabellen können die
Charakteristika der Grabinventare der jeweiligen
Zeitphasen erarbeitet werden. Dadurch lässt sich
dann der Wandel der Beigabensitte im Laufe der
Zeit feststellen.
Durch die Zusammenfassung aller bisherigen
Einzelergebnisse gelangt Michaela Konrad zu fol-
genden Antworten auf die eingangs gestellten Fra-
gen: Das Bregenzer Gräberfeld weist innerhalb des
untersuchten Zeitraums vom 3. bis in die Mitte des
5. Jahrhunderts eine kontinuierliche Belegung auf.
Im 3. Jahrhundert löste die Körperbestattung die
früher übliche Brandbestattung allmählich ab. Die
Belegung der Nekropole erfolgte in Grabgruppen,
die Rücksicht auf die älteren Brandgräber nahmen.
Bis über die Mitte des 4. Jahrhunderts hinaus blie-
ben die Brandgräber von den Nachfolgebestattun-
gen unangetastet. Erst dann wurden die inzwi-
281
sehen vermutlich in Vergessenheit geratenen Grab-
stellen von neuen überlagert. In der ersten Hälfte
des 3. Jahrhunderts dürften die meisten Bestattun-
gen beigabenlos gewesen sein. Körperbestattungen
mit Beigaben wurden im letzten Drittel des 3. Jahr-
hunderts üblich. Die Anzahl dieser Gräber ist ge-
ring, ein Umstand, der anscheinend mit den Ale-
manneneinfällen der Jahre 259/60 n.Chr. zusam-
menhängt. Zwar war die Ortschaft von Bregenz
selbst anscheinend nicht von den Verwüstungen di-
rekt betroffen. Dennoch wurde damals die Siedlung
auf dem Ölrain aufgegeben. Ein Teil der Bevölke-
rung suchte in der kleineren, aber mehr Sicherheit
bietenden Oberstadt Zuflucht. Viele der früheren
Bewohner hatten die Gegend scheinbar verlassen.
Die Siedlungsverlagerung wird in der Nekropole
nicht durch veränderte Bestattungssitten doku-
mentiert. Die Funde von Zwiebelknopffibeln kön-
nen auf militärische Präsenz im späten 3. und frü-
hen 4. Jahrhundert in Bregenz hinweisen. Man
kann daraus schliessen, dass noch vor 300 n.Chr.
in Bregenz Militär stationiert war und so die Sied-
lung in ein militärisches Konzept eingebunden
wurde. An welchem Ort sich die Militäreinheit
befand und ob der Hafen schon existierte, sind bis
heute ungeklärte Fragen. Ab dem Beginn des
4. Jahrhunderts kann die Autorin aber ein Anstei-
gen der Bestattungszahlen feststellen. Um die Mitte
des 4. Jahrhunderts dann ist die Gräberzahl noch
stärker gewachsen und erreicht in valentiniani-
scher Zeit (364-375 n.Chr.) die fünffache Zahl der
Belegung, die Konrad für das letzte Drittel des
3. Jahrhunderts festgestellt hat. Bemerkenswert
dabei ist auch die Häufigkeit der Militärbestattun-
gen. Konrad sieht darin die Auswirkungen der poli-
tischen Unruhen. Die Bevölkerung zog es vor, ihre
Siedlungen auf dem offenen Land zu verlassen und
sich in den Schutz des Garnisonsorts Bregenz zu
begeben. Unter Valentian wurden eine Reihe von
baulichen Sicherungsmassnahmen in Angriff ge-
nommen. Wachtürme, Brückenköpfe am Hoch-
rhein, die Kastelle im Hinterland (z. B. Schaan) und
nicht zuletzt der befestigte Hafen in Bregenz geben
davon Zeugnis. Dennoch blieb man nicht von Ein-
fällen der Alemannen 378 n.Chr. verschont. Eine
Brandschicht in der Bregenzer Oberstadt wird vom
Ausgräber Wilhelm Sydow damit in Verbindung ge-
bracht. Im Gräberfeld zeigen sich dafür allerdings
keine Anhaltspunkte. Die Beurteilung der Gräber-
zahlen ab der Belegungsphase V (370-390 n.Chr.)
ist allerdings nicht ganz unproblematisch, da von
dieser Zeit an die Sitte, dem Toten Beigaben ins
Grab mitzugeben, im Abnehmen begriffen ist. So
sind von den 117 Gräbern, die Konrad in Phase VI
(390-410 n.Chr.) datiert, 62 Gräber und von den
112 Gräber, die in Phase VII (410-430 n.Chr.) ge-
hören, sogar 85 ohne Beigaben. Diese Beigaben-
losigkeit stellt einen gewissen Unsicherheitsfaktor
bei der Datierung der Gräber dar. Die Betrachtung
der anscheinend so massiv gewachsenen Bestat-
tungszahlen veranlasst Konrad, der Frage nachzu-
gehen, wie gross denn die Bevölkerung eigentlich
damals war und wie sie auf dem kleinen Altstadt-
hügel Platz gefunden hat. Ihre paläodemographi-
schen Berechnungen ergeben schliesslich für die
Zeit um 400 n. Chr. eine Einwohnerzahl von 180
bis 246 Personen, die - wie sie weiters feststellt -
entweder in mehrstöckigen Gebäuden oder in
Wohnquartieren ausserhalb der Altstadt gewohnt
haben müssen.
Militär dürfte sich bis zum Beginn des 5. Jahr-
hunderts in Bregenz aufgehalten haben. Das zeigen
entsprechend datierte Funde von Zwiebelknopf-
fibeln und Gürteln. Ab 410 kann man vermehrt elb-
germanische Funde im Gräberfeld beobachten. Ob
man aber aufgrund dessen auf eine kleine germa-
nische Söldnereinheit im römischen Dienst schlies-
sen kann, bleibt fraglich. Der Grossteil der Bevölke-
rung war aber romanisch, wie verschiedene Details
der Beigabensitte vermuten lassen. Um die Mitte
des 5. Jahrhunderts kann Michaela Konrad keine
Funde mehr im Gräberfeld feststellen. Solche kennt
man aus Bregenz erst wieder im fortgeschrittenen
6. Jahrhundert. Die Viten der irischen Wander-
mönche Gallus und Columban bezeugen am Beginn
des 7. Jahrhunderts zwar für Bregenz die Existenz
einer kontinuierlich dort sesshaften Bevölkerung,
archäologisch konnte bisher kein Nachweis dafür
erbracht werden. So fehlen bisher späteströmische
Ausrüstungsgegenstände wie attilazeitliche und
282
R E Z E N S I O N E N / DAS RÖMISCHE GRÄBERFELD
V O N B R E G E N Z - B R I G A N T I U M
ostgermanische Fundstücke. Eine sichere Er-
klärung für diese Lücke in der chronologischen
Fundabfolge gibt es nicht. Möglicherweise sind die
nun fehlenden archäologischen Zeugnisse dieser
Zeit im Zuge von Bauabnahmen verloren gegan-
gen. Dennoch darf man nicht ganz außer acht las-
sen, dass von den Gräbern der letzten Belegungs-
phase 76 Prozent keine Beigaben führen. Es wäre
also möglich, dass einige von ihnen aus jüngerer
Zeit als angenommen stammen. Die Frage nach
Bevölkerungskontinuität ins frühe Mittelalter bleibt
damit noch offen .
Michaela Konrads Buch präsentiert sich in der
bewährten Gestaltung der Reihe der Münchner
Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte. Nützlich
sind die Planbeilagen, die dem Leser die Orientie-
rung erleichtern. Die zahlreichen Typentafeln, die
für einige Fundgruppen zusammengestellt wurden,
ermöglichen die Übersicht über die einzelnen Kom-
plexe, ohne lange im Gräberkatalog blättern zu
müssen. Schwarz-weiss Fotos sowie Farbtafeln er-
gänzen die Illustrationen des zwar nicht ganz
druckfehlerfreien, sonst aber gelungenen Werks.
Mit der Bearbeitung des Bregenzer Gräberfelds
hat Michaela Konrad keine leichte Aufgabe über-
nommen. Die Bearbeitung von Altfunden steckt
voller Tücken. Die Bregenzer «Archäologiepionie-
re» arbeiteten für ihre Zeit zwar sicher beispielge-
bend, und ohne diese hervorragende Arbeit wäre
dieses Unternehmen gar nicht realisierbar gewe-
sen. Dennoch können Grabungen, die im vorigen
Jahrhundert durchgeführt wurden, natürlich nicht
den Erwartungen entsprechen, die heute an die
Aussagemöglichkeit von Grabungen gestellt wer-
den. Einige Funde gingen in der Zwischenzeit ver-
loren, und nur die Skizzen der damaligen Ausgrä-
ber konnten noch darüber Auskunft geben. Auch
die Befunde präsentierten sich der Bearbeiterin
nur unzureichend. Moderne anthropologische Be-
stimmungen der Skelette fehlten ebenso wie ver-
einzelt Angaben über Grösse und Geschlecht der
Bestatteten. Allen diesen Schwierigkeiten trotzt
Michaela Konrad mit sehr grossem Engagement.
Mit ihrer vorbildlichen und mitunter auch sehr kri-
tischen Recherche bemüht sie sich um das Zustan-
dekommen von Auswertungsergebnissen, die den
heutigen Anforderungen genügen. Dadurch ent-
steht aber die Gefahr, sich zu Überinterpretationen
hinreissen zu lassen, zumal manche Grundlagen
für die archäologische Auswertung auf Annahmen
beruhen, wie es etwa bei Konrads Bevölkerungs-
studien der Fall ist. Fraglich ist etwa auch, inwie-
weit der Vergleich des Zahlenverhältnisses der Bei-
gaben führenden zu den beigabenlosen Gräbern
von Kaiseraugst zur Untermauerung der Datierung
der Bregenzer Gräber herangezogen werden kann
und ob die Bevölkerungsstrukturen der beiden
Plätze dafür ausreichende Parallelen bieten.
Eine andere Problematik, die Konrad anschnei-
det, den Leser aber wohl nicht ganz befriedigt, ist
die Bestimmung der spätantiken Terra Sigillata
aufgrund unterschiedlicher Scherbenqualitäten.
Die Zuweisung der Gefässe «schlechterer Qualität»
der spätrömischen Produktion von Rheinzabern
mag in vielen Fällen stimmen. Dennoch muss man
sich der Tatsache bewusst sein, dass auch schon in
den Argonnenwerkstätten selbst die unterschied-
lichsten Scherbenqualitäten aufscheinen. Zudem
kann sich der Scherben durch die Erdlagerung be-
kanntlich verändern, vor allem bei sehr säurehal-
tigem Boden, wie es in Bregenz der Fall ist. Viel-
leicht würden hier naturwissenschaftliche Untersu-
chungsmethoden Auskunft geben können.
Mit der Publikation der spätrömischen Körper-
gräber von Bregenz ist ein lang gehegter Wunsch
des archäologisch interessierten Publikums in Er-
füllung gegangen. Sie schliesst eine grosse Lücke,
die in der Erforschung der römerzeitlichen Besied-
lungsgeschichte des Alpenrheintals bestanden hat.
Bleibt nur noch zu hoffen, dass baldmöglichst an-
dere Arbeiten von ähnlicher Qualität erscheinen
werden, die noch mehr der reichen archäologi-
schen Bestände des Vorarlberger Landesmuseums
der Öffentlichkeit vorstellen.
283
ANSCHRIFT
DER AUTORIN
Dr. Verena Hasenbach-
Mol l ing
Mitteldorf 32
FL-9490 Vaduz
284
JAHRESBERICHT
DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS
FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Inhalt
Tätigkeitsbericht des Vereins pro 1995 287
Jahresrechnung des Vereins pro 1995 293
Archäologie: Tätigkeitsbericht 1995 297
Liechtensteiner Namenbuch:
Tätigkeitsbericht 1995 305
Historisches Lexikon für das Fürstentum
Liechtenstein: Tätigkeitsbericht 1995 309
Historisches Lexikon für das Fürstentum
Liechtenstein: Geschichte Liechtensteins -
ein Seminar 312
286
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Tätigkeitsbericht des Vereins
pro 1995
Den Schwerpunkt dieser Vereinschronik bildet na-
turgemäss der Bericht über die Jahresversamm-
lung des Historischen Vereins. Daneben sind es die
vom Verein organisierten Veranstaltungen, über
die in diesem Jahresrückblick berichtet wird. Die
Aktivitäten der einzelnen wissenschaftlichen Pro-
jekte, die unter der Trägerschaft des Historischen
Vereins stehen, werden in den gesonderten Berich-
ten genauer beleuchtet. Wichtige Bestandteile des
allgemeinen Teils bilden indes die Berichte zu den
Tätigkeiten des Vorstands und der Geschäftsstelle
des Historischen Verein.
JAHRESVERSAMMLUNG
Die 94. Jahresversammlung des Historischen Ver-
eins für das Fürstentum Liechtenstein fand am
29. April 1995 im Gemeindesaal in Ruggell statt.
Der Vereinsvorsitzende Dr. Alois Ospelt eröffnete
um 16.00 Uhr die 94. Jahresversammlung und be-
grüsste die etwa hundert Anwesenden. Einen be-
sonderen Willkommensgruss richtete er an die Ver-
treter der Regierung, der liechtensteinischen Ge-
meinden sowie an verschiedene Ehrenmitglieder
und an die Gäste aus der österreichischen und
schweizerischen Nachbarschaft. Dr. Alois Ospelt
entschuldigte S. D. den Landesfürsten sowie ver-
schiedene Regierungsmitglieder.
In seinen einleitenden Worten verwies der Ver-
einsvorsitzende auf das vor fünfzig Jahren einge-
tretene Ende des Zweiten Weltkrieges und dessen
Bedeutung damals und in der heutigen Zeit. Insbe-
sondere nannte Dr. Alois Ospelt die anfangs Mai
1945 erfolgte Grenzüberschreitung von 500 Perso-
nen am Zollposten in Hinterschellenberg. Diese
Leute, die in Liechtenstein als Internierte aufge-
nommen wurden, bildeten den (nun von den
Alliierten verfolgten) Rest der von Generalmajor
Arthur Holmston kommandierten «I. Russischen
National-Armee der Deutschen Wehrmacht». Ein
guter Teil dieser Gruppe, 235 Personen, wurde im
Ruggeller Schulhaus, dem Vorläufer des heutigen
Versammlungslokals, provisorisch untergebracht.
«Mit Bedacht», so der Vereinsvorsitzende, «hat der
Historische Verein Ruggell als Tagungsort für seine
heurige 94. Jahresversammlung gewählt». Dr. Alois
Ospelt schloss seine Einleitung mit dem Hinweis
auf den öffentlichen Vortrag dieser Jahresver-
sammlung, der von Dr. Peter Geiger bestritten wur-
de und die erwähnten Ereignisse des Jahres 1945
aus regionaler Perspektive beleuchtete.
Nach den einführenden Worten von Dr. Alois
Ospelt verlas Aktuar Dr. Rupert Quaderer das Pro-
tokoll der 93. Jahresversammlung vom 16. April
1994 in Vaduz. Das Protokoll wurde einstimmig ge-
nehmigt. Der Jahresbericht 1994 wurde mit Ein-
schluss der Tätigkeitsberichte der unter der Obhut
des Historischen Vereins stehenden wissenschaft-
lichen Projekte ebenfalls einstimmig genehmigt.
Der Vereinsvorsitzende Dr. Alois Ospelt versäumte
es nicht, den für die wissenschaftliche Leitung die-
ser Projekte zuständigen Personen seinen besonde-
ren Dank auszusprechen: Frau lic. phil. Eva Pepic
und Herrn Hansjörg Frommelt für die Archäologie,
Herrn Prof. Dr. Hans Stricker für das Liechtenstei-
ner Namenbuch, Herrn lic. phil. Arthur Brunhart
für das Historische Lexikon, Herrn Prof. Dr. Eugen
Gabriel für den Sprachatlas sowie Herrn Prof. Dr.
Otto Clavadetscher für das Liechtensteinische Ur-
kundenbuch. Speziell verdankt wurden auch die
von verschiedenen Seiten gewährten finanziellen
Unterstützungsbeiträge.
Wichtige Entscheide der Jahresversammlung
betrafen die Festlegung des Mitgliederbeitrags für
1995 sowie eine Statutenänderung hinsichtlich der
Amtsdauer des Vereinsvorstands. Auf Antrag des
Vereinsvorstands beschlossen die anwesenden Mit-
glieder die Erhöhung des Jahresbeitrags ab 1995
von CHF 50.- auf CHF 75 - für Einzelmitglieder,
von CHF 25 - auf CHF 4 0 - für Studentinnen und
Studenten, sowie von CHF 100 - auf CHF 150 - für
Kollektivmitglieder. Mit dieser Erhöhung des jähr-
lichen Mitgliederbeitrags sollte eine bessere Ab-
deckung der Herstellungskosten des Jahrbuchs
erreicht werden. Ein weiterer Antrag des Vereins-
vorstands wurde ebenfalls gut geheissen: die Amts-
dauer des Vereinsvorstands wurde von fünf auf
drei Jahre reduziert. Diese Statutenänderung er-
folgte im Hinblick auf die 1996 anstehenden Neu-
287
wählen in den Vereinsvorstand. Eine verkürzte
Amtszeit sollte manchem Vereinsmitglied die Zusa-
ge zu einer Kandidatur für den Vereinsvorstand er-
leichtern.
Das Traktandum «Freie Aussprache» wurde ge-
nutzt zur Weitergabe von Information und Dank.
Der Redaktor des Historischen Jahrbuchs, Fürstl.
Rat Robert Allgäuer, gab bekannt, dass die Veröf-
fentlichung von Band 93 des Historischen Jahr-
buchs für den Frühsommer 1995 geplant sei. Frau
Regierungsrätin Dr. Andrea Willi dankte dem Histo-
rischen Verein für seine wichtige und solide Arbeit,
die dieser permanent leistete.
Die vom Verein geförderte Forschungstätigkeit,
so der Vereinsvorsitzende Dr. Alois Ospelt in seiner
Einleitung zum nachfolgenden Vortrag von Dr. Pe-
ter Geiger, diene in erster Linie der historischen
Wahrheit. Dr. Alois Ospelt führte dazu wörtlich aus:
«Erzählte Geschichten und Geschichte wirken in
den Menschen nach, beeinflussen ihr Verhalten.
Erinnerung ist wichtig, nicht nur für den einzelnen
Menschen, sondern auch für eine Gesellschaft. ...
Die Menschen heute sollen wissen, was damals ...
wirklich passierte. Mit der Erinnerung sollen Däm-
me gegen neues Unheil gebaut werden. Gesammel-
te und ausgewertete Erinnerungen sollen helfen,
womöglich schon rechtsextremistisch beeinflusste
Bilder in den Köpfen der jetzigen Generation zu
korrigieren, demokratisches Empfinden zu stär-
ken. Historisches Wissen soll vermittelt werden
und zum Nachdenken anregen, damit die Grundla-
ge der Demokratie stabiler wird.»
Anschliessend begann Dr. Peter Geiger mit sei-
nem Referat «Kriegsende 1945 in Liechtenstein».
Der Referent ging dabei weniger auf die allgemein
bekannten «grossen» Geschehnisse und Abläufe
beim Kriegsende 1945 ein, dafür ging er umso
mehr Fragestellungen nach, die sich mit lokalen
alltagsgeschichtlichen Ereignissen befassen. Im Re-
ferat wurde die konkrete Lage in den letzten Mona-
ten vor Kriegsende geschildert, die Alltagssituation,
die Vorkehrungen für Luftschutz, Grenzsicherung
und Flüchtlingsbetreuung, die Sperrung deutscher
Guthaben, ebenso die chaotischen Tage unmittel-
bar vor der Besetzung Vorarlbergs durch die Fran-
zosen, die Evakuierungsvorbereitungen, der Über-
tritt von Holmstons Wehrmachtrussen in Schellen-
berg, die Landtagswahlen auch, welche noch weni-
ge Tage vor Kriegsende stattfanden. Wie verbrach-
te man die ersten Friedenstage? Warum trat die
Regierung zurück? Wie bewältigte man die dunkle-
ren Seiten der Kriegsvergangenheit? Solche Fragen
kamen im Vortrag von Dr. Peter Geiger zur Spra-
che. Diese sachbezogene, von Legenden und My-
then befreite Darstellung eines wichtigen Ab-
schnitts der liechtensteinischen Geschichte, stiess
auf reges Interesse.
DIE SCHLOSSABMACHUNGEN VON 1920 -
V O R T R A G VON DR. RUPERT QUADERER
Vor genau 75 Jahren wurden die sogenannten
«Schlossabmachungen» getroffen, die den Weg be-
reiteten für die weitere Demokratisierung und Na-
tionalisierung des liechtensteinischen politischen
Systems nach dem Ersten Weltkrieg. Aus diesem
Anlass lud der Historische Verein auf den 24. Sep-
tember zu einem öffentlichen Vortrag zum Thema
ein. Vorstandsmitglied Dr. Rupert Quaderer refe-
rierte unter dem Leitspruch «Erkenne man doch
die flammenden Zeichen der Zeit» über die ge-
schichtlichen Hintergründe, die zu den Schlossab-
machungen im September 1920 führten. Er zeigte
dabei auch auf, wie zwischen den Vertretern der
Volkspartei und den Fürstlichen Repräsentanten
um Grundlagen und Inhalte für die bevorstehende
Verfassungsrevision gerungen wurde. Ebenfalls
brachte der Vortrag zum Ausdruck, wie die beiden
noch jungen liechtensteinischen Parteien - die
«Christlich-soziale Volkspartei» und die «Fort-
schrittliche Bürgerpartei» auf verschiedenen We-
gen eine Erneuerung der Verfassung, verbunden
mit dem Ausbau der Volksrechte, entschlossen an-
strebten. Das Thema, das besonders auch im Hin-
blick auf die gegenwärtig diskutierte Verfassungs-
revision von aktuellem Interesse ist, lockte rund
hundert interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer
an diesem Sonntagvormittag um 11 Uhr in den Va-
duzer Rathaussaal.
288
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
VORSTAND
Im Jahre 1995 trat der Vereinsvorstand zu insge-
samt sechs Sitzungen zusammen. Zentrale Trak-
tanden an den Vorstandssitzungen waren im ersten
Halbjahr die Vorbereitung der Jahresversammlung
sowie die Neubesetzung der Geschäftsstelle (siehe
auch weiter unten). Die letzte Sitzung vor der Som-
merpause wurde dazu genutzt, um grundsätzlich
über die Ziele und die heutige Stellung des Histori-
schen Vereins in unserer Gesellschaft zu sprechen.
Im Herbst stand die im Jahre 1996 fällige Neube-
stellung des Vereinsvorstands im Mittelpunkt der
Diskussion. Dr. Alois Ospelt gab bekannt, dass er
das Amt des Vereinsvorsitzenden im kommenden
Jahr abgeben werde, und die Vorstandsmitglieder
Fürstlicher Rat Robert Allgäuer und Dr. Georg Ma-
lin stellen sich ebenfalls nicht mehr zur Wieder-
wahl. Die Bemühungen des bisherigen Vorstands
konzentrierten sich in erster Linie auf die Suche
nach einem neuen Vereinsvorsitzenden.
GESCHÄFTSSTELLE
Die Geschäftsstelle des Historischen Vereins wurde
auch im vergangenen Jahr durch Verwaltungsko-
stenbeiträge aus den jährlichen Investitionskredi-
ten für die verschiedenen wissenschaftlichen Pro-
jekte unter der Trägerschaft des Historischen Ver-
eins mitfinanziert. Diese Regelung ist durch Regie-
rungsbeschluss sanktioniert.
Die bisherige Geschäftsführerin, Frau Sandra
Wenaweser, beendete ihre Tätigkeit auf Ende Juli
1995. Der Vereinsvorstand sah sich demzufolge
veranlasst, die 50 Prozent-Stelle neu auszuschrei-
ben und eine(n) Nachfolger(in) zu bestimmen. Die
Wahl fiel auf Herrn Klaus Biedermann aus Vaduz.
Klaus Biedermann schloss im Juli 1995 sein Studi-
um an der Universität Bern mit dem Lizentiat ab.
Er studierte die Fachgebiete Neuere Allgemeine
und Mittelalterliche Geschichte sowie Englische
und Amerikanische Literatur.
Klaus Biedermann nahm am 1. September seine
Arbeit als neuer Geschäftsführer des Historischen
Vereins auf. In einem Rundschreiben wurde der
neue Leiter der Geschäftsstelle allen Mitgliedern
des Historischen Vereins vorgestellt. Bei dieser Ge-
legenheit wurden auch die neuen Öffnungszeiten
der Geschäftsstelle bekannt gegeben. Das Büro der
Geschäftsstelle befindet sich wie bisher im Mehr-
zweckgebäude der Landesverwaltung an der Mes-
sinastrasse 5 in Triesen und ist von Montag bis
Freitag zwischen 9.00 und 12.00 Uhr ständig be-
setzt. Über die Geschäftsstelle können sämtliche
Publikationen des Historischen Vereins bezogen
werden. An der Messinastrasse 5 in Triesen befin-
det sich ebenfalls die Vereinsbibliothek, die allen
Mitgliedern jederzeit offensteht.
Der neue Leiter der Geschäftsstelle, Herr Klaus
Biedermann, konnte sich inzwischen gut einarbei-
ten. Er dankt an dieser Stelle dem Vereinsvorstand
sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
wissenschaftlichen Projekte für die stets gute und
kollegiale Zusammenarbeit.
MITGLIEDER
Nachfolgende 18 Personen haben seit der letzten
Jahresversammlung ihre Mitgliedschaft angemel-
det:
Gerhard Büchel, Noflerstrasse 325, 9491 Ruggell
Thomas Büchel, Duxweg 14, 9494 Schaan
Carmen Hilty, Zollstrasse 58, 9494 Schaan
Florentine Hilty, Zollstrasse 58, 9494 Schaan
Dr. Hilmar Hoch, Am Bach 16, 9495 Triesen
Michael Jehle, Im Pardiel 13, 9494 Schaan
Robert Kaufmann, Brüel 27, 9496 Balzers
Fredi Kind, Bühl 224, 9487 Gamprin
Thomas Müssner, Breiten 267, 9487 Bendern
Herbert Oehri, Dr.-Josef-Hoop-Strasse 504,
9492 Eschen
Daniel Oehry, In der Fina 23, 9494 Schaan
Lukas Ospelt, Jedergasse 199, 9487 Gamprin
Thomas Ritter, Holzgatter 183, 9488 Schellenberg
Michael Schädler, Lettstrasse 26, 9490 Vaduz
Philip Schädler, Lettstrasse 26, 9490 Vaduz
Elisabeth Sele, Am Exerzierplatz 25, 9490 Vaduz
289
Hubert Sele, Rotenboden 107, 9497 Triesenberg
Aleksei Svetozarev, Hönleinstr. 25,
D-97833 Frammersbach
Im Berichtsjahr sind folgende 16 Mitglieder des Hi-
storischen Vereins verstorben:
Olga Amann, Kirchstrasse 65, 9490 Vaduz
Dr. Max Auwärter, Gagoz 82, 9496 Balzers
Friedrich Biedermann, Eggasweg 2, 9490 Vaduz
Dr. David Büchel, Haus Nospiz, 9497 Triesenberg
Viktor Frommelt, Landstrasse 150, 9495 Triesen
Siegfried Gabrielli, A-6800 Feldkirch
Karl Hassler, St. Georgs-Strasse 42,
9488 Schellenberg
Zeno Kaufmann, Unterm Schloss 55, 9496 Balzers
Elmar Kind, Bühl 81, 9497 Gamprin
Dr. Jörg Reinhard Krieg, Immagasse 3a,
9490 Vaduz
Dr. Franz Rederer, Langgasse 692, 9495 Triesen
Arnold Schürte, Grosser Bongert 5, 9495 Triesen
Leonhard Senn, Sonnblickstrasse 2, 9490 Vaduz
Dr. Gustav Wilhelm, Zum St. Johanner 6,
9490 Vaduz
Alfred Wohlwend, Bartlegroschstrasse 35,
9490 Vaduz
Max Wolf, Toniäulestrasse 5, 9490 Vaduz
Seit der letzten Jahresversammlung sind 14 Perso-
nen aus dem Verein ausgetreten.
Am Ende des Berichtsjahrs zählte der Verein 774
Mitglieder.
SCHRIFTENTAUSCH
Der Historische Verein ist neu mit dem Stadtarchiv
Dornbirn, Marktplatz 11, A-6850 Dornbirn, in
Schriftentausch getreten (Publikation: Dornbirner
Schriften, Beiträge zur Stadtkunde).
Die Universitätsbibliothek Heidelberg, D-69047
Fleidelberg, kündigte den Schriftentausch mit dem
Historischen Verein. Die Heidelberger Jahrbücher
stehen gemäss Mitteilung der Universitätsbiblio-
thek Heidelberg nicht mehr für den Schriftentausch
zur Verfügung.
J A H R B U C H UND ANDERE PUBLIKATIONEN IM
S E L B S T V E R L A G DES VEREINS
Der langerwartete Band 93 des Historischen Jahr-
buchs konnte leider nicht - wie ursprünglich ge-
plant - im Jahre 1995 erscheinen. Das Erschei-
nungsdatum musste auf Frühjahr 1996 verschoben
werden. Der Vorstand des Historischen Vereins
wird alles daran setzen, um ein baldiges Erschei-
nen auch von Band 94 und Band 95 zu ermög-
lichen, so dass der eingetretene Rückstand in der
Publikation der Historischen Jahrbücher wieder
wett gemacht werden kann.
Das Liechtensteinische Urkundenbuch Band 5
erscheint im Jahre 1996 in zwei Halbbänden. Die-
se Halbbände enthalten die vom verstorbenen Pro-
fessor Dr. Benedikt Bilgeri bearbeiteten und in den
Historischen Jahrbüchern Band 76 bis Band 86
veröffentlichten Urkunden in gesammelter Form.
Die «Bank in Liechtenstein» widmete S. D. dem
Landesfürsten Hans-Adam II. die Sonderpublika-
tion «Borscht» zum 50. Geburtstag und überwies
zu diesem Zweck den Betrag von 50 000 Franken
auf das Konto des Historischen Vereins. Die in zwei
Bänden geplante Buchpublikation über den prähi-
storischen Siedlungsort in Schellenberg wird vor-
aussichtlich Ende 1996 veröffentlicht.
ARCHÄOLOGISCHE GRABUNGEN UND
FORSCHUNGEN
Der folgende zusammenfassende Bericht gibt Aus-
kunft über die archäologischen Grabungen und
Forschungen, informiert aber auch über die Posi-
tion der Arbeitsstelle Archäologie. Detaillierte Aus-
führungen - speziell zu den einzelnen Ausgrabun-
gen - sind im ausführlichen Bericht der Arbeitsstel-
le zu lesen.
Für die Archäologie waren auch im abgelaufe-
nen Berichtsjahr Frau lic. phil. Eva Pepic für die
290
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Koordination und Hansjörg Frommelt für die Bau-
überwachung verantwortlich. Im Jahre 1995 gab
es eine Häufung an Notgrabungen, verursacht
durch diverse Bauvorhaben. Dies verlangte einen
besonderen Einsatz an verschiedenen Orten, so in
Balzers, Vaduz, Schaan und Bendern. Wegen die-
sen Tätigkeiten «vor Ort» musste die wissenschaft-
liche Auswertung der Altgrabungen zurückgestellt
werden. Doch immerhin konnte mit den Fundbe-
stimmungs- und auswertungsarbeiten der 1995 er-
folgten Ausgrabungen in Balzers und Vaduz be-
gonnen werden.
Daneben befasste sich die Archäologie auch mit
Fragen der internen Reorganisation. Ein im Juni
1995 vom Hohen Landtag bewilligter fünfjähriger
Verpflichtungskredit ermöglicht künftig verbesserte
Anstellungs- und Arbeitsbedingungen für die ar-
chäologischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Im so vorgegebenen Finanz- und Zeitrahmen sind
mehrjährige Personalanstellungen möglich gewor-
den. Gestützt auf Denkmalschutzgesetz und ver-
schiedene Regierungsbeschlüsse ist der Historische
Verein bis auf weiteres verantwortlicher Träger der
archäologischen Forschung in Liechtenstein. Diese
Regelung wurde zuletzt mit Regierungsbeschluss
vom 30. März 1993 bestätigt. Demnach wurde das
in der archäologischen Forschung tätige Personal
durch den Historischen Verein rekrutiert. Mit Aus-
nahme der provisorisch mit der Leitung und Koor-
dination der Archäologie betrauten Frau Eva
Pepic und der Restauratorin Frau Barbara Bühler
waren denn auch alle Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter im Stundenlohn beim Verein angestellt. Die
Arbeitsverträge für diese Angestellten hatte Frau
Eva Pepic jeweils im Auftrag des Vereins und in
Absprache mit dem Amt für Personal und Organi-
sation erstellt. Die Anstellung von Frau Eva Pepic
und der Restauratorin durch die Regierung erfolgte
seinerzeit über Antrag des Historischen Vereins
und des Landesmuseums. Es ging damals um die
Behebung der Schäden am archäologischen Fund-
gut, verursacht durch den Wassereinbruch in den
Zivilschutzräumen des Liechtensteinischen Gym-
nasiums. Es handelt sich um befristete, nichtstän-
dige Stellen. Der Dienstauftrag für Frau Eva Pepic
wurde 1986 erweitert, indem sie von der Regie-
rung in Absprache mit dem Historischen Verein im
Sinne einer Übergangslösung mit der Leitung und
Koordination der archäologischen Forschung be-
auftragt wurde.
Der Historische Verein ist nicht nur Träger der
Archäologie, er ist auch geistiger Vater des Denk-
malschutzes und des Landesmuseums. Gemäss
Denkmalschutzgesetz ist der Historische Verein
auch in der Denkmalschutzkommission vertreten.
Ebenso nehmen laut Gesetz drei Mitglieder des
Historischen Vereins Einsitz im Stiftungsrat des
Landesmuseums. Der Verein hat in einem Vertrag
(Regierung - Verein - Museum) seine seit der Grün-
dung geäufneten Sammlungen dem Landesmuse-
um als Dauerleihgabe überlassen.
Dem Landesmuseum sind gemäss Gesetz «die
dem Staat gehörenden Sammlungen liechtensteini-
schen Kulturgutes» gewidmet. Zu diesem Kulturgut
zählt massgeblich die archäologische Sammlung,
die dem Museum zur Verwahrung und für Ausstel-
lungszwecke anvertraut ist. Beim erwähnten Was-
serschaden war denn auch das Landesmuseum
primär geschädigt. Die Behebung der Schäden und
die Anstellung von Personal zu diesem Zweck er-
folgte auf Veranlassung des Museums.
Die obigen Ausführungen zeigen wesentliche
Rechte und Pflichten sowohl des Vereins wie auch
der aus ihm hervorgegangenen Arbeitsstellen und
Institutionen. Die archäologische Arbeitsstelle hat,
anders als der Denkmalschutz und das Landesmu-
seum, bis heute keine gesetzlichen Grundlagen und
Kompetenzen. Bei der organisatorischen Neurege-
lung der Arbeitsstelle Archäologie sind die Mitspra-
che- und Mitwirkungsrechte des Historischen Ver-
eins zu wahren.
LIECHTENSTEINER NAMENBUCH
Für das Liechtensteiner Namenbuch arbeiteten
weiterhin zu 100 Prozent die Herren lic. phil. An-
ton Banzer und Herbert Hübe. Herr Claudius Gurt
hingegen beendete auf Mitte Juli 1995 hin seine
langjährige Teilzeittätigkeit für das Namenbuch. Im
291
Berichtsjahr konnte die Sammlung und Aufberei-
tung des Materials für das Ortsnamenbuch abge-
schlossen werden. Dies gilt auch für die von Herrn
Claudius Gurt für das Namenbuch geleistete Ar-
chivarbeit. Trotzdem verlief der Fortgang der Ar-
beiten nur teilweise nach Plan, was vor allem auf
das Fehlen einiger EDV-Programmteile zurückzu-
führen ist. Während im Materialteil die deutschen
Flurnamen fast vollständig gedeutet sind, gingen
die Arbeiten für den Lexikonteil, bestehend aus ei-
ner Besprechung der Namenwörter, nur noch lang-
sam vorwärts, nachdem im Jahre 1994 intensiv
daran gearbeitet worden war. Zum Ende des Jah-
res konnte bereits mit der Planung des zweiten
Werkteils des Personennamenbuchs begonnen
werden. Erfolgreich war 1995 die regelmässige
Veröffentlichung von Beiträgen unter der Rubrik
«Flur und Name» in den liechtensteinischen Tages-
zeitungen. Aufgrund des positiven Echos ist die Pu-
blikation dieser Artikel in Buchform geplant. Weite-
re Informationen, so auch über die Zusammenar-
beit mit anderen Institutionen und wissenschaft-
lichen Projekten, sind im detaillierten Jahresbe-
richt des Liechtensteiner Namenbuchs zu finden.
LIECHTENSTEINISCHES URKUNDENBUCH
Herr Professor Dr. Otto Clavadetscher hat inzwi-
schen sein Manuskript für Band 6 des Urkunden-
buches abgeschlossen und der Druckerei Hilty in
Schaan zur weiteren Bearbeitung übergeben. Mit
Band 6, der voraussichtlich noch dieses Jahr er-
scheinen wird, ist der I. Teil des Gesamtwerks nun
abgeschlossen.
Professor Dr. Eugen Gabriel führt seine For-
schungsarbeit für den Sprachatlas jedoch weiter.
Bemühungen zur Erschliessung neuer finanzieller
Mittel für die weitere Publikationsttätigkeit sind im
Gange.
HISTORISCHES LEXIKON FÜR DAS
FÜRSTENTUM LIECHTENSTEIN
Auch im vergangenen Jahr wurde das Historische
Lexikon von lic. phil. Arthur Brunhart im Ein-
mannbetrieb redaktionell betreut. Inzwischen
konnten alle Stichwortlisten und Konzepte abge-
schlossen und die Artikelproduktion weiter geführt
werden. Die im Rahmen der redaktionellen Tätig-
keit für das Historische Lexikon geknüpften engen
Kontakte zu Historischen Instituten ausländischer
Universitäten wurden im Berichtsjahr weiter ver-
tieft. Es fanden im Berichtsjahr vielbeachtete histo-
rische Seminare und Tagungen in Liechtenstein
statt, die vom Historischen Lexikon - teils in Zu-
sammenarbeit mit den genannten Historischen In-
stituten - organisiert und durchgeführt wurden.
Genauere Informationen sind hierzu im ausführ-
lichen Jahresbericht des LIistorischen Lexikons zu
finden.
Triesen, 18. März 1996
Vom Vorstand in seiner Sitzung vom 29. März 1996
beschlossen.
VORARLBERGER SPRACHATLAS MIT EIN-
SCHLUSS DES FÜRSTENTUMS LIECHTENSTEIN
Im Berichtsjahr erfolgte seitens des Vorarlberger
Sprachatlases keine publizistische Tätigkeit. Die
Veröffentlichung von weiteren Forschungsergeb-
nissen ist in Frage gestellt, da die Vorarlberger
Landesregierung die Druckkostenbeiträge sistierte.
292
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Jahresrechnung des Vereins
pro 1995
ÜBER DIE EINNAHMEN UND AUSGABEN
VOM 1. 1. 1995 BIS 31. 12. 1995
EINNAHMEN
D ß l l r i A l j r , UND src.iNlJc.iN m C r i r m L r i r
Mitgliederbeiträge 54 694.—
Landesbeitrag 80 000.—
Gönnerbeiträge:
- S. D. Fürst Hans-Adam II.
- Gemeinde Vaduz
- Gemeinde Balzers
- Gemeinde Planken
- Gemeinde Schaan
- Gemeinde Triesen
- Gemeinde Triesenberg
- Gemeinde Eschen
- Gemeinde Mauren
- Liechtensteinische Kraftwerke Schaan
- Liechtensteinische Landesbank Vaduz
- Private Einzelspenden
5 000.—
5 000.—
1 100.—
300.—
1 500 —
1 200.—
650.—
1 000.—
1 000.—
1 400.—
5 000.—
4 185.47 27 335.47
Beitrag der LGT Bank in Liechtenstein
für die Buchpublikation «Borscht» 50 000.—
Beitrag der Gemeinde Schellenberg zur Beschilderung
der Burgruinen Schellenberg 2 826.90
Beitrag des Josef Rheinberger-Archivs für den Artikel
Bomberger im Jahrbuch Band 93 5 000.—
Anteilige Kostenbeiträge der vom Historischen Verein getragenen
wissenschaftlichen Dienste und Projekte (Archäologie,
Namenbuch, Historisches Lexikon, Sprachatlas, Urkundenbuch)
für die Geschäftsstelle des Historischen Vereins (= Landesmittel) 64 250.—
VERKAUF UND VERTRIEB DIVERSER PUBLIKATIONEN
- Jahrbücher und Sonderdrucke
- Rupert Quaderer: Militärgeschichte
- Broggi: Landschaftswandel im Talraum
- Peter Kaiser: Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein
- Alexander Frick: Mundarten
- Festschrift «1342»
- Arthur Brunhart: Peter Kaiser
- Fabriklerleben
- Liecht. Urkundenbuch
- «Eidgenossen ...» - Vorarlbergs Beziehungen ... 1918-1922
- Diverse Verkäufe
21 605.30
966.80
218.—
1 008.—
408.—
1 703.85
555.50
4 905.65
2 032.—
108.—
444.— 33 955.10
ZINSEN
Bank- und Postcheck-Zinsen 1 556.85
TOTAL EINNAHMEN 1995 319 618.32
293
AUSGABEN
JAHRBÜCHER in CHF in CHF
Band 92:
R Äff 1 r\ti~c /"»r"i**r»il~i/">Yi A 7r\Y*c * i rt r\ C ̂ » r i r*i iYc»iTr"3iiCf*ri
- D c g i ö i L b c n r e i . j J t J i i , versdiiu, o c n r u L c i i u t u b L i i
- Sonderdrucke
- Zusätzliche Ausgaben
7 7 ( . c 4.n / / D j . t U
7 124.—
7 764.05 22 653.45
Band 93 und Band 94:
- Redaktion, Lektorat, Korrektorat
- Gestaltung, Bildbeschaffung, Produktionsbegleitung
- Druckkosten
- Jahresbericht 1994
Total Aufwand Jahrbücher
15 000.—
55 740.20
40 800.—
2 891.70 114 431.90
137 085.35
Geschäftsstelle:
- Personalkosten
- Büromaterial
- Drucksachen
47 381.45
5 007.80
1 349.95 53 739.20
Abonnemente und Mitgliedschaften 2 006.95
Honorare 1 000.—
Ankäufe für die Vereinsbibliothek 1 959.65
Beschilderung Burgruinen Schellenberg 2 679.20
Anzahlung für Buchprojekt «Borscht» 30 000.—
Verschiedenes 4 696.50
Bank- und Postcheckspesen 720.55
TOTAL AUSGABEN 1995 233 887.40
294
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
ÜBERSICHT
in CHF
VEREINSVERMÖGEN per 31. 12. 1995 219 902.23
Liecht. Landesbank AG (Kto. Korr.) 78 777.80
Liecht. Landesbank Mitglieder-Konto (D - Konto) 72 736.10
Postcheck-Konto 52 770.95
Kassa 562.25
Darlehen an Fonds «Nach Amerika» 20 000.—
Transitorische Aktiven 98 896.35
Transitorische Passiven ./. 103 841.22
EINNAHMEN / AUSGABENRECHNUNG
Total Einnahmen 1995 319 618.32
Total Ausgaben 1995 233 887.40
Überschuss 1995 85 730.92
+ Vereinsvermögen 1.1. 1995 134 171.31
VEREINSVERMÖGEN per 31. 12. 1995 219 902.23
FONDS
«FORSCHUNG + PUBLIKATIONEN» in CHF in CHF
Vermögensstand per 31. 12. 1995 20 628.51
Banksaldo 31. 12. 1995 5 578.70
Darlehen an «Nach Amerika» aus 1994 9 435.35
Einnahmen:
Einzahlung (Erlös aus dem Verkauf
der Publikation «Castellani» 1994) 3 969.44
Erlös aus dem Verkauf der
Publikation «Castellani» 1995 5 615.62
Zinsen 135.60 9 720.66
Vermögensvermehrung 1995 9 720.66
PUBLIKATION «NACH AMERIKA» in CHF in CHF
Vermögensstand per 31.12. 1995 ./. 29 031.65
Banksaldo 31.12.1995 415.80
Darlehen aus Fonds
«Forschung und Publikationen» aus 1993 ./. 9 435.35
Darlehen vom Historischen Verein in 1995 ./. 20 000.—
Einnahmen: Zinsen 11.90
Vermögensvermehrung 1995 11.90
295
PRÜFUNGSBERICHT
Auftragsgemäss habe ich die Rechnung über die
Einnahmen und Ausgaben vom 1. 1. bis 31. 12.
1995 Ihres Vereins sowie die Fondsrechnungen
«Forschung und Publikationen» und «Nach Ameri-
ka» geprüft.
Ich stelle fest,
- dass die Rechnung über die Einnahmen und
Ausgaben sowie die Fondsrechnungen mit der
Buchhaltung übereinstimmen,
- dass die Buchhaltung sauber und ordnungs-
gemäss geführt ist,
- dass der Aktivsaldo der Jahresrechnung (CHF
219 902.23) und das Fondsvermögen «For-
schung und Publikationen» (CHF 20 628.51)
nachgewiesen sind und der Soll-Saldo des Fonds
«Nach Amerika» (CHF -29 031.65) nachprüfbar
war.
Aufgrund des Ergebnisses der Prüfung beantrage
ich, dem verantwortlichen Kassier lic. phil. Norbert
W. Hasler und dem Rechnungsführer Klaus Bieder-
mann für die ausgezeichnet geführte Jahresrech-
nung zu danken, Ihnen Entlastung zu erteilen so-
wie die Jahresrechnung und die Fondsrechnungen
zu genehmigen.
Mauren, 1. April 1996
gez. Georg Kieber
296
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Archäologie:
Tätigkeitsbericht 1995
Im Berichtsjahr waren 21 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter - zum grössten Teil temporär - für die
Archäologie tätig; zwei Mitarbeiterinnen waren von
der Fürstlichen Regierung angestellt, die übrigen
hatten einen Arbeitsvertrag mit dem Historischen
Verein und wurden im Stundenlohn entschädigt.
Am 22. Juni 1995 bewilligte der Hohe Landtag
einen fünfjährigen Verpflichtungskredit für die Ar-
chäologie. Damit können für die ständigen Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter bessere Anstellungs-
bedingungen wahrgenommen und die Katalogi-
sierungs- und Auswertungsarbeiten längerfristig
geplant werden. Der Landtag hat die Bewilligung
des Verpflichtungskredits mit der Auflage verbun-
den, die fünfjährige Frist dafür zu nutzen, die
rechtliche Stellung und die Aufgabenbereiche der
Archäologie zu definieren und ihre Organisation
gesetzlich zu regeln.
BAUÜBERWACHUNG, GRABUNGEN
UND DENKMALSCHUTZ
Wie in den Vorjahren zählte auch im Jahr 1995 die
Beobachtung der Bautätigkeit in Liechtenstein zu
den Aufgaben der «Bauüberwachung». Sämtliche
beim Hochbauamt neu eingereichten Baugesuche
sind geprüft und mehrere Aushubarbeiten beglei-
tend beobachtet worden.
Auf Fundmeldungen hin konnten auf zwei Bau-
stellen - beim Theater am Kirchplatz in Schaan
und auf dem Areal Schekolin im Mühleholz/Vaduz
- je eine frühneuzeitliche gemauerte Zisterne frei-
gelegt werden. Nach erfolgter Dokumentation sind
beide Zisternenschächte auf unsere Empfehlung
hin im Boden belassen und mit Erdreich überdeckt
worden. Die Fundstellen wurden eingemessen und
in Situationsplänen verzeichnet.
Das Jahr 1995 war gekennzeichnet durch eine
Häufung an Notgrabungen und - dadurch hervor-
gerufen - durch eine Schwerpunktverlagerung im
Arbeitsprogramm der Archäologischen Arbeitsstel-
le. Da die Notgrabungsprojekte kurzfristig bewäl-
tigt werden mussten, konnten wir kein geschultes
Grabungspersonal rekrutieren und kamen selbst
Abb. 1: Ausgrabung beim
Amtshaus in Balzers.
Römisches Tafelgeschirr.
Fragment einer Terra
Sigillata-Schüssel mit
helvetischer Töpfermarke.
Erste Hälfte des 3. Jahr-
hunderts n. Chr.; Abbil-
dung ohne Massstab.
297
Abb. 2: Ausgrabung beim
Amtshaus Balzers. Römi-
sches Mauerwerk mit
horizontalem und vertika-
lem Fugenstrich. Gra-
bungsfoto, Dezember
1995.
Abb. 3: Notgrabung in der
Florinsgasse in Vaduz.
Spätmittelalterliche Weg-
und Platzanlage mit ge-
pflästerten Wasserrinnen
im Bereich westlich vor
der ehemaligen Florinska-
pelle. Grabungsfoto, Juni
1995.
zum Einsatz, so dass die wissenschaftlichen Aus-
wertungsarbeiten der Altgrabungen weitgehend
zurückgestellt werden mussten.
Über die Ausgrabungen beim Amtshaus in Bal-
zers - die verdankenswerter Weise durch einen
Nachtragskredit des Landtags finanziert wurden -
hat uns die wissenschaftliche Leiterin Mag. Ulrike
Mayr folgenden Zwischenbericht zur Verfügung ge-
stellt:
«Die Liechtensteinische Landesbank AG erwarb
das Areal Amtshaus, um hier eine grössere Filial-
stelle für Balzers einzurichten. Da diese Absicht
schon seit längerer Zeit bekannt und aufgrund der
Grabung «Fürstenstrasse» 1986 eine römische Be-
siedlung an dieser Stelle anzunehmen war, wurden
im Mai 1995 im gegenseitigen Einvernehmen zwi-
schen Archäologie, Bauherrschaft und Unterneh-
mer mit den Umbaumassnahmen unter archäologi-
scher Aufsicht begonnen.
Schon bei der Entfernung der Kellerböden sties-
sen die Bauarbeiter wie erwartet direkt auf römi-
sche Mauerkronen. Wegen der Unterfangungsar-
beiten an den Fundamenten des Amtshauses wur-
den einzelne Teile vorab durch die Archäologie do-
kumentiert, für den Baufortgang freigegeben und
im Zuge der weiteren Arbeiten abgebrochen. Das
gleiche geschah mit jenen römerzeitlichen Baure-
sten, die bei den Fundamentierungsarbeiten unter-
halb der Aussenmauern, im besonderen bei der
Ost-, Nord- und Südmauer des Amtshauses zum
Vorschein kamen.
Diese und die noch in ungestörter Originallage
verbliebenen Mauern lassen sich auf Grund ihrer
absoluten Höhe, ihrer Bauart und ihrer Orientie-
rung mit den Befunden der Notgrabung in der Für-
stenstrasse 1986 zu einem Gebäudekomplex ver-
binden. Die Mauerzüge in den Kellerräumen des
Amtshauses können sogar zu einzelnen Räumen
ergänzt werden. Die Mauern sind in Zweischalen-
technik errichtet und z.T. an den Innen- und Aus-
senwänden mit einem sehr aufwendig und sorg-
fältig ausgeführten horizontalen und vertikalen
Fugenstrich versehen. Schon allein dieser Umstand
deutet auf ein Gebäude besser gestellter Bewohner.
Bisher sind jedoch noch keine Hinweise vorhan-
298
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
den, ob es sich dabei um ein Wohnhaus, um eine
Strassenstation oder um einen Händlerstützpunkt
handelte. Doch könnte diese Frage im Laufe der
Ergrabung der restlichen Kellerräume geklärt wer-
den, die bis Ende Februar 1996 abgeschlossen sein
wird.
Als Funde im Innern des römischen Hauses ka-
men zahlreiche Terra Sigillata-Fragmente zum
Vorschein, darunter ein Stück mit einem Stempel
des helvetischen Töpfers Reginus, von dem auch in
Vindonissa und Chur Belege gefunden wurden;
desweiteren Tierknochen, mehrere kobaltblaue
Glasperlen, zwei Haarnadeln aus Bein, ein Steck-
schlüssel aus Eisen und Teile von Glasgefässen -
eines davon mit einer Reihe von gelben Glastupfen,
das typisch ist für die Glashütten aus dem Rhein-
gebiet um Köln.
Als herausragende Fundsituation ist ein einzel-
nes Grab inmitten des römischen Gebäudes zu
nennen. Es handelt sich hierbei um die Bestattung
einer ca. 50 bis 55-jährigen Frau von zierlichem
Körperbau (die Grösse lässt sich anthropologisch
mit 1,35 m bis 1,40 m errechnen). Bemerkenswert
sind eine Zahnfehlstellung und eine Verknöcherung
aus dem Hirnbereich, die auf eine Tumorbildung
hindeutet. Als Beigaben konnten die Reste eines
beineren Armringes, eine Geschossspitze und auf
der linken Brustseite die Knochen eines subadulten
Tieres festgestellt werden. Datiert wird das Grab
ins 4. Jahrhundert. Für die ältesten Funde, zu de-
nen Wand- und Randstücke von La Tene-zeitlicher
Keramik, ein Spinnwirtel aus Speckstein und das
winzige Bruchstück eines gelben Glasarmringes
aus dem 2./1. Jahrhundert v.Chr. gehören, konnten
keine ihrer Zeit entsprechende Siedlungsbefunde
im Areal Amtshaus entdeckt werden.
Im Garten südlich des Amtshauses wurden
knapp unterhalb der rezenten Grasnarbe die Fun-
damentmauern eines neuzeitlichen Ökonomiege-
bäudes entdeckt, das mehrere Bauphasen aufwies.
Beachtenswert ist vor allem die aufwendige Stein-
pflästerung im Inneren des Baus. Im Osten war
eine Mistlege angestellt. Die Funde, vor allem
bunte Bauernmajolika, grünglasierte Blattkacheln,
Glasfragmente von Fenstern und Trinkgefässen
Abb. 4: Renovations- und
Grabungsarbeiten in der
Kapelle von Schloss Vaduz.
Graue Quadermalereien
aus dem frühen 16. Jahr-
hundert n. Chr. während
der Freilegung. Zustands-
foto, Mai 1995.
299
und Eisenobjekte datieren durchwegs in das 18.
und in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Darunter fand sich eine 2,50 m mächtige Rüfe-
aufschüttung, die nach 14C-Daten der Grabung
«Fürstenstrasse» (1986) ins 12./13. Jahrhundert
zu datieren ist. Sie wurde mit Hilfe von Baggern bis
knapp über jene Humusschicht abgetragen, die
sich über den römerzeitlichen Überresten angela-
gert hatte. Durch die äusserst günstigen Umstände
- hohe Bodenfeuchtigkeit, vollständiger Luftab-
schluss - haben sich hier zahlreiche organische Re-
ste wie Reb- und Blütenblätter oder Teile von Kä-
fern erhalten. In dieser Fläche, die anscheinend in
römischer Zeit als Garten oder Hinterhausbereich
in Verwendung stand, konnte bis auf die zahlrei-
chen Funde keinerlei Siedlungsstruktur erfasst
werden. Als Funde wurden einige sehr bemerkens-
werte Stücke ergraben: eine bronzene Gürtel-
schnalle (4. Jahrhundert); ein Stilusfragment (2./3.
Jahrhundert); eine komplett erhaltene, durchbro-
Abb. 6: Ausgrabung in der
Kapelle von Schloss Vaduz.
Reste eines wahrscheinlich
während dem Schwaben-
krieg im Jahre 1499 von
den Eidgenossen gebrand-
schatzten Gebäudeteils.
Fundamentmauerwerk mit
Türanlage unter den
Mauern der heutigen
Schlosskapelle. Grabungs-
foto, Mai 1995.
chen gearbeitete Scheibenfibel (Ende 2./3. Jahr-
hundert); neun Münzen, die durchwegs in das
4. Jahrhundert datieren und viele Terra Sigillata-
Fragmente aus dem 2. bis 4. Jahrhundert. Zudem
kamen zahlreiche Tierknochen (vor allem von Rind
und Schwein) zum Vorschein. Diese geben einen
sehr guten Querschnitt über die Essgewohnheiten
der Menschen zu dieser Zeit.
Durch die Notgrabung beim Amtshaus kann ein
sehr komplexes Bild der Lebensumstände im römi-
schen Balzers gezeichnet werden - die tierischen
und pflanzlichen Funde vermitteln einen Einblick
in die Ernährungsgewohnheiten und die Vegetation
dieser Zeit, die Bauteile und die Artefakte aus Ke-
ramik, Glas und Metall gestatten uns einen Blick
auf die Lebensqualität und die menschlichen Über-
reste stellen uns die damaligen Bewohner vor Au-
gen.»
Anlässlich von Renovationsarbeiten in der Ka-
pelle von Schloss Vaduz fand von April bis Mitte
Mai 1995 ebenda eine archäologische Notgrabung
statt. Die Dokumentation der baugeschichtlichen
Beobachtungen dauerte bis in den Frühherbst fort.
Die Arbeiten wurden in enger und intensiver Zu-
sammenarbeit mit S.D. dem Landesfürsten, mit
I.D. der Landesfürstin und mit der Schlossverwal-
tung vorbereitet und ausgeführt.
Nebst den interessanten archäologischen Befun-
den ergaben auch die Resultate der baugeschicht-
lichen Untersuchungen am aufgehenden Mauer-
werk wichtige Hinweise zur teilweise bis anhin
nicht bekannten baulichen Entwicklung der Burg
Vaduz im hohen und späten Mittelalter.
Die Ausgrabungsergebnisse sollen in einem der
nächsten Jahrbücher des Historischen Vereins vor-
gestellt werden. Kurzfristige Umplanungen zur
Vorplatzgestaltung des Schädlerhauses erforderten
einen im Bereich Florinsgasse nicht vorgesehenen
Mehraufwand an Notgrabungsarbeiten, die - unter-
brochen von längeren Regenperioden und Bauarbei-
ten - von Mitte Mai bis Mitte September 1995 dauer-
ten. Betroffen davon war einerseits das frühneuzeit-
liche Friedhofareal nördlich der Kapelle St. Florin.
Hier wurden 22 Bestattungen freigelegt und wissen-
schaftlich dokumentiert. Acht der Skelette waren
300
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
bereits bei den Ausgrabungen 1992 entdeckt wor-
den, konnten aber damals nicht geborgen werden,
da ihre Lage über die Grabungsgrenze hinausreich-
te. Zum anderen wurde von den Baumassnahmen
ein Teil des Platzes tangiert, der sich ehemals zwi-
schen Rheinbergerhaus, Tschaggaturm und Fried-
hof befand. Der Platz bestand aus festgestampfter
Erde und war mit gepflasterten Abflussrinnen aus
länglichen Rheinkieseln versehen, die zu einem
Brunnen vor dem Rheinbergerhaus führten.
Auf der Parzelle 166 in Schaan, westlich des
Friedhofs, wo bei Fundamentierungsarbeiten für
einen Stall im Jahre 1910 und bei weiteren Sondie-
rungen durch Kanonikus Anton Frommelt im Jahre
1940 ein alemannisches Gräberfeld entdeckt wor-
den war, ist für die nächste Zukunft eine neue
Überbauung geplant. Während die Aufdeckung der
alemannischen Gräber und die Arbeiten an den
Fundamenten des Stalles im Jahre 1910 unter der
Aufsicht des damaligen Fürstlichen Landestechni-
kers Hiener standen und von ihm protokolliert
worden waren, besitzen wir über allfällige weitere
Arbeiten am Stall keine Nachrichten. Da das Areal
in früheren Jahren nicht flächig untersucht worden
war, machte das Bauvorhaben weitere archäologi-
sche Abklärungen notwendig, die von Oktober bis
Dezember 1995 in besagtem Stall vorgenommen
wurden. Leider mussten wir feststellen, dass das
ursprüngliche Terrain bereits bei der Errichtung
des Stalls über die gesamte Gebäudefläche abgetra-
gen worden sein muss. Es waren keinerlei Befunde
mehr auszumachen, und nur einige wenige Streu-
funde - eine Glasperle und zwei vergoldete Bronze-
nieten - bestätigen die ehemals alemannische Bele-
gung des Platzes.
Möglicherweise befinden sich in der verbleiben-
den Grünfläche der Parzelle mehr Überreste; sie
dürften sich aber nicht mehr in ungestörter Lage
befinden, da Anton Frommelt bei seinen Sondie-
rungen in diesem Teil mittelalterliche Baureste
feststellen konnte. In Absprache mit der Bauherr-
schaft soll der Aushub für den Neubau im Frühjahr
1996 vorgezogen werden, damit für die Archäo-
logie genügend Zeit gegeben ist, entsprechende
Abklärungen zu treffen.
Auf eine Fundmeldung im April 1995 hin wurden
im Rietle in Schellenberg zwei Baumstämme im
Grundwasserniveau freigelegt und deren wissen-
schaftliche Bergung und Untersuchung umgehend
vorbereitet und durchgeführt. Mit Unterstützung
von Mitarbeitern des Landesforstamtes konnten be-
reits kurz nach der Fundmeldung Holzproben für
eine erste Datierung entnommen werden. Die dend-
• rochronologische Analyse der Stämme durch das
Laboratoire Romand in Moudon hat ergeben, dass
es sich hierbei um Eichen handelt, die im Rietle im
Winterhalbjahr 987/986 v.Chr. gefällt worden oder
im Sturm gefallen sein müssen. Mit Gewissheit kann
festgehalten werden, dass die Eichen nicht abge-
storben und anschliessend umgestürzt sind.
Anlässlich der Probenentnahme wurde von den
Moudoner Spezialisten darauf hingewiesen, dass
sich die Bodenprofile im Rietle aufgrund ihrer un-
gestörten Ablagerungen besonders gut für Pollen-
analysen eigneten und die anhand der Pollenanaly-
sen aus den Ruggeller und Eschner Rieten getroffe-
nen Aussagen zur Klima- und Wirtschaftsgeschich-
te (vgl. den Beitrag im JBL 93) ergänzen könnten.
Aus diesem Grund wurde die Probenanalyse eines
Bodenprofiis in Auftrag gegeben und in Absprache
mit den Herren Dr. Felix Näscher vom Landesforst-
amt und Dr. Mario Broggi von der Botanisch-Zoolo-
gischen Gesellschaft ein Projekt zur detaillierten
Erforschung des Rietles in Schellenberg erarbeitet.
Ein entsprechender Budgetantrag, der vom Lan-
desforstamt eingereicht worden ist, wurde von der
Fürstlichen Regierung gutgeheissen, so dass die ge-
planten Untersuchungen 1996 durchgeführt wer-
den können.
Von den eingangs erwähnten Eichenstämmen
wurden in Zusammenarbeit mit unserer Restaura-
torin Frau Barbara Bühler und dem Präparator der
Naturkundlichen Sammlungen, Herrn Peter Nie-
derklopfer, als Belege grosse Holzscheiben für die
Nassholzkonservierung in den Labors des Schwei-
zerischen Landesmuseums in Zürich präpariert.
Um die aktuellen und für die Zukunft absehba-
ren Notgrabungen besser planen und gezielter an-
gehen zu können, sahen wir uns veranlasst, Pro-
spektionen durch eine Spezialfirma durchführen zu
301
lassen. Wir wählten ein Verfahren mit Georadar-
messungen. Damit können - ohne Erdarbeiten vor-
nehmen zu müssen - Grundrisse und Strukturen
im Boden erkannt werden. Zur Untersuchung stan-
den mit Erlaubnis sämtlicher Grundbesitzer die
Grabungsfläche beim Amtshaus in Balzers, das Ale-
mannenareal in Schaan, der Gupfabüchel in Mau-
ren und das Gebiet der römischen Villa in Schaan-
wald.
Die ausführlichen Messungen auf dem Aleman-
nenareal in Schaan zeitigten verschiedene interes-
sante Spuren im Boden, insbesonders nördlich der
Parzelle 166. Beim Amtshaus in Balzers bestätigten
sie die Ergebnisse der bereits laufenden Ausgra-
bungen. Aus zeitlichen Gründen musste die Detail-
untersuchung der beiden Gebiete in Mauren und
Schaanwald zurückgestellt werden. Die dort den-
noch durchgeführten Probemessungen deuten al-
lerdings darauf hin, dass auf beiden Arealen inter-
pretierbare Analysenergebnisse zu erwarten sind.
Auch die beratende Tätigkeit der Archäologie für
die Denkmalschutz-Kommission der Fürstlichen
Regierung gestaltete sich im Berichtsjahr arbeitsin-
tensiv.
Abb. 6: Archäologische
Prospektion im November
1995. Die mittels Georadar
aus dem Boden gewonne-
nen Daten werden im
Messwagen einer Spezial-
firma aufgezeichnet.
Für die Unterschutzstellung des archäologisch be-
deutenden Areals Florinsgasse in Vaduz mussten
Plan- und Quellenunterlagen erarbeitet werden
ebenso wie für die Platzgestaltung und Visualisie-
rung der archäologischen Befunde vor dem Schäd-
lerhaus zuhanden der Architekten.
Die im Herbst des Vorjahrs eingeleitete Renova-
tion der Kapelle St. Peter in Schaan wurde auch im
Berichtsjahr von einer Arbeitsgruppe begleitet. Ein
besonderes Augenmerk musste auf die statische
Sicherung der Gewölbe und der Südwand der Ka-
pelle gelegt werden. Die Arbeiten zur Gewölbeun-
tersuchung und -Sanierung wurden in Zusammen-
arbeit mit dem beratend tätigen Bauingenieur
Fredi Schneller aus Zürich von Hansjörg Frommelt
koordiniert und in Besprechungsprotokollen fest-
gehalten. Auch interessante Hinweise zur Bauge-
schichte der Kapelle am aufgehenden Mauerwerk
wie Brandspuren, Verputze u.a. sind dokumentiert
worden.
Die Auskernungs- und Aushubarbeiten beim
Pfarrstall in Bendern sind im Berichtsjahr von der
Archäologie ständig begleitet und überwacht wor-
den. Es konnten keine neuen archäologischen Er-
kenntnisse gewonnen werden. Die Bauarbeiten,
denen projektbedingt die historische Substanz des
Pfarrstalls grösstenteils zum Opfer gefallen ist,
wurden fotografisch dokumentiert. Auch die intak-
ten Bodenniveaus im Keller «Süd» sind teilweise
zerstört worden. Hansjörg Frommelt hat die Mit-
glieder der Denkmalschutz-Kommission anlässlich
einer Führung darauf hingewiesen und in einem
Bericht an die Fürstliche Regierung auf dieses so-
wohl aus archäologischer wie auch aus denkmal-
pflegerischer Sicht untragbare Vorgehen aufmerk-
sam gemacht.
Desweiteren wurden im Auftrag der Denkmal-
schutz-Kommission folgende Aufgaben wahrge-
nommen: Teilnahme an Abklärungsgesprächen
über eine mögliche Unterschutzstellung der beiden
Spoerry-Fabriken in Triesen und in Vaduz; denk-
malpflegerische Beratung bei der Restaurierung
der Kapelle auf Schloss Vaduz; beratende Mitarbeit
bei Fragen zur Restaurierung und zur Unterschutz-
stellung des Freileitungsmastes aus dem Unteren
302
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Mühleholz in Vaduz aus dem Jahre 1925; Begehun-
gen im Areal Höfle in Balzers.
Wiederum wurden mehrere Abbruchobjekte fo-
tografisch dokumentiert und die Aufnahmen ins
Fotoarchiv der Archäologie integriert.
ARCHÄOLOGISCHES BÜRO
Wie eingangs bereits angemerkt wurden im Be-
richtsjahr die Auswertungen früherer Ausgrabun-
gen aus Zeitgründen zurückgestellt. Nur gerade die
wichtigsten Arbeiten an den Dokumentationskata-
logen - vor allem an den Fundstellendossiers, den
Foto- und Diaverzeichnissen und am Bibliotheks-
katalog - konnten weitergeführt werden.
Die Notgrabungen mussten nicht nur durchge-
führt werden, sondern erforderten vorab auch
einen Mehraufwand an Organisationsarbeiten.
Dazu gehören Abklärungs- und Koordinationsge-
spräche mit Architekten, Bauherrschaften und
Baugeschäften; Rekrutierung und Verwaltung von
Personal; Beschaffung finanzieller Mittel; Projekt-
planung; Bereitstellung der notwendigen Infra-
struktur; Einholen von Expertisen; Abrechnungen;
Berichte an die Regierung; etc. In diesem Zusam-
menhang Hessen wir auch beim Amt für Personal
und Organisation ein neues Arbeitsvertragsformu-
lar für unsere temporären Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ausarbeiten.
Bereits im Berichtsjahr sind die ersten Fundbe-
stimmungs- und Auswertungsarbeiten der Ausgra-
bung beim Amtshaus in Balzers angelaufen. Die
Terra Sigillata-Keramik wird von Frau Verena
Hasenbach laufend gezeichnet und nach Form und
Alter eingeordnet. Die Bestimmung der Münzen
hat Herr Hansjörg Brem übernommen. Die anthro-
pologische Analyse des Skelettes erarbeitete Frau
Marianne Lörcher.
Frau Lörcher hat auch die Skelettreste vom Ale-
mannenareal in Schaan und die Bestattungen von
der Florinsgasse in Vaduz anthropologisch proto-
kolliert und geborgen. Sie ist mit der anthropologi-
schen Gesamtauswertung des Skelettmaterials der
Grabung Florinsgasse 1992-1995 betraut.
Unsere Restauratorin Barbara Bühler, die zeit-
weise bei den verschiedenen Notgrabungen aus-
half, war im Berichtsjahr vor allem mit den Kon-
servierungen der Neufunde vom Schloss Vaduz und
vom Amtshaus in Balzers beschäftigt.
Auf Einladung des Llochbauamtes nahmen wir
in einer ämterübergreifenden Arbeitsgruppe an
mehreren Sitzungen zur «Vorbereitung der Wettbe-
werbsausschreibung für die Renovation und Erwei-
terung des Landesmuseums und Verweserhauses»
teil und haben Vorschläge für das weitere Vorgehen
unter Einbezug eines zeitgemässen Museumskon-
zeptes erarbeitet.
Für den Band 93 des Jahrbuches des Histori-
schen Vereins hat Hansjörg Frommelt die Artikel
«Die Baumstämme aus dem Ruggeller Riet» und
«Denkmalschutz in Liechtenstein/Chronik der Jah-
re 1992/1993» verfasst. Für die Broschüre «Reno-
vation Schädlerhaus» (hrsg. Hochbauamt Vaduz)
schrieb er den Vorbericht «Archäologische Gra-
bungen St. Florinsgasse, Vaduz».
Die wissenschaftlichen Auswertungen der Alt-
grabung Eschen «Malanser» sind abgeschlossen.
Frau Anna Merz wird das druckfertige Manuskript
in Form einer Doktorarbeit im Laufe des Jahres
1996 vorlegen.
Das Manuskript über die Altgrabung Schellen-
berg «Borscht» von Frau Prof. Dr. Magdalena
Maczynska wurde zum Druck vorbereitet, der
durch eine grosszügige Spende S.D. des Landesfür-
sten ermöglicht wird.
Ausserdem haben wir die Redaktion sämtlicher
archäologischer Beiträge, die im Jahrbuch des Hi-
storischen Vereins, Band 93, erscheinen werden,
übernommen.
Wiederum waren eine ganze Anzahl von Gästen
aus anderen wissenschaftlichen Institutionen zu
betreuen sowie Führungen für Schulklassen, Semi-
nare, Vereine und Kommissionen durch unsere Ar-
beitsräume und an archäologischen Stätten abzu-
halten. Hervorgehoben sei hier nur die Durch-
führung der Jahrestagung des «Verbands Schwei-
zerischer Kantonsarchäologen» am 15. September
1995 bei uns in Triesen. Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter der Archäologie waren auch 1995 - zum
303
Teil mit eigenen Referaten - an Fachtagungen und
Seminaren zur Weiterbildung beteiligt.
Um dem Auftrag des Landtages nachzukommen,
für die Liechtensteinische Archäologie eine feste
Organisation zu erarbeiten, wurden bereits in der
zweiten Jahreshälfte mit Mitarbeitern des Ressorts
Kultur erste Vorgespräche über ein zukünftiges Ar-
chäologie-Konzept geführt.
ABBILDUNGSNACHWEIS ANSCHRIFT
Alle Aufnahmen: Archäologie
Hansjörg Frommelt, Messinastrasse 5
Archäologie FL Postfach 417
9495 Triesen
Telefon 075 / 236 75 30
Telefax 075 / 392 39 02
Triesen, den 5. März 1996
ARCHÄOLOGIE
lic. phil. Eva Pepic, Koordination
Hansjörg Frommelt, Bauüberwachung
304
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Liechtensteiner Namenbuch:
Tätigkeitsbericht 1995
EINLEITUNG
Das Projekt Liechtensteiner Namenbuch hat wie
gewohnt an dieser Stelle über das verflossene Ar-
beitsjahr Rechenschaft abzulegen. Ich tue dies im
Bewusstsein, dass wir wieder ein gutes Wegstück
hin zur Verwirklichung des Ortsnamenbuches be-
wältigt haben; gleichzeitig wird aber auch die Sor-
ge fühlbar, ob wir das uns auferlegte Planziel (re-
daktioneller Abschluss bis Ende 1996) werden pro-
blemlos erfüllen können.
PERSONAL
Die Herren lic. phil. Anton Banzer und Herbert Hü-
be arbeiteten beide weiterhin zu 100%. Sie waren
hauptsächlich beschäftigt mit der Deutung von Na-
men deutscher Herkunft im Materialteil. Weiter
hatten sie neue historische Exzerpte (nunmehr die
letzten) einzutippen und zu kontrollieren. In ver-
schiedener Weise haben sie das Namenbuch in der
Öffentlichkeit, bei Behörden und an wissenschaft-
lichen Anlässen vertreten.
Herr Claudius Gurt, unser Archivbearbeiter, hat
auf Mitte Juli seine langjährige Mitarbeit an unse-
rem Werk beendet. Seit März 1987 hatte er im
Rahmen einer 40%-Stelle in unserem Forschungs-
unternehmens mitgearbeitet. Dabei hat er dem
Werk in der ihm eigenen akribischen Arbeitsweise
die unentbehrlichen historischen Belegformen be-
reitgestellt. Wir danken dem fachlich qualifizierten
Historiker für seine zuverlässige Mitarbeit.
STAND DER ARBEITEN
SAMMELDATENBANKEN: BEARBEITUNG DER
EINGEGEBENEN DATEN, NEUEINGABEN
Grundsätzlich sind die Bestände aller Sammel-
datenbanken aus unserer Sicht vollständig bear-
beitet, mit Ausnahme der Datenbank 0N4 (Volks-
etymologie).
ON1-Material (gemeindeweise aufgelistete heu-
tige Flurnamen): Diese Datenbank kann bei Bedarf
während der Deutungsarbeit im Materialteil wei-
terhin redaktionell modifiziert werden.
ON2-Material (Archivbelege): Die letzte Liefe-
rung von historischem Belegmaterial erfolgte im
September. Damit ist die Belegsammlung abge-
schlossen; die Beleglisten werden überblickbar. Er-
geben sich da und dort übervolle Listen, können
diese nun ausgelichtet werden.
ON3-Material (namenkundliche Sekundärlitera-
tur): Auch hier sind redaktionelle Eingriffe weiter
möglich, indem etwa redundante Informationen
unterdrückt werden können.
ON4-Material (volkstümliche Deutungsanschau-
ungen und -Überlieferungen): Hier werden wir uns
darauf beschränken müssen, in uns besonders in-
teressierenden Fällen punktweise nachzufragen.
RESULTATDATENBANKEN
In den Datenbanken Lexikon und Material spiegeln
sich die beiden vorgesehenen Hauptteile des Na-
menbuches: Lexikonteil (das in den Namen vor-
kommende Wortgut, alphabetisch geordnet) und
Materialteil (Namenlisten nach Gemeinden, mit hi-
storischen Beleglisten und Deutungen versehen).
Lexikonteil: Infolge der sich sehr in die Länge
ziehenden entsprechenden EDV-Programmierung
konnte das Lexikon nicht entsprechend dem Ar-
beitsstand und unseren dringenden Bedürfnissen
reorganisiert werden. So wurde einstweilen im Ma-
terialteil weitergearbeitet, und die dort sich erge-
benden Informationszuflüsse zum Lexikonteil muss-
ten hier nun ad hoc manuell verarbeitet werden,
was freilich den Datenbestand sehr inhomogen
und unübersichtlich machte. Wir nahmen solche
erzwungenen Einschränkungen unserer Bewe-
gungsfreiheit nicht gerne auf uns, da sie den
Überblick über die Materialien hemmen und das
Vorankommen verzögern, was sich in der Schluss-
phase als bedeutender Stressfaktor erweist. Am
Jahresende warten wir weiterhin auf die Lieferung
der aktualisierten Datenbank Lexikon.
305
Materialteil: Herr Banzer hat auf Ende Jahr
einen ersten Deutungsdurchgang bei den deut-
schen Flurnamen von Balzers, Triesen, Planken,
Gamprin, Schellenberg und Mauren beendet; Herr
Hübe ist mit den Gemeinden Triesenberg, Vaduz,
Schaan, Eschen und Ruggell demnächst so weit.
Für die Deutungsarbeit an den vordeutschen Na-
men des ganzen Landes sowie für die kritische
Durchsicht und Abnahme der von den Herren Ban-
zer und Hübe redaktionell bearbeiteten Teile ist der
Unterzeichnende als Romanist und Projektleiter
zuständig. Infolge fortdauernder gesundheitlicher
Probleme konnte er leider nicht im erhofften Masse
im Einsatz stehen.
ARCHIVARBEIT
Dem 17. und letzten Zwischenbericht von Herrn
Gurt ist zu entnehmen, dass er von März 1987 bis
Juli 1995 mit einer 40%-Arbeitsverpflichtung das
gesamte für das Namenbuch relevante Archivmate-
rial folgender Archive bearbeitet hat: Gemeinde-
und Pfarrarchive aller Gemeinden; Landesarchiv
(inkl. Privatarchiv Wolfmger). Zusammen mit der
von Arthur Brunhart von März 1984 bis Januar
1985 geleisteten Archivarbeit kann damit die Auf-
nahme der historischen Belegformen für den Werk-
teil Ortsnamen des Namenbuches als abgeschlos-
sen betrachtet werden.
Da sich seit 1992 die Archivarbeit auf die Auf-
nahme der diesbezüglichen ON-Belegformen kon-
zentrierte, wären für den bereits konzipierten
Werkteil Personennamen noch Nachaufnahmen zu
leisten, namentlich in den J^auf-, Firmungs-, Hei-
rats- und Sterbebüchern der nach 1990 bearbeite-
ten Pfarrarchive.
COMPUTER, PROGRAMME
Nachdem im Jahre 1994 neue Hardware ange-
schafft worden war, welche sich aufgrund ihrer
grösseren Leistungsfähigkeit bewährt hat, war mit
unserer Software-Firma abgesprochen, auf Januar
1995 die EDV-Programme derart zu vervollständi-
gen, dass der Lemmaplan als Steuer- und Zentral-
einheit für alle übrigen Datenbanken mit diesen
verknüpft werden sollte. Leider konnte die Firma
bisher dieses Ziel nicht ganz erreichen. Wir warten
weiterhin darauf und müssen uns leider den damit
verbundenen Umständen und LIindernissen anpas-
sen, was eine korrekte Einhaltung unseres Zeitpla-
nes in Frage stellen könnte. In der zweiten Jahres-
hälfte erfolgen endlich wichtige Software-Teilliefe-
rungen; aber die Fertigstellung der Programm-
struktur fehlt noch am Ende des laufenden Jahres.
Immerhin sind seit September alle vier Sammelda-
tenbanken am Lemmaplan angehängt; doch wirkt
sich das Fehlen der Datenbank Lexikon als sehr
hinderlich aus.
SONSTIGE TÄTIGKEITEN
ÖFFENTLICHKEITSARBEIT
Presseaktion «Flur und Name»; Aufgrund einer
Anregung von Kulturministerin Dr. Andrea Willi
haben wir uns um den Jahreswechsel dazu ent-
schlossen, in den Landeszeitungen (unter der Ru-
brik Flur und Name) allwöchentlich einen liechten-
steinischen Geländenamen in populärer Form ab-
zuhandeln. Die Reaktionen auf diese Aktion waren
positiv. Auf Ende November haben wir die Arti-
kelserie nun eingestellt. Insgesamt kamen 46 aus-
gewählte Namenbeispiele zur Darstellung. Die Tex-
te sollen im Frühling 1996 in Buchform erscheinen.
ZUSAMMENARBEIT MIT INSTITUTIONEN UND
PROJEKTEN; WISSENSCHAFTLICHE KONTAKTE
Am 18. Februar 1995 fand auf Einladung des Hi-
storischen Lexikons für das Fürstentum Liechten-
stein im Hotel Meierhof in Triesen die erste Liech-
tensteinische Historische Tagung statt. In Kurzrefe-
raten sprachen Toni Banzer über «Die Material-
sammlung des Liechtensteiner Namenbuches als
306
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Quelle für die historische Forschung» und Herbert
Hübe über «Volkskundliche Forschung in Liechten-
stein».
Vom 6. bis zum 9. März 1995 weilte das Semi-
nar von Frau Prof. Mazohl-Wallnig vom Histori-
schen Institut der Universität Innsbruck auf Einla-
dung des LIistorischen Lexikons in Liechtenstein.
Herr Hübe stand zeitweise zu ihrer Verfügung.
Am 13. März 1995 stattete uns die Gesellschaft
Schweiz-Liechtenstein einen Besuch ab. Herbert
Hübe stellte unser Projekt vor.
Das vom Historischen Lexikon angeregte Semi-
nar Liechtenstein im Mittelalter an der Universität
Zürich unter der Leitung von Prof. Roger Sablonier
stellte vom 28. bis zum 31. März 1995 die im Ver-
lauf des Winters erarbeiteten Seminararbeiten in
unserem Land vor. Toni Banzer und Herbert Hübe
nahmen an den Besprechungen im Bildungshaus
Gutenberg in Balzers teil.
Am 19. Juli erhielten wir Besuch von einer
Gruppe von Germanistikstudenten der Universität
Genf unter der Führung von Dr. Helen Christen.
Herr Banzer stellte unser Projekt vor.
ZUSAMMENARBEIT MIT LAND UND GEMEIN-
DEN; NOMENKLATURFRAGEN
Die Landesverwaltung ist daran, ein elektronisches
Informationssystem für geographische Daten
(LIS/GIS) zu realisieren. Die Projektbeauftragten
haben sich bei uns erkundigt, inwieweit die Daten
des Namenbuches in dieses System einfliessen
könnten. Es wurde weitere Mit- und Zusammenar-
beit vereinbart.
Die Gemeinde Eschen illustriert ihren Jahresbe-
richt mit Daten, Bildern und Texten zu einheimi-
schen Themen. Für die Bearbeitung des Jahresbe-
richts 1994 zum Thema «Grenzen und Berge» wur-
den wir zu einer Besprechung eingeladen. Der in
der Folge von Herrn Hübe bearbeitete und korri-
gierte Vorabdruck des Textes erschien dann aller-
dings im Druck ohne Berücksichtigung unserer
Korrekturen.
Im Zuge der Grundbuchneuvermessung in Gam-
prin erhielten wir zwei Plangrundlagen (Strassen-
und Flurplan) zur Durchsicht und Begutachtung.
Daraufregten wir bei den Gemeindebehörden eine
Revision der Schreibung der Strassennamen an.
Die Vorschläge fielen auf fruchtbaren Boden; Herr
Banzer hält den Kontakt.
Anders in Mauren: Zufällig erfuhren wir, dass
dort ein neuer Strassenplan vorbereitet wird. Flerr
Banzer regte daraufhin eine Revision der Schrei-
bung der Strassennamen an, doch zeigte man in
Mauren kein Interesse.
MITARBEIT A N ANDEREN PUBLIKATIONEN
Für die Balzner Neujahrsblätter 1996 schrieb Herr
Banzer einen Beitrag unter dem Titel «Die Flurna-
men von Gapfahl»; das Buch wurde am 28. Dezem-
ber der Öffentlichkeit vorgestellt. Für eine Fest-
schrift zum Jubiläum des Kirchenbaues von Mau-
ren trug Herr Banzer einen Beitrag mit dem Titel
Spuren kirchlichen und religiösen Lebens in den
Strassennamen von Mauren bei; die Festschrift er-
scheint 1996.
PLANUNG EINER ALLFÄLLIGEN FORT-
FÜHRUNG DES NAMENBUCHUNTERNEHMENS
In einer Besprechung mit der Vorsteherin des Res-
sorts Kultur vom 2. Dezember 1994 hatten Mitar-
beiter und Leiter des Namenbuches mit Regie-
rungsrätin Dr. Andrea Willi die Frage einer Fort-
führung der Namenbucharbeit nach dem nun ab-
sehbaren Abschluss des Werkteils Ortsnamen erör-
tert. Mit guten Gründen war ja seit Anfang in der
Projektplanung auch ein Werkteil Personennamen
vorgesehen, dessen Inangriffnahme nun in die
Nähe rücken würde. Ein Grundsatzentscheid der
Fürstlichen Regierung ist daher notwendig. Wir ha-
ben darauf (noch im Dezember 1994) zunächst
einen Zwischenbericht zuhanden der Landesregie-
rung erstellt, wo wir die Etappenplanung des Na-
menbuches nochmals darlegten und begründeten.
307
Mit Schreiben vom 3. Oktober teilt uns die Regie-
rung mit, dass die Drucklegung des Ortsnamenbu-
ches und, «unter Vorbehalt einer entsprechenden
finanziellen Beteiligung der Gemeinden», die Fer-
tigstellung des Personennamenbuches durch die
bestehende Arbeitsgruppe grundsätzlich auch nach
1996 unterstützt werde. Wir werden ersucht, als
Grundlage für einen Antrag an den Landtag einen
Werkplan für ein Personennamenbuch einzurei-
chen.
ANSCHRIFT
Liechtensteiner Namenbuch
Messinastrasse 5
Postfach 415
9495 Triesen
Telefon 075 / 236 75 70
Telefax 075 / 236 75 71
DANK
Der Hohen Fürstlichen Regierung bin ich für das
uns erwiesene Vertrauen dankbar. Dem Histori-
schen Verein als Träger unseres Namenbuches und
besonders dessen Vorsitzenden, Herrn Dr. Alois Os-
pelt, danke für die uns geleistete Unterstützung.
Frau Sandra Wenaweser und nach ihr Herrn Klaus
Biedermann von der Geschäftsstelle des Histori-
schen Vereins danken wir für die freundliche Zu-
sammenarbeit. Meinen Mitarbeitern, den Herren
Anton Banzer und Herbert Hübe, bin ich dafür
dankbar, dass sie ihre Arbeit in stets ungetrübtem
Arbeitsklima mit Sachwissen und Pflichtbewusst-
sein leisten. Danken möchte ich schliesslich auch
allen Amtsstellen im Land und in den Gemeinden
für alle uns gewährten Dienstleistungen und Unter-
stützungen. Freundlich sei auch allen Gewährsper-
sonen im ganzen Land gedankt. Schliessüch ge-
bührt ein Dank auch der Firma Vogelsang für ihre
Leistungen im EDV-Bereich.
Grabs, Ende Februar 1996
LIECHTENSTEINER NAMENBUCH
Der Leiter: Prof. Dr. Hans Stricker
308
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Historisches Lexikon für
das Fürstentum Liechtenstein:
Tätigkeitsbericht 1995
ALLGEMEINES
Mit Abschluss des Berichtsjahres 1995 belief sich
die Anzahl der Einträge in das Historische Lexikon
für das Fürstentum Liechtenstein (HLFL) auf 3354
Lemmata (Artikel, Direktverweise), die insgesamt
einen Umfang von 79 674 Zeilen erreichten. Damit
ist der Raum im Lexikon in wesentlichen besetzt.
Neben der Weiterbearbeitung aller Listen wird sich
die Redaktion in Zukunft zentral auf die Artikelpro-
duktion konzentrieren können.
Die Zielsetzungen der redaktionellen Arbeiten
am Historischen Lexikon für das Fürstentum Liech-
tenstein waren für das Berichtsjahr 1995 gemäss
Arbeitsplan zum einen die Bereinigung und Geneh-
migung der provisorischen Stichwortlisten, zum an-
deren der Vorantrieb der Artikelproduktion in der
zweiten Jahreshälfte. Diese Vorhaben konnten im
wesentlichen verwirklicht werden, wenn auch, was
die Artikelproduktion betraf, noch nicht im ge-
wünschten Masse. Diese Verzögerung beeinträch-
tigt insgesamt und auf Dauer gesehen den planmäs-
sigen Fortschritt der Arbeiten am Historischen Le-
xikon jedoch kaum. Die Redaktion ist, nachdem die
grundlegende erste Phase des Gesamtarbeitsplanes
im Kern abgeschlossen ist (Ende 1995), im Gegen-
teil bestrebt, die zweite Phase nach Möglichkeit zu
beschleunigen und damit die Artikelproduktion im
Rahmen der Möglichkeiten gegenüber der ur-
sprünglichen Zeitplanung soweit möglich abzukür-
zen. Das wird jedoch davon abhängen, in welchem
Masse kompetente Autoren und Autorinnen rekru-
tiert werden können. Diese Frage stellt sich je län-
ger je mehr als eine der zentralen Hürden bei der
Schaffung des Historischen Lexikons dar.
Im Berichtsjahr 1995 konnte die Planungsphase
im wesentlichen abgeschlossen werden. Das Histo-
rische Lexikon für das Fürstentum Liechtenstein
blieb, abgesehen von den freien Mitarbeitern wie
Beiratsmitgliedern, Beratern und Autoren, trotz
der in allen Bereichen anwachsenden Anforderun-
gen und Belastungen, wie bisher ein Einmannbe-
trieb. Das Jahresbudget 1995 wurde wegen der
(gegenüber der Planung) reduzierten Artikelpro-
duktion (Autorenhonorare) und aufgrund einiger
Sparmassnahmen nicht ausgeschöpft. Die Stich-
wortlisten aller fünf Kategorien (DYN, FAM, BIO,
GEO, TEM) konnten abgeschlossen und vom Wis-
senschaftlichen Beirat verabschiedet werden. Die
Listen wurden weiterhin laufend bearbeitet und
aktualisiert. Die Bereinigung und Vorbereitung der
redaktionellen Richtlinien wurde abgeschlossen,
wobei auch hier je nach Bedarf Änderungen und
Ergänzungen angebracht worden sind. Das Ge-
meindeschema «Mauren» konnte abgeschlossen
und genehmigt werden. Die Erarbeitung des Sche-
mas «Eschen» steht noch aus. Findet sich nicht in-
nert angemessener Frist ein kompetenter und aus-
gewiesener Autor (Autorin), wird dieses Schema
redaktionsintern verfasst. Verschiedene Autorin-
nen und Autoren wurden unter Vertrag genommen
und eine Anzahl von Artikeln in Auftrag gegeben.
Insgesamt befanden sich deutlich über 200 Artikel
(ca. 6%) in Bearbeitung, die jedoch rund 15% des
gesamten Textumfanges des Lexikons beinhalten.
DIE TRÄGERSCHAFT
Die Trägerschaft des Historischen Lexikons, der
Vorstand des LIistorischen Vereins, behandelte die
ihr gemäss Reglement obliegenden Geschäfte in
seinen ordentlichen Sitzungen. Die Kontakte der
Redaktion zur Trägerschaft liefen über die Ge-
schäftsstelle des Historischen Vereins (Frau Sandra
Wenaweser, seit September lic. phil. Klaus Bieder-
mann), über den Vorsitzenden des Wissenschaftli-
chen Beirates, Dr. Rupert Quaderer, oder direkt
über den Vorsitzenden des Historischen Vereins,
Dr. Alois Ospelt.
DIE BERATENDEN GREMIEN
Der Wissenschaftliche Beirat des Historischen Lexi-
kons traf sich gegen Ende des Berichtsjahres 1995
zu einer längeren Arbeitssitzung, in welcher er die
von der Redaktion vorgelegten Geschäfte besprach.
Haupttraktanden der Sitzungen waren die komple-
xe und während des ganzen Jahres hindurch viel-
309
diskutierte provisorische TEM-Stichwortliste, die
Ende des Jahres 960 Einträge (Artikel, Direktver-
weise) mit 25'138 Zeilen umfasste. Der Beirat ge-
nehmigte die Liste, auf deren Grundlage die ent-
sprechenden Lexikon- Artikel verfasst werden. In
der gleichen Sitzung wurde eine Anzahl von Arti-
keln vorgelegt.
Ein weiterer Schwerpunkt der Sitzung galt der
Frage der «Historischen Frauenforschung» und da-
mit der Rolle und dem Stellenwert der Frauen-
bzw. Geschlechtergeschichte im Historischen Lexi-
kon. Als Gastreferentin anwesend war Frau lic.
phil. Veronika Marxer, der ich an dieser Stelle sehr
herzlich danken möchte. Sie hatte als ausgewiese-
ne Kennerin der ganzen Problematik diese Diskus-
sionsrunde mit den Mitgliedern des Wissenschaft-
lichen Beirates angeregt. Fraglos ist die angemes-
sene Berücksichtigung der Frau bzw. der Einbezug
der Kategorie «Geschlecht» in die Lexikonartikel
ein völlig legitimes und selbstverständliches Erfor-
dernis im Rahmen moderner Geschichtsschrei-
bung. Das Historische Lexikon bzw. die Redaktion
kann jedoch aufgrund der Anlage und der finan-
ziellen Möglichkeiten des HLFL-Projektes kaum zu-
sätzliche dahinzielende Studien und Archivfor-
schungen in die Wege leiten. Die Redaktion hat
aber immerhin im Rahmen der von ihr initiierten
und durchgeführten Liechtensteinischen Histori-
schen Tagung von 18. Februar 1995 bewusst diese
Thematik in das Programm genommen. Ebenfalls
hat sie im Zusammenhang mit den bisher durchge-
führten Seminaren immer wieder auf die wichtigen
und anforderungsreichen Themen aus der Frauen-
und Geschlechtergeschichte Liechtensteins hinge-
wiesen. Die Redaktion wird es in diesen Belangen
weiterhin an Einsatz und Aufmerksamkeit nicht
mangeln lassen. Dies im Bewusstsein, dass das Hi-
storische Lexikon von den Autorinnen und Autoren
geschrieben wird, und nicht von der Redaktion (die
sich jedoch über ihre Verantwortung in dieser Fra-
ge durchaus im klaren ist).
Diese Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates
diente, nachdem die Trägerschaft dieses Gremium
im Frühjahr 1995 neu gewählt bzw. auf Vorschlag
der Redaktion in seiner Zusammensetzung be-
stätigt hatte, der Wahl des Vorsitzenden. Diese Auf-
gabe wird für eine erneute Mandatsperiode Dr. Ru-
pert Quaderer (Schaan) wahrnehmen. Die weiteren
Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates sind:
Dr. phil. Martin Bundi (Chur), Prof. Dr. phil. Dr. iur.
Karl Heinz Burmeister (Bregenz), Prof. Dr. phil.
Heinz Dopsch (Salzburg), lic. phil. Claudia Heeb-
Fleck (Schaan), Dr. phil. Marco Jorio (Bern) und Dr.
phil. Werner Vogler (St. Gallen).
Bei den wissenschaftlichen Beratern/innen des
Historischen Lexikons wurden punktuell weitere
Vernehmlassungen durchgeführt. Die provisori-
schen Stichwortlisten durchliefen in der zweiten
Jahreshälfte 1995 eine Generalvernehmlassung bei
den wissenschaftlichen Beratern und Beraterinnen.
Die einlaufenden Korrekturvorschläge, Ergänzun-
gen und Streichungswünsche wurden geprüft und in
die Listen eingebracht. Einzelne Berater/innen wur-
den ausserdem wie gewohnt bei Spezialfragen kon-
sultiert, sei es hinsichtlich von Stichwortlisten, Arti-
kelstrukturen oder Autorenrekrutierungen.
DIE REDAKTION
Die umfangreichen Aufgabenbereiche der Redak-
tion betrafen im Berichtsjahr 1995 wie bisher zur
Hauptsache die beiden Bereiche Administration
und Redaktion.
Die administrativen Tätigkeiten sind im Gefolge
der Artikelproduktion und der damit einhergehen-
den Aufgaben erneut angewachsen. Insbesondere
wurde der Zeitaufwand für die Vorbereitung der
einzelnen Artikeldossiers, die jeder Autor zu jedem
zu schreibenden Artikel erhält, unterschätzt. Hier
sind entsprechende Massnahmen zur Verbesse-
rung der Arbeitsabläufe und für eine noch bessere
Arbeitsökonomie getroffen worden. Beträchtlichen
Zeiteinsatz erforderte ausserdem die Vorbereitung
von Sitzungen, Besprechungen und Telefonaten,
deren Anzahl sich im Zusammenhang mit der Pro-
duktionsaufnahme steigerte. Schon früher laufende
Arbeiten wurden weitergeführt. Der Redaktor
machte verschiedene Archivbesuche und unter-
stützte die Autoren in logistischer Hinsicht und bei
310
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
bibliographischen Abklärungen. Die Redaktion lei-
stete ausserdem auf entsprechende Anfragen hin
(Private, Vereine, wissenschaftliche Institutionen)
Hilfestellung und Beratung auf dem Feld der loka-
len Geschichte und erweiterte die bisherigen Kon-
takte zu historisch tätigen Institutionen im Aus-
land. Die Presse wurde über den Fortgang der
Arbeiten am Lexikon informiert. Bei drei Gelegen-
heiten referierte der Redaktor über die Person von
Peter Kaiser (1793-1864) bzw. das Projekt des
Historischen Lexikons für das Fürstentum Liech-
tenstein, davon einmal vor der Liechtensteinischen
Akademischen Gesellschaft. Der Redaktor publi-
zierte verschiedene kleinere und grössere histori-
sche Arbeiten, darunter einen Aufsatz über die ge-
schichtliche Entwicklung des Liechtensteinischen
Arbeitnehmerverbandes seit 1945, eine Arbeit über
«Peter Kaiser als Burschenschafter» in der wissen-
schaftlichen Zeitschrift «Alemannia studens», eine
sechsteilige Artikelserie über die für die liechten-
steinische Verfassung von 1921 grundlegenden
«Schlossabmachungen» vom September 1920 im
«Liechtensteiner Vaterland» sowie eine Quellenedi-
tion aus dem Bündner Staatsarchiv für die «Balz-
ner Neujahrsblätter 1996». Auf entsprechende An-
frage hin machte er historische Führungen, etwa
anlässlich des Besuches des Schweizer Bundes-
rates Flavio Cotti, des österreichischen Justizmini-
sters Dr. Michalek sowie für die Gesellschaft
Schweiz-Liechtenstein und die Balzner Jungbürger
und Jungbürgerinnen. Im September wurde der
Chefredaktor des HLFL in den Vorstand des Ver-
eins für Geschichte des Bodensees und seiner Um-
gebung gewählt. Er nahm auch, wenn zeitlich mög-
lich, an den Sitzungen des Arbeitskreises für Regio-
nale Geschichte teil und leitete für diesen eine
Führung auf der Burg Gutenberg.
Die redaktionellen Tätigkeiten befassten sich mit
der weiteren Bearbeitung der Konzepte, der ab-
schliessenden Bereinigung der provisorischen
Stichwortlisten und der redaktionellen Richtlinien,
der Kontaktpflege nach aussen sowie sachlichen
und administrativen Arbeiten im Zusammenhang
mit der anlaufenden Artikelproduktion. Mit den
Autoren und der Autorin der Gemeindeartikel fand
eine gemeinsame Sitzung statt. Solche Sitzungen
werden, weil die Gemeindeartikel die wichtigsten
des Historischen Lexikons sind, im kommenden
Jahr 1996 vermehrt einberufen. Die Artikelproduk-
tion als solche musste verhalten und quasi ge-
bremst angegangen werden, weil einerseits die
notwendige EDV-Infrastruktur (redaktionelle Arti-
kelbearbeitung, Datenbank) im Berichtsjahr 1995
noch nicht zur Verfügung stand und weil anderer-
seits grosse Rücksicht auf die zeitlichen Möglich-
keiten der Historiker und Historikerinnen Liech-
tensteins und der Region genommen werden muss-
te. Sie sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
beruflich in Vollzeitstellen beschäftigt, was eine als
grosszügig zu bezeichnende Terminfestlegung für
die Abgabe von Artikeln bedingt. In dieser Hinsicht
macht sich (etwa im Unterschied zur Schweiz) z. B.
das Fehlen von universitären Instituten mit in der
freien Lehre und Forschung tätigen Historikern
und Historikerinnen deutlich bemerkbar. Die noch
fehlende EDV-Unterstützung wird laut beauftragter
Softwarefirma Ende Februar 1996 einsetzbar sein.
Das schon vorhandene redaktionelle Programm
REDA musste nach dem Auftreten verschiedener,
teilweise schwererwiegender und zeitraubender
Probleme (Datenkonfusion) überprüft werden.
Ein weiterer, doch arbeits- und zeitintensiver
Arbeitsbereich der Redaktion betraf das von ihr ini-
tiierte Projekt «Geschichte Liechtensteins - ein
grenzübergreifendes Seminar». Die Arbeiten in
diesem Bereich sind Gegenstand des an den Jah-
resbericht anschliessenden Anhanges. Dieses Pro-
jekt wird 1996 definitiv abgeschlossen.
Die redaktionellen Kontakte zum Historischen Le-
xikon der Schweiz (HLS) waren sporadisch, zumal
der Chefredaktor des HLS, Dr. Marco Jorio, auch Mit-
glied des Wissenschaftlichen Beirates ist. Mit Herrn
Jorio wurde im Februar die TEM-Stichwortliste ge-
sondert und im einzelnen in einer längeren Bespre-
chung diskutiert. Die Resultate der Besprechung
flössen in die bereinigte Stichwortliste ein. Herrn Dr.
Jorio möchte ich bei dieser Gelegenheit für die gross-
zügige Unterstützung und Mitarbeit herzlich dan-
ken. Die Redaktion des LIistorischen Lexikons dankt
ebenso allen an der Schaffung des Lexikons betei-
311
Historisches Lexikon für
das Fürstentum Liechtenstein:
Geschichte Liechtensteins -
ein Seminar
ligten Kräften, der Trägerschaft (Vorstand des Hi-
storischen Vereins) und ihrem Vorsitzenden Dr. Alois
Ospelt, dem Wissenschaftlichen Beirat und seinem
Vorsitzenden Dr. Rupert Quaderer, den wissen-
schaftlichen Beratern und Beraterinnen, den Auto-
ren und Autorinnen, dem Historischen Lexikon der
Schweiz (HLS) und seinem Chefredaktor für das ent-
gegengebrachte Interesse sowie die erhaltene Un-
terstützung und Hilfestellung. Zu Dank verpflichtet
ist die Redaktion zudem der Fürstlichen Regierung,
dem Liechtensteiner Namenbuch, Frau Sandra
Wenaweser und lic. phil. Klaus Biedermann von der
Geschäftsstelle des Historischen Vereins für das Für-
stentum Liechtenstein.
AUSBLICK 1996
Im kommenden Jahr 1996 wird die Artikelproduk-
tion den eigentlichen Schwerpunkt der Redaktion
des Historischen Lexikons für das Fürstentum
Liechtenstein bilden. Sie wird beschleunigt voran-
getrieben werden können, wenn die dazu notwen-
dige Infrastruktur zur Verfügung steht. Die Redak-
tion wird bestrebt sein, im gegebenen zeitlichen
und finanziellen Rahmen möglichst viele der Arti-
kel in Auftrag zu geben und den Autoren bzw. Au-
torinnen gleichzeitig eine möglichst effiziente Un-
terstützung zu gewährleisten. Die Redaktion selber
ist natürlich wie bisher auf kompetente Beratung,
grosszügige Unterstützung und Bereitschaft zur
Mitarbeit angewiesen. Diese wird im Interesse der
Sache dankbar entgegengenommen. Es seien ab-
schliessend alle interessierten Kräfte aufgefordert,
ihre Kompetenz und ihre Fähigkeiten als Verfasser
von Artikeln, in beratendem Sinne oder in Form
konstruktiver Kritik einzubringen.
Triesen, 2. März 1995
HISTORISCHES LEXIKON FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN
Lic. phil. Arthur Brunhart, Chefredaktor
ALLGEMEINES
Das vom Kulturbeirat der Fürstlichen Regierung
geförderte wissenschaftliche Projekt «Geschichte
Liechtensteins - ein grenzübergreifendes Seminar»
wurde im Berichtsjahr 1995 planmässig fortge-
führt. Die zentralen Tätigkeiten betrafen zum einen
die Organisation einer erstmals stattgefundenen
Liechtensteinischen Historischen Tagung durch
den Chefredaktor des Historischen Lexikons für
das Fürstentum Liechtenstein, zum anderen die
Durchführung der drei ersten wissenschaftlichen
Seminare an den Universitäten Zürich, Salzburg
und Innsbruck. Aus terminlichen Gründen konnten
die Seminare nicht, wie ursprünglich geplant, in
Form von gleichzeitig stattfindenden Doppelsemi-
naren realisiert werden. Die flexible Organisation
ermöglichte es, für jedes Seminar einen eigenen
adäquaten Weg zu finden. Die Qualität der erarbei-
teten Seminarerträge wiederum zeigt, dass sich
diese Projektänderung wissenschaftlich durchaus
ausbezahlt hat.
Die Seminare konnten im Verlaufe des Berichts-
jahres mit je einer Studien- und Arbeitswoche im
Bildungshaus Gutenberg (Balzers), wo den Teilneh-
merinnen und Teilnehmern eine gute Infrastruktur
zur Verfügung stand, abgeschlossen werden. Die
Gutenberger Seminare fanden jeweils in einer er-
freulichen und offenen Atmosphäre statt, was der
sachlichen Diskussion, der wissenschaftlichen Aus-
einandersetzung und nicht zuletzt der kollegialen
Begegnung äusserst förderlich gewesen ist. Insge-
samt können die Seminare und die Gutenberger
Arbeitswochen bisher - wie sich ein Seminarleiter
abschliessend ausdrückte - als «Erfolgsstory» be-
zeichnet werden.
Die Studiengäste aus dem Ausland waren sehr
gut vorbereitet, motiviert und vermochten ihre
Kompetenz nachhaltig einzubringen. Die liechten-
steinischen Partner waren willens, diesem nicht
selbstverständlichen Engagement durch eine gast-
freundliche Aufnahme Anerkennung zu zollen und
in organisatorisch- logistischer LIinsicht eine dem
angepeilten wissenschaftlichen Ziel angemessene
Infrastruktur und fachliche Betreuung zu bieten.
312
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Dieses gegenseitige Geben und Entgegennehmen
entspricht zentralen Beweggründen bei der Initiie-
rung des Projektes, nämlich einerseits der För-
derung «Liechtenstein-relevanter Hochschulfor-
schung» als auch andererseits einer modernen
Bildungs- und Kulturförderungspolitik. Insgesamt
konnten die Zielsetzungen, nämlich das Wissen
und die Kenntnisse über Liechtenstein im Ausland
zu erweitern und zu vertiefen, sowie andererseits
die im Ausland erarbeiteten wissenschaftlichen Er-
kenntnisse über das Land nach Liechtenstein
zurück zu transferieren, durchwegs erreicht wer-
den, zumal durch diesen Kultur-, Bildungs- und
Wissenschaftstransfer auf Gegenseitigkeit ein
«Liechtenstein-Fenster» an verschiedenen univer-
sitären Instituten geöffnet werden konnte. Für die
wissenschaftliche Qualität der bisherigen Seminare
bürgten nicht zuletzt auch die Kompetenz, die Er-
fahrung und das wissenschaftliche Ansehen der
verantwortlichen Seminarleiter/in, Frau Prof. Ma-
zohl-Wallnig, Herrn Prof. Heinz Dopsch und Herr
Prof. Sablonier.
Im Spätherbst 1995 ausserdem sind einige Vor-
bereitungen für die Seminare in Freiburg und Wien
angelaufen. Sie sollen im Sommersemester 1996
stattfinden.
REDAKTION DES HISTORISCHEN LEXIKONS
Die Aufgabenbereiche des Chefredaktors des Histo-
rischen Lexikons betrafen 1995 die Koordination
der Arbeiten, die Führung der Korrespondenz, die
gegenseitige Information und den Kontakt zu den
involvierten Institutionen, die Organisation der Be-
suchstagungen und Gutenberger Arbeitswochen,
die fachliche Beratung und Betreuung von Studen-
ten/innen, die Überprüfung von Themen und Quel-
lenbeständen. Für die tatkräftige Unterstützung
und viele Hinweise sei in diesem Zusammenhang
dem Personal der Liechtensteinischen Landesbi-
bliothek und besonders auch dem Leiter des Liech-
tensteinischen Landesarchivs, Dr. Alois Ospelt, und
seinem Stellvertreter, lic. phil. Paul Vogt, herzlich
gedankt.
SACHBEARBEITER
Als teilzeitlich tätiger Sachbearbeiter gemäss Pro-
jektbericht war wie für 1994 Claudius Gurt tätig,
Mitarbeiter beim Liechtensteinischen Namenbuch.
Sein Arbeitsvertragsverhältnis endete vereinba-
rungsgemäss am 31. Dezember 1995. Seine Tätig-
keiten betrafen Aufgabenbereiche im Zusammen-
hang mit der Durchführung der Seminarteile «Mit-
telalter» und «Neuzeit», d. h. zur Hauptsache die
Betreuung der Arbeitsgruppe in Zürich, daneben
für diejenigen in Salzburg und Innsbruck. Claudius
Gurt referierte anlässlich der Liechtensteinischen
Historischen Tagung über die Möglichkeiten, Gren-
zen, erste Erfahrungen und Ergebnisse des Zür-
cher Seminars. Für seinen grossen Einsatz möchte
ich Herrn Gurt sehr herzlich danken.
BUDGET
Der für das Jahr 1995 zur Verfügung stehende Kre-
dit wurde dank der Beschränkung der Teilnehmer-
zahlen an den Seminaren, der sachentsprechenden
Straffung des Projektes und weiteren organisato-
rischen Massnahmen nicht ausgeschöpft. Die Ab-
rechnung pro 1995 erfolgt separat in Zusammen-
arbeit mit Kulturbeirat und Landeskasse.
LIECHTENSTEINISCHE HISTORISCHE TAGUNG
Die erstmalig durchgeführte Liechtensteinische Hi-
storische Tagung, die gleichsam den Anfangspunkt
der ganzen Projektreihe setzte, fand am Samstag,
den 18. Februar 1995, als ganztägige Veranstal-
tung in den Seminarräumlichkeiten des Hotels
«Meierhof» in Triesen statt. Die Referentinnen und
Referenten sowie die übrigen teilnehmenden Fach-
leute wurden von Frau Regierungsrätin Dr. Andrea
Willi, Inhaberin der Ressorts Äusseres und Kultur,
begrüsst. Ebenso nahm Herr Arnold Kind, Präsi-
dent des Kulturbeirates der Fürstliche Regierung,
am gesamten Vortrags- und Diskussionsprogramm
teil. Von den Leitern der in das Projekt: «Geschich-
313
te Liechtensteins» involvierten Seminare waren
Prof. Dr. Roger Sablonier (Zürich) und Prof. Dr. An-
ton Staudinger (Wien) anwesend, die Universitäten
Freiburg, Innsbruck und Salzburg waren durch die
Oberassistentinnen/en Frau Dr. Catherine Boss-
hart-Pfluger, Frau Dr. Gunda Barth-Scalmani und
Herrn Dr. Alfred Stefan Weiss vertreten.
Die Veranstaltung unter dem Rahmenthema
«Historiographie im Fürstentum Liechtenstein.
Grundlagen und Stand der Forschung» hatte den
Status quo der Geschichtsforschung in Liechten-
stein zum Thema. Die Referate und Arbeitsberichte
betrafen die Grundlagen für historisch-landes-
kundliche Liechtenstein-Forschung, Archivberich-
te, ältere und laufende Projekte sowie Desiderata,
unbearbeitete Bereiche und neue Forschungs-
ansätze. Das Spektrum der Themen, die in ver-
schiedener Hinsicht Neuland betraten und sich
erstmals übergreifend mit Fragen der liechtenstei-
nischen Historiographie im weiteren Sinne befass-
ten, war entsprechend weit gespannt. Einer der
Gründe für die Organisation der Tagung hatte dar-
in bestanden, den in- und ausländischen Historike-
rinnen und Historikern, die sich mit Themen der
liechtensteinischen Geschichte befassen, Gelegen-
heit zu persönlicher Begegnung und der notwendi-
gen sachlichen Auseinandersetzung zu geben.
Nach den vorbereitenden Arbeiten Ende 1994
und anfangs 1995 konnten durch die Redaktion
des Historischen Lexikons nachstehende Referen-
tinnen und Referenten zu bestimmten Themen ver-
pflichtet werden:
- Dr. phil. Alois Ospelt (Vaduz)
Wie finde ich Literatur zur liechtensteinischen Ge-
schichte? Ein Leitfaden zur Benützung der Biblio-
theksbestände.
- Lic. phil. Paul Vogt (Balzers)
Das Liechtensteinische Landesarchiv: Aufbau - Be-
stände - Erschliessung.
- Harald Wanger (Schaan)
Das Josef Rheinberger-Archiv und sein For-
schungsgebiet.
- Dr. phil. Evelin Oberhammer (Wien)
Das Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liech-
tenstein - Archivalien zur Landesgeschichte.
- Dr. phil. Veronika Mittermair (Genua)
Übersicht über das zur Geschichte des Fürsten-
tums Liechtenstein vorhandene Material im Tiroler
Landesarchiv in Innsbruck.
- Lic. phil. Ursus Brunold (Zizers)
Quellen zur Liechtensteiner Geschichte in Bündner
Archiven.
- Dr. phil. Werner Vogler (St. Gallen)
Quellen zur Liechtensteiner Geschichte in St. Galler
Archiven (Stiftsarchiv, Staatsarchiv, u.a.).
- Prof. Dr. phil. Dr. iur. Karl Heinz Burmeister
(Bregenz)
Quellen zur Geschichte Liechtensteins im Vorarl-
berger Landesarchiv.
- Mag. phil. Birgit Wiedl (Salzburg)
Die Bestände der Grafen von Sulz im Archiv von
Cesky Krumlov (Krumau).
- Lic. phil. Toni Banzer (Triesen)
Die Materialsammlung des Liechtensteiner Na-
menbuches als Quelle für die historische For-
schung.
- Herbert Hübe (Triesenberg)
Volkskundliche Forschung in Liechtenstein.
- Lic. phil. Eva Pepic (Schaan)
Die Frühmittelalter- und Mittelalterforschung in
Liechtenstein aus der Sicht der Archäologie.
- Cand. phil. Claudius Gurt (Zürich)
Arbeitsgruppe «Liechtenstein im Mittelalter» an
der Universität Zürich (Prof. Sablonier): Wissen-
schaftliche Forschung auf Universitätsebene (Se-
minarstufe): Möglichkeiten, Grenzen, erste Erfah-
rungen und Ergebnisse.
- Lic. phil. Klaus Biedermann (Vaduz)
Das Rod- und Fuhrwesen im Fürstentum Liechten-
stein. Eine verkehrsgeschichtliche Studie.
- Lic. phil. Veronika Marxer (Schaan)
Historische Frauenforschung in Liechtenstein.
- Lic. phil. Claudia Heeb-Fleck (Schaan)
Einbezug der «Kategorie Geschlecht» in die histori-
sche Analyse am Beispiel der Frauenarbeit in
Liechtenstein in der Zwischenkriegszeit.
- Dr. phil. Rupert Quaderer (Schaan)
Bericht über bearbeitete Archivbestände zur liech-
tensteinischen Geschichte 1815-1848; 1914-1926.
Was gibt es noch zu tun (Desiderata)?
314
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
- Dr. phil. Peter Geiger (Schaan)
«Liechtenstein in den Dreissigerjahren und im
Zweiten Weltkrieg». Zeitgeschichtliches Projekt,
gegenwärtiger Stand, Perspektiven.
Insgesamt wurde die liechtensteinische Geschichts-
forschung dank der Tagungserträge bereichert.
Stichworte dazu sind: Erweiterung der Quellen-
kenntnis, Schaffung wertvoller Hilfsmittel zur
Kenntnis liechtensteinischer Bestände, kritische
Bestandesaufnahmen, Einführung neuer methodi-
scher Ansätze und nicht zuletzt das Wecken der
Neugierde auf die Erträge laufender Projekte. Ins-
gesamt konnte die Tagung eine, wenn auch sicher-
lich unvollständige (es fehlte etwa eine kritische
Begutachtung der kirchengeschichtlichen For-
schung in Liechtenstein) Bestandesaufnahme histo-
riographischer Forschung im Fürstentum Liech-
tenstein gemacht werden. Eine solche fehlte bisher,
so dass ein vorhandenes Defizit behoben werden
konnte.
Die erfolgreiche Tagung und das Interesse der
Teilnehmer und Teilnehmerinnen ermunterte, von
Zeit zu Zeit eine solche Liechtensteinische Histori-
sche Tagung, sei es über allgemeine Aspekte oder
über besondere Fragen der Geschichte des Für-
stentums Liechtenstein, durchzuführen und sich
Rechenschaft über den jeweiligen Stand der For-
schung zu geben. Das positive Echo ausserdem,
das die informativen Referate hervorgerufen ha-
ben, verlangten schliesslich danach, die Beiträge in
gedruckter Form greifbar zu machen. Der renom-
mierte CHRONOS Verlag in Zürich, der im Bereich
der Geschichtswissenschaften in verlegerischer
Hinsicht eine zentrale Stellung einnimmt, hat sich
verdankenswerterweise bereit erklärt, die Druckle-
gung und den Verlag der Referate der Tagung zu
übernehmen und unter den Titel: rlistoriographie
im Fürstentum Liechtenstein. Grundlagen und
Stand der Forschung im Überblick, in sein Verlags-
programm aufzunehmen (geplantes Erscheinungs-
datum: März 1996). Für diese freundliche Bereit-
schaft und die speditive Zusammenarbeit möchte
ich namentlich Herrn Hans-Rudolf Wiedmer vom
CHRONOS Verlag danken.
SEMINAR: LIECHTENSTEIN IM M I T T E L A L T E R
Seminar an der Universität Zürich;
Leitung: Prof. Dr. Roger Sablonier
Nachdem die Arbeitsgruppe «Liechtenstein im Mit-
telalter» am Historischen Institut der Universität
Zürich (Leitung: Prof. Dr. Roger Sablonier) ihre
Tätigkeiten schon im Februar 1994 aufgenommen
und in den folgenden Monaten durchgeführt hatte,
wurde das Seminar in der Zeit vom Montag,
27. März 1995, bis Freitag, 31. März 1995, im Bil-
dungshaus Gutenberg (Balzers) mit einer Intensiv-
woche abgeschlossen.
Die Seminarsitzungen fanden jeweils am Vor-
mittag von 9.00 bis 12.00 Uhr statt. Im Zentrum
der Diskussionen standen Fragestellungen hin-
sichtlich Rhein, Rodwesen (Transport), Dorfverfas-
sung, Landammänner, Pfarreigeschichte, Ritter-
tum, Wald- und Holznutzung, Weidewirtschaft und
Wirtschaftsform der Walser am Triesenberg. An
den Sitzungen nahmen auf entsprechende Einla-
dung hin verschiedene Historiker und Historikerin-
nen Liechtensteins und aus der Region teil, darun-
ter regelmässig (auch an den späteren Salzburger
und Innsbrucker Seminaren) Dr. Alois Ospelt, Vor-
sitzender des Historischen Vereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein. An einer Sitzung nahm eine
obere Klasse des Liechtensteinischen Gymnasiums
(Klassenlehrer lic. phil. Roland Hilti) teil. Eine be-
sondere Bereicherung der Seminarsitzungen war
die aktive Teilnahme von Herrn Prof. Dr. Heinz
Dopsch (Universität Salzburg). An den Nachmitta-
gen wurden unter der Führung ausgewiesener
Sachkenner historisch-landeskundliche Exkursio-
nen in Liechtenstein und Nachbarschaft durchge-
führt.
In einer abendlichen Vortragsreihe (Montag bis
Freitag) wurden die im Verlaufe des Seminars erar-
beiteten Forschungserträge in Form von Kurzrefe-
raten öffentlich vorgestellt. Zwei Vortragsabende
fanden im Bildungshaus Gutenberg im Oberland
(Grafschaft Vaduz) statt, zwei Abende in der alten
Herrschaft Schellenberg (Volksschule Gamprin).
Die Liechtensteinischen Zeitungen (Liechtensteiner
Woche, Liechtensteiner Vaterland, Liechtensteiner
315
Volksblatt) und Radio Gonzen machten in täglichen
Rubriken auf die Vortragsreihe, die thematisch
auch regional von Interesse war, aufmerksam.
Prof. Sablonier hielt am Dienstag, den 28. März
1995 einen Einführungsvortrag zu wissenschaftli-
chen und methodischen Fragen der zeitgenössi-
schen Geschichtsforschung im Bereich des Mittelal-
ters, wobei die «Region» Liechtenstein speziell ge-
würdigt wurde. Der Vortrag stiess, wie das Erschei-
nen des zahlreichen Publikums und insbesondere
die Reaktionen der nächsten Tage zeigten, auf
grosses und nachhaltiges Interesse.
Die Vortragsreihe wurde im übrigen von nach-
stehenden Referenten und Referentinnen bestrit-
ten:
- Mathias Bugg
Der Rhein als Verbindung und Trennung. Entwick-
lung der Grenzlinie im Gebiet zwischen Balzers-
Wartau und Bendern-Haag im 15. und 16. Jahr-
hundert.
- Reto Schläpfer
Der Rhein und die Rheinauen im 15. und. 16. Jahr-
hundert.
- Fabian Frommelt
Das Dorf in der spätmittelalterlichen Grafschaft
Vaduz. Bemerkungen zu dessen Organisation an-
hand des Dorfes Triesen.
- Doris Klee Gross
Die Pfarrei Bendern an der Wende zur frühen Neu-
zeit. Eine Landpfarrei im Spannungsfeld herr-
schaftlicher und kommunaler Interessen.
- Dominik Schatzmann
Die Rodordnung von 1499. Das Transportwesen im
Mittelalter im Gebiet des heutigen Fürstentums
Liechtenstein.
- Jacqueline Heibei
Die Landammänner der Herrschaft Schellenberg
und der Grafschaft Vaduz im 15. und 16. Jahrhun-
dert.
- Fritz Rigendinger
Raubritter. Private Gewalt im 14. und 15. Jahrhun-
dert.
- Michael Hess
«Missheilung und stöss von wunne und waiden, im
wald, in holtz und in velde wegen». Mittel-
alterliche Wald- und Holznutzung im Gebiet des
heutigen Fürstentums Liechtenstein.
- Christoph Tschanz
«... und ob aber dero vijch och in die bemelt alpelin
giengen ...». Spätmittelalterliehe Weidewirtschaft
im Gebiet von Liechtenstein im Wandel.
- Bruno Wickli
Die Walser am Triesenberg 1300-1600. Wirt-
schaftsform und Wirtschaftsentwicklung.
Der Zuhöreraufmarsch kann als sehr gut bezeich-
net werden. Diese Beobachtung kann verschieden
interpretiert werden: Zum einen findet die Ge-
schichte des Mittelalters generell Zuspruch, zum
anderen waren die angebotenen Themen von In-
teresse und haben in gewisser Hinsicht aktuellen
Bezug, zum dritten muss es eine Aufforderung
sein, sich vermehrt mittelalterlich-früh neuzeit-
lichen Themen zu widmen. Die Besucherzahl aus
der benachbarten Schweiz ist ausserdem ein Fin-
gerzeig, dass solche Themen die heutigen Grenzen
sprengen und vielfach aus überlokaler, regionaler
und überregionaler Perspektive zu betrachten sind.
Aufgrund ihrer Qualität und auch aufgrund der
Nachfrage werden die Beiträge gegenwärtig inhalt-
lich und redaktionell für eine Drucklegung vorbe-
reitet (Claudius Gurt, Arthur Brunhart). Der Redak-
tion des Historischen Lexikons war es jedoch ein
Anliegen, dass die Seminarerträge möglichst rasch
ein Publikum erreichen: Fabian Frommelt konnte
seine Arbeit über das «Dorf im Mittelalter» zusam-
menfassend im Informationsblatt der Gemeinde
Triesen veröffentlichen, Mathias Bugg publizierte
eine Kurzfassung seiner Arbeit in den im Dezem-
ber 1995 erschienenen Balzner Neujahrsblättern
1996, und Reto Schläpfer konnte seine Erträge
1995 in ein gegenwärtig in der Planung befind-
liches hydrologisch-fischökologisches Projekt (Lei-
tung: Gewässerschutzamt Vaduz, Theo Kindle, in
Zusammenarbeit mit der Hydrologischen Abteilung
des Instituts für Bodenkultur, Wien) einbringen.
Für die gute Zusammenarbeit möchte ich allen Se-
minarteilnehmern und -teilnehmerinnen, insbeson-
dere aber Prof. Roger Sablonier, Frau Fiorella Meyer
und Herrn Claudius Gurt, sehr herzlich danken.
316
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
SEMINAR: LIECHTENSTEIN IM SPÄTMITTEL-
ALTER UND IN DER FRÜHEN NEUZEIT
Seminar an der Universität Salzburg;
Leitung: Prof. Dr. Heinz Dopsch
Das Salzburger Projektseminar unter der wissen-
schaftlichen Leitung von Prof. Dr. Heinz Dopsch,
Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Landes-
geschichte und Verfasser des Bandes «Das Reich
und seine Länder» innerhalb der neuen zehnbän-
digen Österreich-Geschichte, wurde 1994 in die
Wege geleitet. Das Seminar wurde im Rahmen ei-
nes Privatissimums (Dissertantenseminar) unter
dem Rahmenthema «Liechtenstein - Land und
Leute im Mittelalter und in der frühen Neuzeit»
durchgeführt. Die Arbeitsgruppe bestand aus Stu-
dentinnen und Studenten sowie aus graduierten
und promovierten Historiker(inne)n, was aufgrund
der wissenschaftlichen Erfahrung der Qualität der
Arbeiten nur förderlich sein konnte.
Die im Herbst 1994 formulierten Themen wur-
den im Verlaufe des Jahres 1995 untersucht und
anhand der Quellen ausgearbeitet. Verschiedene
der Seminarteilnehmer/innen weilten für ihre
Forschungen während mehrerer Tage im Liechten-
steinischen Landesarchiv oder in der Liechtenstei-
nischen Landesbibliothek. Die Redaktion des Histo-
rischen Lexikons war vor Ort beratend und unter-
stützend tätig und vermittelte weitere Quellen,
Mikrofilme und Literatur an die Arbeitsgruppe in
Salzburg.
Die Seminarwoche im Bildungshaus Gutenberg
Balzers wurde während der ersten Oktoberwoche
vom Montag, 2. Oktober 1995, bis Freitag, den
6. Oktober 1995, durchgeführt. Die Seminarsitzun-
gen fanden ebenfalls am Vormittag von 9.00 bis
12.00 Uhr statt. An den Sitzungen nahmen wieder-
um Historiker und Historikerinnen Liechtensteins
und aus der Region teil. Besonders zu vermerken
war die aktive Teilnahme von Otto Ackermann, Dr.
Jörg Müller und Bruno Wickli aus der schweize-
rischen Nachbarschaft. An einer der Sitzungen be-
teiligte sich erneut eine obere Klasse des Liechten-
steinischen Gymnasiums (Klassenlehrer lic. phil.
Roland Hilti). An den Nachmittagen fanden unter
der Führung ausgewiesener Sachkenner histo-
risch-landeskundliche Exkursionen in Liechten-
stein und Nachbarschaft statt.
In der abendlichen Vortragsreihe (Montag bis
Freitag) stellten die Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer am Salzburger Seminar die ausgearbeiteten
Forschungserträge in Form von Kurzreferaten der
Öffentlichkeit vor. Wiederum fanden zwei Vortrags-
abende im Oberland (Bildungshaus Gutenberg) und
zwei Vortragsabende im Unterland (Primarschule
Gamprin) statt. Die Liechtensteinischen Zeitungen
(Liechtensteiner Woche, Liechtensteiner Vaterland,
Liechtensteiner Volksblatt) und Radio L informier-
ten täglich über die Vortragsreihe.
Prof. Dopsch hielt am Montag, den 2. Oktober
1995 einen Einführungsvortrag zum Thema «Liech-
tenstein - Herkunft und Aufstieg eines Fürstenhau-
ses». Er konnte dabei anhand von Persönlichkeiten
aus dem Haus Liechtenstein einige «Strategien des
Aufstieges» eines adeligen Geschlechtes offenlegen
und die bisher bekannte Genealogie des Hauses um
neue Erkenntnisse bereichern. Der spannende Vor-
trag, den auch Mitglieder des Fürstenhauses Liech-
tenstein hörten, machte auf die in Bearbeitung be-
findliche Frühgeschichte des Hauses Liechtenstein
neugierig.
Die Vortragsreihe wurde im übrigen von nach-
stehenden Referenten und Referentinnen bestrit-
ten:
- Mag. Thomas Willich
Quellen zur spätmittelalterlichen Geschichte Liech-
tensteiner Kirchen und Kapellen aus dem Reper-
toriwn Germanicum.
- Mag. Birgit Wiedl
Die liechtensteinischen Bestände im Archiv der
Grafen von Sulz (Schwarzenbergisches Familien-
archiv, Cesky Krumlov/Böhmisch Krumau, Tsche-
chien).
- Ursula Neumayr
Die Stiftungstätigkeit des Valentin von Kriss, mit
besonderer Berücksichtigung der Geschichte der
Studienstiftung von 1689.
- Karin Rogl
Das Malefizgericht in Vaduz und Schellenberg
nach den Quellen des 17. Jahrhunderts.
317
- Petra Hollaus
Das Maien- und Herbstzeitgericht auf Rofenberg.
Eine Untersuchung der Gerichtsprotokolle 1602-
1605.
- Mag. Sabine Veits-FaLk; Dr. Alfred Weiss
Armut und Not als soziales und wirtschaftliches
Problem des 18. und 19. Jahrhunderts, dargestellt
am Fallbeispiel Liechtenstein.
- Martin Kimbacher; Thomas Spielbüchler
Die demographische Entwicklung der Gemeinde
Mauren 1683-1832.
- Susanna Hettegger
Liechtenstein zur Zeit der Napoleonischen Kriege
(Kriegserlittenheiten).
- Mag. Friedrich Besl
Gerichtsärztliches Protokollbuch vom Landes-
physikat, geführt von Dr. Karl Schädler, 1840-
1872.
Der Besucherzahl der Vortragsreihe hielt sich im
erwarteten Rahmen. Der Termin für die Vortrags-
reihe lag etwas ungünstig, zumal in der selben
Woche in Liechtenstein verschiedene andere Ta-
gungen, Vorträge und Informationsabende stattge-
funden haben. Dass die Referatsthemen jedoch auf
beträchtliches Interesse gestossen sind und sich die
Qualität der Vorträge bald herumsprach, zeigt sich
am Umstand, dass nach Abschluss der Vortragsrei-
he überdurchschnittlich viele Manuskripte angefor-
dert wurden und anerkennende Reaktionen einge-
laufen sind. Eine Kurzfassung der Arbeit von Frau
Ursula Neumayr wurde im Informationsblatt der
Gemeinde Triesen veröffentlicht, kurzgefasste «Ne-
benprodukte» der Studien von Herrn Mag. Fritz
Besl sind für eine Publikation in einer Regional-
zeitschrift vorgesehen. Die behandelten Seminar-
themen haben Neuland betreten (besonders auch
hinsichtlich sozial-, bildungs- und rechtsgeschicht-
licher Fragestellungen) und anhand der Auswer-
tung bisher kaum eingesehener Quellenbestände
wichtige Beiträge zur liechtensteinischen Ge-
schichtsforschung geliefert.
Die Seminarerträge werden gegenwärtig inhalt-
lich und redaktionell für eine Publikation vorberei-
tet. Für die gute Zusammenarbeit möchte ich ne-
ben allen Seminarteilnehmern und -teilnehmerin-
nen insbesondere Herrn Prof. Heinz Dopsch, Frau
Mag. Sabine Veits-Falk, Frau Mag. Birgit Wiedl und
Herrn Dr. Alfred Stefan Weiss danken.
SEMINAR: LIECHTENSTEIN IN DER NEUZEIT
(19. JAHRHUNDERT)
Seminar an der Universität Innsbruck;
Leitung: Prof. Dr. Brigitte Mazohl-Wallnig
Die Arbeitsgruppe in Innsbruck (Prof. B. Mazohl-
Wallnig) führte 1994 vorbereitende Abklärungen
im Zusammenhang mit dem Seminarprojekt durch.
Im Rahmen der Vorbereitungen hatten sich Dr.
Gunda Barth-Scalmani und Dr. Veronika Mitter-
mair der Besuchstagung des Seminars Dopsch im
Oktober 1994 angeschlossen. Die Besuchstagung
und thematische Einführung der Innsbrucker Ar-
beitsgruppe in Liechtenstein wurde plangemäss im
März 1995 organisiert. Das ordentliche Seminar
wurde im Sommersemester 1995 unter dem Rah-
menthema: «Modellfall Liechtenstein: Haus und
Herrschaft, Land und Leute» an der Universität
Innsbruck durchgeführt.
Es war ein Glücksfall, dass Dozent Dr. Alois
Nied erstatte r, ein ausgewiesener Kenner der Ge-
schichte des Rheintals zwischen Bodensee und
Schollberg, die Geschichte Liechtensteins beglei-
tend in seine Innsbrucker Vorlesungen miteinbezo-
gen hat. Ein Hauptziel bei der Ausarbeitung der ge-
stellten Themen war die entsprechende Berück-
sichtigung und der Einbezug der wichtigen ein-
schlägigen Quellen in den Archiven Liechtensteins,
Vorarlbergs und Tirols. Für die effiziente und
grosszügige Unterstützung möchte ich auch hier
das Liechtensteinische Landesarchiv dankbar er-
wähnen. Wie beim Salzburger Seminar rekrutier-
ten sich die Teilnehmer/innen aus der Student-
innen- und Studentenschaft und dem wissenschaft-
lichen Kader des Historischen Instituts der Uni-
versität. Wie beim Zürcher Seminar (Fabian
Frommelt, Triesen) beteiligte sich auch in Inns-
bruck erfreulicherweise ein Liechtensteiner Stu-
dent am Seminar (Beat Vogt, Balzers).
318
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1995
Die Seminarwoche im Bildungshaus Gutenberg
Balzers fand während der Woche vom Montag,
13. November 1995, bis Donnerstag, 17. November
1995, statt und wurde im bewährten Rahmen
durchgeführt. An einer der Seminarsitzungen be-
teiligte sich erneut eine obere Klasse des Liechten-
steinischen Gymnasiums (Klassenlehrer Dr. Rupert
Quaderer). An den Nachmittagen wurden wie üb-
lich historisch-landeskundliche Exkursionen orga-
nisiert. Ebenso lief die abendliche Vortragsreihe
(Montag bis Donnerstag) nach dem bisherigen Mo-
dus ab, indem der Öffentlichkeit jeden Abend drei
Referate (je 20 Minuten) über die entsprechenden
Seminarthemen angeboten wurden. Die Medien
berichteten über die Vorträge.
Frau Prof. Mazohl-Wallnig hielt am Montag, den
13. November 1995, einen Einführungsvortrag zum
brisanten Thema der «Souveränität des Fürsten-
tums Liechtenstein zwischen Heiligem Römischem
Reich und Deutschem Bund». Sie konnte dabei die
Besonderheiten, die Einmaligkeit («Sonderfall»)
und die komplexen Bedingungen der liechtensteini-
schen Souveränität und ihrer historischen Ent-
wicklung im 19. Jahrhundert leicht fasslich und mit
interessanten Einsichten darlegen. Unter den Zu-
hörern befand sich auch S. D. Fürst Hans-Adam II.
von Liechtenstein.
An den Hauptvortrag schloss sich ein Referat
von Frau Dr. Veronika Mittermair zum aktuellen
Thema der «Neutralität Liechtensteins» im frühen
20. Jahrhundert an. Sie konnte sich dabei auf inter-
essante und bisher nicht ausgewertete Materialien
in italienischen Archiven stützen.
Die Vortragsreihe wurde im übrigen von nach-
stehenden Referenten und Referentinnen bestrit-
ten:
- Dr. Marianne Zörner
Die demographische Entwicklung in Triesen vom
18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
- Prof. Dr. Gernot Gürtler
Quo vadis? Aspekte zum «Homo migrans» im Für-
stentum Liechtenstein.
- Kurt Scharr
Die Entwicklung der Kartographie in Liechten-
stein.
- Annette Bleyle
Studien »zur Bildungsgeschichte der Feldkircher
und Liechtensteiner am k. u. k. Staatsgymnasium
in Feldkirch 1850-1900.
- Lisa Noggler
Der Gang ins Kloster. Kirchliche und weltliche
Mädchenbildung in Liechtenstein.
- Beat Vogt
Ziele und Inhalte der «Liechtensteinischen Lan-
deszeitung» auf der Grundlage des ersten Jahr-
gangs.
- Roland Steinacher
Franz Josef Oehri. Versuch einer typisierenden
Biographie.
- Dr. Gunda Barth-Scalmani
Aspekte zur Beamtenschaft im Dienste Liechten-
steins im 19. Jahrhundert.
- Mirko Herzog
Postalische Kommunikation zwischen Wien und
Vaduz im frühen 19. Jahrhundert.
Die Beiträge, welche sich durch neue und unge-
wohnte Ansätze auszeichnen und damit Neuland
betreten, werden ebenfalls für eine Publikation
vorbereitet. Für die gute Zusammenarbeit möchte
ich neben allen Seminarteilnehmern und -teilneh-
merinnen insbesondere Frau Prof. Brigitte Mazohl-
Wallnig und Frau Dr. Gunda Barth-Scalmani sehr
herzlich danken.
AUSBLICK 1996: SEMINARE «NEUZEIT» UND
«ZEITGESCHICHTE»
Universitäten Freiburg und Wien
Die Vorbereitungen für die abschliessenden Semi-
nare des Bereiches «Zeitgeschichte», durchzu-
führen am Seminar für allgemeine und schweizeri-
sche Zeitgeschichte der Universität Freiburg (Lei-
tung: Prof. Urs Altermatt) und am Institut für Zeit-
geschichte an der Universität Wien (Prof. Anton
Staudinger), sind im Berichtsjahr 1995 angelaufen
und sollen mit Jahresbeginn 1996 verstärkt und
zielgerichtet fortgeführt werden. Die beiden Semi-
nare finden im Sommersemester 1996 statt.
319
In Freiburg wird ausserdem Prof. Dr. Volker
Reinhardt eine kleine Arbeitsgruppe einsetzen, die
sich im Rahmen eines ebenfalls im Sommerseme-
ster durchzuführenden, thematisch übergeordne-
ten Seminars (Frühe Neuzeit) mit einigen das heu-
tige Fürstentum Liechtenstein betreffenden Fragen
befassen wird.
ANSCHRIFT
Historisches Lexikon
für das Fürstentum
Liechtenstein (HLFL)
Messinastrasse 5
Postfach 626
FL-9495 Triesen
Tel. 075 / 392 28 08
Fax 075 / 392 28 08
DANK
Der Unterzeichnete möchte an dieser Stelle allen
an der Durchführung der Seminare beteiligten Per-
sonen und Institutionen sehr herzlich danken, na-
mentlich der Fürstlichen Regierung, dem Kultur-
beirat und seinem Präsidenten Arnold Kind, den
Vorständen der involvierten Universitätsinstitute
sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
dem Landesarchiv und der Landesbibliothek, dem
Sachbearbeiter Claudius Gurt, dem Historischen
Verein, den Exkursionsführern und Referenten, so-
wie allen nicht namentlich genannten Personen,
die das Projekt uneigennützig und positiv durch ak-
tive Mitwirkung und konstruktive Kritik förderten
und unterstützten.
Triesen, 3. März 1996
HISTORISCHES LEXIKON FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN
lic. phil. Arthur Brunhart
Chefredaktor des HLFL
320
LIECHTEN-
STEINISCHES
L A N D E S M U S E U M
1995
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
Jahresbericht 1995
STIFTUNGSRAT
Der Stiftungsrat des Liechtensteinischen Landesmu-
seums hat i m Berichtsjahr 1995 in drei Sitzungen die
laufenden Geschä f t e g e m ä s s Statuten behandelt. A m
14. Februar 1995 fällte die Fürs t l i che Regierung den
Entscheid zur Sanierung der beiden Museumsbau-
ten ( L a n d e s m u s e u m s g e b ä u d e und Verweserhaus)
und einer g ros szüg igen Erwei terung des gesamten
Museumskomplexes.
A m 15. Februar 1995 wurde der Stiftungsrat i m
Rahmen einer ordentlichen Sitzung ü b e r den Ent-
scheid der Regierung informiert . F rau Veronika
Marxer ä u s s e r t e bereits in dieser Sitzung massive
Kri t ik an einer wie ihr schien mangelhaften Infor-
mationspolitik seitens der B e h ö r d e n und betonte
ihre Zweifel an der Richtigkeit des Entscheides vom
14. Februar. Dies fand einen Niederschlag in einem
Schreiben an die Regierung vom 15. März 1995, in
dem Frau Marxer die aus ihrer Sicht bestehenden
Schwachstellen dezidiert a u f f ü h r t e . In einer weite-
ren Sitzung vom 21. Februar wurde die Museums-
situation im Stiftungsrat in Anwesenheit von A r c h i -
tekt Walter Walch, Vorstand des Hochbauamtes, er-
neut eingehend diskutiert. In mehreren informel len
Sitzungen beim Ressort Bauwesen sowie beim
Hochbauamt wurden die Mitglieder des Stiftungs-
rates und weitere involvierte Kreise ü b e r den Ent-
scheid der Regierung und das Ausschreibungspro-
zedere des Architekturwettbewerbes unterrichtet
und die Möglichkeit zu konstruktiver Diskussion
geboten. A m 5. M a i 1995 erfolgte auf Initiative des
Stiftungsrates eine weitere Sitzung beim Hochbau-
amt mit den Mitarbei ter innen und Mitarbei tern des
Landesmuseums, des Forstamtes und der A r c h ä o -
logie. Diskussionsgrundlage war die Stellung-
nahme vom 4. M a i 1995, unterzeichnet von Frau
Eva Pepic und Herrn H a n s j ö r g Frommel t (Archäo-
logie), Frau Rita Vogt (Landesmuseum) und Her rn
Michael Fasel (Forstamt).
Vorerst aber scheint die Situation - nicht zuletzt
durch recht unterschiedlich g e f ü h r t e Diskussionen
- festgefahren zu sein. Mi t ein Grund d a f ü r d ü r f t e
auch der noch nicht erfolgte Abschluss der Ver-
handlungen betreffend der G r u n d s t ü c k s f r a g e z w i -
schen der Regierung und der Für s t -L iech tens t e in -
Stiftung gewesen sein.
Der P r ä s i d e n t des Stiftungsrates hat sich aktiv
um eine museale Mitnutzung des ehem. Fabrik-
areals der F i r m a Jenny, Spoerry & Cie. i n Vaduz
und die Err ich tung eines « T i b e t - M u s e u m s » auf
Burg Gutenberg in Balzers bei den entscheidenden
Stellen engagiert. Diesbezügl iche Entscheide sind
jedoch noch ausstehend.
MUSEUMSKOMMISSION
Die Museumskommiss ion hat ebenfalls an drei
Sitzungen ihre statutarischen Aufgaben wahrge-
nommen und insbesondere ü b e r Angebote fü r die
Sammlungserweiterung beschlossen. Daneben wur-
de das Sanierungs- und Erweiterungsprojekt des
Landesmuseums e r ö r t e r t und dieses g rundsä t z l i ch
f ü r gut und realisierbar befunden. Eine Sitzung der
Museumskommiss ion hat i m Wohnmuseum in
Schellenberg, der Aussenstelle des Liechtensteini-
schen Landesmuseums, stattgefunden. Ü b e r die
Sammlungserweiterung orientiert das Zuwachsver-
zeichnis i m Anhang . .
MUSEUMSVERWALTUNG
Die administrative Museumsarbei t konnte i m bis-
herigen Rahmen und Umfang w e i t e r g e f ü h r t wer-
den. In mehreren Teamsitzungen wurde versucht,
die verschiedenen anstehenden Arbei ten durch
verbesserte Koordinat ion zu optimieren. Rita Vogt,
wissenschaftliche Mitarbei ter in be im Landesmu-
seum, hat vor al lem die Sammlungsinventarisie-
rung und EDV-Katalogis ierung in Zusammenarbei t
mit Thomas M ü s s n e r und Paul Frick, der die pho-
tographische Aufarbei tung realisierte, weiterge-
füh r t . Neben der Betreuung der Bibliothek und
Zeitschriftenabteilung des Museums und weiteren
allgemeinen Museumsarbei ten leitete F r a u Vogt
wei terhin die Sekretariatsarbeit der Liechtensteini-
schen Kunstgesellschaft sowie der Zotow-Stiftung.
Der reichhaltige k ü n s t l e r i s c h e Nachlass von Profes-
323
sor Eugen Zotow befindet sich bekanntlich seit
März 1992 in den Depots des Liechtensteinischen
Landesmuseums.
Paul Fr ick f ü h r t e neben der Betreuung der Aus-
senstelle in Schellenberg vor allem die photogra-
phische Arbei t des Landesmuseums weiter. Zudem
leistete er wertvolle Mitarbeit bei der Realisierung
der Sonderausstellung «Endl ich Friede. 50 Jahre
Kriegsende in der B o d e n s e e r e g i o n » .
Thomas M ü s s n e r konnte seine praxisbezogene
Restauratorenausbildung unter der Anlei tung von
Restaurator Kur t Scheel, Feldki rch , gezielt weiter-
verfolgen. Es konnten zahlreiche Objekte aus vielen
Bereichen der Museumssammlungen einer musea-
len Restaurierung und Konservierung z u g e f ü h r t
werden.
Seit bald vier Jahren ve r füg t das Landesmuseum
ü b e r keine eigenen Auss t e l lungsmögl i chke i t en
mehr. In Ermangelung von A u s s t e l l u n g s r ä u m e n er-
k lä r t e sich die Museumslei tung mehrfach bereit,
einzelne Fachgruppen durch die Depotsammlun-
gen zu f ü h r e n . Das Interesse war jeweils gross und
324
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
das Bedauern ü b e r einen fehlenden Ausstellungs-
betrieb f ü r das Liechtensteinische Landesmuseum
nicht geringer.
SONDERAUSSTELLUNG
1995 waren es fün fz ig Jahre her, seitdem durch die
Generalkapitulation der deutschen Wehrmacht der
II. Weltkrieg (1939-1945) beendet wurde. Das
Liechtensteinische Landesmuseum f ü h r t e in der
Zeit vom 29. A p r i l bis 30. Jun i 1995 in der ehe-
maligen Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie. i n Vaduz
die in Zusammenarbei t mit dem Internationalen
Arbeitskreis « B o d e n s e e a u s s t e l l u n g e n » entstandene
Sonderausstellung «Endl ich Friede! 50 Jahre
Kriegsende in der B o d e n s e e r e g i o n » durch. Das
Ausstellungsareal wurde dem Liechtensteinischen
Landesmuseum f ü r diesen Zweck in verdankens-
werter Weise von der Gemeinde Vaduz zur Verfü-
gung gestellt. E in besonderer Dank g e b ü h r t h i e r f ü r
Herrn B ü r g e r m e i s t e r lic. oec. Kar lhe inz Ospelt. Ne-
ben Robert Al lgäuer und Dr. Manf red Schlapp war
es vor allem Dr. Peter Geiger, der sich fü r dieses
Ausstellungsprojekt engagierte. E r w a r massgeb-
l ich an der Planung, Textierung und Realisierung
der Gedenkausstellung beteiligt. Die graphische
Gestaltung lag in den b e w ä h r t e n H ä n d e n des Gra-
phikateliers Gassner und Seger in Vaduz. Die Aus-
stellung, die jeweils unter verschiedenen Gesichts-
punkten auch in St. Gallen, Kreuzl ingen, Bregenz,
Markdor f und auf der Insel Reichenau gezeigt wur-
de, konnte am 29. A p r i l 1995 in Vaduz durch Regie-
rungschef Dr. Mar io Fr ick in Anwesenhei t zahlrei -
cher Besucher e rö f fne t werden. Das E i n f ü h r u n g s -
referat hielt der Museumsleiter. In einem reichhal-
tigen Rahmenprogramm wurde versucht, die Aus -
stellungsthematik zu vertiefen. A u f erwartet gros-
ses Interesse stiessen die Begegnungen mit dem
US-Mili tärpi loten Lieutenant Robert F. Rhodes aus
Indianapolis, der auf Ein ladung des Liechtensteini-
schen Landesmuseums und der Gemeinde Vaduz
vom 28. A p r i l bis 5. M a i 1995 in Liechtenstein wei l -
te. Mr. Rhodes war vor 50 Jahren, am 22. Februar
1945, nach einem Luftwaffeneinsatz i n S ü d d e u t s c h -
land mit seinem s c h w e r b e s c h ä d i g t e n Jagdflugzeug,
einer Mustang P-51 B , bei Schaan i m Rhein notge-
landet.
Eine grosse Resonanz bei allen Teilnehmern
Hessen die « Z e i t z e u g e n g e s p r ä c h e » zu rück , zu de-
nen das Landesmuseum an zwei Abenden eingela-
den hatte. Die Moderat ion lag in den H ä n d e n von
Dr. Peter Geiger, Forschungsbeauftragter be im
Liechtenstein-Institut, sowie beim Leiter des Lan-
desmuseums. Hautnah wurde in die Situation w ä h -
rend und unmittelbar nach dem II. Weltkrieg in un-
serem Lande und in der Nachbarschaft z u r ü c k g e -
blendet. Abgesehen von zahlreichen Schulklassen
war die Ausstellung jedoch mit z i rka 1600 Besu-
chern eher m ä s s i g beachtet. Die zur Ausstellung
erschienene Begleitpublikation mit reichhalt ig i l lu -
strierten Be i t rägen aus den entsprechenden Regio-
nen Vorarlbergs, S ü d d e u t s c h l a n d s , der Ostschweiz
und des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein stiess hingegen
auf reges Interesse und war schon w ä h r e n d der
Ausstellung vergriffen.
LEIHGAREN
Das Liechtensteinische Landesmuseum war mit
einigen Leihgaben aus seinen Sammlungen in der
Sonderausstellung «Der Kreuzzug Kaiser Barba-
rossas. M ü n z s c h ä t z e seiner Zeit», die vom 9. März
bis 21. M a i 1995 im Rä t i schen Museum in Chur zu
sehen war, vertreten, ebenso mit Leihgaben an der
Ausstel lung zum f ü n f z i g j ä h r i g e n Kriegsende i m H i -
storischen Museum in St. Gallen.
TAGUNGEN, KOMMISSIONS VRBI I I UND
RERATUNG
Neben dem Besuch fachspezifischer Tagungen, z . B .
ü b e r Papierrestaurierung und Konservierung in
Bern vom 21. November, wurden verschiedene
Museen und Sonderausstellungen durch das M u -
seumspersonal besucht. Der Museumsleiter vertrat
das Museum an mehreren Sitzungen des Verban-
des der Museen der Schweiz (VMS) und ICOM-
325
Resolution des Vorstandes des Schweizerischen Nationalkomitees des
Internationalen Museumsrates (ICOM-Schweiz) und des Vorstandes des
Verbandes der Museen der Schweiz (VMS/AMS) betr. Liechtensteini-
sches Landesmuseum.
In der Sitzung vom 15. und
16. Mai 1995 in Triesen .
befassten sich die beiden
Vorstände von ICOM-
Schweiz und des Verban-
des der Museen der
Schweiz (VMS) mit der
Situation des Liechtenstei-
nischen Landesmuseums.
Zuhanden der Fürstlichen
Regierung wurde eine ge-
meinsame Stellungnahme
verabschiedet.
Quelle: VMS Mitteilungs-
blatt, INFO 54, Juni 1.995,
S. 47-48
Sehr geehrter Herr Regierungschef Dr. Mario Frick
Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte
Mit grosser Besorgnis haben die Vorstände von ICOM-Schweiz und VMS
im Juni 1992 die Schliessung des Liechtensteinischen Landesmuseums
zur Kenntnis nehmen müssen. Dies umso mehr, als sich VMS und ICOM
bei ihrem Besuch anlässlich der ordentlichen Generalversammlung in
Liechtenstein im Jahre 1988 von der Qualität der Sammlung überzeu-
gen konnten.
Am 15. und 16. Mai hielten VMS und ICOM-Schweiz eine Vorstandssit-
zung in Vaduz ab. Sie haben bei dieser Gelegenheit den bedenklichen
Zustand der schwer beschädigten Museumsbauten drei Jahre nach der
Schliessung zu Gesicht bekommen. Mit Freude und Erleichterung haben
die Vorstände vom Entscheid der Fürstlichen Regierung vom Februar
dieses Jahres erfahren, die Museumsbauten umgehend zu sanieren und
zu erweitern und damit den Museumsbetrieb des Liechtensteinischen
Landesmuseums wieder zu ermöglichen.
Ein intaktes Landesmuseum, in dem wertvolles nationales Kulturgut,
Zeugen seiner spezifischen und einzigartigen Geschichte, erhalten und
in würdigem Rahmen präsentiert werden können, ist ein wesentlicher
Identitätsfaktor des Fürstentums Liechtenstein. Das Landesmuseum
braucht seinen markanten Standort im Zentrum von Vaduz. Die reprä-
sentativen Altbauten sind weiterhin prädestiniert für die Aufnahme der
wertvollen Sammlung und die Präsentation des historischen, kulturel-
len Erbes von Liechtenstein.
Die Vorstände von VMS und ICOM-Schweiz möchten die Fürstliche
Regierung und alle involvierten Kreise in der Umsetzung dieses richti-
gen Entscheides unterstützen und sie ermuntern, den eingeschlagenen
Weg konsequent und umgehend weiterzuverfolgen.
Fachleute aus dem Kreis des VMS und von ICOM-Schweiz, denen auch
Museumsmitarbeiter aus Liechtenstein angehören, sind gerne bereit, in
schwierigen Fragen des Wiederaufbaus und der Wiederbelebung des
Liechtensteinischen Landesmuseums mitzuarbeiten.
Die Vorstände von VMS und ICOM-Schweiz wünschen der Fürstlichen
Regierung bei der Lösung dieser für das kulturelle Ansehen Liechten-
steins essentiellen Aufgabe Mut und Zuversicht und konsequentes und
zielstrebiges Handeln.
Dr. Josef Brülisauer Dr. Martin R. Schärer
Präsident des Verbandes Präsident von ICOM-Schweiz
der Museen der Schweiz
326
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
Schweiz sowie an der Generalversammlung des
V M S in Genf vom 31. August bis 2. September
1995. A m 22. Jun i stand der Besuch der M U T E C ,
der ersten Internationalen Fachmesse fü r Muse-
umswesen und Ausstellungstechnik in M ü n c h e n ,
auf dem Programm, wo der Museumsleiter an den
informativen Vor t rägen von Dr. Dieter Bogner, Lei -
ter des Instituts fü r Kulturwissenschaft (Wien/
Krems) zum Thema « M u s e u m in B e w e g u n g » und
«The Museum Planning Process» von Barry Lord,
Cultural Resources Planning and Management
(Toronto CDN), tei lnahm.
Vom 9. bis 11. M a i fand in Liechtenstein das In-
ternationale Symposium fü r Ku l tu rgü te r schu tz statt,
an dessen Vorbereitung die Museumsleitung betei-
ligt war.
Unter der organisatorischen F ü h r u n g des M u -
seumsleiters fand am 15. und 16. M a i 1995 die ge-
meinsame Sitzung der Vor s t ände von ICOM-Schweiz
und des V M S in Liechtenstein statt. Neben der Be-
handlung der reichbefrachteten Sitzungstraktanden
fanden auch verschiedene Besichtigungen statt, u.a.
eine F ü h r u n g durch die Depotanlage der Fürs t l i chen
Sammlungen durch Direktor Dr. Uwe Wieczorek und
die Ausstellungen i m E n g l ä n d e r b a u durch Dr. Georg
Mal in . Zur derzeitigen Situation des Liechtensteini-
schen Landesmuseums verabschiedeten die beiden
Vors tände eine dezidierte Resolution zu H ä n d e n der
Fürs t l i chen Regierung.
Auch im Berichtsjahr 1995 stellte das Liechten-
steinische Landesmuseum für verschiedene Publi-
kationen Informationen und Bildmaterial zur Ver-
fügung .
Der Museumsleiter wurde mehrfach in konkre-
ten Fragen verschiedener Museen (u.a. das Walser
Heimatmuseum Triesenberg, das Ortsmuseum
Schaan, das Museum im Schlangenhaus in Wer-
denberg) zu Konsultationen und Stellungnahmen
beigezogen. Die Zusammenarbei t w i r d in konstruk-
tiver und zielstrebiger Weise w e i t e r g e f ü h r t werden.
In zahlreichen Fachorganisationen, Vereinen und
Kommissionen wurde die Mitarbeit des Museums-
leiters fortgesetzt (u.a. in der Denkmalschutzkom-
mission, im Vorstand des Historischen Vereins f ü r
das F ü r s t e n t u m Liechtenstein, in der Ankaufskom-
mission der Liechtensteinischen Staatlichen Kunst-
sammlung, in der Zotow-Stiftung etc.).
WOHNMUSEUM HAUS NR. 12 (EHEMALS HAUS
BIEDERMANN) IN SCHELLENRERG
Das ehemalige Haus Biedermann in Schellenberg,
das nach der Translozierung in den Jahren
1992/93 als b ä u e r l i c h e s Wohnmuseum eingerich-
tet wurde und seitdem als Aussensteile des Liech-
tensteinischen Landesmuseums g e f ü h r t w i rd , er-
freut sich nach wie vor einer grossen Beliebtheit
und W e r t s c h ä t z u n g seitens der Besucher. Das
Wohnmuseum war 1995 von A p r i l bis Oktober je-
weils a m ersten und letzten Sonntag des Monats
der Öffent l ichkei t zugäng l i ch . Schon zum dritten
M a l war es auch in diesem Jahr a m «Tag des offe-
nen D e n k m a l s » (17. September) ein attraktiver und
vielbesuchter Programmpunkt . Insgesamt wurden
rund 1500 Besucher verzeichnet. Neben zahlrei-
chen Gruppen, die durch das Haus g e f ü h r t wurden,
stattete auch die Fürs t l i che Regierung a m 21. Sep-
tember im Rahmen des Besichtigungsprogramms
des Ös t e r r e i ch i s chen Justizministers Dr. Nikolaus
Michalek dem Wohnmuseum einen Besuch ab.
A n freiwil l igen Spenden, die im Sinne und Inter-
esse des Hauses eingesetzt werden, gingen 230.85
Franken ein. Den Aufsichtsdienst besorgten in vor-
bildlicher Weise Frau Rosemarie Biedermann,
Mauren, und Frau Rösle Jehle, Schaan.
Im Flerbst 1995 erschien i m Auf t rag des Liech-
tensteinischen Schulamtes ein Lehrmit tel zum Hei-
matkundeunterricht: «Die Gemeinde - Zuhause
sein. Bausteine fü r den Heimatkundeunterricht in
der P r i m a r s c h u l e » ; Autor ist Ado l f Ritter, Mauren .
Dar in n immt das Wohnmuseum in Schellenberg
eine Schlüsse l s te l lung ein.
Im Laufe des Sommers musste an verschiedenen
Stellen i m Keller- und Parterrebereich des Holz-
hauses der Befal l durch den Hausschwamm festge-
stellt werden, was dringende und sofortige Sanie-
rungsarbeiten bedingte. Zusammen mit der Sach-
bearbeitung Denkmalschutz (Architekt Michae l
Pattyn) und dem Beizug von Experten wurde ein
327
Sanierungsprogramm erstellt. Entlang der Nord-
fassade des Hauses wurde eine Sickerleitung einge-
baut, um die Mauerfeuchtigkeit zu el iminieren, i m
Innern wurden die pilzbefallenen Stellen freigelegt
und entfernt und durch die Spezial f i rma Arbezo l
A G , Rümlang , g ross f läch ig behandelt. Dank dieser
Sofortmassnahmen konnte, so hoffen alle Verant-
wortl ichen, g r ö s s e r e r Schaden von diesem Objekt
abgewendet werden. Die Sanierungsarbeiten wur-
den Ende 1995 abgeschlossen, so dass der M u -
seumsbetrieb Anfang A p r i l 1996 wieder p l a n m ä s -
sig aufgenommen werden kann.
ANKÄUFE, ZUWENDUNGEN, BIBLIOTHEK
Der Sammlungszuwachs be läuf t sich im Berichts-
jahr 1995 auf 68 Objekte; dar in enthalten sind
mehrere Schenkungen. Von der Gemeinde Schaan
ü b e r n a h m das Landesmuseum in seine Depots
zahlreiche fragmentarisch erhaltene Objekte der
Originalausstattung der neugotischen Pfarrkirche
Schaan (Altäre, Kanzel , Kommunionbank etc.) so-
wie aus der Mühle Triesen das restaurierte Mühle-
inventar. Durch diese teils grossformatigen Objekte
stellen sich dem Landesmuseum al lmähl ich Depot-
probleme; die Kapaz i t ä t der bisherigen D e p o t r ä u -
me ist langsam e r schöpf t .
Von der F i r m a Balzers A G konnte das Landes-
museum umfangreiche Indus t r i egü t e r (Hochvaku-
umpumpen, Messge rä t e , Modelle etc.) ü b e r n e h -
men, die im Hinbl ick auf die eventuelle Err ichtung
eines zukünf t i gen Technischen Museums eingela-
gert wurden.
Die F i r m a Ivoclar A G in Schaan schenkte dem
Liechtensteinischen Landesmuseum f ü r die Restau-
r i e r u n g s w e r k s t ä t t e eine Vakuum-Trockner-Anlage
(Marke Heraeus, Hanau, Typ RVT 800), die f ü r die
Metallkonservierung optimal eingesetzt werden
kann. Das Landesmuseum dankt der F i r m a Ivoclar
A G sehr herzl ich fü r diese g rosszüg ige und nütz l iche
Zuwendung.
Die Museumsbibliothek konnte dank mehrerer
Schenkungen einen beachtlichen Zuwachs ver-
zeichnen.
DAS LANDESMUSEUM IST FOLGENDEN
DONATOREN ZU DANK VERPFLICHTET:
Rudolf A m a n n , Vaduz
Albert Bicker, Grabs
Dr. Kur t F. Büchel , Triesen
Mar ianne Hasler, Balzers
Paul Keel, Schaanwald
Johann Otto Oehry, Triesen
Heid i Schädler , Eschen
Kur t Scheel, Feldkirch
Balzers A G , Balzers
Ivoclar A G , Schaan
Vaduz, im Februar 1996
Der Jahresbericht 1995 des Liechtensteinischen
Landesmuseums wurde vom Stiftungsrat in seiner
Sitzung vom 5. Februar 1996 genehmigt und von
der Fürs t l i chen Regierung in ihrer Sitzung vom
19. Februar 1996 zur Kenntnis genommen.
328
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
Zuwachsverzeichnis 1995
ANKÄUFE U N D S C H E N K U N G E N
Alt und Neu Lichtenstein (!).
Kreidelithographie von
Josef Gerstmeyer nach
einer Zeichnung von
Thomas Ender, um 1835
Die Bündner Herrschaft
bei Maienfeld, Gemälde
von Hanns Maurus, Mün-
chen, um 1935
GRAPHIK UND GEMÄLDE
Alt und Neu LichtensteinO).
Altkolorierte und lasierte Kreideli thographie, i m
Stein sign. «N(ach) d(er) Natur gez(eichnet) v(on)
Prof. Th(omas) Ender - lithogra(phiert) von Jos(ef)
Ge r s tmeye r» - Gedr(uckt) bei Joh(ann) Höfel ich».
Wien: L . T. Neumann, um 1835.
1 5 , 4 x 2 2 , 9 cm. E 95/1
B ü n d n e r Herrschaft bei Maienfeld von der Ruine
Wartenstein bei Ragaz aus.
Öl /Le inwand. Hanns Maurus ( M ü n c h e n 1901 bis
1942). Rechts unten bez.: Hanns Maurus / Breit-
brunn.
40,5 x 55 cm (mit Rahmen). E 95/12
Beweinung Christ, Altar-
predella, Öl/Temperamale-
rei auf Holz, Mitte 17. Jh.
Die Darstellung geht auf
ein in der Region verbrei-
tetes Motiv zurück. Ein
Vergleichsstück - im For-
mat jedoch kleiner - findet
sich in der Predella eines
Altars aus der Kapelle auf
Masescha aus der Zeit um
1650 (Bild unten).
Altarpredel la: Beweinung Chris t i .
Ö l /Tempera auf Holz . Mitte 17. Jh .
37 x 92,5 cm. E 95/60
Si lum.
Aquare l l von Pr inz Hans von Liechtenstein. Links
unten signiert: Hans Liechtenstein (19)51.
21 x 30 cm. E 95/62
Autograph mit Tierzeichnung.
Von Pr inz Hans von Liechtenstein, 12. August 1918
(im Alter von 10 Jahren).
18,1 x 13,5 cm. E 95/63
G: Heidi Schädler-Rit ter , Schaan
KARTOGRAPHIE
Der S c h w ä b i s c h e Kreis nebst den ö s t e r r e i c h i s c h e n
Besitzungen in Schwaben.
Kupferstichkarte, Grenz- und teilweise F l ä c h e n k o -
lorit. 1796. 12 Teile, auf Le inwand montiert.
53,7 x 59,0 cm. E 95/4
330
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
Silum. Aquarell von Prinz
Hans von Liechtenstein,
1951
Tierzeichnung von Prinz
Hans von Liechtenstein,
1918
331
Schwabenlandkarte, 1727,
nach Gottfried von Bessel
(1672-1749), Abt im Stift
Göttweig. Gelehrter, Diplo-
mat und Kunstmäzen.
Kupferstich von Jakob Lidl
(1696-1771)aus Wien
= 1
Alemannorum sive Sveviae et Alsatiae D U C A T U S i n
Pagos suos Singulares usque ad Interregni Dissipa-
t ionem ex Chartis et monumentis Medi j A e v i De-
scriptus.
Kupferst ich-Karte nach Vorlagen des 15. Jhs. Rechts
unten Schildhalter.
61,5 x 56,0 cm. E 95/20
G: Dr. Kur t F. Büchel , Triesen
Schulkarte F ü r s t e n t u m Liechtenstein 1: 50 000.
Hrsg . Regierung des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein,
1978.
75 x 75,5 cm. E 95/64
G: Johann Otto Oehry, Triesen
Landeskarte F ü r s t e n t u m Liechtenstein 1: 25 000.
Hrsg. Regierung des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein,
1952.
105,4 x 58 cm. E 95/65
G: Johann Otto Oehry, Triesen
332
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
KRUZIFIXE UND PLASTIKEN
mit Chris tus-Mono-
Vortragskreuz.
Messing, sog. Li l ienkreuz
gramm i m Strahlenkranz.
H.ü.a. : 51 cm. E 95/53
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Versehkreuz.
Messing-Korpus, auf schwarzem Holzkreuz und ge-
stuftem Sockel.
H . 37,5 cm; B. 13,5 cm. E 95/57
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Christus-Korpus.
Holzgeschnitzt, ungefasst, 18. Jh .
H . 75 cm; B. 75 cm. E 95/61
ANDACHTSRILDER
Öldruck, St. Phi lomena.
Imprimatur: Ordinariat L imburg . U m 1900.
42,5 x 33,0 cm (mit Rahmen). E 95/28
G: Marianne Hasler, Balzers
Haussegen: «Gott segne unser Heim.»
Aussen- und Innenaufnahme der Pfarrkirche Ba l -
zers (um 1930).
Drittes Foto: Pfarrer Peter Schmid (1862-1931) und
Kaplan Ignaz Künzle (1877-1946).
38,8 x 51,5 cm (mit Rahmen). E 95/29
G: Marianne Hasler, Balzers
Andachtsbi ld. Aufnahme von Fi lumena Hasler, Ba l -
zers, in die Marianische Kongregation, 15. August
1921.
Litho-Druck. 49 x 37 cm (mit Rahmen). E 95/30
G: Marianne Hasler, Balzers
Kommunionandenken fü r Josef Hasler, Balzers,
11. A p r i l 1915.
Farbdruck.
31,5 x 43,0 cm (mit Rahmen). E 95/31
G: Marianne Hasler, Balzers
Christus-Korpus. Unge-
fasste Schnitzarbeit,
18. Jh. Vermutlich aus
Vorarlberg
333
LAND- UND HAUSWIRTSCHAFT,
HANDWERK UND GEWERRE
Schnapsbrennerei-Anlage.
Bestehend aus Kupfer-Brennkessel , Trichterteil i
Kupfer und Kühl fass . U m 1880/1900. E 95/2
G: Rudolf A m a n n , Vaduz
N ä h m a s c h i n e Marke Singer.
No. F 8882273.
101 x 101 x 4 1 cm. E 95/3
Milchkübel mit Deckel und Griff.
Grau-weiss emailliert, 4 Liter.
H . 32 cm; 0 unten 16 cm. E 95/8
G: Marianne Hasler, Balzers
Schnapskrug mit Henkel
Steingut, 1,5 Liter
H . 25 cm, 0 unten 11,5 cm. E 95/9
G; Mar ianne Hasler, Balzers
Ovale Bettflasche.
Zinnblech mit Messing-Schraubverschluss.
L. ca. 29 cm; B. z i rka 20 cm; H . 18 cm. E 95/17
G: Albert Bicker, Grabs
Schnapsbrennerei im
Wohnmuseum Haus Nr. 12
in Schellenberg. Figurine
von Frau Regula Hahn,
Auslikon (ZH)
S c h i r m s t ä n d e r .
Messingblech, rund.
H . 46 cm; 0 29 cm. E 95/18
G: Alber t Bicker, Grabs
Teigschüsse l .
Keramik, aussen braun, innen weiss glasiert.
H . 12 cm; 0 oben 24,5 cm. E 95/19
G: Alber t Bicker, Grabs
Winkeleisen.
L. 44 cm; B. 13,5 cm; Klinge: 4,5 cm. E 95/24
G: Heinr ich und Kathar ina Gantner, Planken
Steingut-Krug.
Grau glasiert, mit braunem Liniendekor.
H . 15,5 cm; obere Öffnung: 0 6 cm; Boden:
0 10,5 cm. E 95/25
G: Heinr ich und Kathar ina Gantner, Planken
H ö l z e r n e r Pferdewagen.
H . 106 cm; B. ca. 120 cm; L. ohne Deichsel: z i rka
300 cm. E 95/66
RELEUCHTUNG
Karfrei tagslampe.
Glaslampe mit Holzsockel .
H .ü .a . :19 ,5 cm. E 95/52
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Wandkerzenleuchter.
Messing, mit Rankenornamenten
L.ü.a.: 36 cm. E 95/54
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Ewigl icht -Lampe.
A n drei Ketten h ä n g e n d , Messing, mit rotem Glas.
H . z i rka 80 cm. E 95/55
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Grablicht f ü r Kerze
Rosafarbiges, geriffeltes Glas.
H . 11 cm. E 95/56
G: Norbert W. Hasler, Schaan
336
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 1995
VERSCHIEDENES
Feldflasche mit Büge lve r sch luss .
Alu -Blech . Aufdruck auf Deckel: «Marki l l» .
H . 26 cm. E 95/10
G: Mar ianne Hasler, Balzers
Liechtensteiner Jahresei 1995, nach Entwurf von
Walter Oehry.
H . z i rka 9 cm. E 95/13
R a s i e r k ä s t c h e n mit Spiegel und Schublade.
H . z i rka 37 cm; B. 27 cm; T. 16,5 cm. E 95/26
G: Mar ianne Hasler, Balzers
Schleifstab f ü r Rasiermesser.
Holz , mit Leder belegt.
L. 27,5 cm; B. z i rka 3,8 cm. E 95/27
G: Mar ianne Hasler, Balzers
Klassenbi ld , Schule Balzers, 3. Klasse.
Foto. 35 x 40 cm (mit Rahmen). E 95/33
G: Mar ianne Hasler, Balzers
Tabakpfeife.
Holz, Hornspitze, geschnitzter Pfeifenkopf und de-
korierter Zinnblechdeckel .
L. 26 cm. E 95/58
G: Norbert W. Hasler, Schaan
Berner Glasfenster in Nussholzrahmen mit einge-
legten Wappenscheiben, u .a . Wappenscheibe des
Grafen Car l Ludwig Graf zu Sulz (Wappen Brandis
und Sulz).
156,5 x 114 cm. E 95/59
Details aus dem vierteili-
gen Berner Glasfenster.
Oben: Festgelage, unten:
Wappen von Brandis und
Sulz
337
STIFTUNGSRAT FOTONACHWEIS
Dr. Kurt F. Büchel , Triesen (Präs ident )
Mag. Edmund Banzer, Hohenems
Paul Frick, Liechtensteini-
sches Landesmuseum
Vaduz
Trudy Bricc i -Marok, Mauren
Ulrike Brunhart , Balzers
Paul Büchel , Ruggell
lic. phi l . Roland Hil t i , Schaan
lic. phil . Veronika Marxer, Schaan
MUSEUMSKOMMISSION
lic. phil . Norbert W. Hasler, Schaan (Vorsitz)
Johann Otto Oehry, Triesen
Univ. Prof. Dr. E lmar Vonbank, Bregenz
Manf red Wanger, Planken
MUSEUMSPERSONAL
lic. phi l . Norbert W. Hasler, Schaan, Museumsleiter
Paul Frick, Schaan, Museumstechniker
Thomas Müssner , Gampr in , Restaurator
Rita Vogt, Balzers, wissenschaftl . Mitarbei ter in
Rosemarie Biedermann, Mauren (Aufsicht Wohn-
museum Schellenberg)
Rösle Jehle, Schaan (Aufsicht Wohnmuseum Schel-
lenberg)
338
DER LETZTE
F L U G DER «LITTLE
AMBASSADOR»
STEFAN NÄF
DER LETZTE FLUG DER «LITTLE AMBASSADOR»
STEFAN NÄF
Fünfzig Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges
EINLEITUNG
Im Jahre 1995 führte das Liechtensteinische Lan-
desmuseum in der ehemaligen Spinnerei Jenny,
Spoerry & Cie. in Vaduz die Ausstellung «Endlich
Friede! Kriegsende 1945 in der Bodenseeregion»
durch, die in Zusammenarbeit mit dem internatio-
nalen Arbeitskreis «Bodenseeausstellungen» reali-
siert wurde. Aus diesem Anlass weilte Mr. Robert F.
Rhodes aus den USA erstmals wieder in Liechten-
stein, nachdem er vor genau 50 Jahren in den letz-
ten Kriegstagen nach einem Luftwaffeneinsatz der
Alliierten in Süddeutschland eine Notwasserung
im Rhein bei Schaan beziehungsweise Buchs über-
lebt hatte.
Das Flugzeugwrack nach
der Notlandung im Rhein
bei Schaan
341
KRIEGSVÖGEL ÜBER UNSEREM LANDE. AMERIKANISCHER JÄGER LANDET IM RHEIN
Donnerstag war über unserem Lande reger Ver-
kehr fremder Jagdflugzeuge und Bomber. Wieder-
holt heulten die Sirenen. Etwa um 3 Uhr nachmit-
tags flog ein Jagdflugzeug rheintalabwärts in
starkem Gleitfluge. Ungefähr 300 Meter oberhalb
der Eisenbahnbrücke Schaan-Buchs landete das
Jagdflugzeug dann im Rheinbett auf Schweizersei-
te. Es handelt sich um ein amerikanisches Jagd-
flugzeug, dem unversehrt ein zirka 20jähriger
Fliegeroffizier entstieg. Die Maschine wurde von
den Schweizerbehörden beschlagnahmt, der Flie-
ger in Buchs interniert.
So berichtete das «Liechtensteiner Vaterland» in
seiner Ausgabe vom Samstag, den 24. Februar
1945 auf Seite 2 über das damalige Ereignis.
Etwas ausführlicher informierte das «Liechten-
steiner Volksblatt» seine Leserschaft mit einem Be-
richt auf der Titelseite der Samstagausgabe vom
24. Februar 1945.
Am Donnerstag gegen 2 Uhr folgte ein Flugzeug im
Tiefflug der Rheinlinie. Seine Absicht, irgendwo ein
Landeplätzchen zu suchen, war offensichtlich. Er
wählte das Rheinbett als Landepiste, fuhr auf eine
Sandbank auf, kam aber in den Wasserlauf. In der
Strömung drehte das Flugzeug gegen eine der
Liechtensteinischen Seite zu liegende Kiesbank zu.
Die Landungsstelle liegt etwa 200 Meter oberhalb
der Eisenbahnbrücke Schaan-Buchs. Dem ameri-
kanischen Jäger entstieg der unverletzte Pilot und
konnte sich über den Flügel des Luftfahrzeuges
trockenen Fusses auf liechtensteinischen Boden
begeben. Als ihm von Herbeigeeilten bedeutet wur-
de, dass er sich nicht auf Schweizer Boden befinde,
wollte er stracks ins Wasser und dem jenseitigen
Ufer zu. Erst nach einiger Aufklärung zeigte sich
der Pilot beruhigt und folgte dann auch der herbei-
gerufenen Polizei zur Internierung in die Schweiz.
Das Flugzeug lag nämlich auf Schweizerseite, war
aber durch den Rheinstrang vom jenseitigen Ufer
abgeschnitten.
Von Interesse mag noch die Tatsache sein, dass
der Pilot nicht wusste, dass er im Rhein gelandet
sei. Erst bei Vorlage einer Karte im Verkehrsbüro
Schaan bei einer Konfrontation mit dem der engli-
schen Sprache kundigen Inhaber des Verkehrs-
büros, Hrn. Paul Kaufmann, zeigte er geographi-
sche Bewanderung. Der Name Liechtenstein war
dem Manne gänzlich unbekannt. Am Rumpf des Jä-
gers sah man vor dem Führersitz fünf Hakenkreu-
ze, sechs Lokomotiven und drei Schiffe als Sieges-
trophäen eingezeichnet.
Im Folgenden schildert Stefan Näf, der zusammen
mit Peter Geiger den amerikanischen Kriegspiloten
Robert F. Rhodes schliesslich in Indianapolis (USA)
ausfindig machen konnte, die Hintergründe jenes
Zwischenfalls an der liechtensteinischen Landes-
grenze.
Norbert W. Hasler
342
DER LETZTE FLUG DER «LITTLE AMBASSADOR»
STEFAN NÄF
Am 22. Februar 1945
Der amerikanische Kampf-
flieger Robert F. Rhodes
1945 in Madna, kurz vor
seinem letzten Einsatz
Das Flugzeugwrack wird
geborgen
Zu Beginn des Jahres 1945 konzentrierten die
Amerikaner ihre Luftangriffe auf Transporteinrich-
tungen in Deutschland, um dadurch die feindlichen
Nachschübe zu erschweren und das rasche Vor-
rücken der alliierten Truppen zu unterstützen. Am
22. Februar 1945 holten die alliierten Luftwaffen in
einer gemeinsamen Operation mit insgesamt 8000
Flugzeugen zu einem gewaltigen Schlag gegen das
deutsche Eisenbahnsystem aus. Für einen ameri-
kanischen Piloten sollte an diesem Tag der Krieg
durch eine Notlandung im Rhein zwischen Schaan
und Buchs ein vorzeitiges Ende nehmen. Im ver-
gangenen Jahr war es gelungen, ihn in den Verei-
nigten Staaten ausfindig zu machen und mehr über
seinen letzten Einsatz in Erfahrung zu bringen.
Madna bei Termoli in Süditalien war seit dem
Frühjahr 1944 die Heimatbasis der amerikani-
schen 52. «Fighter Group» (Kampfgruppe). Die
Verhältnisse auf dem Luftwaffenstützpunkt waren
alles andere als komfortabel. Die Besatzungen wa-
ren in Sechsmannzelten untergebracht. Der Boden
war durch die häufigen Niederschläge ständig auf-
geweicht und morastig. Improvisation war an der
Tagesordnung. Für den Bau von Lagerschuppen
verwendete man das Holz von nicht mehr benötig-
ten Transportkisten. Ein gelegentlich mit der Zivil-
bevölkerung gegen Zigaretten eingetauschtes fri-
sches Ei war eine willkommene Abwechslung auf
dem Speisezettel. Für Unterhaltung sorgte ein im
Erdgeschoss eines Bauernhauses eingerichtetes
einfaches Offizierskasino mit Bar, Plattenspieler
und Ping Pong Tisch.
343
ZIEL SÜDDEUTSCHLAND
Die 52. «Fighter Group» erhielt am 22. Februar
1945 den Auftrag, viermotorige B-17-Bomber nach
Süddeutschland zu begleiten. Deren Ziel war die
Bombardierung von sechs Güterbahnhöfen zwi-
schen Lindau und Memmingen sowie in der Umge-
bung von Ulm. Da die Alliierten bereits die Luft-
überlegenheit in Süddeutschland errungen hatten,
war für diesen Einsatz mit wenig Gegenwehr der
deutschen Luftwaffe zu rechnen. Die eigentlichen
Begleitschutzaufträge verloren dadurch immer
mehr an Bedeutung und wurden meist mit so-
genannten «Strafing Missions» kombiniert. Das
heisst: Einmal am Ziel angekommen, verliessen die
Jäger die hochfliegenden Bomber und begannen
mit dem Beschuss von Bodenzielen im Tiefflug.
2nd Lieutenant Robert F. «Rocky» Rhodes war
einer der Piloten auf dieser Mission. Er war gerade
erst 21 Jahre alt und gehörte zum fünften Squa-
dron der 52. «Fighter Group», die umgangssprach-
lich «Spittin' Kittens» - auf deutsch: «speiende
Kätzchen» - genannt wurden. Seine Einheit flog die
einsitzigen P-51 Mustang - eines der leistungs-
fähigsten Kampfflugzeuge dieser Zeit. Viele der
Flugzeuge hatten einen Namen und waren mit Bil-
dern der damals populären Pin-up-Girls bemalt.
Die Mustang, welche Lieutenant Rhodes an diesem
Tag flog, hiess «Little Ambassador». Ihren Rumpf
zierte das Bild einer blonden Schönheit im
Bergungsarbeiten der
«Little Ambassador» aus
dem Rheinbett. Das Wrack
wurde an das liechtenstei-
nische Rheinufer ge-
schleppt, demontiert und
per Bahn nach Dübendorf
versandt. Dort wurde es
dann verschrottet.
schwarzen Abendkleid. Bis zum Oktober 1944 war
die «Little Ambassador» die persönliche Maschine
von James Empey. Er war ein Jägerass und konnte
mit ihr vier deutsche Me-109 abschiessen sowie
einen Ju-88-Abschuss erringen. Für Lieutenant
Rhodes war dies die sechste Mission. Es sollte seine
letzte werden.
Um 10.40 Uhr starteten 57 Mustangs vom ver-
schneiten Platz in Madna. Nach einem rund zwei-
einhalbstündigen Flug war das Ziel erreicht. Das
Wetter war nicht vielversprechend. Der Raum Ulm
lag unter einer geschlossenen Wolkendecke. Nach
Erreichen des Zielgebietes warfen die Mustangs
ihre Zusatztanks ab, suchten nach Löchern in der
Wolkendecke und machten sich unverzüglich an
die Beschiessung von Eisenbahneinrichtungen und
Flugplätzen.
HEFTIGE GEGENWEHR
Unter der Wolkendecke, die an manchen Stellen bis
nur unter 150 Meter über den Boden herunter
reichte, entbrannte ein heftiges Gefecht. Die wich-
tigen Transporteinrichtungen waren schwer mit
Fliegerabwehrgeschützen verteidigt und die Piloten
respektierten die Treffsicherheit der deutschen Ka-
noniere. Um die Bodendeckung optimal auszunüt-
zen, wurden die Angriffe auf höchstens 15 Meter
über Grund geflogen. Die meisten Verluste wurden
344
DER LETZTE FLUG DER «LITTLE AMBASSADOR»
STEFAN NÄF
aber beim Wegflug vom Ziel erlitten. Um die Flak-
schützen zu täuschen und ihnen die Arbeit zu er-
schweren, wurde diese Phase mit raschen unregel-
mässigen Höhen- und Richtungsänderungen ge-
flogen.
Trotzdem wurden insgesamt zwölf Mustangs ge-
troffen. Zwei von ihnen stürzten ab. Während Lieu-
tenant Bryant erfolgreich abspringen konnte, ver-
hedderte sich der offensichtlich zu früh geöffnete
Fallschirm von Lieutenant Cooper beim Absprung
von nur 150 Metern über Grund im Leitwerk. Es
gelang ihm nicht mehr, sich zu befreien, und er
wurde von seiner Maschine in die Tiefe gerissen.
TREFFER IM TIEFFLUG
Lieutenant Rhodes hatte bereits einen Güterbahn-
hof erfolgreich beschossen, als er sich daran mach-
te, zusammen mit Captain Tranquillo im offenen
Gelände einen stehenden Zug anzugreifen. Dieser
entpuppte sich überraschend als Flakzug und erwi-
derte ihr Feuer. Während Lieutenant Rhodes mit
einer steilen Linkskurve auf Bodenhöhe entkam,
sah er gerade noch, wie Captain Tranquillo seine
Maschine unter heftigem Flakfeuer senkrecht nach
oben zog, um in der niedrigen Wolkendecke Schutz
zu suchen.
Nachdem er Captain Tranquillo nicht mehr fin-
den konnte, schloss sich Lieutenant Rhodes einer
Gruppe an, die gerade einen Flugplatz angriff. Auf
nur etwa sechs Metern Höhe flog Lieutenant Rho-
des unbewusst an einer Flakstellung vorbei und
wurde bei einer Geschwindigkeit von etwa 450
km/h an der rechten Seite im Triebwerk und Leit-
werk getroffen. Er konnte gerade noch verhindern,
dass seine Flügelspitze den Boden streifte. Beim
Aufziehen bemerkte er dann, dass das Höhensteu-
er beschädigt war und klemmte. Nur mit beiden
Händen am Steuerknüppel gelang es ihm, die Mu-
stang kurz vor einem Wald wieder hochzuziehen.
Über Funk forderte er Hilfe an, um ihn nach Ita-
lien zurück zu eskortieren. Es antwortete aber nur
einer seiner Kameraden, und dessen Flugzeug war
in einer gleich schlechten Verfassung. Die Chancen,
mit der schwer angeschlagenen «Little Ambassa-
dor» die Alpen noch zu überqueren oder gar nach
Madna zurückzufliegen, wurden von Minute zu
Minute geringer.
«WO IST SWITZERLAND?»
In der Zwischenzeit hatte Lieutenant Rhodes ohne
es zu wissen die Schweizergrenze überflogen und
folgte, eine schwarze Rauchfahne hinter sich zie-
hend, südlich des Bodensees dem Rhein stromauf-
wärts. Als kurze Zeit später sein Triebwerk aus-
setzte, musste er auch seine Hoffnung, wenigstens
Frankreich noch zu erreichen, aufgeben. Von nun
345
an ging alles schnell. Von Bergen umgeben, ent-
schied er sich, nicht mit dem Fallschirm abzusprin-
gen, sondern einen Notlandeplatz im Tal zu
suchen. Eine Kiesbank im Rheinbett schien dazu
geeignet. Rasch an Höhe verlierend, konnte er
noch über Funk die Meldung absetzen, dass er
einen geeigneten Landeplatz gesichtet habe. Er
warf darauf die Cockpithaube ab und Fixierte die
Schultergurte. Auf der Höhe von Vaduz dreht er mit
einer Rechtskurve zum Anflug in Richtung Norden
ein. Mit 140 km/h, voll ausgefahrenen Landeklap-
pen und beiden Händen am Steuerknüppel, setzte
er die kaum noch manövrierbare Mustang mit ein-
gezogenem Fahrwerk gekonnt auf die Kiesbank.
Bei der rasanten Fahrt über den steinigen Un-
tergrund wurde die Rumpfunterseite aufgeschlitzt
und der Kühler und die rechte Landeklappe abge-
rissen. Die Maschine kam nicht mehr vor Ende der
Kiesbank zum Stehen, schlitterte in den Wasserlauf
und kam schliesslich im nur etwa einen Meter tie-
fen Rhein mit einer riesigen Wasserfontäne abrupt
zum Stillstand. Überrascht über die geringe Tiefe
des Flusses und überglücklich, das Ganze unver-
letzt überstanden zu haben, stieg Lieutenant Rho-
des aus dem Cockpit. Über die Tragfläche gelangte
er trockenen Fusses an das liechtensteinische Ufer.
Im Glauben, dass er sich immer noch in
Deutschland befinde, machte er sich auf den Weg
landeinwärts Richtung Schaan, wo er kurz darauf
auf eine junge Dame traf. In seinem besten Deutsch
fragte er sie: «Wo ist Switzerland?» Worauf sie zu
seiner Überraschung in perfektem Englisch ant-
wortete und auf das gegenüberliegende Rheinufer
deutete. Auf dem Weg zurück Richtung Rhein kam
ihm dann ein Auto entgegen, dessen Fahrer ihn
zum Einsteigen aufforderte. Zögernd und unsicher,
ob er dem Fahrer trauen konnte, stieg er ein.
ZURÜCK NACH A M E R I K A
Nach der Übergabe durch die Liechtensteiner Po-
lizei an das Schweizer Militär wurde Lieutenant
Rhodes in Sargans einvernommen und am näch-
sten Nachmittag mit dem Zug nach Dübendorf
überführt. Aufgrund des sich abzeichnenden
Kriegsendes wurde er aber nicht interniert, son-
dern für einige Wochen in einem Hotel in Bern ein-
quartiert. In der Bundeshauptstadt konnte er sich
frei bewegen und hatte endlich Gelegenheit, sich
neue Kleider zu beschaffen. Seine einzige Aufgabe
bestand darin, sich jeden Morgen um neun Uhr auf
der amerikanischen Botschaft zu melden.
Der Aufenthalt in der Schweiz ging mit seiner
Überführung nach Paris zu Ende. Dort folgte noch-
mals eine Einvernahme durch die amerikanischen
Behörden. Darauf konnte er seine Reise nach
Schottland fortsetzen, um von dort an Bord der
«Aquitania» nach Kanada und dann schliesslich
wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukehren.
346
DER LETZTE FLUG DER «LITTLE AMBASSADOR»
STEFAN NÄF
Drei Flugzeuge des Typs
«Flight North American
P-51 D Mustang» über der
Basis bei Madna an der
Adria. Die rote Nase und
das gelbe Heck der Flug-
zeuge weisen ihre Zuge-
hörigkeit zur 52nd Fighter
Group aus.
Die schwerbeschädigte «Little Ambassador»
wurde ans liechtensteinische Rheinufer geschleppt,
demontiert, anschliessend nach Dübendorf über-
führt und schliesslich im Mai 1945 im Auftrag der
Amerikaner verschrottet.
Robert Rhodes erhielt einen Telefonanruf von der
Dame, welche ihm damals in Schaan die Richtung
in die Schweiz gezeigt hatte. Auch sie lebt heute in
den USA, nicht allzuweit von Indianapolis. Kurz
darauf kam es zu einem Wiedersehen.
RÜCKKEHR NACH LIECHTENSTEIN
Robert Rhodes lebt seither in Indianapolis und
hatte das Ereignis in der Zwischenzeit schon fast
vergessen. Seine Überraschung war entsprechend
gross, als er anfangs 1995 vom Liechtensteinischen
Landesmuseum eine Einladung im Rahmen der
Ausstellung «Endlich Friede! Kriegsende 1945 in
der Bodenseeregion» erhielt. Er folgte dieser Ein-
ladung und kam, zum ersten Mal seit seiner spek-
takulären Ankunft, wieder nach Liechtenstein. Bei
einem Vortrag in Vaduz und einer Begehung der
Landestelle hatte er Gelegenheit, von seinem Erleb-
nis zu berichten und mit Zeitzeugen zusammenzu-
treffen.
Wenige Wochen nach seiner Rückkehr nach In-
dianapolis folgte noch eine weitere Überraschung.
347
FOTONACHWEIS
Bildarchiv Stefan Näf,
Lausen
ANSCHRIFT DES AUTORS
Stefan Näf
Gartenstrasse 15
CH-4415 Lausen (BL)
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