J A H R B U C H
DES HISTORISCHEN V E R E I N S
FÜR DAS FÜRSTENTUM
L I E C H T E N S T E I N
BAND 105
JAHRBUCH
DES HISTORISCHEN VEREINS
FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN
B A N D 105
VADUZ, S E L B S T V E R L A G DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN, 2006
Zum Titelbild:
Obwohl Liechtenstein seit
1806 ein souveräner Staat
ist, kommt in vielen erhält-
lichen Souvenirartikeln die
enge Anbindung an die
Schweiz und auch an den
umliegenden Alpenraum
zum Ausdruck. Der hier
abgebildete Schlüsselan-
hänger mit Glöcklein zeigt
ein Rundbild mit Schloss
Vaduz in Verbindung mit
dem Schweizer Wappen,
das - mit Edelweiss, Enzi-
an und Alpenrosen ge-
schmückt - das Glöcklein
ziert. Unter dem Schweizer
Wappen steht «Switzer-
land» geschrieben. Dies
deutet darauf hin, dass
dieser Souvenirartikel pri-
mär für ein internationales
Publikum gedacht ist.
Foto: Heinz Preute, Vaduz
Zum Bild auf dem Vorsatz:
Bis 1806 war Liechtenstein
Teil des Heiligen Römi-
schen Reiches Deutscher
Nation. Diese Karte aus
einem historischen Atlas
zeigt das Gebiet des Heili-
gen Römischen Reiches im
18. Jahrhundert, mit einge-
tretenen Veränderungen im
Herrschaftsbereich von
Preussen und Österreich.
Die Erhebung der Graf-
schaft Vaduz und der Herr-
schaft Schellenberg zum
Reichsfürstentum Liechten-
stein im Jahr 1719 war
indes - in Relation zum
Gesamtreich - ein zu unbe-
deutender Vorgang als dass
diese Erhebung in dieser
Karte ihren Niederschlag
gefunden hätte. Für die
beiden Gebiete Vaduz und
Schellenberg war die Erhe-
bung zum Reichsfürsten-
tum aber eine wesentliche
Voraussetzung zur späteren
Erlangung der staatlichen
Souveränität.
Quelle: Historischer Bildat-
las. Daten und Fakten der
Weltgeschichte. Eine farbi-
ge Chronik von den Anfän-
gen bis heute mit mehr als
1000 farbigen Abbildun-
gen. Orbis Verlag für Publi-
zistik GmbH München,
Ausgabe 1991, S. 197
Auslieferung:
Historischer Verein für das
Fürstentum Liechtenstein
Geschäftsstelle
seit 23. Juni 2006:
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Plankner Strasse 39
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rischen Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein
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© 2006 Historischer
Verein für das Fürstentum
Liechtenstein, Vaduz
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Gedruckt in Liechtenstein
ISBN 3-906393-40-2
IV
Inhaltsverzeichnis
1 Liechtensteinische Souvenirs - 200 Jahre
Liechtensteinische Souveränität
Veronika Marxer
5 Liechtenstein im Verbände des Heiligen
Römischen Reiches und die Frage der
Souveränität
Bernd Marquardt
33 Rechtsrezeption und Souveränität - ein
Widerspruch?
Elisabeth Berger
51 Von Westfalen zum Global Village:
Wandlungen des Souveränitätskonzepts
Zoltän Tibor Pällinger
79 Souveränität als Standortfaktor - einige
Beispiele aus der liechtensteinischen Wirt-
schaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Christoph Maria Merki
103 Ein «Annex Österreichs» oder ein souve-
räner Staat? - Liechtensteins Beziehungen
zur Tschechoslowakei nach dem Ersten
Weltkrieg
Rupert Quaderer
131 Liechtensteins Beziehungen zur Tschecho-
slowakei und zu deren Nachfolgestaaten
seit 1945
Roland Marxer
153 Die europäische Integration als Testfall
liechtensteinischer Souveränität
Nikolaus von Liechtenstein
169 Das Ruggeller Zoll- und Gasthaus
«Schwert» - eine Hommage an Napoleon?
Peter Albertin
187 Souvertan oder Unterän? - ein Räsonne-
ment zur Feier «200 Jahre Souveränität
Fürstentum Liechtenstein 1806 bis 2006»
Stefan Sprenger
197 Nationale Identität - eine Umfrage aus
Anlass 200 Jahre Souveränität des Fürsten-
tums Liechtenstein
Wilfried Marxer
239 Rezensionen
267 Jahresbericht des Historischen Vereins für
das Fürstentum Liechtenstein 2005
295 Liechtensteinisches Landesmuseum 2005
325 Verzeichnis der für das fürstliche Landes-
museum in Vaduz erworbenen Objekte
Norbert W. Hasler
V
Unter dem Namen «Histo-
rischer Verein für das
Fürstentum Liechtenstein»
besteht ein Verein gemäss
Art. 246 des Liechtenstei-
nischen Personen- und
Gesellschaftsrechts. Er hat
seinen Sitz in Vaduz.
Der Zweck des Vereins
besteht in der Förderung
der Geschichts- und Lan-
deskunde und der Bildung
des historischen Bewusst-
seins. Der Verein initiiert
und unterstützt diesbezüg-
liche Forschungsarbeiten,
vermittelt deren Ergebnis-
se und setzt sich für den
Schutz des kulturellen
Erbes ein.
Der Verein ist parteipoli-
tisch und weltanschaulich
neutral und in seinen For-
schungs- und Publikations-
aktivitäten unabhängig.
Artikel 1 und 2 der neuen
Statuten des Historischen
Vereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein, be-
schlossen an der Mitglie-
derversammlung vom
16. April 2005
DANK
Der Historische Verein für das Fürstentum Liechten-
stein dankt dem Organisationskomitee «200 Jahre
Souveränität Fürstentum Liechtenstein» für die gross-
zügige finanzielle Unterstützung, welche wesentlich
mitgeholfen hat, dieses Jahrbuch mit dem Themen-
schwerpunkt «Souveränität» zu realisieren.
Für den Inhalt der einzel-
nen Beiträge zeichnen die
Verfasserinnen und Verfas-
ser allein verantwortlich.
200 Jahre Souveränität 1 8 0 6 - 2 0 0 6
F Ü R S T E N T U M LIECHTENSTEIN
VI
LIECHTEN-
STEINISCHE
SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTEN-
STEINISCHE
SOUVERÄNITÄT
Liechtenstein ist seit 1806 ein s o u v e r ä n e r Staat
und, wenn auch formell u n a b h ä n g i g , so doch seit je
auf eine enge Zusammenarbeit mit seinen Nach-
barn angewiesen. Das nahe Verhä l tn i s zu den um-
liegenden L ä n d e r n kommt auch i n liechtensteini-
schen Souvenirs zum Ausdruck. Sie vereinen auf
u n b e k ü m m e r t e Weise schweizerische, ös te r re ich i -
sche und liechtensteinische Embleme und beglei-
ten den in diesem Buch g e f ü h r t e n Diskurs ü b e r die
liechtensteinische Souve rän i t ä t auf heitere Art .
Die Souvenirs s ind i m Handel f re i e rhäl t l ich .
Veronika Marxer
2
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
3
LIECHTENSTEIN
IM V E R B A N D E
DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES
UND DIE FRAGE DER
SOUVERÄNITÄT
BERND MARQUARDT
Inhalt
8 Das Heilige Römische Reich als Forschungs-
problem
8 Vaduz und Schellenberg im delegations-
staatlichen Reichsverband des 14. und 15.
Jahrhunderts
11 Prozesse der Staatsvernetzung auf Reichs-
ebene (1495 bis 1648)
12 Im imperialen Friedensstaat
15 Liechtenstein in den proto-parlamentari-
schen Verfassungsinstitutionen des Reichs
18 Das Reich als Steuerstaat
18 Der imperiale Gesetzgebungsstaat
20 Verfassungsrechtsschutz der Gemeinden vor
der obersten Gerichtsbarkeit
20 - Der Tyrannenprozess gegen den Reichs-
grafen Ferdinand Karl Franz von Hohen-
ems-Vaduz 1683 bis 1684
25 - Die Entmachtung des Reichsgrafen Jakob
Hannibal III. von Vaduz (1693)
26 - Der Konflikt um die Gemeinderechte
27 Kaisernahe Fürsten im Reichsdienst
28 Reichsuntergang und Souveränität
6
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Liechtenstein feiert im Jahre 2006 das Jubiläum
seiner 200-jährigen Souveränität. Ihre Erlangung
stand in einem unmittelbaren Zusammenhang zum
Untergang des Heiligen Römischen Reiches, das für
einen viel längeren Zeitraum, rund neun Jahrhun-
derte, das Land am Alpenrhein überwölbt hatte.
Will man die Souveränisierung verstehen, so ist
das ohne eine vertiefende Betrachtung der Vor-
Souveränität nicht möglich. Die Reichsgrafschaft
Vaduz, die Reichsherrschaft Schellenberg und das
daraus gebildete Reichsfürstentum Liechtenstein
stellten nämlich keineswegs nur hochautonome Ge-
meinwesen dar, sondern standen ebenso wie einige
Hundert weiterer reichsunmittelbarer Herrschafts-
gebilde in einer engen Wechselbeziehungen zu ei-
ner wichtige Staatsaufgaben wahrnehmenden grös-
seren Gesamtheit. Ein Reichsfürstentum ist ohne
das Reich nicht denkbar. Dem von aussen kom-
menden Verfassungshistoriker drängt sich freilich
auch eine andere Betrachtungsweise auf, dass sich
nämlich in Liechtenstein ein Überbleibsel des Heili-
gen Römischen Reiches, ein letztes Reichsfürsten-
tum, über alle Umbrüche des 19. und 20. Jahrhun-
derts hinweg behauptet hat.1
1) So auch Mazohl-Wallnig, Brigitte: Sonderfall Liechtenstein:
Die Souveräni tät des Fürs ten tums zwischen Heiligem Römischen
Reich und Deutschem Bund. In: Brunhart, Arthur (Hrsg.): Bausteine
zur liechtensteinischen Geschichte. 3. Band. Zürich, 1999. S. 7-42.
hier S. 7.
DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH ALS
F O R S C H U N G S P R O B L E M
Die Historiographie des Heiligen Römischen Rei-
ches hat ihre eigene Geschichte. Nachdem das
Reich in den Revolutionskriegen untergegangen
war und einer ahistorischen Staatenlandschaft in
neuen Grenzen Platz gemacht hatte, neigten natio-
nalstaatliche Historiographien zu mancherlei Ver-
zerrung: Die preussisch-kleindeutsche Spielart ent-
wertete das Reich systematisch, um den Ex-Reichs-
stand Brandenburg-Preussen als Heilbringer natio-
naler Einheit präsentieren zu können - und nicht
als reichspolitisch desintegrative Macht. Parallel
neigte die österreichisch-ungarische Spielart zum
Rückwandernlassen eines Völkerrechtssubjekts Ös-
terreichs in die Zeit vor 1804 beziehungsweise
1806, in der die Quellen des Jus Publicum Europae-
um völlig unzweifelhaft den Kaiser des Heiligen Rö-
mischen Reiches hatten auftreten lassen. Aus derar-
tigen Ansätzen entfloss die These der 600-jährigen
Dauerkrise und des permanenten Reichszerfalls seit
der Stauferzeit mit dem Clou, dass die Reichsstände
bereits im Westfälischen Frieden von 1648 die
(Quasi-)Souveränität erlangt hätten. Interessanter-
weise ist letztere Überpointierung von der liechten-
steinischen Historiographie nie ernsthaft aufgegrif-
fen worden. Eine grundsätzliche Neubewertung des
Heiligen Römischen Reiches ist seit den 1970er Jah-
ren von Autoren wie Moraw, Press, Aretin, Willo-
weit, Schmidt oder Marquardt vorgenommen wor-
den.2 Dabei ist ein geradezu umgekehrtes Bild zur
Zerfallsperspektive gezeichnet worden. Diese hatte
nämlich den Blick dafür versperrt, dass zwischen
1495 und 1648 ein staatlicher Verdichtungsprozess
auf Reichsebene stattfand und die Reichsstände des
Jahres 1700 viel weniger souverän waren als ihre
Vorfahren des Jahres 1400, sofern von reichsperi-
pheren Sonderentwicklungen wie Brandenburg-
Preussen oder der Schweiz abgesehen wird. Detail-
lierte Forschungen haben einen hohen Stellenwert
des Kaisers im Reich, des Ständewesens, der
Reichsgerichtsbarkeit, der Verfassungsgerichtsbar-
keit, der Reichsexekutionen oder der Reichsgesetz-
gebung erkennen lassen, wobei das Heilige Römi-
sche Reich nunmehr in einer gewissen Gemeinsam-
keit zu England als eines der Urmodelle protoverfas-
simgsstaatlicher Entwicklung gelten kann.
VADUZ UND S C H E L L E N B E R G IM
D E L E G A T I O N S S T A A T L I C H E N R E I C H S V E R -
BAND DES 14. UND 15. J A H R H U N D E R T S
Eine Geschichte der Reichsbeziehungen des Liech-
tensteiner Raumes lässt sich erst ab dem 14. Jahr-
hundert schreiben, obwohl das Reich damals be-
reits seinem 400sten Geburtstag entgegensah. Das
liegt nicht nur an der relativen Quellenarmut frühe-
rer Zeiten, sondern auch daran, dass erst das
Wechselspiel aus hochmittelalterlichen Rodungen
und agrarischer Flächenerschliessung zu einer
herrschaftlichen Durchstrukturierung des geogra-
phischen Raumes führte, basierend auf dem Typus
der dynastischen Gerichtsherrschaft, die wir in der
Sprache der segmentären Verfassungstheorie als
Lokale Herrschaft begreifen.3 Im Alpenrheintal
verkörperten kleinkammerige Herrschaftszellen wie
Vaduz, Schellenberg, Werdenberg, Maienfeld, Sax-
Forstegg, Sonnenberg, Blumenegg oder Feldkirch
gleichermassen diesen Grundtypus.
Wenn wir vom Heiligen Römischen Reich in den
Grenzen des 14. Jahrhunderts ausgehen, so lag
Liechtenstein ungefähr in der Mitte dieses sich
quer durch Europa von den toskanischen Höhen
über die Alpen bis zur Ostsee erstreckenden Gross-
verbandes. Innerhalb der lateinischen Christianitas
handelte es sich nicht nur um das grösste Herr-
schaftsgebilde, sondern auch um die ideelle Primär-
monarchie: Um das einzige Kaisertum im Kranze
der Königtümer, um das bereits begrifflich aus der
Gruppe der Regna herausragende Imperium, um
die staatsidentische Fortführung des antiken Rö-
merreiches, um das letzte der biblisch geweissag-
ten Weltreiche sowie um den Schirmvogt der abend-
ländischen Kirche. Insofern hatte es eine gemein-
europäische Dimension, die das quellenfremde Na-
tionaletikett Deutsches Reich verdeckt.
So umfassend die Herrschaftsideologie des Rei-
ches auch war, so weit war es im Inneren von der
8
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Offizielle imperiale Selbst-
darstellung im Kaisersie-
gel, mit dem 1719 das
Reichsfürstentum Liech-
tenstein kreiert wurde:
Karl VI. sitzt als «Romano-
rum Imperator» und ewi-
ger «Augustus» zwischen
den die Grenzen Europas
symbolisierenden Säulen
des Herakles.
Staatsgewalt des modernen Staates entfernt. Zu-
nächst einmal war es noch kein umfassender Frie-
densstaat. Zwar nahm sich die kaiserliche Gesetz-
gebung seit 1103 der Problematik des inneren
Friedens an, doch wurde im Mainzer Reichsland-
frieden von 1225 nach wie vor das Fehderecht der
eingeordneten Regional- und Lokalmächte als sub-
sidiäres Mittel der Rechtswahrung garantiert. Die
Grafschaft Vaduz machte davon beispielsweise
1393 bis 1399 in einer Auseinandersetzung mit der
benachbarten Grafschaft Werdenberg Gebrauch.
Das kaum durch Reichsgesetze beschränkte Eigen-
kriegsrecht war das schillernste Hoheitsrecht der
segmentären Gewalten.
Vom modernen Staat unterschied sich das mit-
telalterliche Reich weiterhin durch seine unter-
schiedliche Präsenz in der Fläche. Es gab kaiserna-
he und kaiserferne Regionen. Die Herrschaften
Vaduz und Schellenberg gehörten als Teile des
schwäbischen Raumes einer prinzipiell kaiserna-
hen Verfassungslandschaft an. Hinter der unter-
schiedlichen Reichspräsenz stand die für den mo-
dernen Menschen fremd gewordene Durchlässig-
keitsfeindlichkeit des geographischen Raumes im
Zeitalter des Pferdes. Am spürbarsten war die
Reichspräsenz bei den einmal pro Generation wie-
derkehrenden spektakulärsten Reproduktionsritu-
alen des Kaisertums, den Romzügen zur päpstli-
2) Moraw, Peter; Press, Volker: Probleme der Sozial- und Verfas-
sungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelal-
ter und in der F rühen Neuzeit. In: ZHF, 2 (1975), S. 95-108; Press,
Volker: Staatswerdungsprozesse in Mitteleuropa. In: Riklin. Alois;
Batliner, Gerard (Hrsg.): Subsidiari tät . Baden-Baden, 1994,
S. 211-242; Aretin, Kar l Otmar Freiherr von: Das Alte Reich
1648-1806, 1. Band. Stuttgart, 1993; Willoweit, Dieter: Deutsche
Verfassungsgeschichte. 4. Auflage. München, 2001; Schmidt, Georg:
Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementä ren
Reichsstaats. In: Forschungsstclle Westfäl ischer Friede (Hrsg): 1648
- Krieg und Frieden in Europa. 1. Band. Münster, 1998, S. 447-454;
Marquardt, Bernd: Das Römisch-Deutsche Reich als segmentä res
Verfassungssystem (1348-1806/48). Versuch zu einer neuen Verfas-
sungstheorie. Zürich, 1999; Marquardt, Bernd: Die «Europäische
Union» des vorindustriellen Zeitalters: Vom Universalreich zur
Respublica Christiana des Jus Publicum Europaeum (800-1800).
Zürich, 2005.
3) Marquardt (1999), S. 11.
9
chen Krönung (962-1452), die vielfach die Rhein-
talroute über den Septimer nutzten und Vaduz
Durchritte des Reichsoberhaupts samt Gefolgschaft
bescherten. Die Rheintalroute galt wie alle wichti-
gen Wasser- und Landfernverkehrswege als Reichs-
strasse. Etwa wurde sie 1392 als solche ausgewie-
sen, als das Vaduzer Gericht unter freiem Himmel
an «offener Reichsstrasse» tagte.4 Spürbar war die
Reichspräsenz aber auch bei der sonstigen Routen-
wahl eines mobilen Reiseherrschers, der viele Jah-
re ausserhalb seiner Hauptresidenz verbrachte. Er
musste zu seinem (Adels-) Volk kommen, nicht letz-
teres zu ihm. So unternahm der jeweilige Kaiser
Krönungsumritte, sammelte dabei die Huldigungen
der Lokal- und Regionalherrscher ein und bestätig-
te deren Privilegien. Er hielt regionale Hoftage mit
den jeweiligen Grossen ab und zog bei dieser Gele-
genheit durch das Evokationsrecht Rechtsstreitig-
keiten als oberster Richter an sich. Die für den
Liechtensteiner Raum relevanten Hoftage fanden
überwiegend in Konstanz statt.
Die Beziehungen von Vaduz und Schellenberg
zur Zentralebene des Reiches wurden vom Status
der Reichsunmittelbarkeit geprägt. Diese Figur um-
schrieb die staatsrechtliche Stellung eines lokalen
Herrschaftsträgers, der dem Kaiser ohne Zwischen-
instanzen unterstand. Davon abzugrenzen war die
landsässige, reichsmittelbare Herrschaft. Im Falle
der Grafschaft Vaduz wurde die Reichsunmittelbar-
keit in einer Königsurkunde Wenzels von 1379 als
bestehend vorausgesetzt. 1396 erklärte dasselbe
Reichsoberhaupt Vaduz explizit zum reichsunmit-
telbaren Lehen, was seine Nachfolger fortlaufend
bestätigten, so etwa 1430, 1439, 1454 und 1507.
Seit 1430 wurde die dynastisch mit Vaduz verklam-
merte Herrschaft Schellenberg miterwähnt. 5 Die
Reichsunmittelbarkeit von Vaduz und Schellenberg
fügte sich in das Gesamtbild der südwestdeutschen
Verfassungslandschaft, wo infolge des Erlöschens
des Herzogtums Schwaben mit dem Ableben des
letzten Staufers Konradin im Jahre 1268 zahlrei-
che lokale Herrschaften reichsunmittelbar waren,
während vergleichbare Gebilde im Osten des Rei-
ches, etwa die älteren Herrschaften des Hauses
Liechtenstein in den habsburgischen Erblanden, an-
gesichts der dort ungebrochen fortbestehenden
Herzogsgewalten einen landsässigen Status beibe-
hielten.
Im vertikalen Stufenbau des Reiches gab es eine
Unterscheidung zwischen Hoheitsrechten, die der
originären lokalen Gerichtsbarkeit anhafteten, so-
wie solchen, die der kaiserlichen Autorität entflos-
sen (Regale). Letztere wurden vom Imperium defi-
niert, aber grundsätzlich nicht direkt ausgeübt,
sondern in der Fläche durch die Herrschaftstech-
nik des Privilegs, d.h. mittels Delegation auf die lo-
kalen Herrschaftsträger, anwendbar gemacht.6 Da-
runter fielen die Blutgerichtsbarkeit, das Markt-
recht, das Münzrecht, das Zollrecht, das Geleit-
recht, das Stapelrecht, das Berg(bau)recht, das Ju-
den(schutz)regal sowie Gerichtsfreiheits- und Steu-
erprivilegien, was u.a. bedeutete, dass die Voll-
streckung von Todesurteilen, also der schwerste
denkbare staatliche Eingriff, reichsweit im Namen
des Kaisers ausgeübt wurde. Im Heiligen Römi-
schen Reich erreichte der Delegationsprozess pa-
rallel zur Dynamik des hochmittelalterlichen Lan-
desausbaus seinen Scheitelpunkt und war um 1500
weitgehend abgeschlossen. Die reichsunmittelbare
Grafschaft Vaduz erhielt 1379 von König Wenzel
ein Privileg mit Gerichtsfreiheiten und dem Asyl-
recht. 1430 vergab König Sigismund an den Vadu-
zer Grafen Wolfhart von Brandis ein umfangreiche-
res Privileg, das die Blutgerichtsbarkeit mit der To-
desstrafbefugnis umschloss. Ferner verlieh es als
Ausfluss der kaiserlichen Gewalt über die Reichs-
strassen das Zollrecht, das keineswegs nur berech-
tigte, sondern im Gegenzug auch einen Pflichten-
aspekt beinhaltete, nämlich die Strassenbaulast auf
der ökonomisch und politisch wichtigen Alpentran-
sitroute durch das Rheintal. 7 Zu den Brandisischen
Freiheiten kam 1592 aus der Hand Kaiser Ru-
dolfs II. das Marktrechtsprivileg hinzu. Bis 1715
bestätigte der jeweils neu gewählte Kaiser die va-
duzisch-schellenbergischen Reichsprivilegien gegen
Gebühr, wobei im Verhältnis zum Erteilenden des-
sen Überordnung, bezüglich des Begünstigten des-
sen Unterwerfung klargestellt wurde. Erst im 18.
Jahrhundert machte eine abstraktere Staatsvor-
stellung der Dauergeltung von Privilegienrecht die-
10
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
se personifizierten Rituale überflüssig. 8 Dennoch
verloren die betreffenden Hoheitsrechte vor dem
Untergang des Heiligen Römischen Reiches im Jah-
re 1806 niemals ihren abgeleiteten Charakter.
Kaiserresidenz des Heiligen
Römischen Reiches aus
dem 16. Jahrhundert: Die
Prager Burg Rudolfs II.
PROZESSE DER STAATS V E R N E T Z U N G A U F
REICHSEBENE (1495 BIS 1648)
Dass den eineinhalb Jahrhunderten zwischen 1500
und 1650 unter dem Gesichtspunkt der Staatsbil-
dung in Europa eine grundlegende Bedeutung zu-
kam, erfreut sich allgemeiner Anerkennung. Es
fand eine substanzielle Herrschaftsverdichtung
4) Erneut als Reichsstrasse e rwähn t 1480 und 1596; vgl. LUB 1/5,
S. 647-653; F L N B 1/3. S. 473.
5) LUB 1/2, S. 246-250; LUB 1/5, S. 624-628; Kaiser, Peter: Ge-
schichte des Fürs ten thums Liechtenstein. Neu hrsg. von Arthur
Brunhart. Vaduz, 1989, S. 223; Lexikon des Mittelalters, Band 7,
S.645.
6) Pütter, Johann Stephan: Historische Entwicklung der heutigen
Staatsverfassung des Teutschen Reichs. 3. Band. 3. Auflage. Göttin-
gen, 1799, S. 264-269.
7) LUB 1/5, S. 624-628; Ritter, Rupert: Die Brandisischen Freiheiten.
In: JBL 43 (1943), S. 9-42; Seger, Otto: Aus der Zeit des Herrschafts-
überganges von Brandis zu Sulz und Sulz zu Hohenems. In: JBL 60
(1960), S. 21-70, h ie rS . 50 f.
8) Mohnhaupt, Heinz: Das Verhältnis des «Corpus Helveticum» zum
Reich. In: Bircher, Martin et al. (Hrsg.): Schweizerisch-deutsche
Beziehungen im konfessionellen Zeitalter. Wiesbaden, 1984,
S. 57-76, hier S. 66 f.
1 1
statt, die um das Problem der vollständigen Befrie-
dung des jeweiligen Binnenbereichs kreiste. Die äl-
tere Literatur hatte sie für das Heilige Römische
Reich unterschätzt und für Frankreich überschätzt.
Hingegen vertreten wir auf der Grundlage der jün-
geren Literatur und eigener Forschungen die An-
sicht, dass in beiden Fällen eine unter den damali-
gen Bedingungen prinzipiell effiziente Überwöl-
bung stattfand, welche die Eigenexistenz der noch
nicht hinwegdenkbaren Feudalherrschaften wahr-
te und damit vom homogenisierten Massengesell-
schaftsstaat des 19. Jahrhunderts wesensverschie-
den blieb. Im Reich liefen diese Prozesse in den
1470er Jahren an und gingen 1495 mit dem Ewi-
gen Landfrieden in ihre engere Kernphase über,
welche bis zu den Augsburger Verfassungsgesetzen
des Jahres 1555 anhielt. Den Abschluss brachte
der Westfälische Friede von 1648. Der sich in die-
sem Zeitraum verdichtende Staat kann als Frie-
dens-, Justiz- und Steuerstaat charakterisiert wer-
den, bedingt auch als Gesetzgebungsstaat und Pro-
toverfassungsstaat, nicht hingegen als National-
staat oder absolutistischer Staat.
IM IMPERIALEN FRIEDENSSTAAT
Um 1500 schickte sich eine noch junge agrarische
Zivilisation zu ihrem ersten substanziellen Versuch
an, der Idee des inneren Friedens gegenüber dem
hergebrachten Fehderecht der unterregnalen Ge-
walten Geltung zu verschaffen. Aussereuropäische
Agrarimperien wie China oder das Oströmisch-Os-
manische Reich waren deutlich vorausgegangen.
Die mitteleuropäische Problemlösung lautete Frie-
den durch Recht. Die imperiale Herrschaftsebene
nahm die Kompetenz zur einschränkenden Neude-
fmition legaler Gewaltanwendung in Anspruch und
machte davon im Sinne des Ausschlusses der ein-
geordneten Mächte vom Fehderecht Gebrauch,
wofür im Gegenzug zur Konfliktaustragung eine
funktionsfähige Justizverfassung mit einer mehr-
stufigen Gerichtshierarchie aufgebaut wurde. 9
Ein nicht hinwegdenkbarer Kontext lag in der
Zunahme äusserer Bedrohungsängste. Das Heilige
Römische Reich befand sich in der aussenpoliti-
schen Situation, Angriffswellen des sich seit 1463
in die südöstliche Christianitas hinein erobernden
ostmediterranen Grossreichs der Osmanen abweh-
ren zu müssen, das sich nicht nur anfänglich mi-
litärisch markant überlegen darbot, sondern zu-
gleich wegen seiner islamischen Religion als Mani-
festation des Antichristen galt. Seither eskalierte
der hergebrachte okzidentalisch-orientalische Kon-
flikt in seine engere Kernphase zwischen zwei
ideologisch-heilsgeschichtlich stark polarisierten
Anti-Reichen hinein (1521-1739). Man sollte aus
Liechtensteiner Sicht nicht etwa denken, die unga-
rische Osmanenfront sei ja weit entfernt gewesen.
Zahlreiche Angehörige der Vaduzer Herrscherhäu-
ser dienten dort als Offiziere in der kaiserlichen Ar-
mee. Eine zweite strukturelle Kriegszone spielte
sich an der Westgrenze des Reiches gegenüber
Frankreich ein (1494-1714). Äussere Bedrohungen
wirkten auf zweierlei Art nach innen befriedend:
Einmal hatten sie den Effekt einer zunehmenden
Solidarisierung der jeweiligen Adelsgesellschaft
samt einer Umkanalisierung des Gewaltpotentials
aus dem Binnenraum an die Ränder, und zum An-
deren war der Kaiser bald dermassen aufgerüstet,
dass es den eingeordneten Mächten immer weni-
ger Erfolg versprechend erscheinen musste, der ei-
genen Zentralebene die Fehde anzusagen.
Im Heiligen Römischen Reich - jedenfalls in zwei
Dritteln desselben - schuf das in den Verfassungs-
gesetzen der Jahre 1495 bis 1555 verankerte «Ver-
fassungssystem des Ewigen Landfriedens» eine
funktionsfähige Friedens- und Justizordnung. Es
wurde auf einer herrschaftsvertraglichen Grundla-
ge zwischen dem Kaiser und der sich formierenden
allgemeinen Versammlung der bislang fehdebe-
rechtigten Fürsten, dem Reichstag, entwickelt, die
sich auf Grundnormen wie den «Ewigen Landfrie-
den» (1495 1 0, 1521, 1555), die «Handhabung Frie-
dens und Rechtens» (1495), die Reichskammerge-
richtsordnung (1495, 1555), die Wahlkapitulation
von 1519, die Reichskreisordnung (1521), die
Reichsmatrikel (1521) und die Reichsexekutions-
ordnung (1555) verständigten. Bereits das Norm-
setzungverfahren illustriert, dass die Friedensver-
12
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
fassung des Imperiums nicht nur auf kaiserlicher
Hegemonie basierte, wie sie in den grossen Kaiser-
gestalten Maximilian I. und Karl V. sowie im mar-
kanten Ausbau der kaiserlichen Hausmacht zwi-
schen 1477 und 1526 durchaus angelegt war, son-
dern auch auf der Einsicht der Fürsten und Grafen,
dass ihr hergebrachtes Eigenkriegsrecht zu einem
Sicherheitsdilemma führe und gesamthaft destruk-
tiv sei. Das «Verfassungssystems des Ewigen Land-
friedens» basierte auf zehn interdependenten Grund-
säulen:
1. Die erste Säule ist im Gewaltmonopol der zen-
tralen Herrschaftsebene im Sinne eines exklusiven
Definitionsmonopols legaler Gewaltanwendung zu
sehen. Zur «Handhabung Friedens und Rechtens»
wurde die Zentralebene im Sinne eines institutio-
nalisierten Bipolarismus 1 1, bestehend aus dem Kai-
ser und der Ständeversammlung des Reichstages,
reorganisiert.
2. Die zweite Säule lag in der umfassenden Frie-
denspflicht. Statuiert wurde 1495 ein absolutes
Verbot der eigenmächtigen Kriegführung aller in
das Reich eingeordneten Mächte. Anders als im
Mainzer Reichslandfrieden von 1235 gab es kein
subsidiäres Fehderecht mehr. Die Fürsten, Grafen
und Herren, darunter Vaduz-Schellenberg, durften
ihre bewaffneten Kräfte nur noch zur Notwehr, Not-
hilfe und Strafverfolgung einsetzen.
Mit der Beschränkung des reichsinternen Feh-
derechts ging einher, dass das im Mittelalter relativ
frei gewesene Bündnisrecht der in das Imperium
eingeordneten Regional- und Lokalmächte zwar
nicht aufgehoben, aber doch im Sinne eines strik-
ten und sanktionsbewehrten Freundlichkeitsgebots
gegenüber der Zentralebene einhegt wurde, wie es
der Westfälische Friede von 1648 explizit betonte.12
Etwa wurde 1705 das Land des Kurfürsten Max
Emanuel von Bayern angesichts der reichsverfas-
sungswidrigen Zusammenarbeit mit dem aller-
christlichsten König Frankreichs für mehr als ein
Jahrzehnt unter kaiserliche Administration ge-
stellt.
3. Die Kehrseite war die strikte Kriminalisierung
des Friedensbruchs. Die Fehdeführung galt nicht
mehr als ehrenvoller ritterlicher Kampf zur Fin-
dung der richtigen unter konkurrierenden Rechts-
auffassungen, sondern wurde zur Schwerstkrimi-
nalität umgewertet. Landfriedensbruch und Reichs-
rebellion wurden mit härtesten Strafandrohungen
bewehrt.
4. Zur gewaltfreien Lösung von Konflikten war
der Aufbau einer mehrstufigen Gerichtsverfassung
über den Herrschaften und Städten mit obersten
Reichsgerichten an der Spitze erforderlich. Über je-
dem regierenden Herrn, sei er landsässig oder
reichsunmittelbar, wie auch über jeder Stadt stand
seither ein handlungsfähiger höherer Richter, der
auch die Herrschaftspraxis auf Missbräuche hin
untersuchen konnte. 1 3 Vaduz-Schellenberg unter-
stand seither unmittelbar den beiden parallel zu-
ständigen obersten Reichsgerichten, dem Reichs-
hofrat an der Kaiserresidenz in Wien bzw. Prag so-
wie dem Reichshofrat in Speyer bzw. Wetzlar.
5. Der Justizstaat, der über jeden eingeordneten
Fürsten einen höheren Richter stellte, war nur so
gut, als seine Urteile auch exekutierbar waren. Im
Rahmen der Reichsexekutionsordnung wurden
zehn grossregionale Reichskreise eingerichtet, die
teils kaiserlich hegemoniert (Österreich und Bur-
gund), meist aber genossenschaftlich-reichsstän-
disch zusammengesetzt waren. Um Missbrauchs-
gefahren zu bannen, fungierte als Exekutor über-
wiegend nicht der Kaiser, sondern die jeweilige re-
gionale Gemeinschaft der Reichsstände. Vaduz-
Schellenberg wurde in den Schwäbischen Reichs-
kreis einbezogen. Zwischen 1504 und 1793 lassen
sich insgesamt 51 Reichsexekutionen, z.T. verbun-
den mit dem kaiserlichen Ausnahmezustandsin-
9) So z.B.: Fels, Jacob: Erster Beytrag zu der deutschen Reichstags-
Geschichte, Lindau 1 767, Vorrede § 1 f.
10) Abgedruckt bei: Buschmann, Arno: Kaiser und Reich, 1, Band,
2. Auflage. Baden-Baden 1994. S. 158 ff.
11) «Institutionalisierter Dualismus» bei: Moraw, Peter: Deutschland,
Spätmittelalter. In: Lexikon des Mittelalters. Band 3, Sp. 835-862,
860, 862.
12) Pütter (1799), Band 2, S. 83 f.
13) Pütter (1799). Band 2, S. 168 und S. 183. Ebenso Band 3.
S. 234 ff.
13
strument der Reichsacht, gegen Reichsfürsten und
Reichsgrafen zählen. Betroffen war binnen dreier
Jahrhunderte fast die gesamte reichsfürstliche Elite
von den Kurfürstentümern Pfalz (1504/05, 1618-
1623, 1728, 1771), Sachsen (1546-1547), Köln
(1583-1585, 1704-1705), Bayern (1704-1705) und
Brandenburg (1713, 1756-1763) über die Herzog-
tümerwürt temberg (1519, 1546-1547, 1634-1635),
Braunschweig-Celle (1519-1523), Sachsen-Weimar
(1567), Mantua (1708) und Mecklenburg-Schwe-
rin (1728) bis zur Landgrafschaft Hessen-Kassel
(1546-1547, 1623-1627, 1635-1637, 1716-1718,
1787) oder der Markgrafschaft Brandenburg-Kulm-
bach (1554).14 Reichsexekutionen kamen zunächst
vor allem in Landfriedenbruchs-, Rebellions- und
Hochverratsfällen zur Anwendung. Nach 1648 tra-
ten diese Fallgruppen zurück, und es begannen Ty-
rannenprozesse wegen Missbrauchs der herrschaft-
lichen Gewalt zu überwiegen. Militärisch siegreich
ist seit dem 16. Jahrhundert kein Reichsrebell mehr
gewesen.
6. Auf dem Wege der dynastischen Verklamme-
rung von Landesfürstentümern (regionale Herr-
schaftsebene) wurde die territoriale Machtbasis
des Kaiserhauses auf eine Grössenordnung ausge-
baut, die über die Summe der Kurfürstentümer
hinausging und von keiner fürstlichen Gewalt mehr
ernsthaft konkurrenziert werden konnte. Im Um-
feld von Vaduz-Schellenberg erwarben die Habs-
burger ein Herrschaftskonglomerat, das von Bre-
genz über Gutenberg bis nach Rhäzüns reichte.
7. Die siebte Säule lag in der Kreation einer ar-
beitsfähigen Finanzverfassung, um das materielle
Substrat zur Durchführung der neuen Gemein-
schaftsaufgaben verfügbar zu machen. Vaduz-
Schellenberg wurde mit ansteigenden Reichs- und
Reichskreissteuern belastet.
8. Die achte Säule war die Integration der Herr-
schaftsinhaber in ein abgestuftes System von über-
lokalen Ständetagen und Gerichten. Entscheidend
war die Institutionalisierung der Partizipation an
den sich überordnenden Herrschaftsebenen.
9. Die neunte Säule war das vertikal-machtba-
lancierende Subsidiaritätsprinzip. Es ermöglichte
die Zentralisierung grundlegender Aufgaben auf
überlokalen Herrschaftsebenen und garantierte zu-
gleich die Autonomie der lokalen Herrschaften und
Städte in allen internen Angelegenheiten. Als spezi-
fisch reichsstaatsrechtlicher Begriff für die Autono-
miesphären der reichsunmittelbaren nicht-souver-
änen Herrschaftsträger bildete sich die Landesho-
heit heraus. Dahinter verbarg sich weniger ein
neues Rechtsmstitut als vielmehr ein Sammelbe-
griff für die hergebrachten originären lokalen und
angefügten delegationsstaatlichen Hoheitsrechte in
ihrem nunmehr durch den überwölbenden Frie-
densstaat redimensionierten Gehalt.
10. Das zehnte Kernelement ist in der nicht auf
den Kaiser bezogenen, sondern systembezogenen
inneren Souveränität zu sehen.
Vaduz-Schellenberg wurde 1499 in seine letzte
grosse Fehde hineingezogen. Diese unterstrich,
dass das zeitweilig verfolgte Friedenskonzept der
regionalen Selbstorganisation in Landfriedensbün-
den ein hohes Eskalationsrisiko in sich barg, dass
aus nichtigen Anlässen heraus grosse Einungen ge-
geneinander zu Felde zogen. In der schweren Kon-
frontation zwischen dem Schwäbischen Bund und
der oberalemannischen Eidgenossenschaft von
1499 löste ein banaler Grenzkonflikt um Gerichts-
und Umweltnutzungsrechte zwischen der Grafschaft
Tirol und dem Fürstbistum Chur zweiseitige Ketten-
reaktionen aus, die nach einem enormen Kriegsauf-
wand und schwersten Verwüstungen zu nichts wei-
ter führten, als den Ausgangsstreit einem bischöfli-
chen Schiedsgericht zu überantworten. 1 5 In den drei
Jahrhunderten nach 1500 gehörte Liechtenstein ei-
ner ausgesprochen friedlichen Reichsregion an, die
vom Verfassungssystem des Ewigen Landfriedens
vollauf profitierte.
Im Heiligen Römischen Reich war seit dem
Augsburger Reichsland- und Religionsfrieden von
1555, jedenfalls aber seit der Reichsexekution von
1567 wider den friedbrüchigen Herzog Johann
Friedrich II. von Sachsen-Weimar, tatsächlich «die
innere Ruhe ... gegen landfriedensbrüchige Unter-
nehmungen befestigt». 1 6 Die europaweite Welle be-
waffneter Fürsten- und Adelsrebelhonen der 1620er
bis 1640er Jahre wider die sich verdichtende Reg-
14
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
numsstaatlichkeit traf freilich auch das Heilige Rö-
mische Reich. Vaduz-Schellenberg gehörte im Ver-
fassungskrieg der Jahre 1618 bis 1635 bzw. 1648
nicht der bewaffneten protestantischen Fürstenop-
position an, sondern der katholischen Kaiserpartei.
Das Reichsgrundgesetz von 1648 bestätigte in sei-
ner Grundstruktur das Verfassungssystem des Ewi-
gen Landfriedens.
L I E C H T E N S T E I N IN D E N P R O T O -
P A R L A M E N T A R I S C H E N VERFASSUNGS-
INSTITUTIONEN DES REICHS
Das Heilige Römische Reich gehörte neben Aragon
(Cortes), England (Parliament) und Polen (Sejm) in
den Kreis der europäischen Grossherrschaftsver-
bände, die am stärksten proto-parlamentarische
ständestaatliche Herrschaftsstrukturen herausbil-
deten. Die Wurzel lag in der Reorganisation der Zen-
tralebene zur «Handhabung Friedens und Rech-
tens». In der herrschaftsvertraglichen Struktur des
Verfassungssystems des Ewigen Landfriedens war
eine bipolare horizontale Gewaltenbalancierung
zwischen dem Kaiser und der jährlich einzuberu-
fenden allgemeinen Versammlung der befriedeten
Stände, dem Reichstag, angelegt, wobei beide Pole
durch ein wechselseitiges Vetorecht aneinander ge-
bunden waren. Mit dem Reichstag entstand ab
1470, beschleunigt seit 1495, eine hochaktive Ver-
fassungsinstitution für die Reichsgesetzgebung und
-Steuerbewilligung sowie die Entscheidung über
Reichskriege. Zunächst fanden jährliche Ständever-
sammlungen an wechselnden Orten statt, z. B. 1497
im liechtensteinnahen Lindau, was 1663 zum «im-
merwährenden» Reichstag in der Reichsstadt Re-
gensburg fortentwickelt wurde.
Im Kontrast zum mittelalterlichen Vorläufer, dass
das reisende Reichsoberhaupt Hoftage mit den je-
weiligen Grossen einer aufgesuchten Region ab-
hielt, also aus der Sicht der meisten Regionen mei-
stens abwesend war, lag das Verdichtungspotential
darin, dass der weiten Fläche die Chance eröffnet
wurde, an der Zentralgewalt dauerhaft und gleich-
förmig teilzuhaben. Im Gegenzug sollte sie die steu-
erlichen Lasten der Gesamtheit mittragen. Damit
wurde das aus dem Mittelalter überkommene Inte-
grationsgefälle von der Hausmacht des Kaisers bis
hin zu den kaiserfernen Landschaften ein gutes
Stück aufgehoben.
Der Reichstag folgte freilich nicht dem moder-
nen egalitären bundesstaatlichen Prinzip «Glied-
staat gleich Gliedstaat», sondern betonte die Diffe-
renz zwischen Kurfürsten, Reichsfürsten, Reichs-
grafen und Städten mit einem stark unterschiedli-
chen Stimmgewicht. In den Reichsfürstenrat, die
mitgliederstärkste Kurie, waren die Reichsgrafen
und Reichsprälaten nur zurückgesetzt in Gestalt
von sechs grossregionalen Gemeinschaftsstimmen
integriert. Die Grafschaft Vaduz gehörte unter den
Sulzern und Hohenemsern der schwäbischen Gra-
fenkurie an.
Erst dadurch, dass Kaiser Karl VI. Vaduz und
Schellenberg am 23. Januar 1719 zum Reichsfür-
stentum Liechtenstein erhob, stiegen dessen Für-
sten ab 1723 zu Vollmitgliedern des Reichsfürsten-
rates im 57. unter 63 Rängen der weltlichen Bank
auf.1 7 Das bedeutete eine Ver-25-fachung des
Stimmwertes 1 8 und eine erhebliche reichspolitische
Aufwertung. Hinter der Standeserhöhung stand die
Intention des Kaisers, die ihm ergebene katholi-
sche Mehrheit im Reichstag auszubauen, wozu der
ehemalige Erzieher des Kaisers, Anton Florian von
Liechtenstein, ein sicherlich geeigneter Kandidat
war. Insofern war das Fürstentum Liechtenstein
14) Überblick mit weiteren Nachweisen bei: Marquardt (2005),
S. 133.
15) Grundsätzl iche Kriegsziele sind nicht nachzuweisen; Marquardt.
Bernd: Staatswerdungs- und Peripherisierungsprozesse im Südwes-
ten des Römisch-Deutschen Reiches (1495-1806). In: Morerod, Jean-
Daniel et al. (Hrsg.): La Suisse occidentale et L Empire. Lausanne,
2004, S. 57-103, hier S. 66 ff.
16) Pütter (1799), Band 3, S. 8.
17) Press, Volker: Die Entstehung des Fürs t en tums Liechtenstein.
In: Müller, Wolfgang (Hrsg.): Das Fürs ten tum Liechtenstein. Bühl,
1981, S. 63-91. h ie rS . 87.
18) Die Ver-25-fachung ergibt sich, wenn man die Angaben von
Oestreich, Gerhard: Verfassungsgeschichte. 6. Auflage. München,
1986, S. 153 zum schwäbischen Grafenkolleg zugrunde legt.
15
Reichstagssitzung ein Produkt kaiserlicher Reichspolitik. Diese traf
von 1640 sich mit dem reichspolitischen Interesse der Va-
duz-Schellenberg erwerbenden Dynastie Liechten-
stein. Dieses Geschlecht herrschte im Osten der
kaiserlichen Erblande von seiner Residenz Felds-
berg 1 9 aus über einen der grössten reichsmittelbar-
landtagsberechtigten Fürstenstaaten, der in seinen
territorialen Ausmassen und der summierten nie-
dergerichtlichen Rechtsstellung einem Herzogtum
Württemberg in Nichts nachstand.
19) Landsässig im Erzherzogtum Österreich unter der Enns. Seit
1919/45 tschechisiert Valtice.
16
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Die fürstlich-liechten-
steinische Residenz in
Feldsberg
Die landsässigen Herr-
schaften der Fürsten von
Liechtenstein um die Resi-
denz Feldsberg standen
territorial nicht hinter den
reichsunmittelbaren Herr-
schaften der Herzöge von
Württemberg zurück
17
Das Haus Liechtenstein hatte seit 1608 auch den
Reichsfürstenrang inne, doch stand ihm bislang
keine mit Württemberg vergleichbare Teilhabe an
der hohen Reichspolitik offen. Zur Reichstagsfähig-
keit fehlten reichsunmittelbare Herrschaften. Die
kaiserliche Reichspolitik, eine erbländische Dynas-
tie über den Erwerb reichsunmittelbarer Herr-
schaften in den Reichsfürstenrat zu lotsen, war
kein Einzelfall: Das selbe hatte Kaiser Leopold I.
1686 im Falle der Dietrichsteiner aus der südmähri-
schen Herrschaft Nikolsburg mittels der Herrschaft
Tarasp im Engadin getan.2 0 Weitere Beispiele wa-
ren die Auersperg aus Krain über Thengen, die
Schwarzenberg über den Klettgau, die Lobkowitzer
über Sternstein, die Ligne über Fagnolles oder die
Kaunitz über Rietberg. «1719» war also mitnichten
eine Vorstufe zu «1806» und zur Souveränität, 2 1
sondern stand zu seiner eigenen Zeit in einem ge-
genteiligen Kontext des Ausbaus der kaiserlichen
Stellung in Schwaben. Für Vaduz-Schellenberg lag
der Preis im Verlust der Residenzfunktion: Es wur-
de ganz zum abgelegenen Nebenland des von
Feldsberg aus regierten Fürstentums.
DAS REICH ALS S T E U E R S T A A T
Seit dem frühen 16. Jahrhundert war das Heilige
Römische Reich zum Steuerstaat verdichtet, der die
Fähigkeit besass, Mittel seiner Glieder, auch der
Grafschaft Vaduz, zur Wahrnehmung von Reichs-
aufgaben zu zentralisieren. Das Reichsrecht gab
künftig Steuerziele vor, überliess aber die Umset-
zung dezentral den Reichsständen. Grundlage der
Steuerverfassung waren die Reichsmatrikel von
1507 und 1521, in denen die Steuerproportionen der
Reichsglieder zueinander festlegt wurden, sodass
der Reichstag künftig nur noch über den Vervielfa-
chungsfaktor zu entscheiden hatte. Für Vaduz ent-
sprach der einfache jährliche Satz, das Simplum,
dem Gegenwert von einem Reiter und sechs Fuss-
soldaten.2 2 Den grössten Anteil nahmen Kriegs-
steuern ein. Das Zeitalter der militärischen Dauer-
konflikte zwischen dem westchristlichen Heiligen
Römischen Reich und dem islamischen Osmani-
schen Reich bedeutete für die Reichssteuern ein ra-
santes Wachstum. Zwischen 1519 und 1555 wurde
eine Steuerlast von 73,5 Grundbeträgen beschlos-
sen, woraus zwischen 1556 und 1609 die immense
Summe von 409 Steuergrundbeträgen wurde. 2 3
Gegen ordnungsgemäss vom Reichstag beschlos-
sene Reichssteuern gab es zwar kein Vetorecht der
einzelnen Reichsstände, genauso wenig von deren
Landständen oder Gemeinden 2 4, wohl aber justiziel-
le Möglichkeiten, die Subsistenzbasis vor den ober-
sten Reichsgerichten zu behaupten. Diese galt als
unantastbar, da das agrarische Produktionsvolu-
men von nicht variablen lokalen Umweltbedingun-
gen limitiert wurde. Den Gemeinden war die Mög-
lichkeit eingeräumt, sich wider ihren das Steuer-
begehren geltend machenden Herrn an den Reichs-
hofrat zu wenden, sodass eine entsandte kaiserliche
Kommission einen nach den örtlichen Gegeben-
heiten tragfähigen Steuerkompromiss aushandeln
konnte.2 5
Ein steuerverfassungsrechtliches Problem der
Grafschaft Vaduz war darin angelegt, dass der dy-
namischen Regelung der Reichsmatrikel eine starre
interne Norm gegenüberstand. Herrschaftsvertrag-
lich waren Graf Kaspar und die beiden Gerichtsge-
meinden 1614 dahin übereingekommen, dass die
Reichssteuern nicht über einen fixen Betrag von
1276 Gulden, den «Schnitz», umgelegt werden durf-
ten (Vaduz 860, Schellenberg 416 Gulden). 2 6 Für die
eventuellen Differenzbeträge hatte der dem Reich
gegenüber steuerverantwortliche Graf externe Dar-
lehen aufzunehmen, wofür die Gerichtsgemeinden
dann die Bürgschaften übernahmen. 2 7 Mit der zu-
nehmend aufgehenden Schere war der Weg in den
lokalen Staatsbankrott vorgezeichnet.
DER I M P E R I A L E G E S E T Z G E B U N G S S T A A T
Mit den 1495 anlaufenden Verdichtungsprozessen
nahm die Gesetzgebung auf Reichsebene einen
spürbaren Aufschwung. 2 8 Nicht nur wurde das
herrschaftsvertragliche Verfassungsrecht umfas-
send verschriftlicht, sondern es erging auch eine
Reihe sachgebietsbezogener Gesetze: Im Straf- und
18
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Prozessrecht die «Constitutio Criminalis Carolina»
(im folgenden abgekürzt: Carolina) von 1532, im
gemeinwohlorientierten Öffentlichen Recht die
Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577,
im Bereich der Währungsordnung die Reichsmünz-
ordnung von 1559, oder in der Sphäre des Wirt-
schaftsrechts die Kommerzienordnung von 1705.
Als Reichsgesetz galt auch der rezipierte justiniani-
sche «Corpus Juris Civilis» in jener Interpretation,
die ihm die Schule von Bologna und die obersten
Reichsgerichte gegeben hatten. Zudem ergingen
zahllose teils recht spezifische Einzelnormen in
Reichsabschieden und Reichsschlüssen. 2 9 Dennoch
wäre es falsch, den imperialen Normen die Gel-
tungskraft moderner Gesetze zu unterstellen. Wo
bereits jede Vorstellung einer auch nur einigermas-
sen durchstrukturierten Kompetenzverteilungsord-
nung inexistent war, standen sie in einem komple-
xen Bewährungsrahmen, in dem sich sowohl die
kaiserliche Autorität als auch das Prinzip vom Vor-
rang des Sonderrechts der kleinsten Einheit durch-
20} Pütter (1799), Band 2, S. 250 ff. sowie S. 328.
21) Missverständlich bei Beattie, David: Liechtenstein, Geschichte
und Gegenwart. Triesen, 2005, S. 19.
22) Roichsmatrikel 1521 für Brandis bei: Schmauss, Johann Jacob;
Senckenberg, Heinrich Christian (Hrsg.): Neue und vollständige
Sammlung der Reichs-Abschiede, 2. Band. Neudruck der Ausgabe
1747. Osnabrück, 1967, S. 219. Zur Umrechnung: Corterier, Peter:
Der Reichstag. Bonn, 1972, S. 44.
23) Holenstein, Andre: Bauern zwischen Bauernkrieg und 30-
jähr igem Krieg. München, 1996, S. 38 und S. 43; Schwennicke,
Andreas: Ohne Steuer kein Staat (1500-1800). Frankfurt, 1996,
S. 102.
24) Reichsabschiede 1555, § 82. Dazu etwa: Reinhard, Wolfgang:
Geschichte der Staatsgewalt. 2. Auflage. München, 2000, S. 330 f.
25) Marquardt (1999), S. 290; Schulze, Winfried: Bäuerl icher
Widerstand und feudale Herrschaft. Stuttgart, 1980, S. 95 ff.
26) Dazu auch: Kaiser (1989), S. 398 und S. 405 f.; Ospelt, Josef: Das
Legerbuch oder Steuerbuch von 1584, In: JBL 30 (1930), S. 5-43.
27) Für Vaduz: Press (1981), S. 72. Allgemein: Schwennicke (1996),
S. 66 ff. und S. 71 ff.
28) Mohnhaupt, Heinz: Gesetzgebung des Reichs und Recht des
Reichs vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Dölemeyer, Barbara; Kippel,
Diethelm (Hrsg.): Gesetz und Gesetzgebung im Europa der F rühen
Neuzeit. Berlin, 1998, S. 83-108.
29) Vgl. etwa Schmauss/Senckenberg (1747).
C H R I S T O A V S P I C E .
P L V S V L T R A .
k r gctroUf IteS fünfftaif t>nt> t&&cfl(fg«n 3W<
Orbnung,
Titel der Carolina von
1532 mit dem Reichswap-
pen, dem von der Kaiser-
krone überragten doppel-
köpfigen Reichsadler
19
setzen konnte. Nimmt man das von den Reichsab-
schieden seit 1498 propagierte erbrechtliche Ein-
trittsrecht der Enkelkinder an die Stelle ihrer vor-
verstorbenen Eltern als Beispiel, so wurde es in Va-
duz durch die Erbordnung von 1531 übernommen,
was nicht ausserhalb der Dynamik im Vorarlberger
und Ostschweizer Raum lag. 3 0
Betrachtet man die das Strafrecht modernisie-
rende Carolina von 1532, so stellten die prozessua-
len Mindeststandards zwingendes Recht dar,
während den Herrschaften ansonsten mittels einer
Subsidiaritätsklausel ein Anpassungsspielraum büeb.
In der Grafschaft Vaduz wurden die Gerichtsperso-
nen auf die Carolina vereidigt. Zudem nahmen lo-
kale Malefizgerichtsordnungen, am ausführlichsten
1682, das Austarieren mit dem Gewohnheitsrecht
vor. Etwa enthielt der Landsbrauch von 1667 viele
Straftatbestände analog zur Carolina, doch wurde
die Rechtsfolgenseite variiert. Für die Vergewalti-
gung wurde entgegen Artikel 119 der Carolina, der
den Tod des Täters durch das Richtschwert vorsah,
die Ertränkung angeordnet. Und für den Ehebruch,
wo Artikel 120 der Carolina die noch nicht überall
gegebene rechtliche Gleichstellung von Mann und
Frau gefordert hatte, wurde in Vaduz ein Modell
vierstufiger Strafverschärfung kreiert, das für die
Erstbegehung zwei Wochen Haft im Turm «mit
wasser und brod» vorsah, im Falle der Wiederho-
lung «ein monath lang», beim dritten Mal «neben
der geldstraf des landts verwis(ung)» und wenn
eine «persohn... an dem laster des ehebruchs zum
4t mahl ergriffen (wurde), die soll(te) von leben
zum todt gericht werden». 3 1 In der Gerichtspraxis
fanden das auf die Todesstrafe ausgerichtete Stra-
fensystem sowie die restriktiv zugelassene Folter
fast nur in Vaganten- und Flexenprozessen Anwen-
dung, ansonsten wurden die Gnadenregelung oder
das niedergerichtliche Verfahren bevorzugt.3 2
Die lokale Internalisierung des Reichsrechts lässt
sich auch anhand der Reichspolizeiordnungen von
1530 bis 1577 nachzeichnen. Sie prägten eine Fül-
le gleichförmiger lokaler Polizeiordnungen, so auch
die vaduzischen Landsbräuche des 17. Jahrhun-
derts und die Polizeiordnung von 1732. Unter an-
derem erging im Sozialrecht ein reichsrechtliches
Gebot an die Gemeinden, die einheimischen Armen
zu unterhalten, welches auch in Liechtenstein um-
gesetzt wurde.
V E R F A S S U N G S R E C H T S S C H U T Z
DER G E M E I N D E N VOR DER O B E R S T E N
G E R I C H T S B A R K E I T
Zu den verfassungsgeschichtlich spannendsten As-
pekten der frühneuzeitlichen Reichsverfassung ge-
hörte der Verfassungsrechtsschutz der ländlichen
Gemeinden vor den obersten Reichsgerichten. Über
jedem regierenden Fürsten und Grafen stand ein
höherer Richter, der das Despotismusverbot der
Reichsverfassung auf Übertretungen hin untersu-
chen konnte. Aus dem Bereich dieser Tyrannen-
prozesse gegen Fürsten und Grafen wegen «Miss-
brauchs der herrschaftlichen Gewalt» gibt die liech-
tensteinische Geschichte eines der prominentesten
Beispiele ab.
Geschützt waren alle originären wie wohlerwor-
benen Rechte, aber auch die strafprozessualen Ju-
stiz«grundrechte» der Carolina von 1532. Dazu
gehörte der Schutz vor willkürlicher Gefangennah-
me, die Gewährleistung eines ordnungsgemässen
Prozesses, der Anspruch auf Mitteilung der Ankla-
gegrundlage und die Gelegenheit zu einer ange-
messenen Verteidigung, ferner die Unparteilichkeit
der Gerichtspersonen, das Verbot von Reinigungs-
beweisen sowie die Beschränkung der Folter auf
die restriktiv im Reichsgesetz vorgesehenen Fälle. 3 3
DER TYRANNENPROZESS GEGEN DEN
REICHSGRAFEN FERDINAND K A R L FRANZ
VON HOHENEMS-VADUZ 1683 BIS 1684
In das Visier der obersten Reichsgerichtsbarkeit ge-
riet der Reichsgraf Ferdinand Karl Franz von Ho-
henems-Vaduz (1675 bis 1683 [1686]). Ihm wurden
reichsrechtswidrig durchgeführte Strafprozesse, aber
auch Reichssteuersäumigkeit in Verbindung mit lo-
kalem Staatsbankrott sowie überhaupt eine unwür-
dige Herrschaftspraxis vorgeworfen.
20
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Die von der Reichsjustiz kritisierten lokalen Straf-
prozesse gehörten dem Typus des Hexenprozesses
an. 1678 war eine grosse Prozesswelle angelaufen,
in deren Verlauf Verfahren gegen 122 Angehörige
eingesessener Familien eröffnet worden waren. To-
desurteile wurden 1678 an neun, 1679 an zwanzig
und 1680 an fünfundzwanzig Personen vollstreckt.
Diese Verfahren sind unter dem Gesichtspunkt des
Flexereidelikts bereits erschöpfend von Otto Seger3 4
und Manfred Tschaikner 3 5 behandelt worden, so-
dass dieser Aspekt hier zurückstehen kann, doch
besteht unter verfassungsgeschichtlichen Gesichts-
punkten durchaus Klärungsbedarf. 3 6 Ausschlagge-
bend war, dass in Vaduz nicht das in der Carolina
von 1532 vorgesehene Strafverfahren durchgeführt
wurde, sondern Sondergerichte der als real emp-
fundenen Bedrohung durch die massenhafte Bege-
hung des gefährlichsten Delikts der Zeit Rechnung
zu tragen versuchten. Gemäss der Lehre des «cri-
men exceptum» wurden massive Übertretungen
der strafprozessualen Mindeststandards des Reichs-
rechts für unbedenklich gehalten.
Wie in vielen Verfahren der obersten Reichsge-
richtsbarkeit gegen lokale Regenten wegen «Miss-
brauchs der Herrschergewalt», lässt sich auch im
Vaduzer Fall eine Kumulation mehrerer Problem-
kontexte feststellen. Neben den reichsrechtswidri-
gen Strafprozessen spielte auch die aus dem Wech-
selspiel von Reichssteuerwachstum und starrer in-
terner Schnitzregelung resultierende Reichssteuer-
säumigkeit eine Rolle. Graf Ferdinand Karl Franz
besass keine Chance mehr, die angesichts der sich
verfestigenden Zweifrontenkriegssituation des Hei-
ligen Römischen Reiches gegen das Osmanische
Reich und Frankreich ansteigende Reichssteuerlast
regulär aufzubringen. Verschuldung und Steuer-
verzug waren die Folgen. Als der Schwäbische
Reichskreis ab 1673 sogar ein stehendes Teil-Heer
der Reichsarmee zu unterhalten begann, das in Va-
duz so wie anderenorts auch überwintert werden
musste, begann die Reichsgrafschaft vollends in
den lokalen Staatsbankrott abzudriften. Der Graf
sah sich gezwungen zu bestreiten, dass der Herr-
schaftsvertrag von 1614 voUumfänglich die Reichs-
kriegssteuern beinhalte.3 7 Der damit entbrennende
herrschaftlich-kommunale Reichssteuerkonflikt soll-
te nachträglich in das Reichshofratsverfahren um
die reichsrechtswidrigen Strafprozesse eingebracht
und schlussendlich zur dominierenden Auseinan-
dersetzung werden.
Zwar galt das materielle Strafrecht gemäss der
Reichskammergerichtsordnung von 1555 als inap-
pellabel, 3 8 doch konnten lokale Strafprozesse über
die Verfahrensart der Nullitätsklage vor ein höhe-
res Gericht gezogen werden, um Verstösse gegen
das reichsrechtlich garantierte Verfahrensrecht zu
überprüfen. Diesbezüglich ist die herrschende Leh-
re von der Subsidiarität der Peinlichen Gerichts-
ordnung Kaiser Karls V. von 15 3 2 3 9 missverständ-
lich. Treffender ist es, in ihr ein Oberlimit zu sehen,
30) Bunneister, Karl Heinz: Die Einführung dos erbrechtlichen
Repräsenta t ionsrechts in Vorarlberg. In: Valentinitsch. Hclfned
(Hrsg.): Recht und Geschichte. Festschrift Hermann Baltl. Graz,
1988. S. 85-104.
31) Abgedruckt bei: Schamberger-Rogl, Karin: «Landts Brauch, oder
Erbrecht» in der «Vaduzischen Grafschaft üblichen». Ein Dokument
aus dem Jahr 1667 als Grundlage für landschaftliche Rechtsspre-
chung. In: JBL 101 (2002), S. 1-128, hier S. 114 f
32) Marquardt. Bernd: Das Strafrechtin den ländlichen Herrschaf-
ten des Heiligen Römischen Reiches. In: Marquardt, Bernd; Niedor-
stätter, Alois (Hrsg.): Festschrift Karl Heinz Burmeister. Konstanz.
2002 (a), S. 113-172.
33) Baltl, Hermann: «... oder binnen 24 Stunden freizulassen». In:
Schott. Clausietcr; Petrig, Eva (Hrsg.): Festschrift Claudio Soliva.
Zürich, 1994, S. 9-20, hier S. 3 ff.; Diestelkamp, Bernhard: Rechts-
falle aus dem Alten Reich. München, 1995, S. 28, sowie S. I I I f f ,
S. 117 ff. und S. 126 ff.
34) Insbesondere Seger. Otto: Der letzte Akt im Drama der Hexen-
prozessc in der Grafschaft Vaduz. In: JBL 57 (1957), S. 135-228.
35) Tschaiknor, Manfred: «Der Teufel und die Hexen müssen aus
dem Land ...». Frühneuzeit l iche Hexenverfolgungen in Liechtenstein.
In: J B L 96 (1998), S. 1-197.
36) Der Autor hat erste Ergebnisse bereits 2002 auf dem Forum
junger Rechtshistoriker in Osnabrück präsent ier t . Zudem hegt unter
Einbeziehung von l lohcncms vor: Marquardt, Bernd: Über jedem
Fürsten und Grafen ein höhere r Richter. Frühneuzei t l iche Reichsexe-
kutionen am Alpenrhein. In: Montfort 2002. Nr. 3, S. 216-235.
37) Kaiser (1989), S. 442 IT.
38) Reichskammergerichtsordnung von 1555, Tl . 2, Tit.28, § 5.
39) So über die «salvatorische Klausel»: Mitteis. Heinrich; Lieberich,
Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. 19. Aullage. München, 1992,
S. 330.
21
bis zu dem zu gehen die lokalen Gerichte legiti-
miert wurden, das aber keinesfalls überschritten
werden durfte (Art. 104 der Carolina).
Unter den Zugehörigen der Herrschaften Vaduz
und Schellenberg gab es nicht nur Hexer und ver-
folgungsgewillte Denunzianten, sondern auch ei-
nen mutigen Pfarrer und fünf justizgeschädigte Zu-
gehörige, die am 17. Dezember 1680 einen Reichs-
hofratsprozess4 0 gegen den Grafen von Hohenems-
Vaduz in Gang setzten. Anstelle einer direkten
Herrschaftsklage wurde der Umweg über eine Sup-
plikation an einen angesehenen Reichsfürsten der
Nachbarschaft, Herzog Karl Leopold von Lothrin-
gen, den Gubernator von Tirol und Verwalter der
an Vaduz grenzenden kaiserlichen Herrschaften,
gewählt. Dessen Hofgericht war für die schwäbi-
sche Reichsgrafschaft zwar unzuständig, doch war
er mit den Vaduzer Geschehnissen vertraut. So
liess er ein Gutachten im Sinne der sich Beschwe-
renden erstellen, mit dem er am 8. Februar 1681
beim Wiener Reichshofrat beantragte, ein Fortset-
zungsverbot zu erlassen und, wie es sich in Prozes-
sen von politischer Dimension bewährt hatte,41
eine kaiserliche Kommission zu entsenden.42
Am 12. Mai 1681 ordnete der Reichshofrat im
Namen Kaiser Leopolds I. (1658-1705) das einst-
weilige Fortsetzungsverbot an. 4 3 Zudem ernannte
er Abt Rupert von Kempten (1678-1728), einen
gleichermassen in der Region verankerten wie kai-
sernahen geistlichen Reichsfürsten, zum Leiter ei-
ner das Reichsoberhaupt vor Ort vertretenden Un-
tersuchungskommission. Ruperts an den Univer-
sitäten Strassburg, Salzburg und Padua erworbene
juristische Qualifikation lässt sich dadurch illustrie-
ren, dass er in späteren Jahren mit der Visitation
des 1690 nach Wetzlar verlagerten Reichskammer-
gerichts sowie mit der Stelle des höchsten deut-
schen Richters, des Reichshofratspräsidenten (1707-
1713), betraut wurde. 4 4 Der kaiserliche Kommissar
erhielt den Auftrag, die Vaduzer Prozessakten zu
beschlagnahmen und zur Begutachtung an eine Ju-
ristenfakultät zu überstellen. Die Wahl fiel auf die
Universität Salzburg im Bayerischen Reichskreis.
Deren 600-seitiges Gutachten vom 15. Oktober
1682 erklärte alle 122 Prozesse wegen schwerwie-
gender Verfahrensmängel für nichtig. Gerügt wur-
den die Verfahrenseinleitung und Gefangennahme
ohne ausreichende Gründe, die fehlende Bekannt-
gabe der Grundlage der Anklage, die Anwendung
der Folter ohne Einhaltung der erforderlichen Min-
destindizien, unzulässige sadistische Folterarten,
Suggestiv- und Fangfragen, die peinliche Befra-
gung ohne Anwesenheit der Gerichtspersonen, die
Verwertung der Folterprotokolle ohne nachherige
«freiwillige» Bestätigung, die teilweise fragwürdige
Identität von Zeugen und Gerichtsbeisitzern, die
Parteilichkeit der fanatischen Richter, undurchsich-
tige Vermögenskonfiskationen wie allgemein die
Schlampigkeit der Akten. 4 5
Beim Reichshofrat zog sich das Verfahren ange-
sichts der Belagerung Wiens durch die osmanische
Armee (1683) noch zwei Jahre hin. Eine weitere
Delegation der Gemeinden erhob am 10. Januar
1684 ergänzende Klage gegen ihren Grafen im Dis-
put um die Reichssteuern. Insbesondere wurde
dargelegt, dass bei den Hexenprozessen im grossen
Stile Bauerngüter und sonstige Vermögenswerte be-
schlagnahmt und den Gerichtsgemeinden übertra-
gen worden waren, um ausgelegte Reichssteuern
abzubezahlen. Gerügt wurden weiterhin Zwangs-
rekrutierungen von Herrschaftszugehörigen für den
40) Die Dokumente des Reichshofrats-Verfahrens befinden sich im
Österreichischen Staatsarchiv in Wien. Abteilung Haus-, Hof- u.
Staatsarchiv (HHStA), Reichshofrats-Judicialia, Serie Denegata
antiqua 96.
41) Polster, Gert: Die elektronische Erfassung des Wolfschen Rcper-
toriums zu den Prozessakten des Roichshofrats im Wiener Haus-,
Hof- u. Staatsarchiv; Beitrag für: Mitteilungen des Österr. Staatsar-
chivs 50 (2002), S. 1-11, hier S. 5. Zu den Kommissionen: Ortlieb,
Eva: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des
Rcichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich
(1637-57). Köln. 2001, S. 41 ff. und S. 346 ff.
42) Seger (1957). S.152 und S. 155.
43) Auszugsweise abgedruckt bei: Seger (1957). S. 156.
44) Zur Person: Seger. Otto: Rupert von Bodman, Fürs tab t von
Kempten. In J B L 78 (1978), S. 183-201.
45) Das Gutachton hegt vor im Österreichischen Staatsarchiv in
Wien, HHStA, Reichshofrats-Judicialia, Denegata antiqua 96 und im
Salzburger Landesarchiv (Kopie im Landesarchiv Vaduz). Zusam-
mengoiäss t bei: Seger (1957), S. 162 f. und Tschaikner (1998), S. 90.
22
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Darstellung der obersten
Gerichtsbarkeit am Bei-
spiel des Reichskammer-
gerichts im Jahre 1735
2\\
Reichskrieg gegen die Osmanen als Ersatz für un-
aufbringbare Kriegssteuern, aber auch eine lange
Liste weiterer Verfehlungen, etwa der Bruch der
Lokalverfassung bei der Bestellung der dem Gericht
Vorsitzenden Landammänner. Schliesslich entschied
der Reichshofrat am 22. Juni 1684 auf Nichtigkeit
aller 122 Strafprozesse. Die konfiszierten Güter
waren den Überlebenden oder den Erben der Hin-
gerichteten herauszugeben, die Vaduzer Gerichts-
personen und die herrschaftlichen Beamten als
Totschläger zu inhaftieren. Und vor allem: 68 Men-
schen starben nicht auf dem Scheiterhaufen. We-
gen der übrigen Klagepunkte bestätigte der Reichs-
hofrat am 11. Februar 1686 eine bereits 1684 ge-
fallene Entscheidung der kaiserlichen Kommission,
wonach die zwangsweise in den Türkenkrieg ver-
schickten Vaduzer zurückgeführt werden sollten. 4 6
Bereits 1683 hatte der kaiserliche Kommissar
Rupert von Kempten den Reichsgrafen Ferdinand
Karl Franz von Hohenems-Vaduz aufgrund eines
kaiserlichen Haftbefehls auf das nahe kaiserliche
Schloss Neuburg verbringen lassen. Die Untersu-
chungskommission war damit zu einer Exekutions-
kommission erweitert worden. Auffällig ist, dass
die nach der Reichsexekutionsordnung eigentlich
zuständigen ausschreibenden Fürsten des Schwä-
bischen Reichskreises, der Fürstbischof von Kon-
stanz und der Herzog von Württemberg, übergan-
gen wurden, doch entsprach das der vom Reichs-
hofrat vertretenen Rechtsauffassung, der römische
Kaiser sei frei, wen er mit einer Reichsexekution
beauftrage.47
Gegenüber dem Grafen entschied der Reichs-
hofrat nun am 22. Juni 1684 auf Entziehung der Ge-
richtsbarkeit und damit der Herrschaftsgewa.lt.48 Er
wurde zudem «von römisch-kaiserlicher Macht»
vorgeladen, binnen zwei Monaten vor dem Reichs-
hofrat zu erscheinen und sich dort seinem eigenen
«endlichen Rechtstag» zu stehen.49 Dazu kam es
aber nicht mehr. Am 24. Mai 1686 meldete Rupert
von Kempten den Tod des 36-jährigen Grafen in der
Gefangenschaft nach Wien. Die Umstände seines
jungen Ablebens sind alles andere als klar. 5 0
Die Reichsexekution gegen Ferdinand Karl
Franz von Hohenems-Vaduz war im Unterschied
zu den Reichsexekutionen der ersten Phase der
«Handhabung Friedens und Rechtens» (1495-
1618) ohne spektakuläre Kampfhandlungen fast
schon im Stil einer gewöhnlichen Verhaftung abge-
laufen. Der Graf hatte sich mitnichten auf seiner
Burg Vaduz verschanzt. Wer hier anderes erwartet,
überschätzt, welchen faktischen Handlungsspiel-
raum ein Reichsgraf in den 1680er Jahren noch
hatte. Seine grundsätzlich milizverpflichteten Zu-
gehörigen hätten sich genau so wenig zu Verteidi-
gungszwecken wider die Reichsjustiz aufbieten las-
sen, zumal sie hier die Kläger waren, wie auch eine
bewaffnete Unterstützung von benachbarten Herr-
schaften nicht mehr zu gewinnen war.
Dass ein regierender Graf oder Fürst persönlich
in Haft genommen wurde, war kein Einzelfall. Graf
Johann von Rietberg (1557) und Herzog Johann
Friedrich von Sachsen-Gotha (1567) lassen sich
ebenso aufführen wie die Reichsgrafen von Leini-
gen-Güntersblum, Rheingrafenstein und Wolfegg-
Waldsee, die der Reichshofrat unter Kaiser Jo-
seph IL (1765-1790) in Tyrannenprozessen inhaf-
tieren liess. 5 1 Mancher Andere entging der Reichs-
justiz nur durch Flucht ins französische oder polni-
sche Exil, so etwa Herzog Karl Leopold von Meck-
lenburg-Schwerin (1728).
Dennoch bleibt die Frage bestehen, warum aus-
gerechnet Nichtigkeitsurteile zu lokalen Strafpro-
zessen die Ultima Ratio des Reichsstaatsrechts
nach sich zogen. Gegen Graf Ferdinand Karl Franz
von Hohenems-Vaduz sprach neben den massiven
Verstössen wider die vom Reich garantierten Ju-
stiz«grundrechte» vor allem der Umstand, dass er
die Hexenprozesse als willkommene Gelegenheit
benutzt hatte, um sich durch in der Carolina so
nicht vorgesehene Vermögenskonfiskationen bei
den Hinterbliebenen in den Besitz von Mitteln zu
versetzen, die dem Abbau der auf der Grafschaft
lastenden Schulden, nicht zuletzt noch ausstehen-
der Reichssteuern, dienen sollten, was sich infolge
des Wiener Nichtigkeitsurteils gleich einem organi-
sierten Raubzug darbot. Zudem hatte die Vaduzer
Gerichtsgemeinde den römischen Kaiserhof wegen
einer Reihe weiterer Verfassungs- und Rechts-
brüche des Grafen um Schirm angerufen, und auch
24
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
seine beiden jüngeren Brüder, darunter der noch
vorzustellende Jakob Hannibal III., hatten Klage
erhoben.5 2 Sie untermauerten das Gesamtbild ei-
nes Despoten,5 3 der seinen Herrscherpflichten in
keiner Weise gerecht wurde.
Als grundlegend müssen Veränderungsmomente
in der Verfassungspolitik der Zentralebene des Rei-
ches begriffen werden. Allgemein liess sich seit
1648 die Tendenz beobachten, dass die oberste
Reichsgerichtsbarkeit dazu überging, gegen ihre
Regierungspflichten nicht ernst nehmende Regio-
nal- und Lokalherrscher vorzugehen, worin im Ge-
gensatz zur These der älteren Forschung von ei-
nem angeblichen Reichszerfall nach 1648 ein be-
deutender Verstaatlichungsschub zu erkennen ist.
Im Schwäbischen Reichskreis war bereits 1655 der
gefürstete Graf Eitel Friedrich von Flohenzollern-
Hechingen wegen üblem Regiment der Regierung
enthoben worden. 5 4 Unsere These deckt sich mit
der Beobachtung einer deutlichen Zunahme der In-
anspruchnahme des Reichshofrates seit 1648, die
dann unter den bedeutenden Kaisergestalten Karl
VI. (1711-1740) und Joseph II. (1765-1790) ihren
Höhepunkt erreichte.5 5 Als Rahmenbedingung ist
auch nicht hinweg zu denken, dass die Absetzung
des Grafen von Vaduz zu einem Moment erfolgte,
als das Heilige Römische Reich mit seinen Siegen
gegen die bislang bedeutendste Militärmacht Eura-
siens, das Osmarüsche Reich, dem Zenit seines An-
sehens entgegen eilte, was den Durchsetzungs-
chancen der Staatsgewalt im Inneren nachhaltigen
Auftrieb verleihen musste. Jedenfalls wurde die spät-
mittelalterliche Quasi-Souveränität, die die Reichs-
stände bereits mit der reichsdurchdringenden Ver-
fassungsformierung der Jahre 1495 bis 1555 ein-
gebüsst hatten, seit Kaiser Leopold I. (1658-1705)
auch faktisch in die Schranken gewiesen, so dass
kaum mehr als eine begrenzte Autonomie im Rah-
men der reichsverfassungsrechtlich garantierten
Ordnung übrig blieb. Oder in den Worten des
Reichsstaatsrechtlers Johann S. Pütter (1725-1807):
«Alles zusammengenommen, was der Teutschen
Verfassung eigen ist, wie sie der Westphälische
Friede nunmehr erst recht auf festen Fuss gesetzt
hat, zeigt sich ein Hauptvortheil derselben darin,
daß ... ein jeder Landesherr Mittel und Wege genug
hat, in seinem Lande Gutes zu thun, und wenn er
hingegen Böses thun möchte ... alle und jede Un-
terthanen noch bey einem höheren Richter Hülfe
suchen können». 5 6
DIE ENTMACHTUNG DES REICHSGRAFEN
JAKOB HANNIBAL III. VON VADUZ (1693)
Nachdem der abgesetzte Reichsgraf Ferdinand
Karl Franz in der Haft kinderlos verstorben war,
wurde die kaiserliche Administration beendet. Der
bislang in habsburgischen Kriegsdiensten stehende
jüngere Bruder Jakob Hannibal III. trat die Nach-
folge an. Doch bereits ein Jahr nach der Regie-
rungsübernahme wurden die Vaduzer Zugehörigen
abermals beim Wiener Reichsgericht vorstellig, da
die Rückerstattung der bei den nichtigen Flexen-
prozessen konfiszierten Höfe, Landnutzungsrechte
oder Nutztiere sowie die Begleichung der Tot-
schlagssühnen eingestellt worden war. Das war so-
zialpsychologisch sensibel und eskalierte in die
nächste Herrschaftskrise. Einen am 9. April 1688
ausgehandelten Vergleich hielt Jakob Flannibal III.
46) Kaiser (1989), S. 444 ff. und S. 453 ff.: Ospelt. Josef: Zur Liech-
tensteinischen Verfassungsgeschichte. In: JBL 37 (1937), S. 1-49.
hier S. 16.
47) Zu diesem Problem: Weber. Raimund J.: Reichspolitik und
reichsgcrichtliche Exekution. Wetzlar. 2000. S. 14.
48) Kaiser (1989), S. 450; Seger. Otto: Aus der Zeit der Hexenverfol-
gungen. In: JBL 59 (1959), S. 331-349, hier S. 347; Welti. Ludwig:
Geschichte der Reichsgrafschaft Hohenems und des Reichshofs
Lustenau. Innsbruck, 1930, S. 151.
49) Abgedruckt bei: Seger (1959). S. 348.
50) Ebenda. S. 349.
51) Pütter (1799). Band 3, S. 235 ff.
52) Seger (1978). S. 193.
53) Entsprechend: Kaiser (1989), S. 443 sowie Press (1981), S. 67.
54) Eingehend bei: Ortlieb (2001), S. 185-192.
55) Knapp 60 Prozent aller Reichshofrats-Prozesse kamen ins
18. Jahrhundert zu liegen; vgl. Polsterer (2002), S. 5.
56) Pütter (1799). Band 2. S. 183 f.
25
nicht ein. Er konnte es auch gar nicht, da die pro-
blematische Reichssteuerregelung von 1614 erneut
bestätigt worden war, während zugleich die Ge-
richtsgemeinden in der Notlage waren, die Bürg-
schaften, die sie für die über den Schnitz hinausge-
henden Reichssteuern eingegangen waren, ra-
schestmöglich abzubauen. 1691 erhoben die Vadu-
zer Zugehörigen Klage in Wien. 5 7
Der Reichshofrat ordnete 1693 eine neuerliche
kaiserliche Administration für Vaduz und Schellen-
berg an. 5 8 Von der hauptsächlichen Tätigkeit her
liesse sich von einer Debitkommission sprechen, 5 9
doch bleibt zu beachten, dass, anders als bei Schul-
denkommissionen üblich, 6 0 die Verwaltung voll-
ständig übernommen wurde. Letztlich wurde die
übermässige lokale Staatsverschuldung bis zum
Staatsbankrott als Unterfall des Missbrauchs der
Herrschergewalt behandelt, was sowohl dahinge-
hend, dass hier die Zugehörigen die wichtigsten
Gläubiger waren, als auch im Blick darauf, dass
eine Überschuldung überhaupt eine schwerwie-
gende Verletzung der Lokalverfassung, insbesonde-
re der herrschaftlichen Grundpflicht zu fürsorgli-
chem Schutz und Schirm, darstellte, erklärbar ist.
Im Jahre 1695 entschieden die obersten Reichs-
richter auf Aufhebung der starren Reichssteuerreg-
lung von 1614, die sich so destruktiv ausgewirkt
hatte. Künftig sollten die Reichssteuern von den
Gerichtsgemeinden vollumfänglich zu erbringen
sein. 6 1 Zudem beauftragte der Reichshofrat am 7.
Juni 1696 die Administrations- und Konkurskom-
mission damit, die Herrenfunktion der kleineren
der beiden Herrschaften, Schellenberg, an den
meistbietenden Herrschaftsfähigen zu verkaufen.
Für den Abbau der angesammelten Blut- und Steu-
erschulden schien kein anderer Weg mehr gang-
bar. Hingegen wurde die kaiserliche Administrati-
on in der Grafschaft Vaduz mit der Residenz noch
16 Jahre fortgesetzt, bis der inzwischen zum
Reichshofratspräsidenten aufgestiegene Kommis-
sar Rupert von Kempten 1712 auch sie mangels
Sanierungsalternative für 290 000 Gulden verkau-
fen liess. Im Ergebnis waren somit aufgrund von
Missbräuchen der lokalen Herrschaftsgewalt und
der Unfähigkeit, tragfähige Lösungen für die Be-
schaffung der Reichssteuern zu finden, nicht nur
zwei regierende Reichsgrafen abgesetzt worden,
sondern es war auch jenes Resultat eingetreten,
das zu vermeiden sich die kaiserliche Kommission
intensiv bemüht hatte: Eine Dynastie hatte zwei ih-
rer angestammten Herrschaften gänzlich und irre-
versibel eingebüsst.
Der vom Reichshofrat veranlasste dynastische
Wechsel liess Schellenberg und Vaduz an jenes
Haus gelangen, das dem Land den bis heute gülti-
gen Namen gegeben hat. Mit den kaisernahen
Liechtensteinern hatte die kaiserliche Kommission
die geeignetsten Käufer aufgespürt, die aus den
oben dargelegten Gründen bereit waren, sowohl
den für den Abbau der Hohenemser Schulden er-
forderlichen Überpreis zu zahlen, als auch den Ho-
henemsern eine ertragsreichere (!) landsässige Er-
satz-Herrschaft, Bistrau in Mähren, zu überlas-
sen. 6 -
DER KONFLIKT UM DIE GEMEINDERECHTE
(1718 BIS 1733)
Eine abermalige Bedeutung erlangte der Reichs-
hofrat für das Land am Alpenrhein ab 1718. Dabei
ging es insbesondere, wenn auch nicht nur, um ei-
nen letztlich gescheiterten Versuch des Fürsten, die
Gemeinderechte zu beschneiden. Zunächst einmal
schien der Fürst den Reichshofrat für seine Interes-
sen nutzen zu können, als 1718/20 eine reichs-
hofrätliche Anordnung gegen die Gemeinden er-
ging, widerrechtlich genutzte Herrschaftsgüter
zurückzugeben. 1722 wurde dann auf Anrufen der
Geistlichkeit eine Reichshofratskommission tätig
wegen Beschneidung geistücher Rechte. Wichtig
ist, dass die Gerichtsgemeinden sich an diese Kom-
mission wandten, um die Beschneidung unentzieh-
barer und in der Huldigung von 1712 auch aktiv
reproduzierter Rechte seitens der Herrschaft gel-
tend zu machen. Die Kommission erklärte sich
zwar wegen ihres anders lautenden Auftrages für
unzuständig, und weitere Prozessschritte sind nach
derzeitigem Kenntnisstand nicht ersichtlich. Den-
noch kam es 1733 zu einem weitgehenden Nachge-
26
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Kaiserliche Repräsentation
im Jahre 1760 unter Liech-
tensteiner Beteiligung:
Öffentlicher Einzug der
vom Reichsfürsten Joseph
Wenzel von Liechtenstein
über die Alpen geleiteten
Prinzessin Isabella von
Parma als Braut des künf-
tigen römischen Kaisers
Joseph II. (1765-90)
ben des Fürsten. Dieses ist nur vor dem Hinter-
grund der ständigen Rechtsprechung des Reichs-
hofrates zum Despotismusverbot verständlich. Der
Fall der Liechtensteiner Gemeinderechte belegt
kein Aufstreben des Absolutismus, sondern viel-
mehr das Scheitern diesbezüglicher Ansätze. Erst
nach der Aufhebung der Reichsverfassung 1806
konnte der Fürst kraft Souveränität nach Belieben
über die Gemeinderechte verfügen.
K A I S E R N A H E F Ü R S T E N IM REICHSDIENST
Beziehungen zur Zentralebene des Reiches wurden
vor allem durch die Grafen bzw. Fürsten vermittelt.
Insofern sind die Dienste lokaler Regenten am Kai-
serhof und den übrigen Reichsinstitutionen ein
wichtiges Indiz für die relative Reichsnähe oder
-ferne. Nachdem von den Vaduzer Dynastien be-
reits die Sulzer als Erbhofrichter des kaiserlichen
Landgerichts Rottweil dauerhaft Reichsfunktionen
wahrgenommen hatten und auch die Hohenemser
sich als kaiserliche Heerführer einen Namen ge-
macht hatten, wurde unter den ab 1699 bzw. 1712
das Land am Alpenrhein regierenden Liechtenstei-
nern die engste Sphäre der Kaisernähe erreicht.
Fürst Johann Adam Andreas (1657/1684-1712)
war seit 1703 Präsident der kaiserlichen Girobank.
Sein Nachfolger Fürst Anton Florian von Liechten-
stein (1656/1712-1721) diente als kaiserlicher
Kämmerer, Rat und Diplomat, war als solcher un-
ter anderem beim Co-Pol der europäischen Doppel-
spitze, dem Papst in Rom, akkreditiert. Anschlies-
send war er mit der Erziehung des kaiserlichen
57) Kaiser (1989), S.456 ff. und S. 461; Press (1981), S.72 ff.
58) Akten: HHStA, Reichshofrats-Judicialia, Denegata recensiora
263-268.
59) Press (1981), S. 70.
60) Herrmann, Susanne: Die Durchführung von Schuldenverfahren
im Rahmen kaiserlicher Debitkommissionen im 18. Jahrhundert.
In: Sellort, Wolfgang (Hrsg.): Reichshofrat und Reichskammergericht.
Köln, 1999, S. 111-127; Westphal, Siegrid: Kaiserliche Rechtspre-
chung und herrschaftliche Stabilisierung 1648-1806. Köln. 2002,
S.268.
61) Kaiser (1989), S. 467; Schädler, Albert: Die geschichtliche
Entwicklung Liechtensteins. In: JBL 19 (1919), S. 5-72, hier S. 13.
62) Kaiser (1989), S. 468 ff; Seger (1978), S.193 ff.
27
Prinzen und nachmaligen Kaisers Karl VI. beauf-
tragt. An der Kaiserkrönung seines Zöglings in
Frankfurt wirkte er 1711 massgeblich mit. Seit
1706 verfügten die Liechtensteiner auch über ei-
nen repräsentativen Stadtsitz in der Kaiserresidenz
des Heiligen Römischen Reiches. Fürst Josef Wen-
zel Lorenz (1696/1748-1772) diente als kaiserli-
cher Offizier, Feldherr und Botschafter. 1760 über-
führte er in einer berühmt gewordenen Fahrt mit
94 sechsspännigen Prachtkarossen die Braut des
Kronprinzen des Heiligen Römischen Reiches von
Parma über die Alpen nach Wien. Der 1805
nachrückende Fürst Johann Josef I. versuchte an
diese Tradition anzuknüpfen, doch fiel ihm die
eher tragische Rolle zu, als General die kaiserli-
chen Armeen in den Todeskampf des Heiligen Rö-
mischen Reiches zu führen . 6 3
R E I C H S U N T E R G A N G UND S O U V E R Ä N I T Ä T
(1806 BIS 1866)
Liechtenstein gehört zu jenen Staaten, die die Sou-
veränität nicht erkämpft oder sonstwie aktiv her-
beigeführt haben, sondern sie ganz unter dem Ein-
fluss externer Umstände empfangen haben. Es gab
auch keine schleichende Anbahnung vor 1806.
Vielmehr handelte es sich um eine Konsequenz der
Zerstörung des Reichsverbandes. Dieser ist nicht
langsam zerfaUen, sondern einer eruptiven Gewalt-
spirale zum Opfer gefallen, die in den gesamtkultu-
rellen Systembruch «um 1800» eingebettet war.
Militärisch vernichtet wurde das Heilige Römische
Reich seit 1791 schrittweise vom Staat der aufge-
klärten Revolution in Frankreich, der in der ideel-
len Primärmonarchie Alt-Europas seine intimste
Antithese erblickte. Entscheidend war, dass Frank-
reich unter dem Eindruck seiner Siege einen Kreis
von armierten Reichsständen als reichsinterne Op-
position zum Kaiser aufzubauen vermochte, die
ausgehend vom reichsverfassungsdurchbrechen-
den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 bis
zur Niederlegung der Reichskrone im Jahre 1806
grosse Teile des Reichsgebietes in ahistorischen
Grenzen unter sich aufteilte. Dem Kaiser blieb nur
ein Restkaisertum unter dem Namen der Dynastie
Österreich.
Dass das kaisertreue Liechtenstein in diesen Ge-
schehnissen nicht auf dem Wege der Mediatisie-
rung der regionalen Staatsgewalt eines der neuen
Putschkönigtümer unterstellt wurde, wie es allen
vergleichbar kleinen Herrschaftsgebilden des Schwä-
bischen Reichskreises erging, sondern dass die
Elfdörferherrschaft sogar in die Föderation der 16
Putschmächte, den Rheinbund von 1806, aufge-
nommen wurde, und zwar ohne Mitwirkung an der
Gründungsakte, war der Schlüssel zu seiner Sou-
veränität. Über die Hintergründe dieser Laune Na-
poleons ist viel spekuliert worden. Ob es sich um
eine Respektsgeste an den General der unterlege-
nen Truppen handelte oder um einen Versuch, die-
sen begabten General in das eigene Lager herüber-
zuziehen, ist alles andere als zweifelsfrei geklärt.
Auch ist möglich, dass die reichspolitische Stellung
des Hauses Liechtenstein und die pure Grösse sei-
ner reichsmittelbaren Flerrschaften um Feldsberg
eine Unübergehbarkeit implizierten, während geo-
politische Hintergedanken Napoleons am Alpen-
rhein wohl auszuschliessen sind. 6 4
Die Souveränität Liechtensteins blieb ausgespro-
chen beschränkter Natur: Zunächst durch den
Rheinbund und das Protektorat des napoleoni-
schen Frankreich; und nach 1815 durch seinen
gliedstaatlichen Charakter im Rahmen einer an die
Stelle des Heiligen Römischen Reiches tretenden
Föderation unter österreichischem Präsidium, dem
Deutschen Bund. Moderne Analysen der Bundes-
verfassung von 1815 lassen hier nicht mehr bloss
einen Staatenbund, sondern angesichts der bun-
desinternen Friedenspflicht (kein «ius ad bellum»),
der Bundesexekutivmacht, der Homogenitätsvor-
gaben und der Unauflöslichkeit eher einen Zwi-
schentyp zwischen Staatenbund und Bundesstaat,65
vielleicht unter Aufgreifen einer jüngeren Begriff-
lichkeit einen Staatenverbund, erkennen. Ausge-
hend von der im modernen deutschen Staatsrecht
nicht sehr geschätzten Lehre von der vertikalen
Teilbarkeit der Souveränität, wie sie Föderalismus-
modellen des amerikanischen Doppelkontinents
oder auch Artikel 3 der schweizerischen Bundes-
28
LIECHTENSTEIN IM VERBANDE DES HEILIGEN
RÖMISCHEN REICHES / BERND MARQUARDT
Verfassung keineswegs fremd ist, wird man auch
beim Deutschen Bund gemäss der Bundesverfas-
sung von 1815 von einer geteilten Souveränität
auszugehen haben. In der Bundesversammlung
kam Liechtenstein gemeinsam mit acht anderen
Kleinstaaten eine Gemeinschaftsstimme zu.
Auf der Kippe stand Liechtensteins (Semi-)Sou-
veränität, als sich der Deutsche Bund im Kontext
der liberalen Revolution von 1848 über die auch
von liechtensteinischen Abgeordneten mitberatene
Reichsverfassung der Paulskirche von 1849, eine
der modernsten Verfassungen ihrer Zeit, anschick-
te, sich zu einem Bundesstaat mit stark unitari-
schen Zügen zu verdichten. Dieser Neuordnungs-
versuch blieb bekanntlich aufgrund des Sieges der
Konterrevolution unrealisiert.
Zur Vollsouveränität gelangte Liechtenstein durch
den Untergang des Deutschen Bundes im Jahre
1866: Der im Bundesgefüge den zweiten Rang ein-
nehmende Gliedstaat Preussen rebellierte gegen
die Föderation. Er zog eine von so gut wie allen
übrigen Gliedstaaten getragene Bundesexekution
auf sich - und siegte trotzdem mit den überlegenen
Machtmitteln der einseitig in Preussen stattgefun-
denen Industriellen Revolution. Der deutsche Se-
zessionskrieg von 1866 besiegelte das Schicksal
der Nachfolgeföderation des Heiligen Römischen
Reiches. Preussen gründete fünf Jahre später sein
eigenes grosspreussisch-kleindeutsches Reich, das
nicht nur das bisherige Zentrum Österreich aus-
schloss, sondern auch drei weitere deutsche Fürs-
tenstaaten, darunter Liechtenstein6 6, ungefragt ex-
kludierte. Im Liechtensteiner Falle war abermals
ein kleiner Zufall ausschlaggebend, dass nämlich
mit dem neuen Bundesstaat keine gemeinsame
Grenze mehr vorhanden war. Die Ereignisse der
Jahre 1866 bis 1871 hatten eine Ebenen Verschie-
bung zur Folge, welche Liechtenstein vom Glied-
staat zu einem dem Deutschen Reich völkerrecht-
lich gleich geordneten Staatswesen umwerteten. In-
sofern wurde Liechtenstein auch nicht vom Sturz
aller übrigen deutschen Throne im Jahre 1918 er-
fasst. Streng genommen müsste Liechtenstein im
Jahre 2006 «200 Jahre Halbsouveränität» und
«140 Jahre Vollsouveränität» feiern.
63) Wanger, Harald: Die regierenden Fürsten von Liechtenstein.
Triesen, 1995, S. 65-143.
64) Beattie (2005), S. 25; Mazohl-Waümg (1999), S. 7 ff.; Schmidt,
Georg: Fürs t Johann I. In: Press, Volker; Willoweit, Dieter (Hrsg.):
Liechtenstein. Fürstl iches Haus und staatliche Ordnung. Vaduz
1987. S. 383-418; Vogt, Paul: Brücken zur Vergangenheit. Vaduz.
1990, S. 106.
65) Dazu etwa: Boldt. Hans: Deutsche Verfassungsgeschichte,
2. Band. 2. Auflage. München, 1993, S. 137; Willoweit (2001), S.253.
66) Ausserdem Luxemburg und Limburg.
29
BILDNACHWEIS
S. 9: Walter Wächter,
Schaan
S. 11: Civitates Orbis
Terrarum 1572-1618. In
sechs Teilen. Band III: Teil
5, Blatt 49 (Praga). Faksi-
mile der Ausgabe Köln:
Braun & Hogenberg, 1965
S.16: Christoph Hinckel-
dey (Hrsg.), Justiz in alter
Zeit, Rothenburg 1989,
S. 177
S. 17 oben: Liechtensteini-
sches Landesarchiv, Vaduz
S. 17 unten: Atelier Silvia
Ruppen, Vaduz, nach einer
Vorlage aus: Evelin Ober-
hammer (Hg.), Der ganzen
Welt ein Lob und Spiegel.
München 1995, S. 35.
S. 19 und S. 27: Bernd
Marquardt, Die «Europäi-
sche Union» des vorindu-
striellen Zeitalters: Vom
Universalreich zur Respu-
blica Christiana des Jus
Publicum Europaeum
(800-1800). Zürich 2005,
S. 125 u. S. 216
S. 23: Jost Hausmann,
Fern vom Kaiser: Städte
und Stätten des Reichs-
kammergerichts. Köln
1995, S. 79
ANSCHRIFT DES
A U T O R S
Prof. Dr. Bernd Marquardt
Universidad Nacional de
Colombia, Sede Bogota
Facultad de Derecho,
Ciencias Polfticas y
Sociales
Departamento de Ciencia
Polftica
Ciudad Universitaria
Carrera 30 No. 45-03,
Edificio 210, Oficina 301
Bogota
Colombia, Sur America
30
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
RECHTS-
REZEPTION UND
SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH?
ELISABETH BERGER
Inhalt
35 Der Erwerb der Souveränität als Anstoss
zur Rechtsreform
37 Die Rezeption ausländischen Rechts als
Gesetzgebungsprinzip
37 - Die Rezeption österreichischen Rechts
39 - Die Rezeption schweizerischen Rechts
41 Das Ergebnis: Eine Mischrechtsordnung
Zivilrecht
42 Rechtsrezeption und Souveränität im
Widerspruch?
34
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
DER E R W E R B DER S O U V E R Ä N I T Ä T ALS
ANSTOSS ZUR R E C H T S R E F O R M
Für das Fürstentum Liechtenstein liegt die Geburts-
stunde seiner Souveränität im Jahr 1806. Damals
schlössen sich im Gefolge des Friedensvertrags von
Pressburg vom 26. Dezember 1805 sechzehn süd-
und westdeutsche Länder unter dem Protektorat
des Kaisers der Franzosen zum Rheinbund zusam-
men, wobei für die Aufnahme der kleinen Territori-
en allein die kaiserliche Gunst ausschlaggebend
war.1 Mit dem Ausscheiden der Rheinbundfürsten
aus dem Reichsverband war der Untergang des Hei-
ligen Römischen Reichs endgültig besiegelt und
wurde mit der Niederlegung der Kaiserwürde durch
Franz IL am 6. August 1806 auch rechtlich vollzo-
gen. Zu den - jedenfalls ihrem Selbstverständnis
nach - souveränen Rheinbundstaaten2 zählte auch
das seit 1719 reichsunmittelbare Fürstentum Liech-
tenstein, das dem Schwäbischen Reichskreis an-
gehört hatte. Das Bemerkenswerte an der Rhein-
bundzugehörigkeit des Fürstentums 3 bestand darin,
dass es durch eine persönliche Verfügung Napo-
leons in den Rheinbund aufgenommen worden
war.4 Dass es auf diese Weise zugleich der Mediati-
sierung entging, hatte das zwischen Vorarlberg und
der Eidgenossenschaft am Oberrhein gelegene Länd-
chen zu einem Gutteil der persönlichen Wertschät-
zung zu verdanken, die der französische Kaiser dem
seit 1805 regierenden Fürst Johann I.5 entgegen-
brachte.6 Dieser stand zugleich als General im Dien-
ste der österreichischen Armee und hatte sich in
den napoleonischen Kriegen durch militärisches
Geschick sowie in den anschliessenden Friedens-
verhandlungen durch bemerkenswerte diplomati-
sche Fähigkeiten ausgezeichnet. Seine Funktion als
souveräner Herrscher eines Rheinbundstaates
brachte Fürst Johann wegen seiner Beziehungen
zum Hause Habsburg in eine schwierige Situation,
die er jedoch gleichfalls in diplomatischer Weise zu
lösen verstand: Er bot Napoleon an, die Regierungs-
gewalt auf seinen minderjährigen Sohn Karl zu
übertragen, allerdings unter Beibehaltung der Re-
gentschaft im Wege der Vormundschaft. Diplomatie
und taktisches Talent halfen Fürst Johann dabei, die
Rheinbundzeit erfolgreich zu überstehen und sei-
nen Status als liechtensteinischer «Souverän» gegen
alle Anfechtungen zu verteidigen, was sich vor allem
in LIinblick auf die Annexionsbestrebungen des Kö-
nigreichs Bayern als notwendig erwies.
Nach der Leipziger Völkerschlacht erklärte Fürst
Johann I. im Dezember 1813 gegenüber dem öster-
reichischen Kaiser seinen Austritt aus dem Rhein-
bund. Er versprach, Österreich im Kampf gegen Na-
poleon zu unterstützen und liess sich im Gegenzug
die Souveränität seines Fürstentums zusichern, die
auf dem Wiener Kongress 1814/15 ausdrücklich an-
erkannt und bestätigt wurde. 7 Mit der Ratifikation
der Deutschen Bundesakte am 3. Juli 1815 schloss
sich an die Rheinbundzeit Liechtensteins nach einer
kurzen Unterbrechung die Mitgliedschaft im Deut-
schen Bund an, die ein halbes Jahrhundert dauern
sollte. Der Deutsche Bund als Vereinigung der «sou-
veränen Fürsten und freien Städte Deutschlands»
erkannte den Fürsten von Liechtenstein als vollwer-
tiges Mitglied an, wodurch indirekt die Souveränität
bestätigt wurde. Auch wenn das kleine Land keine
aktive Rolle spielte, waren doch mit der Zugehörig-
keit zu dem Staatenbund ein starker politischer
Rückhalt sowie ein Gegengewicht zu dem Einfluss
gegeben, der von der Präsidialmacht Österreich
ausging. Der Deutsche Bund bot den politischen
1) Erler, Rheinbund. Sp.1008 ff. mit weiteren Nachweisen.
2) Tatsächlich war die äusse re Souveräni tä t der Rheinbundfürs ten
durch die dem französischen Protektor vorbehaltencn Rechte (insb.
hinsichtlich militärischer Befugnisse wie Kriegserklärung und
Friedensschluss) e ingeschränkt und auch die innere Souveränität
stand zu seiner Disposition. V g l : Quaritsch, Souveränität . Sp. 1720 f.
3) Zu Liechtenstein im Rheinbund v g l : Press, Fürs tentum Liechten-
stein, S. 57 f f ; Schmidt, Fürst Johann, S. 387 ff.; Mazohl-Wallnig.
Sonderfall Liechtenstein, S. 7 ff.
4) Die mit 12. Juli 1806 datierte Rheinbundakte t rägt weder die
Unterschrift des Fürsten noch die eines bevollmächtigten Gesandten;
dasselbe gilt für die gemeinsame Erklärung der Rheinbundstaaten
vom 1. August 1806 über ihre Trennung vom Reich.
5] Zur Person Fürst Johanns I. (1760-1836) vgl.: In der Maur,
Feldmarschall Johann. S. 153 ff.; Schmidt, Fürst Johann, S. 386 ff.
6) Weitere mutmassliche Gründe für den Fortbestand des Fürsten-
tums bei Press. Fürs ten tum Liechtenstein. S. 56 f.
7) Schmidt, Fürst Johann, S. 407.
35
Rahmen, in dem sich die weitere Entwicklung des
Landes vollzog und trug auf diese Weise massgeb-
lich zur Stabilisierung der 1806 erlangten Souverä-
nität bei. 8
Das Haus Liechtenstein hatte dem entlegenen
und finanziell völlig unbedeutenden Reichsfürsten-
tum seinen politischen Status im Reich zu verdan-
ken, da es als reichsunmittelbares Territorium die
Voraussetzung für den Erwerb der Reichsfürsten-
würde und der Reichsstandschaft gebildet hatte. Mit
dem Wegfall des Reichsverbandes verringerte sich
die Bedeutung des kleinen Landes für das Haus
Liechtenstein, dessen einflussreiche Stellung am
Wiener Hof auf seinen umfangreichen Besitzungen
im Kaisertum Österreich 9 sowie dem hohen finanzi-
ellen und politischen Geschick seiner Mitglieder be-
ruhte, ganz beträchtlich. Ungeachtet dieses Bedeu-
tungsverlusts leitete Fürst Johann I. in seinem expo-
nierten Fürstentum, das er, wie seine Vorgänger
auch, nie besuchte,10 schon kurz nach seinem Regie-
rungsantritt einen Modernisierungsschub ein, der
einem völligen Umsturz der überkommenen Tradi-
tionen und Rechtsverhältnisse gleichkam. Den
fürstlichen Reformbestrebungen, die auf den durch
die Rheinbundakte gewährten Souveränitätsrech-
ten basierten,1 1 fielen neben dem Landsbrauch und
den überlieferten Rechtsgewohnheiten auch die
Einrichtungen der alten Landesverfassung zum Op-
fer wie die beiden Landschaften, die Landammän-
ner und die Gerichtsgemeinden. Wie seine Rhein-
bundkollegen demonstrierte Fürst Johann I. auf die-
se Weise seine nahezu uneingeschränkte innenpoli-
tische Souveränität, der aufgrund des Wegfalls der
Reichsverfassung keine Reichsinstitutionen mehr
als Korrektiv entgegenstanden, wie es die Reichsge-
richte dargestellt hatten. Die «Staatswerdung»
Liechtensteins wurde den Untertanen somit weni-
ger mit der Aufnahme des Landes in den Rheinbund
zu Bewusstsein gebracht als vielmehr durch die
1808 in Gang gesetzte Verwaltungs- und Rechtsre-
form und zwar in recht drastischer Weise. Das
grossteils unpopuläre und die lokalen Verhältnisse
ignorierende «Modernisierungsdiktat» der fürstli-
chen Regierung nahm den Untertanen ihre bis da-
hin autonomen Rechtsbereiche und Entscheidungs-
befugnisse, was - verschärft durch die drückende
Steuerlast - 1809 einen Aufruhr unter der liechten-
steinischen Bevölkerung verursachte, dem aller-
dings keinerlei Zugeständnisse folgten. 1 2
Angeordnet und überwacht wurde die Durch-
führung der von Fürst Johann I. initiierten Reform-
massnahmen, mithilfe derer die teils archaischen
Zustände in Liechtenstein überwunden werden soll-
ten, von der fürstlichen Hofkanzlei in Wien, die Ver-
wirklichung des fürstlichen Reformwillens vor Ort
oblag dem Landvogt, der als Repräsentant des Für-
sten der lokalen Behörde, dem Oberamt in Vaduz,
vorstand. Der auf Vorschlag der Hofkanzlei vom
Fürsten ernannte und im November 1808 nach
Liechtenstein entsandte Landvogt Joseph Schupp-
ler 1 3 konnte das, was im einzelnen von ihm erwartet
wurde, seiner Dienstinstruktion 1 4 entnehmen. Diese
war darauf ausgerichtet, die Verhältnisse in Liech-
tenstein an jene in den übrigen liechtensteinischen
Herrschaften anzugleichen, die wirtschaftlichen Er-
träge zu steigern und das Steueraufkommen zu er-
höhen. Verfasst hatte sie einer der wichtigsten Mit-
arbeiter der Hofkanzlei, Hofrat Georg Hauer, unter
dem Eindruck der Landesinspektion, die ihn im Juni
1808 nach Liechtenstein geführt hatte. Dieser Be-
such hatte ihm «den uncultivierten Zustand der
Herrschaft, der Landesverfassung und der Ge-
schäfts-Ordnung» deutlich vor Augen geführt und
ihn bewogen, in seinem Lokalisierungsbericht1 5
dem Fürsten eine ganze Reihe von «wohldurch-
dachten Vorschlägen» zu unterbreiten, um die liech-
tensteinischen Verhältnisse effizient und zeitgemäss
zu gestalten.16
Die dem neuen Landvogt in seiner Dienstinstruk-
tion aufgetragenen Massnahmen fielen in den Zeit-
raum der napoleonischen Reformen in Deutsch-
land, die in vielen Rheinbundstaaten zu einer
grundlegenden Modernisierung von Recht, Verwal-
tung und sozialer Ordnung nach französischem Mu-
ster führten. Liechtenstein kam jedoch unter den
Rheinbundstaaten insofern eine Sonderstellung zu,
als man sich hier vor allem am österreichischen
Vorbild orientierte, was an dem starken Einfluss des
vom aufgeklärten Absolutismus josephinisch-öster-
reichischer Ausprägung beeinflussten Regenten lag.
36
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
Ein Auseinanderdriften der geographisch weit aus-
einanderliegenden Teile des liechtensteinischen Ge-
samtbesitzes, die in so unterschiedliche politische
Strukturen eingebunden waren, wie es das vom
Spätabsolutismus beherrschte Kaisertum Öster-
reich und der unter französischem Einfluss stehen-
de Rheinbund bildeten, war aber nicht zu befürch-
ten. Dafür war der Einfluss des in Wien residieren-
den Fürsten und seiner Regierung viel zu stark und
die Emanzipationskräfte im Fürstentum viel zu
schwach. Der auf den liechtensteinischen Besitzun-
gen in Böhmen und Mähren ausgebildete und im
bürokratisch-autoritären System des Spätabsolutis-
mus geschulte Landvogt Joseph Schuppler bot sei-
nerseits als Teil des Regierungsapparats eine Ga-
rantie für die Unterbindung allfälliger Verselbstän-
digungstendenzen und die Unterwerfung des Für-
stentums unter die absolutistische Herrschaft der
fürstlichen Regierung in Wien. 1 7
DIE R E Z E P T I O N A U S L Ä N D I S C H E N R E C H T S
ALS GESETZGERUNGSPRINZIP
DIE REZEPTION ÖSTERREICHISCHEN RECHTS
Neben einer Vielzahl anderer Verpflichtungen war
dem Ende November 1808 in Vaduz eingetroffenen
Landvogt Schuppler in seiner mit 7. Oktober datier-
ten Dienstinstruktion als eine der ersten Massnah-
men aufgetragen worden, eine ganze Reihe von Ge-
setzen auszuarbeiten, die als «Grundgesetz der
künftigen Landesverfassung» dienen sollten. Da un-
ter Landesverfassung das «rechtliche Verfasstsein
des Landes» schlechthin zu verstehen war, war da-
mit die Erneuerung der Rechtsordnung gemeint,
wie es sich infolge des Wegfalls der Reichsverfas-
sung aufgrund der Rheinbundakte als erforderlich
erwies. Jene Gesetze, deren unverzügliche Ausar-
beitung dem Landvogt vorgeschrieben wurde, soll-
ten das «Fundament» der künftigen Landesverfas-
sung bilden. Dazu zählten neben etlichen anderen
ein bürgerliches Gesetzbuch und ein Strafgesetz-
buch sowie die jeweiligen Verfahrenordnungen.' s
Was das Privatrecht betraf, so wäre die territoria-
le Eingliederung Liechtensteins in den Rheinbund
und damit in den napoleonisch-französischen Ein-
flussbereich eigentlich ein starkes Argument für die
Einführung des Code civil gewesen. Das Fürstentum
wäre damit dem Beispiel anderer Rheinbundstaa-
ten gefolgt, von welchen einige das Gesetzbuch -
teils unter französischem Druck, teils in Hinblick auf
die angestrebte Rechtseinheit in Deutschland - in
Kraft setzten und andere seine Einführung planten
oder zumindest diskutierten. 1 9 In Liechtenstein gab
es jedoch, soweit feststellbar, keine Überlegungen,
dieses «fremde Gesetzbuch» zu übernehmen. Viel-
mehr sollte das den fürstlichen Reformaktivitäten
zugrunde liegende Konzept, die Verhältnisse im Ge-
samtbesitz des Hauses Liechtenstein möglichst ein-
heitlich zu gestalten, auch auf die Erneuerung der
Rechtsordnung Anwendung finden. Das sprach ein-
deutig für die Anpassung der liechtensteinischen
Rechtslage an jene in Österreich und klar gegen die
Übernahme des französischen Zivilgesetzbuchs. Ein
Blick in die Dienstinstruktion des Landvogts macht
8) Press, Fürs ten tum Liechtenstein, S. 62 ff.; Quaderer, Souveränität ,
S. 65 ff.
9) Die Fürston von Liechtenstein waren Besitzer grosser und ertrag-
reicher Herrschaften in Böhmen. Mähren , Schlesien und Österreich
unter der Enns.
10) Erst 1842 stattete Fürs t Alois IL als erster Regent dem Land
einen Besuch ab.
11) Zu diesen von Napoleon selbst benannten droits de souverainete
gehör ten Gesetzgebung, hohe Gerichtsbarkeit, Regierung, Steuern
und militärische Aushebung, vgl. Quaritsch, Souveränität , Sp. 1720.
12) Malin, Geschichte, S. 94 ff.; Schmidt, Fürst Johann, S. 408 ff.
13) Zur Person Joseph Schupplers vgl.: Berger, Zivilrechtsordnung,
S. 17 ff. und S. 30 ff.
14) Abgedruckt in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung,
S. 247 ff.
15) Vogt, Lokalisierungs-Bericht, S. 83 ff.
16) Berger, Zivilrechtsordnung, S. 15 ff. mit weiteren Nachweisen.
17) Press, Fürs ten tum Liechtenstein. S. 59 ff.; Schmidt. Fürst
Johann, S. 397 f.
18) Braunedcr, 175 Jahre ABGB. S. 94 f.; Berger, Zivilrechtsordnung,
S. 20 ff.
19) Klippel. Einfluss des Code civil. S. 26 ff.
37
aber auch deutlich, dass keineswegs an eine Rezep-
tion österreichischen Rechts gedacht war, zumal
dies mit der Rheinbundzugehörigkeit Liechten-
steins nicht vereinbar gewesen wäre . 2 0 Landvogt
Schuppler wurde vielmehr angewiesen, sich über
die geltenden Landesrechte sowie die im Fürsten-
tum herrschenden Gewohnheiten und Gebräuche
zu informieren und sodann der Hofkanzlei «den
Umständen angemessene» eigene Gesetzesvor-
schläge zu erstatten. Gleichsam als Zugeständnis an
die kurze Frist, die ihm für die Erfüllung dieser
Agenden eingeräumt wurde - die Gesetze sollten
schon zum 1. Januar 1809 vorliegen - , und die feh-
lende Erfahrung mit derartigen Aufgaben, sollten
ihm die entsprechenden österreichischen Rechts-
vorschriften als Vorlage dienen. Schuppler hielt sich
daran und legte nahezu zeitgerecht eine Erbfolge-
und Verlassenschaftsabhandlungsordnung21 sowie
eine Konkursordnung und eine Grundbuchsord-
nung vor, die weitestgehend mit den österreichi-
schen Vorbildern übereinstimmten. Während diese
Gesetze zum 1. Januar 1809 in Kraft gesetzt wur-
den, galt dies nicht für den «Entwurf zu einem bür-
gerlichen Gesetzbuche», den Schuppler im Apri l
1809 vorlegte.22 Der Fürst entschied sich stattdes-
sen dafür, das Inkrafttreten des österreichischen
Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) ab-
zuwarten, was seiner Absicht entsprach, im gesam-
ten liechtensteinischen Herrschaftsgebiet Einheit-
lichkeit und Gleichförmigkeit herzustellen. Die mit
Fürstlicher Verordnung vom 18. Februar 1812 an-
geordnete Einführung österreichischer Gesetze -
neben dem ABGB von 1811" die Allgemeine Ge-
richtsordnung von 1781 sowie das Gesetzbuch über
Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von
1803 - stand zwar nach wie vor im Widerspruch mit
der Rheinbundzugehörigkeit Liechtensteins, das
Problem war aber nicht mehr so virulent, da zu die-
ser Zeit das Interesse Napoleons an der Gestaltung
der inneren Verhältnisse der Rheinbundstaaten,
einschliesslich deren Rechtsordnung, bereits deut-
lich abgenommen hatte und das Fürstentum kurze
Zeit später aus dem Rheinbund austrat.
Die Landständische Verfassung vom 9. Novem-
ber 1818, 2 4 mit deren Erlass das zu den Gründungs-
mitgliedern des Deutschen Bundes zählende Für-
stentum Liechtenstein eine Verpflichtung erfüllte,
die ihm die Bundesakte auferlegte, wies sogleich in
Paragraph 1 auf das enge Naheverhältnis zu Öster-
reich hin, das durch die weitestgehend übereinstim-
mende Rechtsordnung im Bereich der «bürgerli-
chen und peinlichen Gesetze und Gerichtsordnung»
geschaffen worden war. Dieses legte es nahe, einer
weiteren Verpflichtung, nämlich der Errichtung ei-
nes dreistufigen Instanzenzuges, durch die Heran-
ziehung eines österreichischen Gerichts als Revisi-
onsinstanz für das souveräne Fürstentum nachzu-
kommen. Ab 1818 gestaltete sich der Instanzenzug
in Zivil- und Strafsachen daher folgendermassen:
Als erste Instanz fungierte das Landgericht in Va-
duz, die zweite Instanz war am liechtensteinischen
Hof in Wien eingerichtet und die dritte Instanz bil-
dete das Appellationsgericht in Innsbruck. Damit
hatte sich das Fürstentum - so Paragraph 1 der
liechtensteinischen Verfassung - «an die diesfällige
österreichische Gesetzgebung auch für die Zukunft
angeschlossen». 2 5 Dem entsprach die automatische
Übernahme österreichischer Rechtsvorschriften,
wie sie zwischen 1819 und 1842 praktiziert wurde,
als sämtliche in Österreich ergangenen Erläuterun-
gen und Nachtragsverordnungen zu den rezipierten
Gesetzen ohne weiteren Rechtsakt auch in Liechten-
stein in Geltung traten. 2 6 Ab 1843 trat an die Stelle
dieser sogenannten «automatischen» Rezeption die
«autonome» Rezeption, im Rahmen derer eigen-
ständige liechtensteinische Gesetze erlassen wur-
den, allerdings in enger, überwiegend wortwörtli-
cher Anlehnung an das österreichische Vorbild, wie
z. B. die Zivilprozessordnung und die Jurisdiktions-
norm aus 1912. 2 7
Eine zusätzliche Vertiefung des nachbarschaftli-
chen Naheverhältnisses erfolgte durch die zwischen
1852 und 1919 bestehende Zoll- und Wirtschaftsge-
meinschaft mit Österreich, 2 8 die auch Auswirkun-
gen auf die Rechtsordnung hatte, da mit ihr eine au-
tomatische Rezeption der einschlägigen österreichi-
schen Rechtsvorschriften verbunden war. Das Für-
stentum konnte zwar durch den Abschluss des
Zollvertrags eine wirtschaftliche Isolation, wie sie
mit der Auflösung des Deutschen Bundes zu erwar-
38
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
ten war, schon im Vorfeld vermeiden und beträchtli-
che Vorteile aus dieser wirtschaftlichen Anbindung
ziehen, zugleich verstärkte sich dadurch aber auch
der Einfluss Österreichs. Mit dem Ende des Deut-
schen Bundes 1866 ging dessen Funktion als Gegen-
gewicht zur LIabsburgermonarchie schliesslich end-
gültig verloren und ein bestimmendes Element der
staatlichen Existenz Liechtensteins, nämlich die
enge politische und rechtliche Anlehnung an Öster-
reich, trat umso deutlicher hervor. Obgleich Liech-
tenstein mit dem Wegfall des Staatenbundes seine
volle Selbständigkeit erlangte, lehnte es sich bis zum
Ersten Weltkrieg so eng an Österreich an, dass bei
anderen Staaten der Eindruck entstand, es handle
sich bei dem kleinen Fürstentum um eine «öster-
reichische Provinz». 2 9
DIE REZEPTION SCHWEIZERISCHEN RECHTS
Die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen
des Ersten Weltkriegs leiteten schliesslich den Um-
schwung ein. Als die Auswirkungen des Zusammen-
bruchs der Habsburgermonarchie ein für Liechten-
stein existenzbedrohendes Ausmass erreicht hat-
ten, wurde die wirtschaftliche Loslösung von Öster-
reich zum Gebot der Selbsterhaltung. Als erster
Schritt wurde im August 1919 die Zollgemeinschaft
mit Österreich beendet. Da sich eine völlig selbstän-
dige und unabhängige Existenz des Kleinstaats aber
rasch als unrealistisch erwies, bot sich als nächstlie-
gende Alternative die Hinwendung zur Schweiz,
dem westlichen Nachbarland, an. Nach langwieri-
gen Verhandlungen einigten sich die beiden Nach-
barstaaten auf den Abschluss des Vertrages über
den Anschluss des Fürstentums Liechtenstein an
das schweizerische Zollgebiet vom 29. März 1923, 3 0
der die Zollgrenzen beseitigte und Liechtenstein den
Zugang zum schweizerischen Wirtschaftsraum er-
öffnete. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus
war dies für Liechtenstein der einzig richtige Weg,
auch wenn - wie Emil Beck 3 1, der liechtensteinische
Gesandte in Bern, bei den Beratungen konstatieren
musste - «wir nicht darum herumkommen, das Op-
fer zu bringen, eine fremde Zollgesetzgebung zu
übernehmen, allerdings unter völliger Wahrung der
Souveränität unseres Landes». 3 2 Gemäss Artikel 4
sollte während der Dauer des Zollvertrags aber
nicht nur die gesamte gegenwärtige und künftige
Zollgesetzgebung, sondern auch die übrige schwei-
zerische Bundesgesetzgebung, «soweit der Zollan-
schluss ihre Anwendung bedingt», in Liechtenstein
unmittelbare Geltung erlangen, d. h. dass die ent-
sprechenden Rechtsnormen in Liechtenstein in glei-
cher Weise zur Anwendung kommen sollten wie in
der Schweiz und zwar ohne Einflussmöglichkeit des
liechtensteinischen Gesetzgebers.33
20) Zum Folgenden vgl.: Brauneder, 175 Jahre A B G B , S. 95 f.;
Berger, Zivilrechtsordnung, S. 21 ff.
21) Siehe zu dieser im Detail: Berger. Zivilrechtsordnung, Text:
S.43f'f., Er läuterungen: S. 23 ff.
22) Siehe zu dem Entwurf im Detail: Berger. Zivilrechtsordnung,
Text: S. 71 ff., Er läu terungen: S. 26 ff.
23) Das ABGB wurde 1812 zwar ohne Einschränkungen rezipiert,
wegen der Weitergeltung der Erbfolgeordnung von 1809 traten die
erbrechtlichen Bestimmungen in Liechtenstein aber zunächs t nicht
in Kraft. Erst das Erbrechtspatent vom 6. Apr i l 1846 setzte die erb-
rechtlichen AßGB-Best immungen leicht modifiziert ab 1. Januar
1847 in Kraft. Vgl. hierzu: Berger. 190 Jahre A B G B , S. 29.
24) Abgedruckt in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung,
S. 259 ff.
25) Quaderer, Politische Geschichte, S. 16 ff.; Schmidt, Fürs t Johann.
S. 415 f.
26) Angeordnet mit Fürstl icher Verordnung vom 16. Oktober 1819.
vgl.: Berger, 190 Jahre ABGB, S. 30 mit Fussnote 29.
27) LGB1. 1912 Nr. 9/1 und 2.
28) Die gesetzliche Grundlage der Zollgemeinschaft mit Österreich
bildete der Staatsvertrag vom 5. Juni 1852, RGBl. Nr. 146, der 1863
verlängert und 1876 mittels Staatsvertrag erneuert wurde. Vgl. hier-
zu näher : Hager. Zoll- und Wirtschaftsunion. S. 32 ff.; Berger, 190
Jahre A B G B . S. 31.
29) Press. Fürs tentum Liechtenstein, S. 102 f.; Berger. 190 Jahre
A B G B . S. 32.
30) LGB1. 1923 Nr. 24, in Kraft getreten am 1. Januar 1924. Zu den
politischen Hintergründen des Zollvertragsabschlusses vgl.: Wille,
Rechtspolitischer Hintergrund. S. 84 ff.; Quaderer, Weg zum Zollver-
trag, S. 14 ff.
31) Biographische Details zu Emil Beck (1888-1973): Historisches
Lexikon der Schweiz (www.dhs.ch).
32) Wille, Rechtspolitischer Hintergrund. S. 92 f.
33) Artikel 2 Einführungsgesetz zum Zollvertrag, LGB1. 1924 Nr. 1 1.
39
Die wirtschaftliche Hinwendung zur Schweiz und
die damit verbundene automatische Rezeption
schweizerischer Rechtvorschriften blieben nicht
ohne Folgen für die übrige Rechtsordnung. Der aus
Triesenberg stammende Jurist Wilhelm Beck 3 4 hatte
schon in seiner 1912 veröffentlichten Schrift «Das
Recht des Fürstentums Liechtenstein» eine überaus
kritische Bilanz gezogen und für die von ihm konsta-
tierte Rückständigkeit und mangelnde Volkstüm-
lichkeit die Abhängigkeit von Österreich und dessen
Gesetzgebung verantwortlich gemacht. Als die von
ihm und seinen Anhängern 1918 gegründete, reform-
orientierte und schweizfreundliche «Christlich-
Soziale Volkspartei» 1922 an die Regierung kam,
nützte er diese Chance, um seine wiederholt erho-
benen Forderungen nach mehr gesetzgeberischer
Eigenständigkeit und Selbständigkeit in die Tat um-
zusetzen. Zu seinen ambitioniertesten Plänen zählte
das Vorhaben, das seit mehr als einem Jahrhundert
in Kraft stehende ABGB sowie das 1865 rezipierte
Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) 3 5
durch ein «Liechtensteinisches Zivilgesetzbuch» zu
ersetzen. Diese Absicht stand wohl nicht zufällig
ganz oben auf der Prioritätenliste Wilhelm Becks,
galt doch gerade das Zivilrecht gemeinhin als «le-
bendiger Ausdruck der gestalterischen Tätigkeit ei-
ner jeden Nation auf dem Gebiet des Rechts». 3 6 Als
Vorbild für das neue liechtensteinische Zivilgesetz-
buch sollte sowohl inhaltlich als auch von der Kon-
zeption her das schweizerische Zivilrecht dienen.
Das lag nahe, da mit dem 1912 in der Schweiz in
Kraft getretenen Zivilgesetzbuch (ZGB) und dem Ob-
ligationenrecht (OR) eine neue und moderne Zivil-
rechtskodifikation existierte, mit der Wilhelm Beck
und sein Mitredaktor Emil Beck bestens vertraut
waren, weil sie ihre juristische Ausbildung in der
Schweiz erhalten hatten.
Das geplante «Liechtensteinische Zivilgesetz-
buch» sollte aus fünf Teilen bestehen - Sachenrecht,
Obligationenrecht, Personen- und Gesellschafts-
recht, Familienrecht und Erbrecht - , von welchen
allerdings nur zwei Teile verwirklicht wurden und
zwar das Sachenrecht aus 1922 3 7 sowie das Perso-
nen- und Gesellschaftsrecht (das so genannte PGR)
von 1926 und 1928. 3 8 Im Sachenrecht orientierten
sich die beiden Gesetzesredaktoren inhaltlich sehr
eng am Schweizer Rezeptionsvorbild, während bei
der Ausarbeitung des PGR, welches das Recht der
natürlichen Personen sowie das Handels- und Ge-
sellschaftsrecht enthält, auch andere Rezeptions-
grundlagen herangezogen wurden, so wurde z .B.
die Treuhänderschaft nach dem Vorbild des angel-
sächsischen Trust konzipiert. Die Fertigstellung des
Gesetzbuchs scheiterte vor allem daran, dass man
sich über die Neukodifikation des Schuldrechts
nicht einig werden konnte. Umstritten war insbe-
sondere, ob an dem eingeschlagenen Weg, also der
modifizierten Rezeption schweizerischen Privat-
rechts, festgehalten werden sollte, oder ob es statt-
dessen beim Obligationenrecht des ABGB bleiben
sollte und zwar in der Fassung der Teilnovellen zum
österreichischen ABGB aus 1914, 1915 und 1916.
Dieser Zwiespalt war in erster Linie das Resultat ei-
nes Regierungswechsels, und zwar war die von Wil-
helm Beck angeführte Volkspartei 1928 von der
konservativen und schweiz-kritischen «Fortschritt-
lichen Bürgerpartei» abgelöst worden. Während die
Volkspartei ohne Wenn und Aber eine Annäherung
an die Schweiz und deren Rechtsordnung propa-
giert hatte, wurden von der Bürgerpartei Alternati-
ven zu dem bisherigen Regierungskurs erwogen,
wozu in Bezug auf das Privatrecht auch die Rückbe-
sinnung auf die ursprüngliche Rezeptionsgrundla-
ge, das ABGB, gehörte. Einem generellen Schwenk
zurück zur österreichischen Rechtsordnung als Re-
zeptionsgrundlage stand allerdings der Zollvertrag
mit der Schweiz im Weg, der in vielen Bereichen die
liechtensteinische Rechtsordnung beeinflusste, und
der darüber hinaus in der Bevölkerung als Grundla-
ge für den wirtschaftlichen Aufschwung galt. Solan-
ge sich in der Frage der Obligationenrechtsreform
keine Lösung abzeichnete, war an eine Reform der
übrigen noch ausständigen Rechtsmaterien - Fami-
lienrecht und Erbrecht - nicht zu denken. In diesen
Privatrechtsbereichen, insbesonders im Eherecht,
standen einem Wechsel der Rezeptionsgrundlage
zudem erhebliche weltanschauliche Hindernisse im
Weg, die die Fortsetzung der Privatrechtserneue-
rung zusätzlich blockierten. 3 9
40
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
DAS ERGEBNIS:
EINE M I S C H R E C H T S O R D N U N G
IM Z I V I L R E C H T
Die geschilderte Rezeptionspraxis hatte massgeb-
lich dazu beigetragen, eine Rechtssituation zu
schaffen, die sich durch einen über weite Strecken
veralteten Rechtsbestand sowie durch Unklarheit
und Unübersichtlichkeit auszeichnete. 1950 wurde
daher das Projekt eines Rechtsbuchs in Angriff ge-
nommen, das den gesamten geltenden liechtenstei-
nischen Rechtsbestand in einer bereinigten, aktuali-
sierten und systematisch geordneten Zusammen-
stellung erfassen sollte. 4 0 Das ambitionierte Vorha-
ben scheiterte in erster Linie an der Grösse der
Aufgabe und an den unzureichenden Mitteln, die zu
deren Bewältigung zum Einsatz kamen, nichtsde-
stotrotz bildete es «einen ersten Anlauf» zu einer
Rechtsreform, die mit der 20 Jahre später begonne-
nen Erneuerung des Justizrechts in wesentlich er-
folgreicherer Weise fortgesetzt werden konnte.
Die dringende Notwendigkeit einer Reform des
gesamten liechtensteinischen Justizrechts stand
seit langem ausser Zweifel. 4 1 Begründet wurde sie
von dem stellvertretenden Regierungschef und Lei-
ter des Justizressorts Walter Kieber in seiner Er-
klärung vor dem Landtag am 3. November 1971 4 2
damit, dass «die für die Lebendigkeit des Rechts
notwendige Fortentwicklung seit Jahrzehnten zum
Stillstand gekommen» sei und das Justizrecht daher
«nicht mehr den Bedürfnissen und Gegebenheiten
des letzten Drittels des Zwanzigsten Jahrhunderts»
entspreche. Zur Eröffnung der Justizrechtsreform
lagen im November 1971 bereits die Entwürfe für
ein neues Wechsel- und Scheckrecht sowie für eine
Exekutionsordnung vor. Im Frühjahr 1972 sollte
dem Landtag der Entwurf für eine neue Konkurs-
ordnung vorliegen und für Herbst desselben Jahres
war die Novellierung der Zivilprozessordnung und
der Jurisdiktionsnorm sowie der Strafprozessord-
nung in Aussicht genommen worden. In einer zwei-
ten Phase war eine Reform des gesamten Pri-
vatrechts sowie des Strafrechts geplant, wofür ein
Zeitraum von vier Jahren veranschlagt wurde. Mit
besonderen Schwierigkeiten rechnete man im bür-
gerlichen Recht und zwar vor allem wegen der dort
herrschenden Rechtszersplitterung. Ebenso wie
über den Reformablauf bestand auch Klarheit hin-
sichtlich der Methode, mit der man die angestrebten
Ziele erreichen wollte, nämlich mithilfe der Rezepti-
on ausländischen Rechts. Mit dieser Rechtserzeu-
gungsmethode war man «seit mehr als 150 Jahren
konfrontiert» und hatte sie «in den verschiedensten
Formen erlebt», weshalb sie nun, laut Walter Kie-
ber, als «Faktum» zu akzeptieren sei. 4 3 Das fremde
Recht sollte allerdings nicht, wie es in der langen Re-
zeptionsgeschichte geschehen war, unreflektiert
übernommen werden, sondern die Rezeption sollte
vielmehr überlegt und effektiv erfolgen.
Soweit es das über weite Strecken veraltete Zivil-
recht betraf, wurden im Zuge der Reform des liech-
tensteinischen Justizrechts in einem ersten Schritt
das Eherecht4 4, das Werk-, Verlags- und Arbeitsver-
tragsrecht4 5 sowie das Mieterschutzrecht4 6 und das
Adoptionsrecht 4 7 novelliert und die Teilnovellen, mit
welchen das österreichische ABGB zwischen 1914
und 1916 erneuert worden war, d.h. deren erb-und
schuldrechtliche Bestimmungen, rezipiert. 4 8 Gra-
34) Zu ihm vgl. Brunhart/Quaderer, Wilhelm Beck, S. 102 ff.
35) LGB1. 1865 Nr. 10. Einige Abschnitte des ADHGB, v.a. bezüglich
der Handelsgeschäf te , stehen in Liechtenstein heute noch in Geltung,
vgl. die Kundmachung in LGB1. 1997 Nr. 193.
36) Slystschenkow, Entwurf, S. 195.
37) LGBl . 1923 Nr. 4.
38) LGBl . 1926 Nr. 4; 1928 wurde in Artikel 932 a das G über das
Treuunternehmen (LGBl. 1928 Nr. 6) eingefügt.
39) Wille, Neukodifikation, S. 623 ff.
40) Vgl. hierzu ausführl ich: Berger. Rechtsbuchkommission. S. 10 ff.
41) Vgl. hierzu ausführl ich: Berger. Reform des Justizrechts. S. 12 ff.
42) LTP 1971/11, S. 492 ff., Zitate ebenda.
43) Ebenda, S. 495.
44) LGBl . 1974 Nr. 20.
45) LGBl . 1974 Nr. 18.
46) LGBl. 1975 Nr. 6.
47) LGBl . 1976 Nr. 40.
48) LGBl . 1976 Nr. 75.
41
vierende Neuerungen brachte in erster Linie das
Ehegesetz von 1974, das an die Stelle des «altöster-
reichischen Eherechts» des ABGB trat und bei dem
es sich im wesentlichen um eine Kompilation von
schweizerischen und österreichischen Rechtsvor-
schriften handelte. Die eindrücklichsten und seit
langem überfälligen Neuerungen bestanden in der
Einführung der obligatorischen Zivilehe sowie in
der Zulassung der Ehescheidung, die bis dahin in
Liechtenstein für Katholiken ausgeschlossen gewe-
sen war. 4 9 Bei dieser Reform war es vorrangig um
ein zeitgemässes Ehetrennungs- und Eheschei-
dungsrecht gegangen, während die Reform des
übrigen Familienrechts einem separaten Reform-
schritt vorbehalten blieb. Dieser Hess allerdings
noch geraume Zeit auf sich warten: Eine grundle-
gende Reform des Ehe- und Familienrechts erfolgte
in Liechtenstein erst 1993 5 0 und 1999 5 1, nach auf-
wendigen Vorarbeiten unter Berücksichtigung der
Familienrechtsreformen in Österreich und der
Schweiz.
Bei der Entscheidung, welche Rechtsnormen als
Rezeptionsgrundlage dienen sollten, wurde im Rah-
men der Justizrechtsreform in erster Linie auf die
Rechtstradition und die Rechtskontinuität geachtet.
Für das liechtensteinische ABGB bedeutete das,
dass es weitestgehend nach dem Vorbild der öster-
reichischen Zivilrechtskodifikation erneuert wurde.
In jenen Bereichen aber, wo man sich schon bisher
am schweizerischen Recht orientiert hatte oder wo
sich aufgrund der zollvertraglichen Bindungen eine
Anlehnung an das schweizerische Recht empfahl,
nahm man sich dieses zum Vorbild, so im Mieter-
schutzrecht oder im Arbeitsvertragsrecht. Dieser
Vorgangsweise blieb man auch bei der Reform des
Ehe- und Familienrechts treu. Neben der Bewah-
rung der Rechtstradition und der Rechtskontinuität
ging es bei der Erneuerung des Justizrechts aber
auch immer darum, die für liechtensteinische Ver-
hältnisse jeweils beste und zweckmässigste Lösung
zu finden. Wenn es sich daher als notwendig erwies,
kombinierte man innerhalb einer Rechtsmaterie
Bestimmungen aus dem österreichischen und dem
schweizerischen Recht, so zum Beispiel im Vormund-
schaftsrecht oder im Eherecht. Wenn weder die eine
noch die andere Rechtsordnung für liechtensteini-
sche Bedürfnisse passend erschien, wurden eigen-
ständige Lösungen geschaffen. Das erwies sich vor
allem im Eherecht als notwendig, wo weder das
österreichische noch das schweizerische Recht mit
der katholisch-konservativen Grundhaltung der Be-
völkerung und des Fürstenhauses vereinbar war. 5 2
Dieser Entwicklung zufolge präsentiert sich das
liechtensteinische Zivilrecht heute als «Misch-
rechtsordnung», die sich teils aus österreichischem,
teils aus schweizerischem Recht zusammensetzt,
ergänzt um adaptiertes sowie eigenständiges liech-
tensteinisches Recht. Seit dem Beitritt Liechten-
steins zum Europäischen Wirtschaftsraum 1995 5 3
kam als weitere Rezeptionsgrundlage das EWR-
Recht hinzu, was im Privatrecht zu einer Intensivie-
rung der legislativen Aktivitäten in Hinblick auf die
Erfüllung europarechtlicher Vorgaben führ te . 5 4
R E C H T S R E Z E P T I O N UND S O U V E R Ä N I T Ä T
IM WIDERSPRUCH?
Lässt man die Rezeptionsgeschichte im liechtenstei-
nischen Privatrecht der letzten bald zwei Jahrhun-
derte Revue passieren, so sind verschiedene For-
men der Rechtsrezeption erkennbar: Die automati-
sche Rezeption österreichischen Rechts, wie sie
1812 eingeleitet und zwischen 1819 und 1842 prak-
tiziert wurde, gewährleistete in Verbindung mit ei-
nem gemeinsamen Höchstgericht die Übereinstim-
mung mit der Weiterentwicklung des Ursprungs-
rechts. Damit waren viele Vorteile verbunden wie
zum Beispiel die uneingeschränkte Verwendbarkeit
von Gesetzesausgaben, Literatur und Rechtspre-
chung. Als 1843 die autonome Rezeption die auto-
matische Rechtsübernahme ablöste, wurde zwar
weiterhin an der Übernahme österreichischen
Rechts festgehalten, diese erfolgte aber nun in Form
von eigenständigen liechtensteinischen Gesetzen
mit inhaltlichen Modifikationen der Rezeptionsvor-
lage, wenn es die liechtensteinischen Verhältnisse
erforderlich machten. Da die Rezeption häufig mit
beträchtlicher Verzögerung erfolgte, waren die da-
mit verbundenen Vorteile nur mehr eingeschränkt
42
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
nutzbar und es bestand die Gefahr, gegenüber dem
Ursprungsrecht in der Rechtsentwicklung zurück-
zubleiben. Der Wechsel zu einer neuen Rezeptions-
grundlage, wie er in den zwanziger Jahren des letz-
ten Jahrhunderts eingeleitet und dann sozusagen
auf halber Strecke abgebrochen wurde, schuf die
Grundlage für die heute bestehende Situation im
liechtensteinischen Privatrecht. Erschwert wurde
sie dadurch, dass die Leitidee der Rezeption zuneh-
mend aus dem Blick geriet, nämlich von dem Ori-
ginalgesetz nur dann abzuweichen, wenn es die lo-
kalen Verhältnisse erforderlich machten. Immer
häufiger wurden die Rezeptionsvorlagen auch ohne
zwingende Notwendigkeit adaptiert und um eigen-
ständige Rechtsschöpfungen ergänzt, wie sie sich
vor allem im Eherecht und im Gesellschaftsrecht
finden. 5 5
Betrachtet man die liechtensteinische Privat-
rechtsgeschichte vor dem Hintergrund der Souverä-
nität, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit die
staatliche Eigenständigkeit und Unabhängigkeit
durch die Übernahme «fremden Rechts» einge-
schränkt wird. Spezifiziert werden muss diese Fra-
gestellung dahingehend, dass dieses Rechtserzeu-
gungsinstrument im Fürstentum Liechtenstein eine
ganz besondere Bedeutung geniesst, und zwar des-
halb, weil es zur Rechtsrezeption keine Alternative
gibt, sie vielmehr sogar zur «Überlebensstrategie»
eines Staates zählt, der zu klein ist, um alle Hoheits-
rechte aus eigener Kraft auszuüben. Das ergibt sich
zwingend daraus, dass
- eine eigenständige Gesetzgebung und der damit
verbundene administrative und legistische Auf-
wand mit den verfügbaren Kapazitäten nicht zu
bewältigen wären;
- das Fehlen einer liechtensteinischen Rechtsfa-
kultät die wissenschaftliche Bearbeitung und
Weiterentwicklung des Rechts nur in einem ge-
ringen Ausmass gestattet und es an juristischen
Arbeitsbehelfen und an entsprechender Fachlite-
ratur mangelt;
- das für die Weiterentwicklung des Rechts not-
wendige Wechselspiel zwischen Lehre und Praxis
nur durch die Heranziehung von ausländischer
Literatur und Rechtsprechung möglich ist und
- dass einer eigenständigen Rechtsfortbildung durch
die Rechtsprechung die Kleinheit des Rechts-
raums und alle damit verbundenen Nachteile
entgegenstehen, vor allem die geringe Zahl von
Rechtsfällen.
Stellt man folglich die unabdingbare Notwendigkeit
der Rechtsrezeption für einen Kleinstaat ausser
Streit, so ist doch nicht zu leugnen, dass die ver-
schiedenen Arten der Rezeption ausländischen
Rechts unterschiedlich zu bewerten sind. 5 6 Eine au-
tomatische Rechtsübernahme, ergänzt durch ein
gemeinsames oberstes Rechtsprechungsorgan, wie
sie im 19. Jahrhundert praktiziert wurde, mag zwar
die «ideale, vollkommene» Form der Rezeption an
sich darstellen, bedeutet aber zugleich den Verzicht
auf die uneingeschränkte Ausübung der Souverä-
nitätsrechte. Als man sich im Zivil- und Strafrecht
von der mit einer automatischen Rezeption unwei-
gerlich verbundenen Einschränkung der Gesetzge-
bungshoheit zugunsten einer immer autonomer
werdenden Rezeption befreit hatte, blieb diese den-
noch in einem Teilbereich der Rechtsordnung beste-
hen und zwar im wirtschaftlichen Bereich. Hatte
schon die bis 1919 mit Österreich bestehende Zoll-
und Wirtschaftsgemeinschaft für die automatische
Übernahme der einschlägigen österreichischen
Rechtsvorschriften gesorgt, so trat mit Wirksamkeit
ab 1. Januar 1924 an deren Stelle die noch wesent-
lich weitreichendere zollvertragliche Bindung an
die Schweiz. Die gravierenden Auswirkungen des
49) Berger, Reform des Justizrechts, S. 24 ff.
50) Familienrechtsreform. LGBl . 1993 Nr. 53 und 54.
51) Scheidungsreform, LGBl . 1999 Nr. 28 und 30.
52) Berger, Reform des Justizrechts, S. 24 ff.
53) Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum. LGBl.
1995 Nr. 68, trat am 1. Mai 1995 in Kraft.
54) Vgl. z.B. das Konsumentenschutzrecht oder das Gewährlei-
stungsrecht. Marxer. Streifzug. S. 487 f. und S. 494 f.
55) Gschnitzer, Lebensrecht, S. 32 ff.; Kühne, Struktur, S. 386 f.
56) Zum Folgenden: Gschnitzer, Rechtsleben im Kleinstaat, S. 552 f.;
Driendl, Liechtensteins Weg, S. 24.
43
Zollvertrags auf die liechtensteinische Rechtsord-
nung - direkt in Form der unmittelbar zur Anwen-
dung gelangenden schweizerischen Rechtsnormen
sowie indirekt in Form der freiwilligen Angleichung
von Rechtsmaterien mit inhaltlichem Konnex zum
Zollvertrag - sorgten in Hinblick auf die damit ver-
bundene Souveränitätseinbusse lange Zeit hindurch
für eine ambivalente Einstellung gegenüber dem
«Schweizerrecht». Diese Ansicht teilte auch Franz
Gschnitzer, der ab 1945 als Präsident des Fürstlich-
Liechtensteinischen Obersten Gerichtshofs amtier-
te.5 7 In einem im Sommer 1952 erstatteten Gutach-
ten zur Frage der Rezeption des schweizerischen
Obligationenrechts leitete er daher aus der geogra-
phischen Mittelstellung Liechtensteins zwischen der
Schweiz und Österreich die Aufforderung ab, dass
sich das Fürstentum «auch aus der Mittelstellung
seines Rechts nicht herausdrängen lassen solle»
und ermunterte Liechtenstein im Interesse seiner
Souveränität zur Aufrechterhaltung der Rechtsver-
schiedenheit.58 Im Zuge der Justizrechtsreform
wurde versucht, mit angemessener Distanz zum
Zollvertrag zu einer möglichst unbefangenen Hal-
tung in der Rezeptionsfrage zu finden. Dies fiel an-
fangs allerdings noch schwer, wie die Argumentati-
on zeigt, mit der Walter Kieber auf den Vorschlag
reagierte, das schweizerische Schuldbetreibungs-
und Konkursrecht zu übernehmen: «Wenn wir in je-
nen Bereichen, wo wir frei sind von den Bindungen
an unseren Zollvertragspartner, auch noch Bindun-
gen suchen und uns an schweizerisches Recht an-
lehnen, gehen wir freiwillig einem weiteren Souve-
ränitätsverlust entgegen.» 5 9 Es dauerte eben seine
Zeit, um die mit den engen bilateralen Beziehungen
zur Eidgenossenschaft - deren Kernstück der Zoll-
vertrag bildet - verbundenen Einschränkungen zu
akzeptieren und souveränitätsrechtliche Bedenken
zu überwinden.
Was das liechtensteinische Privatrecht betraf, so
liess es sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts nicht mehr ernsthaft leugnen, dass dem
Wunsch nach einem eigenständigen liechtensteini-
schen Privatrecht ebenso wenig eine Chance auf
Realisierung beschieden sein würde wie jenem nach
einer einheitlichen Rezeptionsgrundlage und es da-
her absehbar war, dass man sich mit der «zusam-
mengesetzten Rechtsordnung» werde abfinden
müssen. Obwohl zu dieser Zeit bereits überwiegen-
der Konsens dahingehend bestand, dass es zur Re-
zeption keine Alternative gibt und die Schaffung ei-
genständigen liechtensteinischen Rechts eine Illusi-
on bleiben müsse, sah sich der stellvertretende Re-
gierungschef Walter Kieber in seiner Erklärung zur
Justizrechtsreform im Jahre 1971 veranlasst, auf
die Frage einzugehen, «ob die Souveränität unseres
Staates die Schaffung eines eigenständigen liechten-
steinischen Justizrechts erfordere». Er verneinte
mit der Begründung, dass es «einem Staat gewiss
nicht als Souveränitätseinbusse ausgelegt werden
(könne), wenn er in freier und ungebundener Ent-
scheidung die Anlehnung an andere europäische
Rechtskreise sucht». Darüber hinaus hiesse es «für-
wahr die eigene Kraft überschätzen und die eigenen
Grenzen übersehen, wenn man auf allen Gebieten
nur eigenes originäres liechtensteinisches Recht
schaffen, pflegen und fortbilden wollte». 6 0 Dieser
Klarstellung zum Trotz finden sich in den Landtags-
protokollen der 1970er Jahre immer wieder Wort-
meldungen, in welchen die Rezeptionsfrage thema-
tisiert und die Vorgangsweise der Regierung in Fra-
ge gestellt wird. Die Anzahl der Realitätsverweige-
rer war allerdings gering, mehrheitüch ging man in
dieser Phase der Rechtserneuerung dazu über, die
Rezeption aus unterschiedlichen Rechtsordnungen
als Faktum zu akzeptieren, sich mit deren unver-
zichtbarer Notwendigkeit zu arrangieren und dieses
Mittel der Rechtserzeugung so vorteilhaft wie mög-
lich einzusetzen.
Schon in der ersten Etappe der Justizrechtsre-
form kehrte in der Rezeptionsfrage eine grundsätz-
liche Offenheit ein, die den ständigen Kontakt und
Dialog mit den Rechtsordnungen der beiden Nach-
barstaaten begünstigte. Beibehalten und vertieft
wurde diese neue Einstellung zur Rezeptionsthema-
tik auch bei den weiteren Reformetappen, die dem
Straf- und Strafprozessrecht sowie dem Ehe- und
Familienrecht gewidmet waren. Mit Rücksicht auf
die Rechtstradition und die Rechtskontinuität wur-
den ausführliche Überlegungen angestellt, welches
von den beiden Nachbarrechten besser mit den
44
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
liechtensteinischen Verhältnissen harmoniere und
welches sich vorteilhafter in die bestehende Rechts-
ordnung integrieren lassen würde. Darüber hinaus
liess man sich in Liechtenstein die Option offen, die
ausländischen Rechtsnormen in Einzelfällen zu ad-
aptieren oder durch eigenständige Rechtsschöpfun-
gen zu ergänzen. 6 1
Damit hatte das Fürstentum Liechtenstein nach
mehr als 150 Jahren seinen Weg gefunden, um die
unverzichtbare Rechtsrezeption mit der speziell für
einen Kleinstaat so wichtigen staatlichen Souverä-
nität in Einklang zu bringen. Massgeblich ist näm-
lich nicht die Frage, ob und in welchem Ausmass
fremdes Recht rezipiert wird, sondern entscheidend
ist, wie souverän in der Rezeptionsfrage agiert wird.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen
bei der Rezeption fremden Rechts eine Reihe von
Bedingungen erfüllt werden: 6 2
1. Der auf die Rezeption angewiesene Staat muss
prüfen, welche Rechtsordnungen bzw. welche kon-
kreten Rechtsnormen als Rezeptionsgrundlage in
Betracht kommen, und sich bewusst sein, dass es
sich dabei um eine Entscheidung von erheblicher
rechtspolitischer Tragweite handelt, da mit den
Rechtsnormen auch die zugrunde liegenden Wert-
vorstellungen und Werturteile übernommen wer-
den.
2. Die Normen sind auf ihre Brauchbarkeit hin zu
überprüfen und, falls notwendig, mittels Adaption
den eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen
anzupassen und, falls erforderlich, durch eigene
Rechtsschöpfungen zu ergänzen. Das ist zwar einer-
seits unter dem Aspekt der Rechtssicherheit nicht
unproblematisch, andererseits wird erst auf diese
Weise das fremde Recht zur eigenen Sache gemacht
und in die heimische Rechtsordnung integriert.
3. Bei der Grundsatzentscheidung für die Rezep-
tion fremden Rechts müssen die damit verbundenen
langfristigen Konsequenzen ins Kalkül gezogen
werden, denn die weitere Entwicklung des Ur-
sprungsrechts muss laufend beobachtet und ent-
schieden werden, ob Revisionen mitgemacht wer-
den sollen oder nicht. Daraus resultiert eine be-
trächtliche inhaltliche und zeitliche Abhängigkeit
von dem Staat, dessen Recht übernommen wurde. 6 3
4. Ein massgeblicher Aspekt bei der Rezeption ist
die Frage des richtigen Zeitpunkts: Wenn Revisio-
nen mit Verzögerung übernommen werden, bleibt
der rezipierende Staat in der Rechtsentwicklung
zurück. Zugleich kann aber auf diese Weise die Be-
währungsprobe des zur Übernahme anstehenden
Rechts abgewartet und von den Erfahrungen im Ur-
sprungsstaat profitiert werden, was dem liechten-
steinischen Gesetzgeber einen grösseren Entschei-
dungsspielraum gewährt.
5. Die legislative Rechtsvergleichung, also die
Heranziehung verschiedener ausländischer Rechte
bei der Schaffung neuer Gesetze, erfordert bei der
Rechtsfindung und Rechtsfortbildung eine ange-
wandte Rechtsvergleichung, wobei die «zusammen-
gesetzte» Rechtsordnung den liechtensteinischen
Gerichten eine spezifisch harmonisierende Aufgabe
zuweist. 6 4
Das liechtensteinische Rechtsleben erfuhr durch
den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum
1995 eine nicht unwesentliche Modifikation. Neben
einer Stärkung seiner völkerrechtlichen Stellung als
souveräner Staat bedeutet die Teilnahme Liechten-
steins an der europäischen Integration nämlich vor
allem auch die Einbindung in das Gemeinschafts-
57) Kohlcgger, Gschnitzer als Präsident , S. 1062 ff.
58) L L A RF 256/072.
59) LTP 1971/11, S. 521.
60) LTP 1972/11, S. 496.
61) Wille, Neukodifikation. S. 639 ff.
62) Zur rezeptionsspezifischen Problematik im Kleinstaat nach wie
vor grundlegend: Gschnitzer. Lebensrecht, S. 19 ff. Aus der jüngeren
Literatur siehe hierzu: Driendl, Liechtensteins Weg. S. 24 f.: Ritter,
Gesetzgebungsverfahren, S. 73; Häberle , Kleinstaat, S. 160 ff. und
S. 174 ff.; Kellenberger, Kultur, S. 73 ff.; Reichert-Facilides, Elemen-
te. S. 998 ff.
63) Auf die Problematik einer inkonsequenten und unbedachten
Vorgangsweise bei der Rezeption hat Franz Geschnitzer nachdrück-
lich aufmerksam gemacht und daraufhingewiesen, dass die Rezepti-
on ihren Sinn verliert, wenn das ü b e r n o m m e n e Recht erstarrt, ohne
Not geänder t wird oder ohne Rücksicht auf die Folgen aus verschie-
denen Rechtsordnungen stammt: Gschnitzer, Lebensrecht, S. 38 ff.
64) Zweigert /Kötz, Rochtsvergleichung, S. 49 f.
45
recht und damit eine weitere Einschränkung der
Rechtssetzungsautonomie. Ein auf die Rechtsrezep-
tion angewiesener Kleinstaat wie das Fürstentum
Liechtenstein kann zwar von seinen jahrzehntelan-
gen Erfahrungen mit der Übernahme fremden
Rechts profitieren, sieht sich aber zugleich vor die
Herausforderung gestellt, in jenen Bereichen, die
der nationalen Gesetzgebung vorbehalten bleiben,
seine Eigenstaatlichkeit und Selbständigkeit umso
deutlicher durch einen souveränen Umgang mit der
Rechtsrezeption zu unterstreichen.
46
RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT -
EIN WIDERSPRUCH? / ELISABETH BERGER
L I T E R A T U R -
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stein (LTP), div. Jahrgänge
A N S C H R I F T DER
A U T O R I N
Univ.-Ass.
Dr. Elisabeth Berger
Institut für Rechts- und
Verfassungsgeschichte
Universität Wien
Schottenbastei 10-16
A-1010 Wien
48
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
VON WEST-
F A L E N Z U M
GLOBAL VILLAGE:
W A N D L U N G E N DES
SOUVERÄNITÄTS-
KONZEPTS
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
Inhalt
53 Einleitung
54 Begriffsbestimmung
54 Dimension der Souveränität
56 Die klassische Souveränitätskonzeption
58 Die moderne Souveränitätskonzeption
59 Zeitalter des Völkerbundes
60 Das Zeitalter der UNO
66 Die Essenz der modernen Souveränitäts-
konzeption
68 Aktuelle Herausforderungen
68 - Globalisierung
69 - Ius cogens und obligatorische Gerichts-
barkeit
70 - Humanitäre Interventionen
70 - Präemptive Verteidigung
72 Schlussbetrachtung
52
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
EINLEITUNG
Ein kurzer Blick in die Literatur genügt bereits, um
zu zeigen, dass der Begriff Souveränität in zahlrei-
chen Wissensgebieten präsent ist. Über den Be-
reich der Diskurstheorie, der Psychologie und der
Theologie bis hin zum Staats- und Völkerrecht, der
Politikwissenschaft sowie der politischen Philoso-
phie erstreckt sich ein breites Feld, in welchem der
Terminus Souveränität von Bedeutung ist. Im Rah-
men dieses Aufsatzes sollen Souveränitätskonzepte
aus den Bereichen des Völkerrechts und der inter-
nationalen Politik untersucht werden.1 Die Unter-
suchung der konzeptionellen Ebene impliziert,
dass im Zentrum des Erkenntnisinteresses nicht
primär die Nachzeichnung der praktischen Anwen-
dungen der Souveränität steht, sondern die Entfal-
tung und Erklärung der logischen Struktur des Be-
griffs im theoretischen Kontext des Völkerrechts
und der Internationalen Beziehungen.2
Trotz der grossen Bedeutung dieses Begriffs für
die Rechts- und die Politikwissenschaft fehlt bis
heute eine allgemein anerkannte Definition/' Allein
im hier zu untersuchenden Bereich unterscheidet
der Völkerrechtler Detlev C. Dicke 15 Bedeutungs-
inhalte des Begriffs.4 Dieser Wirrwarr trägt dazu
bei, dass in der aktuellen Literatur sowohl von der
Aushöhlung oder gar dem Ende der Souveränität
als auch von deren Wiederauferstehung oder Stär-
kung die Rede ist. Auf der einen Seite wird auf die
abnehmenden Steuerungskapazitäten der Staaten
hingewiesen, auf der anderen Seite jedoch auf die
Tatsache, dass im Laufe der Geschichte immer
zahlreichere Bereiche der Gesellschaft der regle-
mentierenden Autorität des Staates unterworfen
wurden/'
Um die begrifflichen Unklarheiten zu minimie-
ren, soll in einem ersten Schritt der Terminus Sou-
veränität näher bestimmt und seine relevanten
Aspekte herausgearbeitet werden. Gestützt auf die-
se Grundlagen lässt sich dann im Hauptteil dieser
Arbeit die Entwicklung der Souveränitätskonzepti-
on vom klassischen bis zum modernen Völkerrecht
nachzeichnen. Zum Schluss soll dann der Frage
nachgegangen werden, wie sich einige aktuelle
Entwicklungen, die noch zu neuartig für eine ab-
schliessende Bewertung sind, auf das Konzept der
Souveränität auswirken.
1) Auf eine Untersuchung der innenpolitischen Souveräni tät kann
verzichtet werden, da sich in diesem Bereich das Bekenntnis zur
Demokratie als bester Staatsform weitgehend durchgesetzt hat.
Damit geht eine relativ einhellige Bejahung des Prinzips der Volks-
souveräni tä t und eine Ablehnung der alternativen monarchischen
und aristokratischen Souveräni tä t einher (Kielmansegg 1977, S. 9).
2) Hempel 1952. S. 12.
3) Müller-Wewel 2003, S, 1,
4) Dicke 1978, S. 56 ff.
5) Für einen Überblick über die aktuellen Standpunkte in der Souve-
räni tä tsdiskussion vgl. Krasner 1999, S. 1-7.
53
B E G R I F F S B E S T I M M U N G
Obschon bereits im Altertum verschiedene, vonein-
ander unabhängige Staaten existiert hatten, ent-
stand der Begriff der staatlichen Souveränität erst
gegen Ende des Mittelalters im Kampf gegen den
weltlichen Vorherrschaftsanspruch des Heiligen
Römischen Reichs und des Papstes.6 Die Wurzel
dieses Konflikts lag im Übergang von der Feudal-
herrschaft zum Territorialstaat. So wurde seit Be-
ginn des 13. Jahrhunderts in Frankreich die These
vertreten, dass der König von Frankreich in seinem
eigenen Königreich eine kaisergleiche Position in-
nehabe («rex Franciae est imperator in suo reg-
no»). 7 Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde
dieser Gedanke in England und im 14. Jahrhundert
auch in Deutschland aufgegriffen. Ein ähnlicher
Anspruch wurde von den italienischen Stadtrepu-
bliken vertreten, die sich als «civitates qui utuntur
jurisdictione imperiali» verstanden.8
Eine eigentliche Theorie der Souveränität findet
sich jedoch erst Ende des 16. Jahrhunderts bei
Jean Bodin, der in seinen «Les Six Livres de la Re-
publique» den Begriff «souverainete» als «puis-
sance absolue et perpetuelle d'une Republique» 9
definiert und zur Grundlage einer systematischen
Lehre vom Staat macht. Diese höchste Macht ist
absolut und unteilbar. Der Souverän kann Gesetze
erlassen, ohne dass ihnen irgendjemand anders
zustimmen müsste. Zugleich ist er selbst an keine -
menschlichen - Gesetze, sondern nur an das «Na-
tur-» und das «Völkerrecht» gebunden. Als «Sou-
verän» sind demnach jene Gemeinschaften oder
Personen anzusehen, die keiner höheren - irdi-
schen - Instanz (potestas) untergeordnet sind. 1 0
Mitte des 18. Jahrhunderts vertiefte Emer de
Vattel die Analyse der staatlichen Souveränität und
ermittelte drei konstitutive Merkmale des Begriffs:
Unabhängigkeit von anderen Staaten, Selbstregie-
rung sowie als drittes, abgeleitetes Kriterium, wel-
ches sich aus den beiden vorhergehenden ergibt,
die Völkerrechtsunmittelbarkeit. 1 1 Diese Definition
entwickelte sich zur geltenden Doktrin des klassi-
schen Völkerrechts. So bestätigte etwa der Ständi-
ge Internationale Gerichtshof 1929 in seinem
Schiedsspruch zum Palmas-Fall die Gültigkeit die-
ser Auffassung: «Sovereignity in the relation bet-
ween States signifies independence. Independence
in regard to a portion of the globe is the right to
exercise therein, to the exclusion of any other State,
the functions of a State.» 1 2 Gemäss dieser Lesart
lässt sich Souveränität wie folgt bestimmen: Ein
Staat ist souverän, wenn er keiner anderen Auto-
rität unterstellt ist als der des Völkerrechts, also
völkerrechtsunmittelbar ist. 1 3 Im Rahmen der wei-
teren Untersuchung wird von diesem Souverä-
nitätsbegriff ausgegangen.
DIMENSION DER S O U V E R Ä N I T Ä T
Nach der Bestimmung des Begriffs werden in die-
sem Abschnitt die relevanten Dimensionen der
Souveränität herausgearbeitet. Dabei gehen wir
von den gebräuchlichsten Differenzierungen aus,
die im Völkerrecht und in der Politikwissenschaft
(Theorien der Internationalen Beziehungen) getrof-
fen werden. In diesem Zusammenhang muss je-
doch von Beginn weg darauf hingewiesen werden,
dass nicht alle vorgestellten Souveränitätsdimen-
sionen von gleicher Bedeutung sind. 1 4
In der völkerrechtüchen Literatur werden an-
hand von vier Begriffspaaren folgende Dimensio-
nen der Souveränität unterschieden: 1. absolute
und relative Souveränität, 2. positive und negative
Souveränität, 3. innere und äussere Souveränität
sowie 4. rechtliche und politische Souveränität. 1 5
Die erste Unterscheidung zwischen relativer und
absoluter Souveränität zielt auf den Geltungsbe-
reich des Souveränitätsprinzips ab. Während rela-
tive Souveränitätsauffassungen gewisse Einschrän-
kungen der Souveränität, die sich insbesondere aus
der Existenz anderer, gleichberechtigter Staaten
ergeben, als zulässig erachten, sind gemäss den
absoluten Auffassungen keinerlei Souveränitätsbe-
schränkungen möglich. Absolute Souveränität, ver-
standen als rechtliche Ungebundenheit, kann es
folglich in einem System souveräner Gleichheit aus
Gründen der Logik nicht geben,1 6 liesse sich doch
54
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
die absolute Souveränität eines einzelnen Staates
nur in der Vorherrschaft realisieren, welche im Ge-
gensatz zu der Koexistenz gleichberechtigter Staa-
ten s tünde. 1 7
Das zweite Begriffspaar positive und negative
Souveränität wird analog zur Unterscheidung zwi-
schen positiver und negativer Freiheit gebraucht.
In diesem Sinne bedeutet positive Souveränität
Handlungsfreiheit (Freiheit zu). Demgegenüber
wird unter negativer Souveränität Handlungsauto-
nomie (Freiheit von) im Sinne des Freiseins von
Einflüssen anderer Akteure verstanden.1 8
In ihrer dritten Ausprägung umfasst Souverä-
nität sowohl eine innerstaatliche als auch eine äus-
sere Dimension: Innere Souveränität liegt dann vor,
wenn ein Staat für seine Angehörigen und auf sei-
nem Territorium der höchste Herrschaftsverband
ist, gegen dessen Entscheidungen an keine höhere
Stelle appelliert werden kann. Äussere Souverä-
nität bedeutet demgegenüber, dass die Staaten un-
tereinander keiner überstaatlichen Macht, sondern
bloss dem vom zwischenstaatlichen Konsens getra-
genen Völkerrecht untergeordnet sind. 1 9
Die vierte Unterscheidung zwischen rechtlicher
und politischer Souveränität bezieht sich auf das
«field of manifestation of Sovereignty». 2 0 In diesem
Sinne spricht man von rechtlicher Souveränität,
wenn ein Staat den vollen Status der Souveränität
geniesst, das heisst seine Handlungsfreiheit nicht
rechtlich begrenzt ist. 2 1 Demgegenüber wird unter
der politischen Souveränität die Eigenschaft eines
Staates verstanden, dass er alle wesentlichen
Staatsfunktionen selbständig - ohne Einmischung
von aussen - ausüben kann. 2 2
In den Theorien der Internationalen Beziehun-
gen werden - teilweise jedenfalls - andere Aspek-
te der Souveränität betont als in der Völkerrechts-
lehre. Stephen D. Krasner macht in der heutigen
Diskussion vier unterschiedliche Dimensionen des
Begriffs aus: 1. de-iure-Souveränität (internatio-
nal legal sovereignty), 2. westfälische Souverä-
nität (Westphalian sovereignty), 3. innerstaatli-
che Souveränität (domestic sovereignty) und 4. In-
terdependenzsouveränität (interdependence sov-
ereignty).2 3
Die de-iure-Souveränität betrifft die Praxis der
gegenseitigen Anerkennung von Staaten (oder an-
deren Territorialeinheiten), welche de iure unab-
hängig sind. Die grundlegende Frage bei dieser Art
der Souveränität ist, ob die Autorität eines Staates,
völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, aner-
kannt wird. Dabei steht - entgegen des ersten An-
scheins - nicht der rechtliche Aspekt der Anerken-
nung im Vordergrund, sondern der politische. Aus
dieser Perspektive wird de-iure-Souveränität als
eine politische Ressource begriffen. Diese wird ei-
nerseits von den anerkennenden Staaten gemäss
ihren eigenen Interessen eingesetzt (Strafe - Beloh-
nung). Für die Anerkennung suchenden Staaten
stellt sie andererseits «a ticket of general admission
to the international a r ena» 2 4 dar. Nur anerkannte
Staaten gemessen die «souveräne Gleichheit» im
Rahmen des Völkerrechts. Nur als solche können
6) Verdross, Simma 1984, S. 26.
7) Zit. in: Münkler 2004. S. 23.
8) Verdross. Simma 1984. S. 25.
9) Bodin 1986. 1 8.
10} Verdross, Simma 1984. S. 27.
11) Vattel 1916, S. XVII ff.
12) Palmas Fall (UNRIAA 2 829) in: Jörg Paul Müller: Luzius Wildha-
ber: Praxis des Völkerrechts. Bern, 1982, S. 144.
13) Verdross, Simma 1984, S. 28.
14) Müller-Wewel 2003, S. 172.
15) Ritterband 1982, S. 236 f.
16) Der Widerspruch Hesse sich nur durch die Schaffung eines
VVeltstaates lösen, auf den die einzelnen Staaten ihre Souveräni tät
freiwillig und vollständig über t ragen würden .
17) Müller-Wewel 2003, S. 172 f.
18) Ebenda, S. 178.
19) Verdross. Simma 1984, S. 29.
20) Schwarzenberger 1957. S. 268.
21) Müller-Wewel 2003, S. 183.
22) Verdross, Simma 1984, S. 30.
23) Zum Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, vgl. Krasner
1999 S. 9-25.
24) Fowler, ßunck 1995, S. 12.
55
sie beispielsweise Mitglieder in der UNO oder den
Bretton-Woods-Institutionen werden oder unter ei-
genem Namen auf den internationalen Kapital-
märkten Geld aufnehmen. Neben den materiellen
Vorteilen verschafft die Anerkennung auch Prestige
und Statusvorteile. Diese Ressourcen können dann
wiederum in der Innenpolitik eingesetzt werden.
Die westfälische Souveränität bedeutet, dass ein
Staat die Autorität besitzt, seine internen Angele-
genheiten autonom, das heisst ohne Einfluss von
aussen zu gestalten. Sie wird verletzt, wenn exter-
ne Akteure Autoritätsstrukturen in einem bestimm-
ten Territorium beeinflussen oder bestimmen.
Die innerstaatliche Souveränität gibt Antwort
auf die Frage, aufweiche Art die öffentliche Gewalt
in einem Staat organisiert ist und ob diese effektiv
ausgeübt wird. Sie umschreibt die formale Organi-
sation politischer Autorität innerhalb eines Staates
und die Effektivität ihrer Ausübung.
Interdependenzsouveränität schliesslich zielt auf
die Fähigkeit der Behörden, den Fluss von Infor-
mationen, Ideen, Kapital, Waren, Menschen und
Schadstoffen über die Grenzen eines Gemeinwe-
sens hinweg zu kontrollieren und zu regulieren.
Obwohl sich die völkerrechtliche und die poli-
tikwissenschaftliche Perspektive hinsichtlich der
Souveränität unterscheiden, bestehen über weite
Strecken inhaltliche Übereinstimmungen. Aus die-
sem Grunde dürfen die Differenzen nicht überbe-
tont werden. Im Folgenden kann auf die Begriffe
de-iure-Souveränität, westfälische Souveränität
und innerstaatliche Souveränität weitgehend ver-
zichtet werden. Während die de-iure-Souveränität
für die folgende Untersuchung nicht erheblich ist,
weil sie sich auf die politische Praxis einzelner
Staaten und nicht auf die konzeptionelle Ebene be-
zieht, lassen sich die zentralen Aspekte der westfä-
lischen und der innerstaatlichen Souveränität in
den meisten Fällen durch das Begriffspaar innere
und äussere Souveränität abdecken.
DIE KLASSISCHE S O U V E R Ä N I T Ä T S -
K O N Z E P T I O N
Die Epoche des klassischen Völkerrechts 2 5 begann
1648 mit dem Westfälischen Frieden und dauerte
bis ins 20. Jahrhundert. Die Völkerrechtstheorie,
die dieser Epoche zugrunde lag, war ein Produkt
des europäischen Denkens, weshalb das Völker-
recht bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als «eu-
ropäisches öffentliches Recht» (ius publicum euro-
paeum) bezeichnet wurde, obschon aussereuropäi-
sche Mächte wie die USA oder südamerikanische
Staaten als gleichberechtigte Mitglieder der Völker-
rechtsordnung gesehen wurden. 2 6 Erst im 20. Jahr-
hundert, als mit dem Ersten Weltkrieg die Epoche
des klassischen Völkerrechts zu Ende ging, ent-
stand ein globales Völkerrechtsverständnis.
Der Westfälische Frieden ist das erste völker-
rechtliche Dokument, in dem die Souveränität aus-
drücklich bestätigt wird . 2 7 Zunächst wurde diese
als Eigenschaft der souveränen Fürsten gesehen,
welche als unabhängige, gleichberechtigte Herr-
scher keinen Höheren über sich anerkannten. Die-
se Konstellation hatte zur Folge, dass dem Völker-
recht die Funktion der Koordination des Verkehrs
zwischen den souveränen Staaten zukam. Dabei
spielte die Diplomatie eine bedeutende Rolle. Die
formalen Regeln des diplomatischen Verkehrs wa-
ren im Gesandtschaftsrecht geregelt und wurden
1961 im Wiener Abkommen über diplomatische
Beziehungen kodifiziert. 2 8 In diesem Zusammen-
hang gilt es festzuhalten, dass allen Völkerrechts-
subjekten, aber insbesondere den Staaten das Recht
zusteht, diplomatische Vertreter an andere Völker-
rechtssubjekte zu entsenden und deren diplomati-
sche Vertreter zu empfangen. 2 9
Das Prinzip der souveränen Gleichheit führt
dazu, dass Völkerrecht nur durch Konsens zwi-
schen Staaten erzeugt werden kann, sei es durch
Verträge oder sei es durch Völkergewohnheits-
recht. Daraus folgt einerseits, dass im klassischen
Völkerrecht die Staaten als die zentralen Akteure
anzusehen waren. 3 0 Andererseits wird auch deut-
lich, dass die wichtigste Voraussetzung für das
Funktionieren einer solchen Ordnung die allseitige
56
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
Einhaltung der Rechtsnormen, die wechselseitige
Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen war.
Dies wiederum erlaubt es, die Grundsätze der Ge-
genseitigkeit (Reziprozität) sowie von Treu und
Glauben (bona fides) als Eckpfeiler des klassischen
Völkerrechts zu identifizieren.
Weiters lässt sich aus dem Prinzip der souverä-
nen Gleichheit das Verbot der Einmischung in die
inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ab-
leiten. Obwohl diese Maxime als Kernelement der
westfälischen Souveränität gilt, wurde sie erst ge-
gen Ende des 18. Jahrhunderts klar formuliert. 3 1
Zahlreiche Beobachter sahen im Interventionsver-
bot sogar das Schlüsselelement staatlicher Souve-
ränität: «The grundnorm of such a political arran-
gement (sovereign statehood) is the basic prohibiti-
on against foreign Intervention which simulta-
neously imposes duty of forbearance and confers a
right of independence on all s tatesmen.» 3 2 In dieser
Pflicht liegen die ursprünglichen staatlichen Grun-
drechte der gegenseitigen Achtung der Ehre, der
Gebietshoheit und der politischen Unabhängigkeit
begründet . 3 3
Das Prinzip der souveränen Gleichheit führt -
konsequent zu Ende gedacht - dazu, dass es im in-
ternationalen System keine zentrale Macht gibt,
sondern dieses dezentral und anarchisch organi-
siert ist. Unter solchen Rahmenbedingungen defi-
nierten und verfolgten die einzelnen Staaten ihre
Interessen autonom. Dabei steigerte das Fehlen ei-
ner Koordinationsstelle die Wahrscheinlichkeit von
(Interessens-)Konflikten. Da die Interessen der Staa-
ten aber gleichberechtigt nebeneinander standen
und eine Autorität fehlte, die einen allfälligen Streit
hätte schlichten können, waren die Akteure ge-
zwungen, ihre Interessen selbst, notfalls auch mit
Gewalt, durchzusetzen (Selbsthilfeprinzip). Folglich
beinhaltete die Souveränität ein Recht zum Kriege
(ius ad bellum). 3 4 Unter den Bedingungen eines an-
archischen internationalen Systems wurde Krieg
als ein rationales Instrument der Politik gesehen.
Oder um es mit den Worten von Carl von Clause-
witz zu sagen: «So sehen wir, dass der Krieg nicht
bloss ein politischer Akt, sondern ein wahres politi-
sches Instrument ist, eine Fortsetzung des politi-
schen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit an-
deren Mitteln.» 3 5
Im klassischen Völkerrecht wich die ältere Auf-
fassung, dass Kriege nur aus gerechten Gründen
geführt werden dürfen (bellum iustum) einem in-
strumentellen Verständnis, welches den Krieg,
ohne moralisch oder politisch zu werten, als einen
von zwei möglichen Rechtszuständen im Verkehr
zwischen den Staaten ansah. Die Wertneutralität
des Völkerrechts machte es möglich, den Zustand
des Krieges ohne Rücksicht auf Kriegsschuld oder
gerechten Kriegsgrund rechtlich zu normieren, um
Unbeteiligte zu schützen und die Wirkung der
25) Es sind auch andere Klassifikationen denkbar. So schlägt etwa
Grewe (198S). sich - realgeschichtlich - an der vorherrschenden
Macht auf dem europäischen Kontinent orientierend, eine Einteilung
vor, welche die Epoche von 1648 bis 1815 als f ranzös isches Zeital-
ter, die Epoche von 1815 bis 1919 als englisches Zeitalter bezeich-
net. Da wäh rend der ganzen Epoche von 1648 bis 1919 ein einheitli-
ches Souveräni tä tsvers tändnis vorherrschte, wird im Rahmen dieser
Arbeit der gebräuchl icheren Periodisierung gefolgt, welche den
gesamten Zeitraum als klassisch bezeichnet (Dahm/Delbrück/Wolf-
rum 1989, S. 22).
26) Diese Staaten wurden, da sie dem europäischen Kulturkreis
entstammten, als «europäische Staaten» angesehen. In dieser Auf-
fassung von Mitgliedschaft in der Völkerrechtsgemeinschaf t lebte der
alte Gedanke des christlichen Abendlandes fort. Die Aufnahme von
ausserhalb dos chr is t l ich-abendländischen Kulturkreises stehenden
Staaten erfolgte ausdrücklich als «Aufnahme in das europäische
öffentliche Recht». Vgl. dazu Kimminich 1990, S. 70 f.
27) Ebenda, S. 71.
28) Wiener Übere inkommen über diplomatische Beziehungen. In:
Randelzhofer 2004, S. 131-142.
29) Kimminich 1990. S. 344.
30) Im klassischen Völkerrecht spielte das Individuum keine Rolle.
Es wurde durch seinen Staat mediatisiert. Dieser war auch zustän-
dig für den Schutz seiner Staatsangehör igen.
31) Dazu ausführl icher : Krasner 1999. S. 20 f.
32) Jackson 1990, S. 6 (Hervorhebung im Original).
33) Verdross, Simma 1984. S. 61.
34) Obwohl das Friedensinstrument von Münster noch eine Pflicht
zur friedlichen Streitbeilegung und eine Verpflichtung, gemeinsam
gegen Rechtsbrecher einzuschreiten, vorgesehen hatte, gerieten
beide Instrumente bald in Vergessenheit. Vgl . dazu: Verdross,
Simma 1984, S. 62.
35) Clausewitz 1990, S. 34.
57
Kriegshandlungen möglichst e inzudämmen. 3 6 Die-
ses Recht im Kriege (ius in hello), das seinen Nie-
derschlag in den Genfer 3 7 und in den Haager Kon-
ventionen 3 8 fand, stellte einen ersten Ansatz zur
Humanisierung der Kriegführung dar. Daneben
Hessen sich gegen Ende der klassischen Epoche
auch Bestrebungen beobachten, die Gewaltanwen-
dung zu beschränken und Instrumente zur friedli-
chen Streitbeilegung, wie etwa den heute noch be-
stehenden Haager Ständigen Schiedsgerichtshof zu
schaffen suchten.3 9
Die klassische Souveränitätskonzeption lässt
sich abschliessend wie folgt umreissen: Die Staaten
als Träger der Souveränität waren die primären
Akteure des Völkerrechts. Bindende Normen konn-
ten nur mit ihrer Zustimmung geschaffen werden.
Dabei sollte das Prinzip der Nichteinmischung die
Respektierung sowohl der inneren als auch äusse-
ren Souveränität sicherstellen. Da das anarchische
internationale System weder für die Sicherstellung
der rechtlichen Ansprüche noch die friedliche Lö-
sung von Konflikten Gewähr bot, waren die Staaten
gezwungen, ihre Ansprüche selbst durchzusetzen.
Aus diesem Grunde umfasste die Souveränität auch
das Recht zum Krieg. Dennoch darf nicht gefolgert
werden, dass in der klassischen Epoche eine abso-
lute Souveränitätskonzeption vorherrschte. Die Pra-
xis ist stets von der Existenz einer verbindlichen
Rechtsordnung ausgegangen. Die Auffassung der
Staaten, durch das Völkerrecht eingeschränkt zu
sein, kam insbesondere dadurch zum Ausdruck,
dass selbst während des 19. Jahrhunderts die Re-
geln der Reziprozität, von Treu und Glauben sowie
der Staatenverantwortlichkeit anerkannt waren. 4 0
DIE M O D E R N E S O U V E R Ä N I T Ä T S -
K O N Z E P T I O N
Das klassische Völkerrecht hatte ein wertneutrales
Gefüge geschaffen für den Verkehr von souveränen
Staaten in Krieg und Frieden auf der Grundlage der
gegenseitigen Achtung der territorialen Unver-
sehrtheit und Unabhängigkeit. 4 1 Zunächst hatte die
Westfälische Ordnung die Form einer «nichtorgani-
sierten Gemeinschaft». 4 2 Die 1815 geschaffene Hei-
lige Allianz stellte einen ersten Versuch zu einer
stärkeren Organisation des Systems dar. Dabei
sorgte eine Pentarchie von Grossmächten (Gross-
britannien, Frankreich, Österreich, Preussen und
Russland) für die Erhaltung des Machtgleichge-
wichts in Europa (das sogenannte europäische Kon-
zert). Grundprinzip des europäischen Konzerts war,
dass jeder Machtzuwachs einer Grossmacht durch
einen entsprechenden Machtzuwachs der anderen
Grossmächte auszugleichen war. Dieses System konn-
te nur funktionieren, solange ausserhalb Europas
Kompensationsräume vorhanden waren und alle
Grossmächte ein Interesse an seiner Bewahrung
hatten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren
mit dem preussischen Streben nach Vorherrschaft
und dem Abschluss des Rennens um die letzten
weissen Flecken auf dem Globus alle Voraussetzun-
gen für die Aufrechterhaltung des europäischen
Konzerts weggefallen. Im Ersten Weltkrieg fand
schliesslich die klassische Epoche des Völkerrechts
ihren Abschluss. 4 3
Aufgrund der Erfahrungen des Ersten Welt-
kriegs begann sich die Erkenntnis durchzusetzen,
dass Krieg unter den Bedingungen der Industrie-
kultur eine existentielle Gefahr für die ganze
Menschheit darstellt. Die ungeheuren Verwüstun-
gen, die ein mit modernen Mitteln geführter Krieg
mit sich bringt, stellen die Funktionalität und Ra-
tionalität des Krieges an sich in Frage. Aufgrund
dieser Tatsache sahen sich das Völkerrecht und die
Theorien der Internationalen Beziehungen mit der
Notwendigkeit konfrontiert, neue Formen des zwi-
schenstaatlichen Verkehrs und des Konfliktmana-
gements zu finden. Der Übergang vom klassischen
zum modernen Völkerrecht vollzog sich in mehre-
ren Etappen. Dabei trat an die Stelle der blossen
Koordination des zwischenstaatlichen Verkehrs
eine Kooperation zwischen den Staaten, und das
ius ad bellum wurde durch ein umfassendes Ge-
waltverbot abgelöst.
58
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
Z E I T A L T E R DES V Ö L K E R B U N D S
Die Schaffung des Völkerbundes stellte einen ers-
ten Versuch der internationalen Gemeinschaft dar,
auf die veränderten Verhältnisse nach dem Ersten
Weltkrieg zu reagieren. Sein Hauptziel war es, den
Weltfrieden zu sichern und die internationale Zu-
sammenarbeit zu fördern . 4 4 Die Satzung des Völ-
kerbundes (SVB) 4 5 enthielt ein eigentliches Kriegs-
verhütungsrecht, das auf den Pfeilern der Abrüs-
tung, Schiedssprechung und Sicherheit basierte.4 6
Ausgehend von der Verpflichtung, dass die Mitglie-
der des Völkerbundes gegenseitig ihre territoriale
Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit zu
respektieren und gegen jeden äusseren Angriff auf-
rechtzuerhalten hatten (SVB, Art. 10), sollte der
Krieg mittels eines Systems der kollektiven Sicher-
heit verhindert werden. Artikel 11, Absatz 1 der
SVB formulierte diesen Gedanken wie folgt: «Es
wird ausdrücklich erklärt, dass jeder Krieg und
jede Kriegsdrohung, den ganzen Völkerbund
angeht, und dass dieser die erforderlichen Mass-
nahmen ergreifen soll, um den Völkerfrieden
aufrechtzuerhalten.» Ein Angriff gegen ein einzel-
nes Mitglied sollte als Angriff gegen alle anderen
Mitglieder des Völkerbundes gelten. Im Falle eines
solchen Angriffs waren die Mitgliedstaaten ver-
pflichtet, unverzüglich alle Handels- und Finanzbe-
ziehungen abzubrechen und jeden finanziellen,
kommerziellen und persönlichen Verkehr ihrer
Staatsangehörigen mit dem Aggressor zu unterbin-
den (SVB, Art. 16 Abs. 1). Ein generelles Kriegsver-
bot war zwar in der Satzung des Völkerbundes
noch nicht enthalten. Der Grundsatz, dass die Ent-
scheidung für den Krieg nicht mehr ausschliesslich
Sache der einzelnen Staaten sei, bedeutete jedoch
eine Absage an das ius ad bellum. 4 7
Obwohl der Völkerbund sich bemühte, das parti-
elle Kriegsverbot zu stärken und auszudehnen, trat
das Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924, das ein
Verbot des Angriffskrieges vorsah und diesen sogar
ausdrücklich als «internationales Verbrechen» be-
zeichnete, nie in Kraft. 4 8 Hingegen konnte die Aus-
weitung des partiellen zu einem generellen Kriegs-
verbot im Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 1928
vollzogen werden. 4 9 Darin verpflichteten sich die
Vertragsparteien, den Krieg als Mittel für die Lö-
sung internationaler Streitfälle zu verurteilen, auf
ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegen-
seitigen Beziehungen zu verzichten (Art. I.) und
Streitigkeiten stets mit friedlichen Mitteln beizule-
gen (Art. IL). Das Recht zur Selbstverteidigung war
vom Kriegsverbot hingegen nicht tangiert. Insge-
samt trat die überwiegende Mehrheit der Völker-
bundsstaaten dem Briand-Kellog-Pakt bei. Es fehl-
ten nur vier südamerikanische Staaten, die aber
untereinander durch den Saavedra-Lamas-Vertrag
vom 10. Oktober 1933 ähnliche Verpflichtungen
eingegangen waren. Aus diesem Grund wird von
der Völkerrechtsliteratur fast einhellig die Meinung
vertreten, dass das Kriegsverbot schon vor dem
36) Kimminich 1990, S. 76.
37) 1864 wurde die erste Genfer Konvention angenommen. Das aus
historischer Sicht zweite Abkommen war die derzeitige dritte Genfer
Konvention aus dem Jahr 1929. Zusammen mit den beiden neuen
Abkommen wurden die bestehenden Konventionen 1949 überarbe i -
tet und 1977 durch zwei Zusatzprotokolle ergänzt , welche erstmals
Regeln zum Umgang mit Kombattanten in den Kontext der Genfer
Konventionen integrieren (Hasse/Müller 2001, S. 28 ff.). Vgl . ausser-
dem Randelzhofer 2004, S. 721-780, sowie Dunant 1942.
38) Die 13 auf den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 zwi-
schen den wichtigsten damaligen Mächten abgeschlossenen Abkom-
men werden als die Haager Konventionen bezeichnet. In ihnen wer-
den die Verfahren, die zulässigen Mittel und Methoden der Krieg-
füh rung sowie Regeln für den Umgang mit Personen festgelegt, die
an den Kriegshandlungen beteiligt sind. Sie sind grossteils bis heute
noch gültig. Vgl . Kimminich 1990, S. 434 und Randelzhofer 2004,
S. 605-620 sowie S. 713-720.
39) Verdross. Simma 1984, S. 65.
40) Müller-Wewel 2003, S. 176.
41) Kimminich 1990, S. 76.
42) Verdross, Simma 1984, S. 62.
43) Kimminich 1990, S. 77 ff.
44) Verdross, Simma 1984, S. 66.
45) Satzung des Völkerbundes in: BBL 1919 IV, S. 650-663.
46) Kimminich 1990, S. 84.
47) Ebenda, S. 86.
48) Ebenda, S. 89.
49) Vertrag über die Ächtung des Krieges (Briand-Kellog-Pakt). In:
Randelzhofer 2004, S. 603-604.
59
Zweiten Weltkrieg Bestandteil des allgemeinen Völ-
kerrechts geworden war. 5 0
Die politische Realität stand jedoch in der Zwi-
schenkriegszeit in einem klaren Gegensatz zu den
Prinzipien des geltenden - modernen - Völker-
rechts. Es war nicht gelungen, eine stabile interna-
tionale Ordnung zu schaffen, und auch das zentra-
le Anliegen des Völkerbundes, die Sicherung des
Friedens, war schon vor Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges gescheitert.51 Da sich die hochgesteck-
ten Erwartungen nicht erfüllt hatten, sahen zahl-
reiche Beobachter die Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen als eine «Twenty Years Crisis» 5 2.
DAS Z E I T A L T E R DER UNO
Obwohl sich das vom Völkerbund begründete Sys-
tem der kollektiven Sicherheit nicht als funktions-
fähig erwiesen hatte, wurden nach dem Beginn des
Zweiten Weltkrieges neue Pläne für eine neue -
wirksamere - Weltorganisation gefasst.53 Mit der
Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen
(im Folgenden UNC) 5 4 am 26. Juni 1945 in San
Francisco begann die zweite Epoche des modernen
Völkerrechts. Durch sie wurde das klassische Völ-
kerrecht, das wegen des Versagens des Völkerbun-
des wieder aufgelebt war, zur Ordnung der neu or-
ganisierten Staatengemeinschaft umgestaltet. Da
zwischenzeitlich praktisch alle Staaten Mitglieder
der Vereinten Nationen (im Folgenden UNO) ge-
worden sind, ist die UNC zur Grundordnung des
gegenwärtigen universellen Völkerrechts aufge-
rückt. 5 5 Aus diesem Grund ist sie auch für die For-
mulierung des neuen Souveränitätsverständnisses
von ausschlaggebender Bedeutung.
Die UNC entfaltet eine Friedensordnung und
markiert den Übergang vom koordinativen zum ko-
operativen Völkerrecht. Oberstes Ziel der UNO ist
die Wahrung oder gegebenenfalls die Wiederher-
stellung des Weltfriedens mittels kollektiver Mass-
nahmen. 5 6 Daneben sollen freundschaftliche, auf
der Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbe-
stimmung der Völker beruhende Beziehungen zwi-
schen den Nationen gefördert werden. 5 7 Die UNO
will die internationale Zusammenarbeit ausbauen,
um internationale Probleme wirtschaftlicher, kultu-
reller und humanitärer Art zu lösen. Dabei gilt ihr
besonderes Augenmerk der Einhaltung der Men-
schenrechte.58
Nach den Zielen formuliert die UNC in Artikel 2
auch die Grundsätze, die für die Weltorganisation
gelten sollen. Dabei wird zunächst das Prinzip fest-
gelegt, dass die souveräne Gleichheit ihrer Mitglie-
der die Grundlage der UNO bildet. 5 9 Weiters wer-
den die Staaten zur Erfüllung der sich aus der UNC
ergebenden Pflichten, 6 0 der friedlichen Austragung
aller Streitfälle, 6 1 zur Beachtung des allgemeinen
Gewaltverbots62 und zur Unterstützung der Zwangs-
massnahmen der UNO 6 3 verpflichtet. Daneben müs-
sen sie auch dafür Sorge tragen, dass auch die
Nichtmitgliedstaaten die Grundsätze zur Aufrecht-
erhaltung des Friedens und der internationalen Si-
cherheit beobachten.6 4 Schliesslich wird festgehal-
ten, dass sich die UNO nicht in die inneren Angele-
genheiten der Staaten einmischen darf. 6 5
Das Entscheidverfahren in den beiden wichtig-
sten Organen der UNO, der Generalversammlung
und dem Sicherheitsrat, spiegelt das Bestreben wi-
der, einen Ausgleich zwischen völliger Gleichbe-
handlung der Staaten und der Berücksichtigung
der politisch relevanten Machtstrukturen zu fin-
den. 6 6 Das Versagen des Völkerbundes bei der Frie-
denssicherung war nicht zuletzt darauf zurückzu-
führen, dass Massnahmen nur von allen Mitglie-
dern einstimmig (mit Ausnahme des Aggressors)
ergriffen werden konnten. Um im Notfall schnell
und effizient handeln zu können, haben die Mit-
gliedstaaten der UNO dem Sicherheitsrat die Haupt-
verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens
und der internationalen Sicherheit über t ragen. 6 7
Dieses Organ umfasst fünf ständige (Volksrepublik
China, Grossbritannien, Frankreich, Russland so-
wie die USA) und zehn nicht-ständige Mitglieder,
die für zwei Jahre gewählt sind. 6 8 Der Sicherheits-
rat fasst seine Beschlüsse mit Mehrheitsentscheid,
dabei müssen mindestens neun der 15 Mitglieder
zustimmen, darunter alle ständigen Mitglieder.6 9
Die Beschlüsse des Sicherheitsrats sind für alle Mit-
gliedstaaten bindend. 7 0 Der Sicherheitsrat, insbe-
60
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
sondere die Institution der fünf ständigen Mitglie-
der, führt ein gewisses hierarchisches Element in
die UNO ein, das von der strikten Gleichheit der
Mitglieder abweicht. Demgegenüber ist die Gene-
ralversammlung der UNO paritätisch organisiert,
und alle Mitglieder verfügen über eine Stimme. 7 1
Die Generalversammlung kann alle Fragen und
Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit der UNC
fallen, erörtern und - rechtlich nicht verbindliche -
Empfehlungen an die UN-Mitglieder oder den Si-
cherheitsrat richten. 7 2 Dabei entscheidet die Gene-
ralversammlung bei wichtigen Fragen mit Zwei-
Drittels-Mehrheit und in allen anderen Fällen mit
einfacher Mehrheit. 7 3 Die hier geschilderte Mög-
lichkeit, völkerrechtliche Beschlüsse mit Mehrheits-
entscheid zu fassen, stellt eine weitere Einschrän-
kung der klassischen Souveränitätskonzeption dar.74
Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf
hingewiesen werden, dass die im Rahmen der UNO
beobachtbare Verringerung der inhaltlichen Reich-
weite der Souveränität mit einer Stärkung der Teil-
haberechte und des internationalen Schutzes ein-
hergeht.75
Die Entwicklung der Souveränitätskonzeption wur-
de neben der Schaffung der UNO auch durch die
Dekolonialisierung beeinflusst. Zwischen 1946 und
2002 erlangten mehr als 100 ehemalige Kolonien
die staatliche Unabhängigkeit. 7 6 Die UNO selbst hat
dazu beigetragen, dass dieser Prozess trotz aller
Schwierigkeiten zu einem erfolgreichen Ende ge-
führt werden konnte. Dabei war der Keim für die
Dekolonialisierung schon in der UNC von 1945 an-
gelegt, welche die Kolonialmächte verpflichtete, die
Kolonien zur Unabhängigkeit zu führen. 7 7 Es war
insbesondere die Generalversammlung, die mittels
50) Kimminich 1990, S. 90.
51) Müller-Wewel 2003, S. 69.
52) Grewe 1995, S. 841.
53) Verdross, Simma 1984, S. 70.
54) Charta der Vereinten Nationen (26. Juni 1945). In: Randelzhofer
2004. S. 1-24.
55) Verdross, Simma 1984, S. 72.
56) UNC, Art. 1, Ziff. 1.
57) UNC, Art. 1, Ziff. 2.
58) UNC, Art. 1. Ziff. 3.
59) UNC. Art. 2, Ziff. 1.
60) UNC. Art. 2, Ziff. 2.
61) UNC, Art. 2, Ziff. 3.
62) UNC, Art. 2, Ziff. 4.
63) UNC. Art. 2, Ziff. 5.
64) UNC, Art. 2, Ziff. 6.
65) UNC, Art. 2, Ziff. 7.
66) An dieser Stelle sollen nur die wichtigsten souveräni tä tsre levan-
ten Merkmale der UNO nähe r betrachtet werden. Für einen Über-
blick über den Aufbau, die Haupt- und Nebenorgane sowie die
Funktionsweise der UNO vgl. etwa Wolf 2005; Unser 2004: Fasulo
2003; Ziring, Riggs, Piano 2005.
67) UNC, Art. 24, Abs. 1
68) UNC, Art. 23, Abs. 1.
69) UNC, Art. 27, Abs. 3.
70) UNC, Art. 25.
71) UNC, Art. 9, Abs. 1.
72) Vgl. UNC, Art. 10. Allerdings gilt es in diesem Zusammenhang
den Vorrang des Sicherheitsrats bei den Fragen zu beachten, die die
Wahrung des Weltfriedens betreffen (Art. 12 Abs. 1 und Art. 24. Abs.
1 UNC).
73) UNC, Art. 18, Abs. 2.
74) Die klassische Souveräni tä tskonzept ion ging noch davon aus,
dass souveräne Staaten nur nach Massgabe ihrer Zustimmung recht-
lich gebunden werden konnten, weshalb sich in der politischen Pra-
xis der Grundsatz entwickelte, dass völkerrechtliche Beschlüsse ein-
stimmig zu fassen seien (Müller-Wewel 2003, S. 217 f.).
75) Fassbender 2004, S. 8.
76) Generell lässt sich die Geschichte der Dekolonialisierung in drei
Phasen zusammenfassen: In der ersten Phase (1946-1955) erlangten
die europäischen und japanischen Kolonien in Asien die Unabhän-
gigkeit. In der zweiten Phase (1956-1964) zerfielen das f ranzösische
und belgische Kolonialreich vollständig und das britische in Afr ika
fast vollständig. In der dritten Phase (nach 1965) zerfiel das portu-
giesische Kolonialreich, zudem erlangten zahlreiche Protektorate
und die meisten heute unabhängigen Inselstaaten ihre volle Souver-
äni tä t (davon war v.a. Grossbritannien betroffen). Der Vollständigkeit
halber sei noch auf den Zerfall der UdSSR, der zur Entstehung von
15 neuen Staaten führ te , das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, aus
dem 5 Staaten hervorgingen, sowie die Erlangung der Unabhängig-
keit von Osttimor verwiesen (Exenberger 2000, S. 14-15).
77) UNC, Art. 73.
61
Fürst Hans-Adam II. von
und zu Liechtenstein
spricht anlässlich der
46. Generalversammlung
der UNO in New York am
26. September 1991. Der
Fürst von Liechtenstein
hatte sich entscheidend für
den UNO-Beitritt seines
Landes engagiert. Dieser
Beitritt erfolgte 1990 und
stellte eine wichtige Be-
stätigung der liechtenstei-
nischen Souveränität dar.
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
Claudia Fritsche wurde im
September 1990 von Fürst
Hans-Adam II. zur ersten
ständigen Vertreterin Liech-
tensteins bei der UNO er-
nannt. Sie übte diese Funk-
tion bis zu ihrer Ernennung
zur residierenden Botschaf-
terin Liechtensteins mit Sitz
in Washington im Jahr
2002 aus. Hier im Bild aus
dem Jahr 1991 spricht
Claudia Fritsche vor der
UNO-Generalversammlung
in New York.
63
zahlreicher Resolutionen7 8 wesentlich zur Auflö-
sung des Systems des Kolonialismus beigetragen
hat. Nach einer kurzen Kontroverse in den 1960er
Jahren setzte sich in der Völkerrechtslehre die Mei-
nung durch, dass die neu unabhängig gewordenen
Staaten in Asien und Afrika nicht automatisch an
das allgemeine Völkerrecht gebunden werden kön-
nen, sondern nur Kraft eigenen Willens. In der Pra-
xis hat sich aber bald herausgestellt, dass die neu-
en Staaten das allgemeine Völkerrecht respektier-
ten und in völliger Gleichberechtigung mit den al-
ten Ländern an dessen Weiterentwicklung mitwirk-
ten. Hinsichtlich der hier interessierenden Souve-
ränität war die Haltung der neuen Staaten von ei-
ner gewissen Ambivalenz geprägt. 7 9 Einerseits poch-
ten sie auf die völlige Gleichheit der Staaten und
die Respektierung ihrer Souveränität, der territo-
rialen Unversehrtheit und politischen Unabhängig-
keit. 8 0 Andererseits betonten sie die Verpflichtung
der Völkergemeinschaft zur Zusammenarbeit und
die Notwendigkeit, den ärmeren und unterent-
wickelten Staaten Entwicklungshilfe zu leisten.81
Neben der Dekolonialisierung führte insbeson-
dere auch das Wachstum der internationalen Orga-
nisationen zu einer Expansion der Völkerrechts-
subjekte. Zwischen 1984 und 2000 hat sich die
Zahl der intergouvernementalen internationalen
Organisationen fast verfünffacht und betrug ge-
mäss Angaben der Union of International Associa-
tions 6415. Im gleichen Zeitraum ist hingegen die
Zahl der nichtstaatlichen internationalen Organisa-
tion fast explosionsartig von knapp 7000 auf fast
44 000 angewachsen.8 2 Natürüch besitzen nicht
alle (intergouvernementalen) internationalen Orga-
nisationen die Völkerrechtssubjektivität. 8 3 Es sind
die Staaten, die - mittels eines multilateralen Ver-
trages - festlegen können, ob und in welchem Um-
fang die von ihnen geschaffenen internationalen
Organisationen völkerrechtlich verkehrsfähig sind. 8 4
Die Skala reicht dabei von Organisationen ohne
völkerrechtliche Verkehrsfähigkeit bis hin zu den
supranationalen Organisationen, die über eigen-
ständige Entscheidungsbefugnisse verfügen. 8 5
Aber die steigende Anzahl der internationalen
Akteure deutet auf eine strukturelle Änderung der
internationalen Politik hin, die analog zur inner-
staatlichen Entwicklung verläuft, bei welcher sich
beobachten lässt, dass sich die Formen staatlichen
Handelns von hierarchischen zu kooperativeren
Formen verschoben haben («governance versus
government»). 8 6 Die Anliegen der einzelnen Länder
lassen eher in Kooperation mit anderen Staaten
oder nicht-staatlichen Akteuren als - traditionell -
hoheitlich durchsetzen.8 7 Diese Entwicklung wird
akzentuiert durch das Verhalten und die Verhand-
lungsmacht transnationaler Konzerne, die auf-
grund ihrer ökonomischen Potenz den Staaten ei-
nen Standortwettbewerb aufzwingen können. Da-
bei nimmt die Rolle der Staaten in der internatio-
nalen Politik ab, was tendenziell wiederum den
Wert der Souveränität mindert.
Die bereits beschriebene Zunahme der Völker-
rechtssubjekte ging einher mit einer Expansion in
inhaltlicher Hinsicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg
sind in allen Regelungsbereichen wesentliche
Neuerungen eingetreten. Heute gibt es praktisch
keine Materien mehr, die prinzipiell dem Völker-
recht verschlossen wären. Dieses deckt praktisch
die gleichen Bereiche ab wie das innerstaatliche
Recht, allerdings ohne in der Regel dessen Rege-
lungstiefe zu erreichen. Neue, bedeutende Entwick-
lungen stellen etwa die Regeln zur Durchsetzung
der Menschenrechte und das internationale Um-
weltrecht dar.8 8 Diese Sachgebiete sind tendenziell
geeignet, sowohl die innere als auch die äussere
Souveränität der Staaten einzuschränken. In die-
sem Zusammenhang ist vereinzelt schon die Mei-
nung vertreten worden, dass aufgrund des völker-
rechtlichen Menschenrechtsschutzes das Individu-
um - zumindest partielle - Völkerrechtssubjekti-
vität erlangt habe. Diese Ansicht wird jedoch von
der herrschenden Lehre abgelehnt.89 Hingegen hat
der Ausbau der Instrumente zum Schutz der Men-
schenrechte - wie zum Beispiel die Europäische
Menschenrechtskonvention9 0 - zu einer Einschrän-
kung innerstaatlicher Handlungsmöglichkeiten und
damit auch zur Begrenzung der inneren Souverä-
nität geführt. Auch im Hinblick auf die Rege-
lungstendenz lassen sich Veränderungen feststel-
len. Neben dem bis anhin existierenden Koexis-
64
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
tenzvölkerrecht, das sich auf wenige Felder, insbe-
sondere die Abgrenzung der staatlichen Souverä-
nitätsbereiche und die Regelung des zwischen-
staatlichen Verkehrs beschränkt hatte, entfaltet sich
immer mehr ein Völkerrecht, das auf die Koopera-
tion zwischen den einzelnen Staaten, sei es bei-
spielsweise im Bereich der Wirtschafts- und Fi -
nanzbeziehungen, der Entwicklungshilfe sowie des
Umweltschutzes abzielt. Dabei gehen die völker-
rechtlichen Regelungen zunehmend über die staa-
ten-individualistische Konzeption des klassischen
Völkerrechts hinaus und umfassen sowohl wirt-
schaftliche als auch soziale Komponenten, die eine
verstärkte Solidarität unter den Staaten anvisieren.
Diese Entwicklung scheint für optimistische Beob-
achter auf die Entstehung einer Weltgesellschaft
hinzudeuten.9 1
Schliesslich gilt es, noch auf ein letztes Phäno-
men hinzuweisen, das von Bedeutung ist für das
moderne Souveränitätsverständnis: den Regiona-
lismus, insbesondere die europäische Integration.
Trotz der Universalität des modernen Völkerrechts
wäre es irrig anzunehmen, dass alle Entwick-
lungstendenzen weltweit gleichmässig verliefen.
Hierfür sind die Bestimmungsfaktoren der einzel-
nen Staaten, insbesondere ihre Vergangenheit und
ihre aktuelle Interessenslage, allzu verschieden.
Allenfalls lassen sich Staaten mit annähernd glei-
chen Entwicklungstendenzen und ähnlichen In-
teressenlagen zu grösseren Gruppen (Regionen)
wie etwa Europa, euro-atlantische Staatengemein-
schaft, Schwarzafrika, südostasiatische Staaten,
Südamerika, Entwicklungsländer etc. zusammen-
fassen. 9 2 Die UNO ist bestrebt, den Regionalismus
für die Förderung der Rechtsentwicklung in sol-
chen Bereichen zu nutzen, in denen auf globalem
Niveau noch keine oder nur geringe Fortschritte
erzielt werden konnten, um der Realisierung ihrer
Ziele wenigstens auf regionaler Ebene näher zu
kommen. Der Regionalismus birgt jedoch auch Ge-
fahren in sich, könnte doch eine zu starke Vertie-
fung regionaler Rechtsgemeinschaften die Einheit
des Völkerrechts, das die Grundvoraussetzung für
die Erfüllung der Friedensfunktion bildet, aus-
höhlen. 9 3
Im Rahmen regionaler Organisationen können
Integrationsniveaus erreicht werden, die viel höher
liegen als bei den «gewöhnlichen» internationalen
Organisationen, was grundsätzlich auch zu einer
stärkeren Einschränkung der Souveränität führt.
Die EU als bekanntestes Beispiel für eine regionale
supranationale Organisation erreicht ein bis anhin
unbekanntes Ausmass an politischer Integration.
78) In diesem Zusammenhang ist insbesondere die sog. «Entkolonia-
lisierungs-Resolution» (A/Res 1514) vom 20. Dezember 1960 von
grosser Bedeutung, in welcher feierlich die Notwendigkeit verkündet
wurde, den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und
bedingungslos zu beenden.
79) Knieper 1991. S. 44.
80) Vgl. A / R E S 3281 (XXIX). Chapter 1.
81) Vgl. etwa A / R E S 1515 (XV), 3201 (S-VI), 3202 (S-VI).
82) Pällinger 2005, S. 23.
83) Die nichtstaatlichen internationalen Organisationen verfügen
über keine eigenständige Völkerrechtssubjektivität . Hingegen
können sie sich unter bestimmten Bedingungen bei der UNO regi-
strieren lassen und im Rahmen des Art. 71 UNC bei der Arbeit des
Wirtschafts- und Sozialrats mitwirken.
84) Kimminich 1990. S. 185.
85) Supranationale Organisationen entstehen wie andere Staaten-
verbindungen auch durch multilaterale völkerrechtliche Verträge
(Gründungsvertrag) , in denen die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer
Souveräni tä ts rechte auf die Organisation über t ragen und ihr die
Möglichkeit e in räumen, im Rahmen ihrer eigenen Organe, u n a b h ä n -
gig von den Mitgliedstaaten, verbindliche Beschlüsse zu fassen
(Kimminich 1990, S. 196). Allerdings bleibt anzumerken, dass diese
Eigenschaften im Bereich des völkerrechtlichen Organisationsrechts
nicht neuartig sind und dass sich deshalb die Supranat ional i tä t nur
aus der Intensität und Kumulation dieser Eigenschaften ergeben
kann (Jänicke 1962, S. 425).
86) Benz 2004, S. 17.
87) Walter 1998, S. 7 ff.
88) Müller-Wewel 2003, S. 72.
89) Kimminich 1990. S. 218.
90) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (4. November 1950). In: Randelzhofer 2004, S. 175-
177.
91) Müller-Wewel 2003, S. 73.
92) Der Terminus «Regionalismus» wird in der völkerrechtlichen
Literatur in diesem Sinne verwendet.
93) Kimminich 1990. S. 106.
65
Dabei steht der «harte Kern» des Europarechts als
eine Rechtsmasse eigener Art «zwischen» dem na-
tionalen Recht der Mitgliedstaaten und dem Völ-
kerrecht. In den Bereichen, in denen die Mitglieder
ihre Kompetenzen an die Union abgetreten haben,
geht das Gemeinschaftsrecht den mitgliedstaatli-
chen Regelungen vor. Dabei unterstreichen die
selbständigen Handlungsmöglichkeiten der EU-Or-
gane (notfalls mit Mehrheitsentscheidungen) die
Eigenständigkeit, die der Gemeinschaft gegenüber
den einzelnen Mitgliedstaaten zukommt. 9 4 Eine der-
artig starke völkerrechtliche Bindung ist nur ver-
einbar mit der Souveränität, weil die Mitgliedstaa-
ten gemäss Artikel 48 des Vertrages über die Eu-
ropäische Union 9 5 weiterhin «Herren der Verträge»
bleiben. Da die EU selbst auf verschiedenen völker-
rechtlichen Verträgen beruht, die von den Vertrag-
steilnehmern freiwillig eingegangen wurden, sind
die Verträge - im Prinzip - auch kündbar. Aus die-
sem Grunde erfolgt eine allfällige Übertragung der
Souveränitätsrechte nur so lange, wie es dem Wil-
len des betreffenden Mitgliedstaates entspricht. Da-
neben setzt auch das Demokratieprinzip einer allzu
weitgehenden Integration Grenzen, müssen doch
substantielle Bereiche und Aufgaben bei den Mit-
gliedstaaten verbleiben. 9 6
DIE ESSENZ DER M O D E R N E N
S O U V E R Ä N I T Ä T S K O N Z E P T I O N
Nach der Darstellung der unterschiedlichen sou-
veränitätsrelevanten Aspekte des modernen Völ-
kerrechts sollen an dieser Stelle die verschiedenen
Entwicklungslinien zusammengeführt und die Es-
senz der modernen Souveränitätskonzeption her-
ausgearbeitet werden. Die Schwierigkeiten bei der
Bestimmung der neuen Souveränitätskonzeption
liegen im ambivalenten Wesen der Souveränität,
welche sich im Spannungsfeld zwischen Recht und
Macht befindet. Dies führt dazu, dass - je nach
Standpunkt der Beobachterin oder des Beobach-
ters - ein und dasselbe Phänomen absolut unter-
schiedlich bewertet werden kann. Das moderne
Völkerrecht lässt sich einerseits als neues Stadium
der internationalen Beziehungen deuten, welches
den Übergang vom Koordinations- zum Kooperati-
onsrecht markiert. Andererseits kann aber die Exis-
tenz des Völkerrechts mit dem Argument, eine be-
stimmte internationale Ordnung spiegle bloss die
aktuelle Machtverteilung und die Interessen der
dominierenden Grossmächte in einem System wi-
der, in Frage gestellt werden. Diese Widersprüche
lassen sich nicht gänzlich ausräumen. Deshalb soll
im Folgenden zunächst die normative Souveräni-
tätskonzeption, wie sie sich aus der Entwicklung
des Völkerrechts herleiten lässt, skizziert und an-
schliessend auf die entgegenstehenden Positionen
verwiesen werden.
Auch im modernen Völkerrecht spielt die Sou-
veränität eine wichtige Rolle. So gründet etwa die
UNO explizit auf dem Prinzip der souveränen
Gleichheit der Mitgliedstaaten. Diese umfasst u.a.
die territoriale Integrität, politische Unabhängig-
keit und ein Interventionsverbot. Überdies impli-
ziert die Tatsache, dass nur Staaten Mitglied der
UNO werden können, dass diese, trotz der zuneh-
menden Zahl der nicht-staatlichen Völkerrechtsub-
jekte, auch weiterhin als die wichtigsten Akteure
im Völkerrecht anzusehen sind. Auch das Prinzip,
dass Völkerrecht nur durch Konsens zwischen den
Staaten erzeugt werden kann, behält im Regelfall
seine Gültigkeit (aber vgl. unten). Damit erscheint
diese Bestimmung der Souveränität auf den ersten
Blick als Fortschreibung der klassischen Konzepti-
on. Sie muss jedoch aus einem veränderten inter-
nationalen Umfeld heraus gedeutet werden: Die im
modernen Völkerrecht beobachtbare Tendenz zum
Übergang von der reinen Koordination des zwi-
schenstaatlichen Verkehrs zur Kooperation lässt
sich als Entwicklung hin zu einer internationalen
Gemeinschaft interpretieren. Damit lässt sich auch
die Tatsache erklären, dass die UNO-Generalver-
sammlung nicht dem Prinzip der Einstimmigkeit
folgt. Überdies wird im Rahmen der UNO für die
Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit und
um den machtpolitischen Realitäten Rechnung zu
tragen, von der strikten Gleichbehandlung der
Staaten abgewichen (vgl. Mitgliedschaft im Sicher-
heitsrat).
66
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
Vor dem Hintergrund der Entstehung einer in-
ternationalen (Rechts-)Gemeinschaft ist auch die
Tatsache zu sehen, dass die Aufrechterhaltung des
Friedens zur ITauptaufgabe der UNO geworden ist.
Dabei ist die Pflicht zur Erhaltung des Friedens zur
Grundnorm der gesamten Völkerrechtsordnung ge-
worden. 9 7 Als wichtigste Konsequenz daraus ergibt
sich, dass das ius ad bellum als Attribut der Sou-
veränität hinfällig geworden ist und die Staaten
verpflichtet sind, ihre Konflikte friedlich beizule-
gen. Um diese Postulate auch zu verwirklichen,
sieht die UNC auch die Schaffung entsprechender
Mechanismen vor. 9 8 Die zunehmende Vergesell-
schaftung der internationalen Beziehungen drängt
somit auch das Selbsthilfeprinzip zurück.
Die zunehmende Interdependenz und die Ein-
sicht, dass wichtige Probleme wie die Armutsbe-
kämpfung, die Schaffung einer gerechten Weltwirt-
schaftsordnung, die Bekämpfung der Umweltpro-
bleme oder die Verwirklichung einer nachhaltigen
Entwicklung nur gemeinschaftlich bewältigt wer-
den können, hat zur Aushöhlung des Territoria-
litätsprinzips unter gleichzeitiger Steigerung der
internationalen Zusammenarbeit geführt. Dabei
haben sich sowohl Regelungsbereich als auch Re-
gelungsdichte völkerrechtlicher Verträge ausgewei-
tet. Zudem lassen sich insbesondere im Bereich des
Menschenrechtsschutzes und im Rahmen regiona-
ler Integrationsprojekte weitgehende Einschrän-
kungen der inneren Souveränität beobachten. Dass
diese Entwicklungen als souveränitätspolitisch
noch zulässig erachtetet werden, deutet daraufhin,
dass die Impermeabilitätsdoktrin des klassischen
Völkerrechts, wonach der souveräne Staat wesens-
notwendig die einzige Quelle hoheitlicher Gewalt
auf seinem Gebiete ist und für sein Staatsgebiet ei-
nen ausschliesslichen Herrschaftsanspruch erhebt,
brüchig geworden ist. 9 9 Der Völkerrechtler Eber-
hard Menzel hat diesen Trend mit der Formel «von
der Souveränität zur Permeabilität des Staates»
umrissen. 1 0 0
Die hier dargestellte moderne Souveränitätskon-
zeption wird jedoch von verschiedener Seite hin-
terfragt. Die Blockade des Sicherheitsrates wäh-
rend des Kalten Krieges hat dazu geführt, dass sich
das Friedenserhaltungssystem der UNO nie voll-
ständig entfalten konnte. Auch in neuerer Zeit ten-
dieren verschiedene Staaten, wie etwa die beiden
ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates China
und Russland, zu einer sehr souveränitätsfreundli-
chen Haltung, welche weiterhin auf der Impermea-
bilität der inneren Souveränität besteht. Die jünge-
ren Länder Afrikas und Asiens beharren ebenfalls
auf der Respektierung ihrer Souveränität. Aus die-
sem Grunde vertreten einige Autoren die Meinung,
das neue Völkerrecht und damit auch die neue
Souveränitätskonzeption beruhe auf der unzulässi-
gen Verallgemeinerung der europäischen Entwick-
lungen. Neben diesen Argumenten, welche die Ent-
stehung einer neuen Souveränitätskonzeption mehr
oder weniger stark hinterfragen, gibt es auch An-
sichten, wie sie etwa von den Vertretern der neo-
realistischen Schule der Internationalen Beziehun-
gen vertreten werden, die die Existenz bzw. Ver-
bindlichkeit des Völkerrechts generell verneinen
und die internationale Ordnung als blossen Aus-
fluss des Machtkampfs zwischen den Grossmäch-
ten begreifen: Demgemäss ist eine irgendwann be-
stehende internationale Ordnung bloss das Neben-
produkt des eigennützigen Verhaltens der Gross-
mächte. Dabei stellen die konkreten Ausprägungen
des Systems die ungewollte Konsequenz des Wett-
bewerbs um Sicherheit zwischen den Grossmäch-
ten dar und sind nicht das Resultat der Zusammen-
arbeit von Staaten, die den Frieden verwirklichen
wollen. 1 0 1
94) Oppcnnann 2005, S. 139.
95) Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Europäische Union
in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 2002/C 325/5.
96) Diese Ansicht wird explizit vom deutschen Bundesverfassungs-
gericht im Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 vertreten.
97) Kimminich 1990, S. 109.
98) UNC, Kapitel VI.-VI1I.
99) Müller-Wewel 2003. S. 220 f.
100) Menzel 1973, S. 410.
101) Mearsheimer 2001, S. 49.
67
Diesen Einwänden lässt sich entgegenhalten,
dass die Gültigkeit des Völkerrechts von der Rechts-
überzeugung und nicht vom faktischen Handeln
der Staaten abhängig ist: In den Kriegen um die
Jahrtausendwende haben alle beteiligten Regierun-
gen versucht, ihre Handlungsweise mit der UNC zu
rechtfertigen. 1 0 2 Der Internationale Gerichtshof hat
zu dieser Frage festgehalten:
Wenn ein Staat in einer Weise handelt, die dem
ersten Anschein nach unvereinbar mit den aner-
kannten Regeln ist, aber sein Verhalten damit
rechtfertigt, dass er sich auf Ausnahmen oder
Rechtfertigungsgründe beruft, die in der Regel
selbst enthalten sind, dann bedeutet dieses Verhal-
ten - gleichgültig ob dieses Verhalten des Staates
nun wirklich gerechtfertigt ist oder nicht - eher
eine Bestätigung denn eine Schwächung dieser Re-
gel.™
Gestützt auf diese Aussage wird hier die Position
vertreten, dass solange die UNC von den Mitglie-
dern der Weltorganisation als verbindlich aner-
kannt wird und die in ihr und zahlreichen anderen
Dokumenten der UNO postulierten Prinzipen von
den meisten Staaten auch befolgt werden, durch-
aus von der Entstehung eines neuen Völkerrechts
und einer neuen Souveränitätskonzeption gespro-
chen werden kann, auch wenn die Entwicklung der
Völkerrechtslehre der realen Politik vorauseilt.
A K T U E L L E H E R A U S F O R D E R U N G E N
Nach der Darstellung des modernen Souveränitäts-
konzepts werden in diesem Kapitel einige aktuelle
Entwicklungen aufgezeigt. Konkret sollen die sou-
veränitätsrelevanten Auswirkungen 1. der Globali-
sierung, 2. der Entstehung eines ius cogens und ei-
ner obligatorischen Gerichtsbarkeit, 3. der huma-
nitären Interventionen sowie 4. der präemptiven
Selbstverteidigung skizziert werden.
GLOBALISIERUNG
Seit der Mitte der 1990er Jahre hat der Begriff der
Globalisierung Eingang in die öffentliche Debatte
gefunden. Dieses Phänomen lässt sich am besten
als kontinuierlicher Vernetzungsprozess von ver-
schiedenen, weltweit stattfindenden Ereignissen in
den Bereichen Wirtschaft, Technik, Politik und Um-
welt mit gegenseitigen Auswirkungen begreifen. 1 0 4
Dieser Prozess betrifft die Gesellschaft als Ganzes.
Die gesteigerte Mobilität von Gütern und Kapital
sowie die sofortige, weltweite Verfügbarkeit von In-
formationen überbrücken die geographischen Di-
stanzen. Dabei entsteht ein Weltbinnenmarkt, der
den Staaten einen Standortwettbewerb aufzwingt.
Wachsende Interdependenz, kulturelle und soziale
Austauschprozesse führen zur Entstehung einer
Weltgesellschaft (global village). Gleichzeitig stei-
gen auch die Herausforderungen, die nur im globa-
len Rahmen bewältigt werden können. Dies führt
zur Entstehung einer Risikogemeinschaft. Schliess-
lich bewirkt der wissenschaftliche und technische
Fortschritt, dass Wissen zur wichtigsten Ressource
wird (Wissensgesellschaft).105
Die geschilderten Entwicklungen führen dazu,
dass alle Staaten der Erde stärker miteinander ver-
flochten sind und immer aussenabhängiger wer-
den. Dabei klaffen politische Gestaltungs- und Ver-
antwortungsräume auf der einen und wirtschaftli-
che und ökologische Wirkungsräume auf der ande-
ren Seite auseinander, so dass die demokratische
Legitimation der Politik ins Leere läuf t . 1 0 6 Die bis
anhin bestehende - paradigmatische Kongruenz -
von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsmacht ero-
diert. 1 0 7 Die Nationalstaaten verlieren an Lland-
lungsautonomie gegen innen und aussen und kön-
nen die grenzüberschreitenden Bewegungen im-
mer weniger kontrollieren. 1 0 8 Daraus folgt, dass die
Interdependenzsouveränität immer stärker aus-
gehöhlt wird. Hingegen sind die Aspekte der recht-
lichen und der de-iure-Souveränität durch die Glo-
balisierung nicht stark betroffen. Generell lässt sich
festhalten, dass die Befunde hinsichtlich der Globa-
lisierung uneinheitlich ausfallen: Die Staaten blei-
ben zwar die wichtigsten internationalen Akteure,
68
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
doch wird der Charakter der Souveränität relati-
viert. Die einzelnen Länder können aber ihre Anlie-
gen immer weniger hoheitlich durchsetzen, des-
halb müssen sie häufiger in Verhandlungsprozesse
mit anderen Staaten und nicht-staatlichen Akteu-
ren treten. Dabei wird Souveränität vermehrt als
Verhandlungsressource eingesetzt, die gegen Ge-
genleistungen eingetauscht oder zum Schaden der
anderen Akteure eingesetzt werden kann. 1 0 9 In Zu-
kunft werden - so vermuten einige Autoren - multi-
ple, netzwerkartige Hierarchien vorherrschen, in
denen neben die Nationalstaaten andere, zusätzli-
che Souveräne treten werden. 1 1 0
IUS COGENS UND OBLIGATORISCHE
GERICHTSBARKEIT
Das Aufkommen des ius cogens wird häufig als Zei-
chen für eine grundlegende Veränderung des Völ-
kerrechts gesehen.1 1 1 Unter den Begriff des ius co-
gens fallen die zwingenden Normen des Völker-
rechts, die nicht durch Absprachen im engeren
Kreis aufgehoben werden können . 1 1 2 Die Existenz
des ius cogens war lange Zeit umstritten und wur-
de erst in der Wiener Vertragsrechtskonvention (im
Folgenden W V R K ) 1 1 3 von 1969 allgemein aner-
kannt. Artikel 53 der WVRK besagt, dass Verträge,
die im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des
allgemeinen Völkerrechts (ius cogens) stehen, nich-
tig sind. Mit dieser Bestimmung wird die Vertrags-
freiheit und damit auch die rechtliche Souveränität
der Staaten eingeschränkt. Sie stellt eine Abkehr
vom Grundsatz dar, dass Völkerrecht nur durch
Konsens zwischen den Staaten erzeugt werden
kann. Die Anerkennung des ius cogens beinhaltet
implizit die Idee der Existenz einer internationalen
Gesellschaft, die über einen eigenen ordre public
verfügt. Diesem weitreichenden Konzept steht ein
beschränkter praktischer Wirkungsbereich entge-
gen: «Der umfangreichen Literatur zu ius cogens
steht eine ausgesprochen spärliche Praxis gegen-
über ... Abgesehen von diesem Vertragstext (WVRK,
Anm. d. Autors) gibt es aber in der Staatenpraxis und
in der Rechtsprechung kaum einen Beleg für die
Anwendung des Konzepts.» 1 1 4 Aus diesem Grunde
fällt es schwer, einen Bestand an konkreten Nor-
men - ausserhalb der WVRK - zu identifizieren, die
sich unter den Begriff des ius cogens subsummie-
ren lassen. Dies wiederum macht es fast unmög-
lich, die Konsequenzen für die Entwicklung der
Souveränitätskonzeption abzuschätzen.
In den letzten Jahren ist es gelungen, über die
bestehenden Gerichtsbarkeiten wie den Internatio-
nalen Gerichtshof, den Internationalen Seegerichts-
hof sowie die international bestehende Schiedsge-
richtsbarkeit hinaus mit der Einrichtung der Ad-
hoc-Tribunale zu Jugoslawien und Ruanda sowie
mit der Gründung des Internationalen Strafge-
richtshofes (im Folgenden IStGH) ein völkerrechtli-
ches Instrument zur Ahndung von Völkermord,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegs-
verbrechen zu schaffen. Im Gegensatz zu den bei-
den Ad-hoc-Tribunalen soll mit dem IStGH eine ob-
ligatorische Gerichtsbarkeit verwirklicht werden. 1 1 5
Die Einführung einer solchen obligatorischen Ge-
richtsbarkeit ist ein beachtlicher Beitrag zur Ver-
wirklichung globaler Rechtsstaatlichkeit und damit
auch zur Zivilisierung der internationalen Bezie-
102) Paech 2004, S. 23.
103) JGH: Military and Paramilitary Activities in and against Nicara-
gua (Nicaragua vs. USA), 1986 ICJ Reports 14, para. 186, zit. in:
Paech 2004, S. 23.
104) Stehr 2003, Kapitel 3.3.
105) Pällinger 2005, S. 20.
106) Brock 1998. S. 42.
107) Mahnkopf 1998, S. 56.
108) Schwerdt 2003, S. 50 ff.
109) Walter 1998, S. 7 ff.
110) Held 1995, S. 233 f.
111) Müller-Wewel 2003. S. 299.
112) Verdross, Simma 1984, S. 328.
113) Wiener Übere inkommen übe r das Recht der Vorträge (23. Mai
1969) in: Randelzhofer 2004. S. 143-167.
114) Müller-Wewel 2003. S. 301.
115) Varwick 2005. S. 7.
69
hungen. 1 1 6 Obwohl einige grosse Staaten wie die
USA, die Volksrepublik China und Russland bis an-
tun das Statut des IStGH nicht unterzeichnet ha-
ben, zeugen die 100 Mitglieder dieser Organisation
von der weit verbreiteten Akzeptanz zur Anerken-
nung überstaatlicher gerichtlicher Instanzen. Diese
Inkaufnahme einer weiteren Einschränkung der
inneren und der äusseren Souveränität ist ein wei-
teres Indiz für die Entstehung einer Weltgesell-
schaft und der Verrechtlichung der internationalen
Beziehungen.
HUMANITÄRE INTERVENTIONEN
Das Ende des Kalten Krieges schuf ein kooperati-
ves weltpolitisches Klima und begünstigte Bemü-
hungen, die auf die Beendigung langjähriger krie-
gerischer Konflikte abzielten. Zunächst richteten
sich diese Anstrengungen vornehmlich auf die Ab-
wicklung ehemaliger Steilvertreterkriege. Später
kamen andere, anhaltende oder neu ausbrechende
Kriege und gewalttätige Staatszerfallsprozesse in
Europa und in der Dritten Welt hinzu, die komple-
xe humanitäre Katastrophen mit sich brachten und
zunehmend in regionale und internationale politi-
sche und ökonomische Kontexte eingebettet wa-
ren. 1 1 7 In ihrer «Agenda für den Fr ieden» 1 1 8 defi-
nierte die UNO die Bewältigung von Kriegsfolgen
und die Absicherung von Friedensprozessen als
neue Verantwortung für die Weltgemeinschaft. In
den 1990er Jahren widmete sich die UNO intensiv
der weiteren konzeptionellen Ausarbeitung und
praktischen Umsetzung der Agenda. 1 1 9 Dabei sah
sich die internationale Gemeinschaft zunehmend
mit dem Problem konfrontiert, dass Staaten zwar
die Vorteile ihrer de-iure-Souveränität genossen,
aber gleichzeitig ihre inneren Strukturen kollabier-
ten. Diese Konflikte führten im Extremfall zu einer
Gefährdung des internationalen Friedens und der
regionalen Stabilität. Da es als sehr unwahrschein-
lich erscheint, dass kollabierende oder bereits kol-
labierte Staaten sich aus eigner Kraft regenerieren
können, ist es notwendig, in solchen Fällen inter-
nationale Hilfe zu gewähren . 1 2 0
Die bisherigen Erfahrungen haben allerdings ge-
zeigt, dass die internationale Gemeinschaft ihre
Ziele nur in ungenügendem Ausmass erreichen
konnte: bloss 43 Prozent aller Peacebuilding-Ope-
rationen gelten als erfolgreich. 1 2 1 Ein Problem der
Friedenskonsolidierung liegt am unzureichenden
Instrumentarium, das vor allem die Gewährung
auswärtiger Hilfe und die Einrichtung einer Über-
gangsverwaltung vorsieht, aber aufgrund des In-
terventionsverbotes an seine Grenzen stösst. Die
effektive Friedenskonsolidierung macht jedoch fall-
weise weitergehende Massnahmen wie etwa hu-
manitäre Interventionen erforderlich, mittels de-
nen Protektorate eingerichtet oder geteilte Souver-
änitäten geschaffen werden können, im Rahmen
derer sich internationale und lokale Behörden die
Staatsaufgaben teilen. 1 2 2
Allerdings sind die rechtlichen Grundlagen sol-
cher Operationen, die bereits in Somalia, Bosnien
und Kosovo durchgeführt worden waren, umstrit-
ten. Es war insbesondere die Intervention in Koso-
vo, die Anlass zu Diskussionen gegeben hat, da sie
ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates durchge-
führt worden war. Obwohl zahlreiche Vorschläge -
unter anderem auch von einer von der UNO einge-
setzten Kommission 1 2 3 - unterbreitet wurden, die
sich mit der Frage beschäftigen, unter welchen Be-
dingungen humanitäre Interventionen zulässig sind
und welche Auswirkungen sie auf die Souveränität
haben, ist bis heute diese Frage nicht definitiv ge-
klärt worden, weil die Befürchtungen vor der Aus-
höhlung des Interventionsverbots und die Angst
vor der politischen Instrumentalisierung der huma-
nitären Interventionen nicht ausgeräumt werden
konnten.
PRÄEMPTIVE VERTEIDIGUNG
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und
dem darauf folgenden Kampf gegen den Terroris-
mus befinden sich die UNO und das Völkerrecht in
einer «Weltordnungskrise.» 1 2 4 Seit diesem Zeit-
punkt drängt die US-Regierung auf drastische Revi-
sionen der bestehenden Regeln der Friedenssiche-
70
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
rung und fordert für sich das Recht der präempti-
ven Verteidigung:
Die USA werden nicht nur präemptiv und unilate-
ral militärische Gewalt ausüben, wann und wo sie
es wollen, die Nation wird auch diejenigen bestra-
fen, die sich an Terror und Aggression beteilige?!
und werden daran arbeiten, universell den Unter-
schied zwischen Gut und Böse klarzustellen.125
Die Abkehr vom überkommenen Völkerrecht wird
mit der These begründet, dass neuartige Formen
des Krieges neue rechtliche Instrumente erforder-
ten. 1 2 6 Aus diesem Grunde scheint die einzig ver-
bliebene Supermacht, wie sie anlässlich des Irak-
krieges gezeigt hat, gewillt zu sein, unter Berufung
auf das in der UNC verbriefte Recht auf Selbstver-
teidigung (Art. 51 UNC) die Grundnorm des moder-
nen Völkerrechts, das Gewaltverbot, auszuhe-
bein. 1 2 7 Durch diesen Vorgang wird auch das Prin-
zip der souveränen Gleichheit als Schutz der
schwächeren Staaten gegen die stärkeren unter-
graben. 1 2 8 In ihrem Kampf gegen den Terrorismus
stellen die USA mit dem Luftkrieg in Afghanistan,
im Streit um den Kriegsgefangenen-Status der
Häftlinge in Guantanamo oder mittels Anwendung
von Folter sogar das humanitäre Völkerrecht in
Frage. 1 2 9 Daraus schliessen einige Autoren, dass
die bestehende völkerrechtliche Ordnung durch
eine neue imperiale Ordnung abgelöst wi rd . 1 3 0 An-
gesichts der ausbleibenden Erfolge der USA im
Kampf gegen den Terror ist es allerdings noch zu
früh, den Schwanengesang des modernen Völker-
rechts anzustimmen. Dennoch lässt sich die Zwi-
schenbilanz ziehen, dass das multilaterale System
durch das unilaterale Vorgehen der USA geschwächt
wurde.
Die hier geschilderten Entwicklungen lassen
sich noch nicht abschliessend bewerten, da sie zu
neuartig sind. Aufgrund ihrer inhaltlichen Stoss-
richtung ist es nicht auszuschliessen, dass sie die
Auffassungen über die Souveränität verändern
werden.
116) Stempel 2005, S. 3.
117) Matthies 2003, S. 2.
118) A/47/277-S/24111.
119) Matthies 2003, S. 2.
120) Der Politologe Bernard Badie spricht in diesem Zusammenhang
vom «Völkerrecht der Verantwortung» (vgl. Badie 2002, S. 217 ff.).
International Commission on Intervention and State Sovereignty gar
von einer «responsibility to protect» (vgl. International Commission
on Intervention and State Sovereignty 2001).
121) Krasner 2005, S. 47.
122) Ebenda. S. 48 ff.
123) Vgl . International Commission on Intervention and State
Sovereignty 2001.
124) Märker 2004, S. 3.
125) George W. Bush, zitiert in: Paech 2004, S. 26.
126) Paech 2004, S. 28.
127) Dörr 2004, S. 14.
128) Fassbaender 2004, S. 12.
129) Sutter 2004, S. 30.
1 30) Münkler 2004, S. 24 ff.
71
S C H L U S S B E T R A C H T U N G
Unsere souveränitätspolitische Tour d'horizon hin-
terlässt eine gewisse Ratlosigkeit. Die inhaltlichen
Ausprägungen dieses Begriffs scheinen zuneh-
mend zu verschwimmen. «Souveränität» ist - und
war schon immer - ein Paradebeispiel für das, was
der Sozialphilosoph Walter B. Gallie als ein «essen-
tially contested concept» bezeichnet hat. 1 3 1
Historisch gesehen hat die Souveränität fünf
Funktionen gehabt: 1. Beim Übergang vom Feuda-
lismus zum Territorialstaat diente der Begriff zur
Abwehr konkurrierender äusserer Ansprüche sei-
tens des Kaisers und der Kirche und zur Rechtferti-
gung der Zentralisierung der Staatsgewalt gegen-
über dem Adel, den Ständen und freien Städten im
Inneren. 2. In den neuzeitlichen Territorialstaaten
kreiste die Debatte darum, ob und wem die recht-
mässige Souveränität zukomme. Im Laufe des 20.
Jahrhunderts hat sich allmählich das Prinzip der
Volkssouveränität gegenüber den monarchischen
oder aristokratischen Alternativen durchgesetzt. 3.
In der klassischen Ära des Völkerrechts diente die
Souveränität als Leitprinzip beim Aufbau und Ma-
nagement der internationalen Ordnung. 4. In den
modernen Internationalen Beziehungen und insbe-
sondere im Rahmen der Dekolonialisierung wurde
die Souveränität zur Schutzklausel der schwäche-
ren gegenüber den stärkeren Staaten. 5. Gegen-
wärtig scheinen sich Tendenzen abzuzeichnen, die
auf die Stärkung der Gemeinschaftsidee sowohl im
globalen als auch im regionalen Rahmen hindeuten
und mit der Entstehung eines Völkerrechts der Ver-
antwortlichkeit einhergehen.
Die Souveränitätskonzeption ist im Laufe der
Geschichte einem kontinuierlichen Wandel unterle-
gen. Dabei liess sich eine stete Zurückdrängung der
absoluten zugunsten einer relativen Souveränitäts-
auffassung beobachten. In diesem Prozess ist der
«Panzer der Souveränität» 1 3 2 aufgebrochen wor-
den, und das zulässige Mass der souveränitätsver-
träglichen inneren und äusseren Bindungen staatli-
cher Macht hat stark zugenommen. Das koordina-
tive Völkerrechtsverständnis der klassischen Epo-
che wurde von einem kooperativen abgelöst. Indes-
sen ist an die Stelle des ius ad bellum eine umfas-
sende Friedenspflicht getreten, und das staatszen-
trierte Bild der Souveränität wurde durch die Aus-
dehnung der Völkerrechtssubjekte und den Men-
schenrechtsschutz aufgefächert.
Während in der Völkerrechtslehre die - gegen-
über der klassischen Periode zwar verminderte -
Bedeutung des Souveränitätskonzepts unbestritten
ist, wird im Rahmen der politikwissenschaftlichen
Diskussion die Nützlichkeit dieses Konzepts ver-
mehrt in Frage gestellt. Angesichts der Verabsolu-
tierung des territorialstaatlichen Aspekts kollidiert
die Souveränität mit weltgesellschaftlichen Postula-
ten und den modernen Formen des internationalen
Managements (governance). Auch in der Innenpoli-
tik erscheint die Bedeutung der Souveränität durch
die gewandelte Rolle des Staates vom obrigkeit-
lichen zum partnerschaftlichen Herrschaftsver-
ständnis als fragwürdig. Die Entwicklungen im
Kampf gegen den Terrorismus zeigen jedoch, dass
zumindest die USA und auch die anderen Gross-
mächte auf die Wahrung ihrer Souveränität be-
dacht sind. Dies mag zwar das partnerschaftliche
Element des modernen Völkerrechts schwächen,
aber nicht die Bedeutung der Souveränität. Für die
Vertreter der (neo-)realistischen Schule der Inter-
nationalen Beziehungen steht der Stellenwert der
Souveränität ohnehin ausser Zweifel. Somit lässt
sich das Fazit ziehen, dass Totgesagte länger zu le-
ben pflegen und dem Begriff der Souveränität noch
eine lange Karriere sowohl im öffentlichen als auch
im wissenschaftlichen Diskurs gewiss sein dürf-
te. 1 3 3
131) Solche Begriffe sind essentiell umstritten, weil niemals ein Kon-
sens über ihre korrekte Anwendung erreicht werden kann: «A con-
cept is essentially contested if it has no Single definition, ränge of
reference, and criteria of application upon which all competent
Speakers can agree» (Gallie 1956, S. 176).
132) Müller-Wewel 2003. S. 330.
133) Falk 2001, S. 791.
72
VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
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VON WESTFALEN ZUM GLOBAL VILLAGE
ZOLTÄN TIBOR PÄLLINGER
BILDNACHWEIS ANSCHRIFT DES
A U T O R S
Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz Dr. Zoltän Tibor Pällinger
Kanonengasse 19
CH-8004 Zürich
75
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
77
SOUVERÄNITÄT
ALS STANDORT-
FAKTOR
EINIGE BEISPIELE AUS DER LIECHTEN-
STEINISCHEN WIRTSCHAFTSGESCHICHTE
DES 20. JAHRHUNDERTS
CHRISTOPH MARIA MERKI
Inhalt
82 Eckdaten zum Wirtschaftswunder
Liechtenstein
82 Die beiden Trümpfe Liechtensteins:
das Outsourcing ...
84 ... und die Kommerzialisierung
der Souveränität
86 Beispiel 1: Finanzeinbürgerungen
88 Beispiel 2: Briefmarken
89 Beispiel 3: Sitzgesellschaften
100 Schluss: Wie man seine Souveränität
vergoldet
80
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
Das Fürstentum Liechtenstein feiert dieses Jahr
das 200-jährige Bestehen seiner Souveränität. Die
Bewohner des kleinen Landes tun dies mit einiger
Inbrunst und etlichem Engagement. Dieser Auf-
wand ist verständlich, schliesslich handelt es sich
bei der Souveränität um das, was die Liechtenstei-
ner von ihren Nachbarn auf der gegenüberliegen-
den Seite des Rheins bzw. jenseits von St. Luzisteig
und Schaanwald abhebt. Das Fürstentum ist nicht
nur souverän, sondern auch ausgesprochen reich.
Damit stellt sich die Frage, ob diese beiden Tatsa-
chen zusammenhängen: Ist Liechtenstein deshalb
so reich, weil es souverän ist, weil es eigene Geset-
ze erlassen und Pässe ausstellen kann? Der folgen-
de Aufsatz vertritt die These, dass dies ein Stück
weit der Fall ist und dass die Souveränität durch-
aus zu einem zugkräftigen Standortfaktor werden
kann. Er begründet dies mit Beispielen aus der
liechtensteinischen Wirtschaftsgeschichte des 20.
Jahrhunderts.
81
E C K D A T E N Z U M W I R T S C H A F T S W U N D E R
L I E C H T E N S T E I N
Die Wirtschaft des Fürstentums Liechtenstein mo-
dernisierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ei-
nem atemberaubenden Tempo. Aus dem armen
Ländchen wurde in wenigen Jahrzehnten ein pros-
perierender Mikrostaat. Noch in den 1920er Jah-
ren war die Wertschöpfung Liechtensteins pro Kopf
der Bevölkerung rund 30 Prozent niedriger als im
Nachbarland Schweiz. In der ersten Hälfte der
1960er Jahre verwandelte sich dieser Rückstand in
einen Vorsprung. Im Jahr 2000 war die liechten-
steinische Arbeitsproduktivität 40 Prozent höher
als die im internationalen Vergleich ebenfalls he-
rausragende schweizerische. Bis in die Zwischen-
kriegszeit hinein mussten arme Liechtensteiner im
Ausland Arbeit suchen. Mittlerweile ist die Situati-
on umgekehrt. Als regionaler Wachstumspol zieht
Liechtenstein viele Arbeitskräfte aus der Umge-
bung an. Das Land zählt 29 000 Arbeitsplätze, also
annähernd so viele Arbeitsplätze wie Einwohner
(34 000). Bei der Arbeit sind die Einheimischen in
der Minderheit. Zwei von drei Arbeitskräften besit-
zen einen ausländischen Pass. Die meisten dieser
Ausländer pendeln Tag für Tag aus den beiden
Nachbarstaaten Schweiz und Österreich zu. 1 Der
liechtensteinische Staat, der nach dem Ersten Welt-
krieg vor dem Konkurs stand, ist heute schulden-
frei. Er verfügt sogar über ein beachtliches Polster,
um das ihn viele Finanzminister beneiden würden.
Das phänomenale Wirtschaftswachstum ging Hand
in Hand mit einem grundlegenden Umbau der
Wirtschaftsstruktur. Die Landwirtschaft, welche die
liechtensteinische Wirtschaft bis in die 1930er Jah-
re geprägt hatte, wurde zu einem Randphänomen.
An ihre Stelle traten zwei andere Sektoren: die In-
dustrie und der Finanzdienstleistungssektor. Auf
die Industrie und das warenproduzierende Gewer-
be entfallen heutzutage 45 Prozent aller Arbeits-
plätze. 2 In dem weit bekannteren Finanzdienstleis-
tungssektor (Banken, Treuhänder, Versicherungen)
finden nur etwa 15 Prozent aller Erwerbstätigen
Arbeit. Diese vergleichsweise wenigen Beschäf-
tigten sind aber ungemein produktiv. Sie erwirt-
schaften rund ein Drittel der gesamten Wertschöp-
fung Liechtensteins.3 Der «Finanzplatz» 4 wurde
zwar erst in den 1960er Jahren richtig beschäfti-
gungswirksam, doch schon in der Zwischenkriegs-
zeit hatte er eine für das Land zentrale Bedeutung.
Bereits in den 1930er Jahren stammten 25 bis 30
Prozent aller Landeseinnahmen aus jenen Steuern,
welche ausländische Anleger und die von ihnen be-
herrschten Sitzunternehmen entrichteten.
DIE BEIDEN T R Ü M P F E LIECHTENSTEINS:
DAS OUTSOURCING...
Ein kleiner Staat, geschweige ein Kleinststaat wie
Liechtenstein, muss verschiedene Nachteile in Kauf
nehmen, die seine Prosperität in Frage stellen.5
Weil die eigene Wirtschaft über praktisch keinen
Heimmarkt verfügt, ist sie zum Export gezwungen.
Wirtschaftliche Erschütterungen, die von aussen
kommen, können deshalb nicht intern abgefedert
werden. Das Gesetz der steigenden Skalenerträge
benachteiligt den sehr kleinen Staat: Er muss
grundsätzlich für die gleichen staatlichen Leistun-
gen aufkommen wie sein grosser Nachbar; doch
weil er dies nur für wenige Steuerzahler tut, ist der
Preis für die Bereitstellung dieser öffentlichen Gü-
ter vergleichsweise hoch. Diese theoretischen Über-
legungen sprechen dafür, dass ein Kleinstaat öko-
nomisch benachteiligt und eher auf der Verlierer-
statt auf der Gewinnerseite zu finden ist. In Tat und
Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Klein-
bzw. Kleinst- oder Mikrostaaten 6 wie Liechtenstein,
Luxemburg und Island gehören heutzutage zu den
ökonomisch erfolgreichsten Staaten überhaupt . 7 Es
gibt vor allem 8 zwei Gründe, welche dieses schein-
bare Paradoxon erklären können: das Outsourcing
öffentlicher Güter und die Kommerzialisierung der
Souveränität.
Das Fürstentum Liechtenstein hat keine eigene
Währung, es unterhält keine Armee, es betreibt
keine Fluglinie und kein Bahnnetz, es besitzt keine
eigene Müllverbrennungsanlage und es verfügt
auch nicht über eine Universität im vollen Sinne
des Wortes. Gleichwohl ist seine monetäre Stabi-
82
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
lität gegeben (seit dem Ersten Weltkrieg benutzt es
den Schweizer Franken), seine öffentliche Sicher-
heit ist gewährleistet, seine Verbindung mit Euro-
pas Verkehrsnetzen gut, die Abfallentsorgung gere-
gelt, die akademische Ausbildung seiner Jugend
gesichert. Wie ist dies möglich? Ganz einfach:
Liechtenstein lagert eine Reihe öffentlicher Auf-
gaben an seine Nachbarstaaten aus, es macht das,
was man bei Unternehmen als Outsourcing be-
zeichnet. Die Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten
kann informell erfolgen oder über Verträge geregelt
sein, und sie begünstigt nicht nur das Fürstentum
selbst, sondern - je nach Aufgabe - auch seine(n)
Partner.
Dies sei hier kurz am Beispiel der Autobahnen
erläutert. Liechtenstein besitzt zwar keine eigene
Autobahn, es ist jedoch über die österreichischen
und schweizerischen Schnellstrassen gut an das in-
ternationale Autobahnnetz angeschlossen. Viele
Liechtensteiner benutzen täglich die Autobahn, die
auf der schweizerischen Seite des Rheins entlang
führt und welche die schnellste Verbindung zwi-
schen Ruggell, der nördlichsten, und Balzers, der
südlichsten Gemeinde Liechtensteins, darstellt. Die
meisten Touristenbusse, die auf ihrer Reise quer
durch Mitteleuropa in Vaduz einen kurzen Halt ein-
legen, würden das Land ohne den schweizerischen
oder österreichischen Zubringer links liegen las-
sen. Viele Liechtensteiner Transportunternehmer
müssten den Betrieb einstellen, wenn sie ihre Last-
wagen nicht auf den Schnellstrassen der umliegen-
den Länder fahren lassen könnten. 9 Die Schweizer
haben diese Autobahn bezahlt und sie haben den
Boden dafür zur Verfügung gestellt. Man könnte
meinen, ihnen bleibe lediglich der Lärm und der
Dreck. Doch so einfach ist die Sache nicht. Die
Liechtensteiner haben sich über die schweizeri-
schen Mineralölsteuern, die auch in ihrem Lande
gelten, finanziell am Bau der Schnellstrasse betei-
ligt. Die Autobahn karrt auch all die Pendler heran,
1) Für die aktuellen Wirtschaftszahlen sei auf die Publikationen des
Amtes für Volkswirtschaft (Vaduz), insbesondere auf die von ihm seit
1977 herausgegeben Statistischen Jah rbüche r verwiesen. Die
neuesten Wirtschaftsanalysen sind: Eisenhut, Peter: Entwicklung
und Perspektiven der Volkswirtschaft des Fürs ten tums Liechtenstein.
Vaduz, 2004. Hrsg. Amt. für Volkswirtschaft. - Credit Suisse (Hrsg.):
Fürs ten tum Liechtenstein. Struktur und Perspektiven. Zürich, Mai
2004. Einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Liech-
tensteins im 20. Jahrhundert bietet: Merki , Christoph Maria: Von der
liechtensteinischen Landkanzlei zur internationalen Finanzberatung.
Die Anwaltskanzlei Marxer & Partner und der Finanzplatz Vaduz.
Baden, 2003, S. 57-83. Der Verfasser dieses Aufsatzes arbeitet am
Liechtenstein-Institut (Bendern) an einer Wirtschaftsgeschichte des
Fürs ten tums , die d e m n ä c h s t unter dem Titel «Wir tschaf tswunder
Liechtenstein» erscheinen wird.
2) Eigentlich müss te man auch noch auf die Arbeitsplätze hinweisen,
die durch liechtensteinische Unternehmen im Ausland geschaffen
worden sind. Die Industrieunternehmen, die der Liechtensteinischen
Industrie- und Handelskammer (LIIIK) angehören , beschäft igen im
Inland 7700 Personen; in den Auslandsniederlassungen finden
23 600 Personen Arbeit (vgl. Jahresbericht der LIIIK 2002. S. 11/12).
3) Genauere Angaben in der vom Amt für Volkswirtschaft jährl ich
herausgegebenen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Liechten-
steins.
4) Liechtenstein ist eher ein «Finanzdienst lcis tungsplatz» als ein
«Finanzplatz». Um als «Finanzplatz» oder «Finanzzen t rum» gelten
zu können , brauchte es eine eigenständige Währung , eine voll aus-
gebaute Börse und viele bedeutende, in- und aus ländische Banken
(vgl. Meili , Alexander: Geschichte des Bankwesens in Liechtenstein
[1945-1980]. Frauenfeld usw., 2001, S. 172; sowie: Merki , Christoph
Maria: Einleitung: Wo das Herz des Kapitalismus schlägt. In: Euro-
pas Finanzzentren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert.
Hrsg. Christoph Maria Merki . Frankfurt a.M./New York. 2005,
S. 9-20).
5) Grundsätzlich zum wirtschaftlichen Wettbewerb der Nationen:
Porter. Michael F.: The Competitive Advantage of Nations. With a
New Introduction. Houndmills/New York, 1998 (2. Auflage).
6) Die Begriffe sind nicht klar definiert, ihr Gebrauch schwankend.
Als Mikrostaaten (microstates) gelten Staaten mit weniger als
500 000, z.T. auch nur solche mit weniger als 100 000 Einwohnern.
7) Vgl. Armstrong, Harvey; de Kervenoael, Ronan J.; Li . Xicheng;
Read, Robert: A Comparison of the Economic Performance of
Different Micro-states, and Between Micro-states and Larger Coun-
tries. In: World Development 26 (1998), Nr. 4, S. 639-656.
8) Es ist eher unwahrscheinlich, dass auch der Protektionismus zum
Wohlergehen Liechtensteins oder - generell - kleiner Staaten bei-
trägt. Voraussetzung für den Protektionismus, der viele Bereiche der
liechtensteinischen (Binnen-)Wirtschaft durchdringt, ist ebenfalls die
Souveränität . Arbeitsplätze und Aufträge, die wie durch Zufall im-
mer wieder oder ausschliesslich an einheimische Bewerber bzw. an
das einheimische Gewerbe vergeben werden, vermindern die Effi-
zienz der liechtensteinischen Wirtschaft eher als dass sie sie steigern
würden .
9) Das liechtensteinische Transportgewerbe besitzt eine überpropor-
tional grosse Bedeutung. Es profitiert von den offenen Grenzen zu
den Nachbar ländern , aber auch davon, dass das Fürs tentum Liech-
tenstein an der Kreuzung zweier wichtiger Alpenstrassen, der A r l -
berg- und der San-Bernardino-Route, liegt.
83
die im Fürstentum Liechtenstein arbeiten und
ihren Lohn zu Hause, also in der Schweiz oder in
Österreich, versteuern. Und sie dient nicht nur den
liechtensteinischen Binnenpendlern, sondern auch
jenen Liechtensteinern, die in die Schweiz einkau-
fen kommen und welche die Einkaufszentren von
Sargans, Buchs oder Haag bevölkern. Kurz und
gut: Es lässt sich kaum genau sagen, wer nun in
welchem Ausmass von diesem Outsourcing profi-
tiert.
Wie kompüziert die Berechnung der Vor- und
Nachteile für den jeweiligen Partner im Einzelfall
auch sein mag - das «Outsourcing staatlicher Auf-
gaben» 1 0 erklärt einen grossen Teil des Wirtschafts-
wunders Liechtenstein. Allerdings setzt es Rah-
menbedingungen voraus, die in einer rein gegen-
wartsorientierten Perspektive mitunter vergessen
werden. So ist die Delegation staatlicher Aufgaben
nur im Rahmen eines liberalen Aussenhandelssys-
tems möglich, welches annähernd spannungsfrei
sein muss. Bei zwischenstaatlichen Konflikten, wie
sie noch im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts üblich waren, wäre es mit dem Outsour-
cing vorbei. Von Vorteil ist überdies, wenn sich die-
se bi- und multilateralen Beziehungen im Lee der
öffentlichen Aufmerksamkeit entwickeln. Sobald ein
Kleinststaat zu einem internationalen Thema wird
(wie dies bei Liechtenstein und seinem Finanzplatz
vor einigen Jahren der Fall gewesen ist), sind diese
Beziehungen gefährdet.
Öffentliche Aufgaben können eine Volkswirtschaft
stark belasten. Heute stehen meistens die Sozial-
ausgaben im Vordergrund staatlicher Budgetdebat-
ten, noch vor wenigen Jahrzehnten war es der Ver-
teidigungshaushalt. Die schweizerische Eidgenos-
senschaft zum Beispiel wendete bis zum Ende des
Kalten Krieges einen grossen Teil ihrer Ausgaben
für die Landesverteidigung auf, in den 1950er und
1960er Jahren waren es 26 bis 38 Prozent aller
Bundesausgaben.11 Auch Liechtenstein litt f rüher
unter den Ausgaben für seine Armee. Zwischen
1815 und 1866 garantierte der Deutsche Bund die
Selbstständigkeit Liechtensteins. Im Gegenzug muss-
te das Fürstentum verschiedene Pflichten erfüllen,
insbesondere ein Kontingent von einigen Dutzend
Soldaten stellen. 1 2 Zusammen mit den Schulden
aus der napoleonischen Zeit drückten diese Mi -
litärausgaben die damals wenigen Bürger so stark,
dass sie eine wirtschaftliche Gesundung des armen
Ländchens unmöglich machten. 1 3 Im Jahre 1868,
nach der Niederlage Österreichs gegen Preussen
und nach dem Zusammenbruch des Deutschen
Bundes, wurde die kleine Armee gegen den Willen
des Fürsten aufgehoben. Seither profitiert Liech-
tenstein von der Friedfertigkeit seiner Nachbarn.
Seine Schutzlosigkeit wurde ihm selbst in den bei-
den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts nicht zum
Verhängnis. Es war strategisch zu unbedeutend -
und hatte das Glück, die neutrale Schweiz an sei-
ner Seite zu haben.
. . . UND DIE K O M M E R Z I A L I S I E R U N G
DER S O U V E R Ä N I T Ä T
Neben dem Outsourcing gibt es noch eine andere
Möglichkeit, wie ein kleiner Staat aus seiner Not
(der Kleinheit) eine Tugend (und einen wirtschaftli-
chen Erfolg) machen kann. Er kann seine Existenz
als Staat dazu benutzen, ausländischen Interessen-
ten Dinge anzubieten, die in anderen Staaten nicht
vorhanden, kaum zu erhalten oder schlicht unver-
käuflich sind: schöne Briefmarken, klingende Adels-
titel, eine billige Rundfunkkonzession, niedrige Steu-
ern, die Staatsbürgerschaft. Er kann - mit anderen
Worten - seine Souveränität kommerzialisieren.
Das Fürstentum Liechtenstein entstand zu Be-
ginn des 18. Jahrhunderts, als die österreichische
Adelsfamilie gleichen Namens die beiden mittelal-
terlichen Territorien Schellenberg (1699) und Va-
duz (1712) erwarb. Der Kauf dieser beiden Besit-
zungen, die dann 1719 vom Kaiser zu einem
«Reichsfürstentum» erhoben wurden, hatte einen
politischen Zweck: Er sollte der Familie die Auf-
nahme in den Reichsfürstenrat ermöglichen und
ihre bereits vorhandene ökonomische Macht poli-
tisch absichern. Der reiche liechtensteinische Fürst
wurde so zu einem auch auf dem poütischen Par-
kett ernst zu nehmenden souverain. Im Deutschen
Bund der Jahre 1815 bis 1866 stand er de recto auf
84
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
der gleichen Höhe wie die Könige von Bayern oder
Preussen, und in der Hofgesellschaft der Kaiser-
stadt Wien hatte er eine herausgehobene Stellung.
Das Haus Liechtenstein erlangte also dank sei-
ner wirtschaftlichen Macht politische Souveränität.
Der kleine Staat, der nun seinen Namen trug,
machte im 20. Jahrhundert das Umgekehrte: Er
schlug aus seiner politischen Souveränität wirt-
schaftliches Kapital. Im Zusammenhang mit die-
sem Mechanismus gab es verschiedene Bemühun-
gen - solche, die auf lange Sicht funktionierten, sol-
che, die nur kurzfristig erfolgreich waren, 1 4 bedeu-
tende oder unbedeutende, schliesslich solche, die
sich überhaupt nicht realisieren Hessen.15 Aus-
serdem konnte fast jedes sozioökonomische Han-
deln einen Aspekt kommerzialisierter Souveränität
aufweisen, ohne dass dieser im Vordergrund ge-
standen hätte oder auf den ersten Blick sichtbar ge-
wesen wäre. Dies gilt zum Beispiel für den Spit-
zensport, namentlich für den Fussball. In den Jah-
ren 1997 und 1998 musste Liechtenstein in Vaduz
ein neues Stadion aus dem Boden stampfen, um
den Länderspielanforderungen der internationalen
Fussballverbände FIFA und UEFA genügen zu kön-
nen. Im Gegenzug erhielt der Liechtensteiner Fuss-
ballverband internationale Fördergelder und die
sich aus den elf Dörfern rekrutierende Mannschaft
regelmässig hochklassige Gegner wie die englische
Nationalelf.
Die beiden Trümpfe der liechtensteinischen Volks-
wirtschaft (das Outsourcing öffentlicher Aufgaben
und die Kommerzialisierung der Souveränität) ge-
hen oft Hand in Hand, zum Teil überschneiden sie
sich auch. Es ist diesen beiden Mechanismen ge-
meinsam, dass sich ihre Effekte im konkreten Ein-
zelfall nur mit Mühe beziffern, die Vor- und Nach-
teile sich oft nicht so deutlich voneinander trennen
lassen. Gemeinsam ist ihnen darüber hinaus, dass
sie von der Bevölkerung (die ihnen ja einen grossen
Teil ihres überdurchschnittlichen Wohlstandes ver-
dankt) kaum erkannt und wahrgenommen werden.
So ist es wohl nur wenigen Vaduzern bewusst, dass
die vielen Touristenbusse, die sich jeweils im Som-
mer bei ihnen einfinden, nur deshalb kommen,
weil Liechtenstein ein souveräner Staat ist - und
nicht weil das «Städtle» besonders sehenswert
wäre . 1 6 Vaduz eignet sich besonders gut für einen
kurzen Zwischenstopp, zum Beispiel auf dem Weg
von Mailand nach München oder von Luzern nach
Salzburg, denn es liegt nur wenige Hundert Meter
von der europäischen Nord-Süd-Achse über den
San Bernadino-Pass entfernt. Tausende von Japa-
nern lassen sich bei ihrer Stippvisite auf dem
Liechtensteiner Tourismusbüro den Reisepass -
diesen klassischen Ausdruck staatlicher Souverä-
10) Gantner, Manfried; Eibl, Johann: Öffentliche Aufgabenerfül lung
im Kleinstaat. Das Beispiel Fürs ten tum Liechtenstein. Vaduz. 1999,
S. 379; Martin Georg Kocher: Very Small Coutries: Economic Success
Against all Odds. Vaduz, 2003.
11) Ritzmann-Blickenstorfer. Heiner (Hrsg.): Historische Statistik der
Schweiz. Zürich, 1996, S. 960.
12) Vgl. Quaderer, Rupert: «. . .wird das Cotingent als das Unglück
des Landes angesehen» . Liechtensteinische Militärgeschichte von
1814 bis 1849. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs-
tentum Liechtenstein. Bd. 90 (1990), S. 1-281.
13) Ospelt, Alois: Wirtschaftliche Aspekte der Aussenpolitik im
19. Jahrhundert. In: Fragen an Liechtenstein. Hrsg. Liechtensteini-
sche Akademische Gesellschaft. Vaduz. 1977 (2. Aufl.), S. 79-83.
14) Nur wenige Jahre in Vaduz ansäss ig war die Mutualclub-Lotterie
(vgl. Geiger, Peter: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren,
1928-1939. Vaduz/Zür ich, 1997, Bd. 2, S. 28/29). Sie siedelte 1925
von der Schweiz nach Liechtenstein über, nachdem diese kommerzi-
elle Lotterien verboten hatte, und beschäft igte einige Dutzend Leute.
Da die Lotterie, die vor allem in den britischen Kolonien tätig war,
für den Losversand zusehends schweizerische Postämter und Deck-
adressen benutzte, schritt der Bundesrat ein, verlangte ihre Schlies-
sung und die Übe rnahme der schweizerischen Lotteriegesetzgebung
durch Liechtenstein - dies geschah 1934, womit dieses Geschäft, das
seine vorübergehende Existenz alleino der liechtensteinischen Sou-
veräni tä t verdankt hatte, zu Ende war.
15) Im Jahr 2003 sorgte ein Vorhaben für internationales Aufsehen,
das man als Apotheose kommerzialisierter Souveräni tä t bezeichnen
könnte . Ein Reiseveranstalter hatte die Idee, den Staat Liechtenstein
für jeweils einen Tag an aus ländische Unternehmen zu vermieten
(vgl. The Guardian vom 14. Februar 2003: Country for hire). Das
Ganze versandete, als sich die einheimischen Medien gegen das
Projekt stellten und die Behörden (deren Institutionen in das Pro-
gramm hät ten eingebaut werden sollen) nicht mit dem Veranstalter
kooperieren wollton.
16) Das Schloss als Residenz des Fürsten lässt sich seit den 1950er
Jahren nicht mehr besichtigen. Baugeschichtlich wäre das nahe
Städtchen Werdenberg auf der schweizerischen Seite des Rheins
etwa so interessant wie alle Liechtensteiner Dörfer zusammen.
85
nität - abstempeln.1 7 Von diesen Durchreisenden,
für die inzwischen ein spezieller Busbahnhof ein-
gerichtet worden ist, leben vor allem die Vaduzer
Souvenir- und Schmuckgeschäfte. 1 8
Im Folgenden sollen nun drei wichtige Ausprä-
gungen kommerzialisierter Souveränität zur Spra-
che kommen, die alle um die Zeit des Ersten Welt-
krieges herum entstanden sind: 1. die Finanzein-
bürgerungen, 2. die Briefmarken und 3. die Sitzge-
sellschaften. Während es die Finanzeinbürgerun-
gen nur während einiger Jahre gegeben hat und
die Briefmarken ihre einst grosse Bedeutung mitt-
lerweile fast vollständig eingebüsst haben, sind die
Sitzgesellschaften nach wie vor wichtig, ja sie bil-
den zweifellos das Fundament des Finanzplatzes
Liechtenstein. Ihre Geschichte soll deshalb etwas
ausführlicher vorgestellt werden. Die Kommerzia-
lisierung der Souveränität war (und ist) im Übrigen
nicht etwas genuin Liechtensteinisches - auch an-
dere Mikrostaaten hatten (und haben) damit Er-
folg. 1 9
BEISPIEL 1:
F I N A N Z E I N B Ü R G E R U N G E N
Nach den Umwälzungen des Ersten Weltkrieges
suchten viele staatenlos gewordene Personen ein
neues Bürgerrecht. Wohlhabende Emigranten aus
dem ehemaligen Zarenreich oder reiche Deutsche,
die ihren Lebensabend im steuergünstigen Liech-
tenstein verbringen wollten, klopften in Vaduz an.
Seit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933
kamen jene hinzu, die von den Nationalsozialisten
in die Emigration getrieben wurden. Besonders at-
traktiv war der liechtensteinische Pass dadurch,
dass man ihn erwerben konnte, ohne vorher im
Lande ansässig gewesen zu sein. Viele der neuen
Bürger benutzten den liechtensteinischen Pass le-
diglich für den Einlass in die Schweiz oder als eine
Art Visum für die Weiterreise in die USA. Nur weni-
ge liessen sich tatsächlich im Lande nieder, was
auch damit zu tun hatte, dass ihnen die liechten-
steinische Regierung die Ausübung ihres gelernten
Berufes untersagte.
Zwischen 1930 und 1945 wurden alles in allem
394 Personen durch Einbürgerung Liechtenstei-
ner.2 0 Dies war bei einer Wohnbevölkerung von da-
mals rund zehntausend Menschen eine beachtliche
Zahl. Von den rund vierhundert Neubürgern waren
etwa ein Drittel Juden, die sich so über den Zwei-
ten Weltkrieg und vor dem Holocaust retten konn-
ten. Die jüdischen Einbürgerungen führten zu in-
nenpolitischen Querelen und aussenpolitischem
Druck. Die Liechtensteiner nahmen diese Juden
nicht bloss aus Mitleid bei sich auf. Ihnen ging es
auch oder vor allem um die damit verbundenen Ge-
bühren, die angesichts der damaligen wirtschaft-
lichen Not sehr willkommen waren. In den 1930er
Jahren stammten fünf bis zehn Prozent aller Lan-
deseinnahmen allein aus solchen Finanzeinbürge-
rungen. Norbert Korfmacher bringt diese «seltsa-
me Symbiose» auf den Punkt: «Die einen boten
Schutz und brauchten Geld, die anderen boten Geld
und brauchten Schutz.» 2 1
Eine Einbürgerung im Fürstentum Liechtenstein
konnten sich nur wenige Ausländer leisten: Gross-
industrielle, Bankiers, reiche Kaufleute. Die Ge-
bühren, welche die Behörden erhoben, stiegen im
Laufe der 1930er Jahre an. Im Jahre 1934 lag der
übliche Satz für einen männlichen Neubürger bei
10 000 Franken Gemeindetaxe, 5 000 Franken Lan-
destaxe und 1000 Franken sonstigen Gebühren.
Im Jahre 1938 musste der Antragsteller mit einem
etwa zwei- bis dreimal so hohen Betrag rechnen.
Dazu kamen zusätzliche Kosten für weitere Famili-
enmitglieder, Kautionsforderungen über mehrere
zehntausend Franken und Steuern. 2 2 Zum Ver-
gleich: Pfarrer Anton Frommelt, der stellvertreten-
de Regierungschef, bezog damals ein jährliches Ge-
halt von 5 000 Franken. Für die Anwälte und Treu-
händer, welche die Antragsteller betreuten, ent-
wickelten sich die Einbürgerungen zu einem ein-
träglichen Geschäft. Sie organisierten die nötigen
Dokumente, suchten die richtige Gemeinde aus und
brachten den Antrag vor das liechtensteinische
Parlament. 2 3
Die Finanzeinbürgerungen waren dem national-
sozialistischen Deutschland ein Dorn im Auge. Im
April 1933 wurden zwei neu eingebürgerte Juden,
86
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
die aus Berlin stammenden Gebrüder Rotter, von
vier liechtensteinischen Nationalsozialisten auf der
Alp Gaflei entführt. Der Versuch, die Gebrüder Rot-
ter an die deutschen Behörden auszuliefern, schei-
terte zwar, doch auf der Flucht stürzten Alfred Rot-
ter und seine Frau Gertrud zu Tode. 2 4 Die liechten-
steinische Regierung stellte darauf hin die von der
nationalsozialistischen Presse heftig kritisierten
Einbürgerungen vorübergehend ein. Bei Verhand-
lungen in Berlin versprach sie, die Einbürgerungs-
gesetzgebung zu verschärfen. 2 5 Eine Einbürgerung
kam fortan nur noch für jene Ausländer in Frage,
die vorher mindestens drei Jahre in Liechtenstein
gelebt hatten. Eine Ausnahmeklausel liess aller-
dings die Möglichkeit offen, «in besonders berück-
sichtigungswürdigen Fällen» 2 6 von dieser Bedin-
gung abzusehen. Als die Finanzeinbürgerungen
1934 wieder anliefen, wurde diese Ausnahme zur
Regel.
1941 trocknete die Einnahmequelle der Finanz-
einbürgerungen wieder aus. Diesmal war es die
Schweiz, welche den Stopp des Passverkaufes er-
zwang. Das Fürstentum musste die restriktive Ein-
bürgerungs- und Flüchtlingspraxis seines Nach-
barn übernehmen, wenn es sich denn umgekehrt
an ihn anlehnen und von seinem Arbeitsmarkt pro-
fitieren wollte. Alteingesessene Liechtensteiner durf-
ten seit Februar 1941 in der Schweiz uneinge-
schränkt Arbeit suchen. Dieses Recht wurde in
dem entsprechenden Vertrag 2 7 den sogenannten
Neubürgern verweigert, also jenen Liechtenstei-
nern, die nach 1924, nach dem Inkrafttreten des
Zollvertrages mit der Schweiz, eingebürgert wor-
den waren. Weil Liechtenstein seit 1941 Finanz-
einbürgerungen nur noch mit dem Einverständnis
der Schweiz vornehmen durfte, kamen kaum noch
welche zustande. Zwischen 1941 und 1945 wurden
in Liechtenstein nur noch 16 Personen eingebür-
gert, darunter fünf jüdischer Abstammung.
1955 war es dann ein Urteil des Internationalen
Gerichtshofes in Den Haag, das die Praxis der F i -
nanzeinbürgerungen endgültig diskreditierte und
diese damit ganz zum Verschwinden brachte. Der
Gerichtshof hatte die liechtensteinische Einbür-
gerung des deutschen Kaufmanns Nottebohm aus
17) In den 1990er Jahren versah das Vaduzer Tour ismusbüro jähr -
lich 40 000 bis 60 000 Reisepässe mit einem Souvenirstempel (tele-
fonische Auskunft vom 24. Juli 2003).
18) Ein Pionier der Vermarktung Liechtensteins ist Baron Eduard
von Falz-Fein (geboren 1912). Seine Familie verschlug es nach der
russischen Revolution in das Fürs ten tum Liechtenstein. In den
1930er Jahren war er Berliner Korrespondent der f ranzösischen
Sportzeitung L'Auto. Nach dem Krieg eröffnete der «Souvenirkönig»
Geschäfte an der Grenze in Schaanwald (wo man damals die Touris-
ten in Empfang nahm) sowie in Vaduz (vgl. Danilewitsch, Nadeshda:
Baron von Falz-Fein. Ein russischer Aristokrat in Liechtenstein.
Triesen, 2003 [urspr. russisch 2000]).
19) Zu e r w ä h n e n wären etwa die Briefmarken in San Marino, die
Beherbergung international mobiler Steuerflüchtlinge in Monaco,
der - bis vor kurzem wichtige - Schmuggel in Andorra oder die
niedrigen Kapitalsteuern auf den Bahamas. Die Enklave San Marino
wurde von dem sie umgebenden Italien w ä h r e n d Jahrzehnten finan-
ziell da fü r entschädigt , dass sie auf die Errichtung eines Spielkasinos
verzichtete und italienischen Steuerflüchtl ingen keine Heimat bot.
Die wichtigste Form kommerzialisierter Souveräni tä t ist heutzutage
der riesige offshore-Markt: Souveräne oder semi-souveräne Gebiete,
bei denen es sich oft um Inseln handelt und die vor dem Festland
(d.h. offshore) liegen, werden dadurch attraktiv, dass sie anlagesu-
chendem Kapital aus dem Ausland günstige Bedingungen anbieten
(dazu: Palan, Ronen: The Offshore World. Sovereign Markets. Virtual
Places. and Nomad Millionaires. Ithaca/London, 2003).
20) Ritter, Tobias: Die Einbürgerungspoli t ik des Fürs ten tums Liech-
tenstein unter innen- und aussenpolitischen Aspekten von 1930 bis
1945. Lizenziatsarbeit an der Universität Bern. Bern, 2001 (MS),
S. 81. Zur liechtensteinischen Flüchtlingspolitik jener Zeit nun um-
fassend die von der «Unabhängigen Historikerkommission Liechten-
stein Zweiter Weltkrieg» in Auftrag gegebene Studie von: Jud, Ursi-
na: Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialis-
mus. Vaduz/Zür ich . 2005. Jud unterschätz t in ihrer Arbeit den fis-
kalischen Aspekt der «F inanze inbürgerungen» , die sie bezeichnen-
derweise auch nie so, sondern immer nur «Einbürgerungen» nennt.
21) Korfmacher. Norbert: Exil mit vielen Problemen. Geflohene
deutsche Juden im Fürs ten tum Liechtenstein 1933-1945. In: Tribü-
ne, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. Nr. 125/1993,
S. 115-138, hier S. 136.
22) Geiger 1997 (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 207/208.
23) Um das liechtensteinische Landesbürger rech t zu erhalten, muss-
te man zuerst ein Gemeindebürger rech t erwerben. In der Gemeinde,
in der man sich e inbürgern lassen wollte, brauchte es da fü r eine
Volksabstimmung. Auch das Landesparlament musste der Einbürge-
rung zustimmen.
24) Das Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs tentum
Liechtenstein befasste sich kürzlich mit diesem politischen Verbre-
chen: Bd. 103, Vaduz 2004, S. 1-95.
25) Vgl. Geiger 1997 (wie Anm. 14), S. 54-60.
26) Zit. in: Ritter 2001 (wie A n m . 20), S. 18.
27) Vereinbarung zwischen Liechtenstein und der Schweiz über die
Regelung der fremdenpolizeilichen Beziehungen (Liechtensteinisches
Landesgesetzblatt Nr. 4/1941).
87
dem Jahre 1934 als völkerrechtlich fragwürdig be-
zeichnet und für unverbindlich erklärt . 2 8
Die Fmanzeinbürgerungen im eigentlichen Sin-
ne des Wortes sind zwar seit längerem passe, in
veränderter Form bestehen sie aber bis heute, und
zwar in der Form der so genannten Rentnersteu-
er.29 Reiche Ausländer, die ihren Lebensabend in
Liechtenstein verbringen möchten, oder auslän-
dische Privatiers, die von den Erträgen ihres Ver-
mögens leben und einen steuergünstigen Aufent-
haltsort suchen, können sich in Liechtenstein nie-
derlassen und sich dort gewissermassen gegen ei-
nen bestimmten, jährlich zu entrichtenden Betrag
einkaufen. In den 1960er Jahren belief sich diese
Steuer auf mindestens 10 000 bis 15 000 Franken
pro Person und Jahr, 3 0 in den 1980er Jahren auf
100 000 bis 150 000 Franken. 1976 gab es 192
Abkommen dieser Art, 1982 waren es 135. 3 1 In den
1980er und 1990er Jahren trugen die Verträge mit
ausländischen Rentiers dem Land zwischen 1,7
und 2,6 Millionen Franken ein. Auch wenn die
Rentnersteuer nicht mehr ganz so wichtig ist wie
noch vor einigen Jahrzehnten, so macht sie doch
auch heute noch rund zwei Prozent aller Staats-
einnahmen aus. 3 2
BEISPIEL 2:
B R I E F M A R K E N
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die
k.u.k. Postverwaltung für den Postdienst im Fürs-
tentum Liechtenstein zuständig. Eigene liechten-
steinische Briefmarken gab es noch nicht, genauso
wenig wie einen Postvertrag mit dem österreichi-
schen Partner. Als dieser Vertrag 1911 doch noch
abgeschlossen wurde, behielt sich Liechtenstein
die Ausgabe eigener Briefmarken vor. Die ersten
Marken erschienen im Januar 1912. Sie zeigten
das Porträt des Fürsten Johann II. und waren von
den Wiener Jugendstil-Künstlern Koloman Moser
und Ferdinand Schirnböck entworfen worden. 3 3
Der Übergang von der österreichischen zur schwei-
zerischen Postverwaltung war für das liechtenstei-
nische Briefmarkenwesen eine Zeit der Verunsi-
cherung und der Skandale. Ende 1919 übertrug die
Regierung einem privaten Konsortium, das hohe
Gewinne versprochen hatte, den Vertrieb der Brief-
marken. Statt hoher Gewinne gab es fehlerhafte
Wertzeichen, hinterzogene Gelder und eine regie-
rungskritische Demonstration. 3 4
Im Februar 1921 trat der Postvertrag mit der
Schweiz in Kraft, womit das Briefmarkenwesen
wieder in ruhigeres Fahrwasser geriet. Liechten-
steinische Wertzeichen fanden als Inbilder der Sou-
veränität vorab bei ausländischen Sammlern Auf-
merksamkeit und Absatz. Die Regierung arbeitete
mit einem deutschen Markenhändler zusammen,
der sie bei der Herausgabe der Marken und bei der
Einrichtung eines Postmuseums (1930) beriet und
zugleich den internationalen Sammlermarkt er-
schliessen half. Zwar dienten die Briefmarken auch
der Selbstdarstellung des Landes und mussten des-
halb künstlerisch ansprechend sein, im Zentrum
stand aber ihr fiskalischer Nutzen. Der Reinerlös
stieg in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre von
105 000 Franken (1925) auf 366 000 Franken
(1930), bevor die Weltwirtschaftskrise auch die
Briefmarkensammler zum Sparen zwang. In der
zweiten Hälfte der 1930er Jahre zogen die Verkäu-
fe wieder an. Im Jahre 1937, als die Regierung mit
vier speziellen «Arbeitsbeschaffungsmarken» auf-
wartete, stiegen die Einkünfte auf 750 000 Fran-
ken. Dies entsprach fast einem Viertel aller Landes-
einnahmen. 3 5
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die
Briefmarken für den Staatshaushalt wichtig. Im
Jahre 1949 beispielsweise erbrachte der Briefmar-
kenerlös 21 Prozent aller Landeseinnahmen. In
den 1960er Jahren erreichte die fiskalische Bedeu-
tung der Briefmarken ihren Höhepunkt. 1960 gab
die liechtensteinische Post eine «Europa»-Marke
heraus, die schon vor ihrem Erscheinen ausver-
kauft war. 1962 kurbelte die Ausstellung zum fünf-
zigjährigen Bestehen der liechtensteinischen Mar-
ken den Absatz weiter an. Die damals herausge-
gebene, 381 Seiten starke Festschrift behandelte
unter anderem Markenmotive, die liechtensteini-
schen Stempel, das Postmuseum, die Sammlerver-
einigungen und die Biographien der Markenkünst-
88
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
ler. Mit keinem Wort erwähnte sie, dass diese hohe
Kunst auch ein einträgliches Geschäft darstellte.36
Offensichtlich wollte man die schöngeistige Philate-
lie nicht durch profane Ertragsrechnungen be-
einträchtigen. Die Erlöse stiegen damals gewaltig
an: von 1,6 Millionen Franken (1959) auf 12,3 Mil -
lionen Franken (1965) - dies war fast ein Drittel al-
ler Landeseinnahmen. 3 7 Die hektische Industriali-
sierung, die in jenen Jahren Liechtenstein erfasste,
war also zu einem guten Teil durch ausländische
Briefmarkensammler finanziert.
Seither büsste das liechtensteinische Briefmar-
kenwesen den grössten Teil seiner Bedeutung wie-
der ein. Um 1980 machte die Philatelie noch etwa
12 Prozent der Landeseinnahmen aus/ 8 1994 wa-
ren es noch 4,6 Prozent. Dieser Niedergang hatte
verschiedene Ursachen. Zunächst einmal Hessen
sich die Einnahmen aus dem Briefmarkengeschäft
kaum mehr steigern, während alle anderen Ein-
nahmen munter weiter wuchsen, so dass es zu ei-
nem relativen Bedeutungsverlust des Briefmarken-
geschäftes kam. Die gesellschaftliche Wertschät-
zung der Philatelie sank; Frankiermaschinen be-
einträchtigten den Wert der alt hergebrachten Mar-
ken, neue Kommunikationsmittel liessen die klassi-
sche Briefpost stagnieren. Ein Teil des Bedeutungs-
verlustes war schliesslich hausgemacht. In den
1960er Jahren hatte die liechtensteinische Post die
Auflagen so sehr erhöht, dass sie auf grossen Mar-
kenbeständen sitzen blieb. In den Jahren 1971 und
1998 wurden frühere Markenjahrgänge für ungül-
tig erklärt, was das Vertrauen der ausländischen
Sammler beeinträchtigte. Teure Umtauschaktionen
folgten. 3 9 Alles in allem ging die Zahl der Abonnen-
ten, die ganze Markensätze bezogen, drastisch zu-
rück, nämlich von einst hunderttausend auf unter
fünfzigtausend. Im Jahre 2004 betrug der Brutto-
Erlös aus dem Briefmarkengeschäft noch 6,3 Mil -
lionen Franken, weniger als ein Prozent aller Lan-
deseinnahmen.4 0
BEISPIEL 3:
S I T Z G E S E L L S C H A F T E N
Eine besonders clevere und lukrative Art der kom-
merzialisierten Souveränität sind die Sitzgesell-
schaften oder Sitzunternehmen. Sie haben ihr Do-
mizil zwar in Liechtenstein, werden aber von Per-
28) Zum so genannten Fall Nottebohm: Merki 2003 (wie Anm. 1),
S. 100/101.
29) Rentnersteuer ist eigentlich der falsche Ausdruck. Es handelt
sich ja weniger um gewöhnliche Rentner im heutigen Sinne als um
Rentiers, also um Leute, die von den Erträgen ihres Vermögens
leben und die durchaus noch im erwerbstä t igen Alter sein können.
30) Liechtensteinisches Landesarchiv (fortan: LLA), RF 290/73.
31) LLA, RF 329/19.
32) Steuerstatistik 2004. Hrsg. Liechtensteinische Steuerverwaltung.
Vaduz. 2005. S. 3 und 40.
33) Hasslor, Hermann: Die liechtensteinischen Briefmarken. In:
Fürs ten tum Liechtenstein. Eine Dokumentation. Hrsg. Presse- und
Informationsamt der Regierung des Fürs t en tums Liechtenstein.
Vaduz, 1982, S. 303-306, hier S. 303/304.
34) Quaderer, Rupert: Briefmarkenskandal. In: Historisches Lexikon
für das Fürs ten tum Liechtenstein (im Erscheinen).
35) Geiger 1997 (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 206/207.
36) Vgl. Regierung des Fürs ten tums Liechtenstein (Hrsg.): 50 Jahre
Liechtensteinische Postwertzeichen, 1912-1962. Jubi läums-Fest-
schrift. Vaduz, 1962. Ähnlich verschämt auch die Festschrift zum
75-Jahr-Jubi läunt : Postmuseum des Fürs ten tums Liechtenstein
(Hrsg.): 75 Jahre Liechtenstein-Briefmarken, 1912-1987. Vaduz.
1987. Immerhin e r w ä h n t der damalige Regierungschef Hans Brun-
hart im Vorwort dieser Schrift die «erheblichen E innahmen» aus
dem «Briefmarkengeschäf t» (ebd., S. 7).
37) Alle Zahlenangaben in diesem Abschnitt aufgrund der Rechen-
schafts-Berichte der fürst l ichen Regierung (z.T. eigene Berechnun-
gen). Es handelt sich um Brutto-Erlöse. In Abzug bringen musste
man davon die Kosten für die Herstellung und den Vertrieb der Mar-
ken, für die Pos t sachenbeförderung und das Postmuseum. Diese
Ausgaben betrugen 1965 aber nicht mehr als etwa sieben Prozent
der Brulto-Einnahmen.
38) Hassler 1982 (wie Anm. 33). S. 305.
39) Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 7. Januar 2002 (Der Todesstoss
für die Philatelie in Liechtenstein?). Die Erträge aus dem Wertzei-
chenverkauf wurden vorübergehend auch da fü r verwendet, die De-
fizite der 1998 privatisierten Post Liechtensteins zu decken.
40) Der Netto-Erlös. also die Differenz zwischen den Wertzeichen-
verkäufen und den Ausgaben für die Postwertzeichenstelle sowie für
die Briefmarkengestaltung. belief sich auf 1,8 Millionen Franken (Re-
chenschaftsbericht der Regierung 2004. S. 383).
89
sonen beherrscht, die nicht dort wohnen. Sitzun-
ternehmen dürfen in Liechtenstein keine Inlands-
geschäfte tätigen, weil sie sonst ihre Steuerprivile-
gien verlieren würden. Die einheimischen Vertreter
der Sitzunternehmen konnten sich bis 1963 mit
dem Weiterleiten der Briefpost begnügen. Deshalb
hiessen die Sitzunternehmen auch Briefkastenfir-
men - eine Bezeichnung, die der Volksmund noch
heute gerne verwendet. In Liechtenstein spricht
man von dem Gesellschaftswesen, wenn man die
Gesamtheit aller Holding- und Sitzunternehmen
meint bzw. die Branche, die sich mit deren Grün-
dung und Verwaltung beschäftigt.
Wer die Geschichte des Gesellschaftswesens er-
forscht, wird mit zahlreichen Problemen konfron-
tiert. Die wirklich spannenden Quellen bleiben dem
Historiker in der Regel vorenthalten. Die Akten in
den Archiven der Banken und Treuhänder fallen
unter das Bank- und Geschäftsgeheimnis. 4 1 Die Treu-
handbranche ist an der Aufarbeitung ihrer eigenen
Vergangenheit nicht gerade heftig interessiert. Im
wissensdurstigen Historiker sieht man schnell ei-
nen Schnüffler, der den Finanzplatz in Verruf brin-
gen will. Auch die Literaturlage ist unbefriedigend.
Zwar gibt es viele juristische Untersuchungen zum
liechtensteinischen Handelsrecht. Über die sozio-
ökonomischen Auswirkungen rechtlicher Verände-
rungen wird jedoch kaum nachgedacht.42 Auch die
Regierung hält viele Informationen unter Ver-
schluss. Das verbreitete Nicht-Wissen hat im übri-
gen Methode, ist es doch Ausdruck jener Anonym-
ität, mit der ausländische Geschäftsleute in Liech-
tenstein seit jeher rechnen dürfen.
Die Anfänge des Finanzplatzes Liechtenstein wur-
zeln in der turbulenten Zeit nach dem Ersten Welt-
krieg. Die Habsburgermonarchie, mit der Liechten-
stein seit 1852 in einem Zoll- und Währungsver-
trag verbunden war, hatte den Krieg verloren und
löste sich in ihre einzelnen Bestandteile auf. In den
Nachfolgestaaten wütete eine Hyperinflation, die
alle in Kronen angelegten Vermögen entwertete.
1919 kündigte das Fürstentum Liechtenstein den
Handels- und Zollvertrag mit Österreich auf und
orientierte sich neu Richtung Schweiz. Der Schwei-
zer Franken trat seit 1917 an die Stelle der öster-
reichischen Krone, mehrere Jahre bevor die Schweiz
1924 mit dem Zollvertrag das Plazet zu seiner
Übernahme gab. 4 3
In Liechtenstein suchte man nach Auswegen aus
der wirtschaftlich desolaten Situation, insbesonde-
re nach Investoren aus dem Ausland. Im August
1920 wurde zusätzlich zu der staatlichen Spar- und
Leihkasse, der heutigen Landesbank, ein zweites
Geldinstitut zugelassen: die Bank in Liechtenstein
(BiL). Für die österreichischen, englischen und
holländischen Investoren, die hinter der Gründung
der BiL standen,4 4 ging es um die Rettung gefährde-
ter Vermögen aus dem zusammenbrechenden Kro-
nenraum. Der Schweizer Franken galt ihnen als si-
cherer Hafen, weil er nicht durch Kriegsausgaben
zerrüttet war. Damals hielt das Gespenst der kom-
munistischen Weltrevolution ganz Europa in Atem
- einzig in Liechtenstein wurde es gar nicht erst
hereingelassen. In der letzten deutschsprachigen
Monarchie, die nach dem Weltkrieg übrig geblie-
ben war, musste man sich als Investor nicht vor So-
zialisierungsmassnahmen fürchten.
Bei der Bank in Liechtenstein fanden neben den
Vermögen selbst auch die ersten Holdinggesell-
schaften Unterschlupf. Es handelte sich dabei um
Unternehmen, die durch den Zerfall der Habsbur-
germonarchie auf mehrere Staaten zersplittert
worden waren und die nun wieder unter einem ge-
meinsamen, liechtensteinischen Dach zusammen-
gefasst werden konnten. 4 5 Auch Steuererleichte-
rungen spielten bei der Ansiedlung der Sitzunter-
nehmen von Anfang an eine wichtige Rolle. Schon
1920 wurde die Möglichkeit der so genannten Pau-
schalierung geschaffen.4 6 Ausländisch beherrschte
Gesellschaften, die in Liechtenstein selbst geschäft-
lich nicht aktiv werden durften, kamen fortan in
den Genuss einer Sonderbehandlung. Der Steuer-
betrag, den sie jährlich zu entrichten hatten, wurde
auf Jahre hinaus festgelegt oder eben: pauscha-
liert. 4 7 Die damit verbundene Planungssicherheit
war viel wert in einer Zeit, in der sich die Steuer-
verwaltungen verschiedener Länder darin überbo-
ten, neue Einnahmequellen zu erschliessen. Seit
April 1921 hatte die liechtensteinische Regierung
das Recht, mit jedem Sitzunternehmen einen Steu-
90
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
ervertrag abzuschliessen, der für bis zu 30 Jahre
einen festen Abgabesatz vorsah. 4 8
Als Liechtenstein 1922/23 ein neues Steuersys-
tem einführte, baute man die bereits vorhandene
Privilegierung der Kapitalgesellschaften weiter aus.
Der Basler Ökonom Julius Landmann, der das ent-
sprechende Steuersystem entwarf, riet der Regie-
rung zur «Schonung des Kapitals» und zur «Förde-
rung der Kapitalbildung» 4 9. Als Vorbild dienten ihm
dabei die Steuergesetze verschiedener Schweizer
Kantone, in denen die Domizilgesellschaften seit
längerem privilegiert waren, in Glarus beispiels-
weise seit 1903. 5 0 Holding- und Sitzunternehmen
wurden in Liechtenstein von der Ertragssteuer be-
freit und mussten lediglich eine minimale Kapital-
steuer entrichten. Die so genannte Gesellschafts-
steuer betrug ein Promille des eingezahlten Kapi-
tals sowie der offenen und stillen Reserven. Bei ei-
nem Betrag von beispielsweise einer Million Fran-
ken waren dies bloss tausend Franken. Die Gewin-
ne, die bei den liechtensteinischen Sitzunterneh-
men zusammenkamen, blieben auf diese Art und
Weise nahezu steuerfrei.
Flankiert wurden diese Steuerprivilegien durch
ein besonders liberales Handelsrecht, durch das so
genannte Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR)
der Jahre 1926 und 1928. 5 1
Der Hauptredakteur des PGR, der Politiker Wil-
helm Beck, sass im Verwaltungsrat der BiL, wo er
häufig mit den Rechtsfragen ausländischer Unter-
nehmen konfrontiert war. Vor dem Krieg hatte er in
Zürich studiert und als Angestellter des St. Galler
Wirtschaftsanwalts Emil Grünenfelder die schwei-
41) Die «Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter
Weltkrieg» hatte in dieser Beziehung einmalige Vollmachten, die
dem gewöhnlichen Historiker fehlen. So konnten die von der Kom-
mission beauftragten Historiker Hanspeter Lussy und Rodrigo Lopez
die privaten Archive der Liechtensteiner T reuhände r einsehen. Die
beiden Historiker nutzten ihr Archivprivileg auf kluge Art und Weise
und schufen eine hervorragende Frühgeschichte des Finanzplatzes
Liechtenstein: Lussy, Hanspe te r /Löpez , Rodrigo: Liechtensteinische
Finanzbeziehungen zur Zeit des Nationalsozialismus. Vaduz/Zür ich ,
2005 (zwei Teilbände). Dieses soeben herausgekommene Werk
konnte für den vorliegenden Aufsatz nicht mehr im Detail berück-
sichtigt werden. Wie der Verfasser dieses Artikels sehen auch Lussy
und Lopez als Gründe für die Entwicklung Liechtensteins zu einem
«begehrton Ziel der Kapital- und Steuerflucht»: «die Neutralität, der
mit der Währungs - und Zollunion ü b e r n o m m e n e harte Schweizer
Franken, die Nähe zum Finanzplatz Schweiz, eine relativ stabile
politische Lage, die leichte Erreichbarkeit im Zentrum Europas,
äussers te Diskretion, vor allem aber eine kapitalfreundliche Steuer-
politik, bei der Vermögenser t räge nicht besteuert wurden» (ebd.,
Teilband 1, S. 108).
42) Eine Ausnahme ist in dieser Beziehung die eben e rwähn te
Studie von Lussy und Lopez (wie A n m . 41).
43) Die Schweiz duldete die Übernahme des Frankens nur. Geregelt
wurde diese erst mit dem Währungsve r t r ag von 1980.
44) Hinter der Gründung der BiL stand die Anglo-Österreichischo
Bank in Wien. Auch die fürstl iche Familie war in die Gründung der
Bank involviert, und zwar über den liechtensteinischen Gesandten in
Wien, Prinz Eduard von und zu Liechtenstein (vgl. LLA, RE 1920/
505). Die von Liechtenstein litten besonders unter dem Zusammen-
bruch der Habsburgermonarchic: Ihre Besitzungen waren nun auf
verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt, es drohten Währungsver lu-
ste, Enteignungen und kommunistische Umstürze . Nachdem die
Anglo-Österreichische Bank im Zuge der Weltwirtschaftskrise in
Schwierigkeiten geraten war, erwarb das liechtensteinische Fürsten-
haus 1930 die Aktienmehrheit der BiL. Seit 1996 hoisst diese LGT
Bank in Liechtenstein (LGT: Liechtenstein Global Trust).
45) Schredt, Franz X . : Das Fürs ten tum Liechtenstein. Wirtschaftliche
Experimente eines Kleinslstaates im beginnenden Zeitalter der Gross-
raumwirtschaft. Diss. Innsbruck, 1941 (Manuskript), S. 96/97.
46) Auch die BiL selbst profitierte von der Pauschalierung. Sie wurde
ihr von der Regierung im Herbst 1920 gewährt , noch bevor der
Landtag diese Praxis am 30. Dezember 1920 auf eine gesetzliche
Grundlage stellte. In der Regierungsvorlage hiess es, dass man mit
der Pauschalierung den Kreditinstituten entgegenkomme, die «er-
f ah rungsgemäss bei sonst gleichen Umständen die Wahl des Ortes
ihrer Niederlassung von einer ihnen noch konvenierenden Lösung
der Besteuerungsfrage abhängig machen» (vgl. LLA, UTA 1920/S3).
47) Zur Pauschalierung: Feger, Wolfgang F.: Die Besteuerung der
Kapitalgesellschaften im Fürs ten tum Liechtenstein. Vaduz, 1970,
S. 112-118. Pauschal ierungsver t rägc wurden bis 1963 abgeschlos-
sen. 1988 waren noch 3339 Pauschal ierungsver t räge in Kraft. Die
letzten dieser Verträge liefen 1993 ab (vgl. LLA, RF 341/19).
48) Das «zeitliche Höchs tausmass» der Steuerpauschalierungen
betrug zunächs t zehn Jahre, seit Apr i l 1921 dann die e rwähn ten
30 Jahre (vgl. Liechtensteinisches Landes-Gesetzblatt, Nr. 8 vom
28. Apr i l 1921).
49) Landmann, Julius: Motivenbericht zum Neuen Steuergesetz des
Fürs ten tum (sie) Liechtenstein. Mels, 1922, S. 7. Julius Landmann
(1877-1931) beriet die liechtensteinische Regierung bei diversen
Gesetzesvorhaben.
50) Van Orsouvv, Michael: Das vermeintliche Paradies. Eine histori-
sche Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze. Zürich,
1995, S. 41/42.
51) Genau genommen waren es zwei Gesetze: das PGR (Liechtenstei-
nisches Landesgesetzblatt, Nr. 4 vom 20. Januar 1926) und das Er-
gänzungsgesetz über das Treuunternehmen (Liechtensteinisches
Landesgesetzblatt, Nr. 6 vom 10. Apr i l 1928).
91
zerische Steuergesetzgebung kennen gelernt. Wil-
helm Beck gründete 1914 die erste Anwaltskanzlei
in Liechtenstein. Nach dem Ersten Weltkrieg spe-
zialisierte er sich auf die Verwaltung von Sitzunter-
nehmen. Von den 329 Sitzunternehmen, die sich
bis 1928 im liechtensteinischen Öffentlichkeitsre-
gister eintragen Hessen, vertrat er alleine 113 oder
ein gutes Drittel, fast doppelt so viele wie die BiL
selbst.52 Wilhelm Beck war nicht nur Anwalt, son-
dern auch die zentrale Figur im politischen Leben
des Fürstentums. Er gründete die Christlich-soziale
Volkspartei (die heutige Vaterländische Union), for-
cierte die politische Loslösung Liechtensteins von
Österreich und die Demokratisierung der liechten-
steinischen Monarchie.
Bei der Erarbeitung des PGR wurde Wilhelm
Beck von seinem Namensvetter, dem Privatrechtler
Emil Beck, unterstützt . 5 3 Der schweizerisch-Hech-
tensteinische Doppelbürger Emil Beck war in den
Jahren 1919 bis 1933 liechtensteinischer Gesand-
ter in Bern. Er hatte sich 1918 bei Eugen FI über,
dem Schöpfer des schweizerischen Obligationen-
rechts, habilitiert und hatte damit die besten Vor-
aussetzungen, um bei der Erarbeitung des PGR
mitzuwirken.
Mit dem PGR stellten die beiden Becks den aus-
ländischen Anlegern eine ganze Palette von juristi-
schen Personen zur Verfügung, aus der diese die
für ihre Zwecke geeignete Konstruktion heraussu-
chen konnten: die Anstalt oder die Aktiengesell-
schaft, die Stiftung oder den Verein, das Treuunter-
nehmen oder die Genossenschaft. Der Schritt nach
Liechtenstein wurde den ausländischen Kapitaleig-
nern dadurch erleichtert, dass sie ihre liechten-
steinischen Sitzunternehmen so einrichten durften,
wie sie es sich von zu Hause her gewohnt waren. 5 4
Besonders originell war das PGR da, wo es Gesell-
schaftsformen einführte, die man vorher auf dem
europäischen Kontinent so nicht gekannt hatte. Die
Treuhänderschaft beispielsweise war dem aus dem
angelsächsischen Raum bekannten Trust nach-
empfunden. 5 5 Nicht nur bei der rechtlichen Ausge-
staltung der Gesellschaft, sondern auch beim Grün-
dungsprozedere oder in administrativer Hinsicht
kam man den ausländischen Interessenten entge-
gen. So konnte man ein Sitzunternehmen lange
vom Ausland aus managen. In Liechtenstein wurde
ledigHch ein «Repräsentant» benötigt. Erst seit 1963
ist ein ortsansässiger Verwaltungsrat vorgeschrie-
ben. 5 6
Unmittelbarer Anlass für die Ausarbeitung des
PGR war das Bestreben, Gesellschaftsformen ein-
zuführen, die nicht den schweizerischen Stempel-
abgaben unterstanden.5 7 Denn mit dem Zollvertrag
musste das Fürstentum Liechtenstein 1924 auch
die schweizerische Stempelgesetzgebung überneh-
men. 5 8 Auf der Ausgabe und dem Gewinn von
Wertpapieren lagen fortan Abgaben, die von der
schweizerischen Steuerverwaltung erhoben und an
Liechtenstein zurückerstattet wurden. Die Liech-
tensteiner Treuhänder fürchteten um die Konkur-
renzfähigkeit ihrer Sitzunternehmen. Sie sträubten
sich nicht nur gegen die neuen Steuern an und für
sich, sondern auch gegen die damit verbundene
Kontrolle durch den Schweizer Fiskus. 5 9 Das PGR
schuf hier die gewünschte Abhilfe: Es stellte mit
der Stiftung, dem Trust und der Anstalt Gesell-
schaftsformen zur Verfügung, die es in der Schweiz
nicht gab und die deswegen nicht unter die Schwei-
zer Stempelgesetzgebung fielen.
Mit dem anlegerfreundlichen PGR und der einla-
denden Steuergesetzgebung waren die Fundamen-
te des Finanzplatzes gelegt. Die Kapitalien, die nun
hereinzuströmen begannen, wurden fast nie im
Fürstentum Liechtenstein selbst angelegt. Sie wur-
den in Vaduz lediglich treuhänderisch und steuer-
begünstigt verwaltet. Meistens brachte man das
Geld, via BiL, bei befreundeten Schweizer Banken
unter. Die geographische Lage nahe dem Finanz-
platz Zürich, mit dem man praktischerweise die
Währung teilte, war hier ein wichtiger Vorteil.
Die wirtschaftlich Berechtigten, die hinter den
Gründungen standen, stammten vor aüem aus dem
mitteleuropäischen Raum, namentlich aus den Län-
dern, die den Krieg verloren hatten. Die meisten
Klienten kamen aus Deutschland, wo die Steuerlast
in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wegen der
Reparationszahlungen an die Entente unerträgli-
che Ausmasse annahm. Wichtig war auch die
Angst vor dem Kommunismus, welche weite Teile
92
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
des europäischen Bürgertums umtrieb und sie ver-
anlasste, ihr Vermögen ausser Landes zu bringen.
Diese Angst war damals sogar in den Statuten der
Sitzunternehmen nachzulesen. So erwähnte die
Gründungsurkunde einer Familienstiftung 1931
ausdrücklich die Möglichkeit, den Sitz der Stiftung
zu verlegen oder das Vermögen zu verteilen, falls
«durch irgendwelche Ereignisse ... - (insbesondere
revolutionärer oder bolschewistischer Art) - das
Vermögen der Stiftung wesentlich geschädigt oder
... enteignet... werden könnte.» 6 0
Die Zahl der Sitzunternehmen erhöhte sich zu-
erst langsam, nach der Einführung des PGR schnell.
Der liechtensteinische Steuerverwalter Ludwig Has-
ler konnte 1928 zufrieden feststellen, dass Liech-
tenstein in der internationalen Finanzwelt Boden
gefasst und bereits einen grossen Namen habe.6'
Allerdings sah sich Liechtenstein auch mit einer ge-
wissen Konkurrenz konfrontiert, sei es von Seiten
einiger Schweizer Kantone, sei es vom Grossher-
zogtum Luxemburg. Grosse Finanzierungs- und
Beteiligungsgesellschaften verirrten sich kaum nach
Liechtenstein, weil dort die dafür nötige (Banken-)
Infrastruktur fehlte. Andererseits lockte das Fürs-
tentum mit verschiedenen Vorteilen. Hasler nannte
1928: die «modernen Gesetze», die «Einfachheit
des Gründungsvorgangs», die besonders niedrigen
Steuern, die Möglichkeit der Pauschalierung,
schliesslich der Umstand, dass für ein liechtenstei-
nisches Sitzunternehmen kein einheimischer Ver-
waltungsrat vorgeschrieben war (im Gegensatz zur
Schweiz, wo der Verwaltungsrat mehrheitlich aus
Schweizern bestehen musste).62
Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und
die ihr folgenden Autarkiebestrebungen der eu-
ropäischen Nationalstaaten liessen dann den Zu-
strom der ausländischen Gelder versiegen. Deutsch-
land führte 1931 Devisenkontrollen ein und erliess
eine Verordnung «gegen die Kapital- und Steuer-
flucht». 6 3 Nach dem Anschluss Österreichs an das
«Dritte Reich» im März 1938 schien die Eigenstän-
digkeit Liechtensteins zur Disposition zu stehen.
Damals verliessen zahlreiche Sitzunternehmen den
ihnen nun nicht mehr so sicher scheinenden Ha-
fen. 6 4 Die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und die
52) Angaben aus einem Verzeichnis über die Eintragungen im
Öffentlichkeitsregister, das Dr. Rupert Quaderer zusammengestellt
hat und für dessen Über lassung ich ihm hier herzlich danke.
53) Büsch, Harald: Schweizerische Spuren im liechtensteinischen
Treuhandrecht. In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Fol-
ge. Bd. 119/2000, S. 175-220. hier S. 179.
54) Vgl. Beck, Wilhelm: Unternehmungen und selbständige Vermö-
gensverwaltungen im Fürs ten tum Liechtenstein. Vaduz, 1927
(2. Aullage), S. 4.
55) Bei den Passagen über die Treuhänderschaf t stützte sich Wilhelm
Beck auf einen Entwurf des Schweizer Anwalts Marcus Wyler, der
sich - anders als er - im angelsächsischen Recht gut auskannte (vgl.
Bosch 2000 [wie Anm. 53], S. 180-186). Hinter der Orientierung am
US-amerikanischen Trust stand wirtschaftliches Kalkül. Steuerver-
walter Haslcr über die Arbeiten am Gesetz über das Treuunterneh-
men (LLA, RE 1926/9. Schreiben an Regierungschef Schädler vom
14. Oktober 1926): «Herr Dr. W. Beck ist.. . daran, einzelne Gesell-
schaftsformen ... besser auszubauen und er verspricht sich hiervon,
da er die large Gesetzgebung der Vereinigten Staaten von Amerika
als Basis auserwähl t hat, grosses Interesse durch die amerikanische
Finanzwelt.»
56) Dass man keinen Ortsansässigen in die Verwaltung aufnehmen
musste, e rhöhte die Attraktivität der Sitzunternehmen (vgl. LLA. RE
1927/50, Steuerverwalter Hasler am 22. Juli 1927 an den Regie-
rungschef). Erleichterungen gab es für den Gründer des Sitzunter-
nehmens auch in anderer Hinsicht: Die Rechnungslegungsvorschrif-
ten waren lax; die Gesellschaft war in der Wahl der Währung , in der
sie ihre Bücher führen wollte, frei; bei den Aktiengesellschaften
kannte man bis 1954 kein Mindestkapital usw.
57) «Zweck» des PGR war es nach den Worten Haslers (LLA. RE
1926/9, 20. September 1926): «... in Liechtenstein Gesellschaftsfor-
men, die die gleichen wirtschaftlichen Funktionen verrichten [wie
normale Gesellschaften. A n m . d. Autors], errichten zu können, ohne
dass diese der eidg. Stempelgesetzgobung unterl iegen.»
58) Sitzunternehmen, die vor 1924 errichtet worden waren und die
mit der liechtensteinischen Steuerverwaltung einen Pauschalvertrag
abgeschlossen hatten, blieben von den eidgenössischen Stempelab-
gaben verschont. Das Thema Stempelabgaben belastete die Bezie-
hungen zwischen Liechtenstein und der Schweiz wäh rend Jahrzehn-
ton. Liechtenstein dachte wiederholt über eine Verselbständigung
der Stempelgesetzgebung nach. Dies hät te jedoch den gemeinsamen,
liechtensteinisch-schweizerischen Wirtschaftsraum gefährde t und
wäre von der Schweiz kaum akzeptiert worden (z.B. LLA, RE
1930/92).
59) LLA. RE 1925/66 (Hasler an Schädler, 15. Oktober 1925).
60) Zit. in: Merki 2003 (wie Anm. 1), S. 69.
61) LLA, RE 1928/36 (Schreiben an die Regierung vom 6. Oktober
1928).
62) Ebd.
63) Reichsgesctzblatt Nr. 35 vom 18. Juli 1931, S. 373-376.
64) Allein in den vier Monaten zwischen März und Juli 1938 ver-
schwanden 149 Sitzunternehmen mit einem (deklarierten) Kapital
von 186 Millionen Franken (vgl. LLA, RF 182/91).
93
Kriegsjahre selbst hatten für das noch junge Ge-
sellschaftswesen krisenhafte Züge. Insgesamt stag-
nierte zwischen 1931 und 1945 die Zahl der im
Fürstentum Liechtenstein beheimateten Sitzunter-
nehmen. 6 5
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Gesell-
schaftswesen ein phänomenales Wachstum, das
kaum je durch konjunkturelle Einbrüche abge-
bremst wurde. In den 1990er Jahren gab es in
Liechtenstein schliesslich 70mal mehr Sitzunter-
nehmen als in den 1930er Jahren (siehe Tabelle).
Verschiedene Faktoren liessen den Strom der Neu-
gründungen anschwellen. Die wichtigsten waren:
die wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg, der
Abbau von Beschränkungen im internationalen De-
visenverkehr, die Schaffung grosser, international
mobiler Vermögen, fmanztechnische Neuerungen
wie Fernschreiber und Telefax, die Anziehungs-
kraft des starken Schweizer Frankens, die soziopo-
litische Stabilität des neutralen Liechtensteins, die
attraktiven Konditionen der lokalen Anbieter, fer-
ner die Erhöhung des Steuerdruckes in den Län-
dern ringsum. Ein Beispiel mag erhellen, wie die
anderen europäischen Staaten mit dem Anziehen
der Steuerschraube dazu beitrugen, dass sich das
Kapital aus ihren Ländern absetzte. 1974 wurden
in Italien die Grundstücksteuern angehoben. Dar-
auf entstanden in Liechtenstein Hunderte von Sitz-
unternehmen, die italienischen Liegenschaftsbesitz
verwalteten.6 6
In den letzten Jahren bildete sich die Zahl der
Sitzunternehmen zum ersten Mal seit langem wie-
der zurück. Dieser Einbruch war eine Folge der all-
gemeinen Krise der internationalen Finanzmärkte,
aber auch der (aussen-)politischen Turbulenzen, in
die der Finanzplatz um die Jahrtausendwende ge-
raten war.
Für das einzelne Sitzunternehmen waren die Ge-
bühren und Steuern, die es in Liechtenstein zu ent-
richten hatte, niedrig. 6 7 Für das Land, das diese
Abgaben erhob, waren sie schon bald unverzicht-
bar. Bereits in den 1930er Jahren stammten 25
Prozent bis 30 Prozent aller Landeseinnahmen al-
lein aus dieser Quelle. 6 8 Im Zweiten Weltkrieg ging
die fiskalische Bedeutung des Gesellschaftswesens
vorübergehend zurück. In den Jahren 1941 bis
1949 erbrachte es noch 7 Prozent bis 12 Prozent
aller Landeseinnahmen. In den 1950er Jahren wa-
Tabelle: Holding- und Sitz- Anzahl der •steuerbegünstigter!
unternehmen in Liechten- Jahr Holding- und Sitzuriternehmen
stein (1921-2002) 1921 1-0
1925 68;
1931 1 035
1939
Quelle der Zählung bzw. Schätzung
Geiger 2000. Bd. I, S. 203'f. (gestützt auf
Rechenschaftsberichte der- Regierung)
1 000
1-958 5 671 Landesarchiv, RF 278/72/26
1963 ~ 10 000 Der Spiegel vom 1*5. Mai 1963
1973 - 33 000 Landesarchiv, RF 323/19 (geschätzt)
1.97? 49 475 Landesarchiv; RF 341/19
1983 52 778
1.988 61 215
1995 73 700 Liechtensteiner Väterland vom 9. Mai 1996
2000 ~ 84 000 Merki .2003, S. 121
2002 ~ 80 000
94
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
ren es dann wieder 20 Prozent bis 25 Prozent. 6 9
Vor dem Beitritt Liechtensteins zum Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR) klärte die liechtensteini-
sche Steuerverwaltung die fiskalische Bedeutung
des Gesellschaftswesens ab. Nach ihren Berech-
nungen stammten im Jahre 1990 36 Prozent aller
Landeseinnahmen direkt oder indirekt aus dem
Gesellschaftswesen.70 Auch wenn sich der Anteil
des Finanzplatzes am Steueraufkommen nicht im-
mer genau beziffern lässt, so können hier doch
zwei Punkte festgehalten werden:
- In den Jahren 1927 bis 1939 sowie seit den spä-
ten 1950er Jahren erbrachte das Gesellschafts-
wesen alles in allem etwa ein Drittel bis die Hälfte
der gesamten Steuereinnahmen Liechtensteins.
- Diese Einnahmen gestatteten es, die anderen
Steuerträger des Landes zu entlasten, nament-
lich die Industrieunternehmen und die natür-
lichen Personen.
Bis in die 1950er Jahre hinein beschäftigte das Ge-
sellschaftswesen nur wenige Arbeitskräfte. 1940
dürften es etwa zwei Dutzend Personen gewesen
sein, die direkt und hauptsächlich von den interna-
tionalen Beziehungen des «Finanzplatzes» Liech-
tenstein lebten: drei, vier Anwälte, die zehn Ange-
stellten der Bank in Liechtenstein sowie einige
nicht akademisch gebildete Treuhänder (die so ge-
nannten Rechtsagenten). Dies entsprach einem Be-
schäftigtenanteil von 0,6 Prozent.7 1 Heute dürfte
dieser Anteil auf rund 15 Prozent gestiegen sein,
wobei es nicht immer klar ist, wer direkt und
hauptsächlich für den Finanzplatz arbeitet: Bank-
angestellte, Anwälte, Unternehmensberater, Infor-
matiker, Wirtschaftsprüfer, verschiedene Hotels
und Druckereien, aber auch und in zunehmendem
Masse die Landesverwaltung (Richter, Register-
und Steuerbeamte, Aufsichtsbehörden, Imagepfle-
ger). Die Zahl der Anwälte wuchs von 3 (in den
1930er Jahren) auf 9 (1951), 18 (1970) und 50
(1995).72 Seit dem Beitritt Liechtensteins zum EWR,
der den Anwaltsmarkt auch für Bürger der EU öff-
nete, verdoppelte sich die Zahl der Liechtensteiner
Anwälte auf über hundert. Ähnliche Zuwachsraten
verzeichneten auch die Treuhänder und die Bank-
angestellten. Die Zahl der letzteren wuchs von 24
(1950) auf 1758 (2000).
Hand in Hand mit der Zunahme der Beschäftigten
ging deren Differenzierung. Ursprünglich war der
einzelne Rechtsagent für seine Klienten Treuhän-
der, Rechtsbeistand, Wirtschaftsberater, Vermö-
gensverwalter und Bilanzprüfer in einem. Mittler-
weile gibt es für alle diese Funktionen spezielle Be-
rufe oder spezialisierte Betriebe. Den Markt für die
Verwaltung der Sitzunternehmen dominieren heu-
te einige grosse Anwaltskanzleien und Treuhand-
büros wie das Allgemeine Treuunternehmen (ATU),
die First Advisory Group, die Kanzlei Marxer &
Partner und die Präsidial-Anstalt. Es kann dabei
durchaus vorkommen, dass auf einen einzelnen,
dort tätigen Anwalt tausend Sitzunternehmen ent-
fallen. Daneben gibt es mittlere und kleinere Büros,
die sehr viel weniger Sitzunternehmen betreuen.
Früher war es in Liechtenstein üblich, dass man
65) Zur Entwicklung dos Gescllschaftswesens in dieser Zeit:
Lussy/Löpez 2005 (wie Anm. 41).
66) Veiter, Theodor: Liechtenstein als Sitz von Holdings und Ver-
bandspersonen. In: Wirtschaftspolitische Blätter, Heft 6/1976, S.
134-143.
67) Einige Überlegungen zur Herkunft und Höhe der in den Sitzun-
ternehmen angelegten Kapitalien in: Merki , Christoph Maria: Der
Finanzplatz Liechtenstein: Zürichs attraktive Aussensteile. In: Eu-
ropas Finanzzenlren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhun-
dert. Hrsg. Christoph Maria Merki. Frankfurt a .M./New York. 2005.
S. 167-195, h ie rS . 175.
68) Geiger 1997 (wie Anm. 14). Bd. 1, S. 200-203.
69) LLA, RF 278/72/26 (Memorandum vom Oktober 1958).
70) LLA, RF 349/18 (Steuerliche Anpassungsmöglichkei ten zur Er-
haltung unseres Gesellschaftswesens im EWR, vertraulicher Bericht
des Steuerverwalters Bruno Sprenger vom 25. Mai 1992). Zu den
direkten Einnahmen in der Höhe von 100 Millionen Franken zählte
die Steuorverwaltung, die besondere Gesellschaftssteuer, die Grün-
dungsgebühren , die Eintragungs- und Beglaubigungsgcbühren sowie
Teile der Couponsteuer und der Emissionsabgaben. Weitere 30 Mi l -
lionen Franken generierte der Sektor auf indirekte Art und Weise, so
über die Vermögens-, die Erwerbs-, die Kapital- und Ertragsstcuer.
ferner über die Gebühren der Post- und Telckommunikationsbe-
triebe.
71) Merki 2003 (wie Anm. 1), S. 71.
72) LLA, RF 266/67 (Anwaltslistc 1951), LLA, RF 301/43/1 (Liste
1970).
95
neben seinem angestammten Beruf - zum Beispiel
als Architekt oder Lehrer - noch einige Mandate
laufen hatte. Mit den steigenden Anforderungen an
den Treuhänderberuf ist die Zahl dieser Feier-
abend-Mandatäre stark zurückgegangen.
Viele Liechtensteiner Politiker (Regierungschefs,
Parteipräsidenten, Landtagsabgeordnete) stamm-
ten im 20. Jahrhundert beruflich aus dem Gesell-
schaftswesen oder stiegen nach ihrer Politkarriere
(wieder) in dieses ein. Grund für die Affinität des
Gesellschaftswesens zur Politik ist der Umstand,
dass der Finanzplatz auf einem zutiefst politischen
Fundament (Steuer, Währung, PGR) ruht. Beson-
ders problematisch war das Verhältnis von Staat
und Wirtschaft, Politik und Beruf da, wo sich öf-
fentliche und private Interessen überschnitten oder
überschneiden konnten, namentlich bei öffentli-
chen Amtern, die nebenher ausgeübt wurden. So
hatten (und haben) viele Treuhänder nebenbei ein
Landtags-, Richter- oder sogar Regierungsmandat,
weil die beschränkten personellen Ressourcen des
kleinen Landes keine andere Lösung zulassen. Die-
se Problematik galt und gilt im übrigen auch und
gerade für das Fürstenhaus. So ist der studierte Be-
triebswirt Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein
nicht nur Staatsoberhaupt, sondern als «Regierer»
des Hauses Liechtenstein gleichzeitig erfolgreicher
Geschäftsmann und Manager des fürstlichen Ver-
mögens. 7 3 Öffentlich diskutiert wird dieses struk-
turelle Problem allenfalls dann, wenn es zu einem
«Skandal» kommt, das heisst: wenn die privaten
Interessen (zu) offensichtlich mit den öffentlichen
Aufgaben kollidieren. Dies war zum Beispiel 1935
der Fall, als der Beamte Ludwig Hasler seinen Po-
sten als damals einziger Steuerverwalter des Lan-
des räumen musste, weil er nebenbei Sitzunterneh-
men betreut und dabei amtliche und private Ge-
schäfte nicht sauber voneinander getrennt hatte.74
Ursprünglich wurden in Liechtenstein vor allem
Holdinggesellschaften errichtet, die man für die Ab-
wicklung von Handelsgeschäften einsetzte. Im Jah-
re 1930 beispielsweise entstanden 145 neue Sitz-
unternehmen. 63 Prozent dieser Unternehmen hat-
ten eine Form, die sich vor allem für kommerzielle
Tätigkeiten eignete, sie waren also Aktiengesell-
schaft, GmbH oder Anstalt. 7 5 In den letzten Jahr-
zehnten traten die kommerziell tätigen Unterneh-
men in den Hintergrund 7 6 und man spezialisierte
sich auf eine andere Art des Offshore-GeschMts:
auf die Verwaltung ausländischen Finanzvermö-
gens. Statt der Anstalt oder der Aktiengesellschaft
wählte man dafür andere Gesellschaftsformen, na-
mentlich den Trust oder die Stiftung. 1977 waren
erst 12 Prozent aller Sitzunternehmen Stiftungen.
Mittlerweile beträgt ihr Anteil über 60 Prozent.7 7
Auf welchen Wegen fanden ausländische Anle-
ger und Geschäftsleute überhaupt nach Liechten-
stein? Dass sich in Liechtenstein Handelsgeschäfte
bequem und steuergünstig abwickeln und grosse
Vermögen währungssicher anlegen liessen, sprach
sich in den 1920er Jahren bei den europäischen
Wirtschaftsanwälten und Steuerberatern rasch
herum. In den Fachzeitschriften erschienen schon
bald Artikel, welche die Vorzüge von liechtensteini-
schen Sitzunternehmen priesen. 7 8 Skandale be-
schädigten zwar den Ruf des Finanzplatzes Vaduz,
andererseits machten sie ihn im Ausland bekannt
und lockten weiteres Geld an, namentlich dann,
wenn sich die hechtensteinischen Behörden nicht
auf Rechtshilfebegehren einliessen und am Bank-
geheimnis für Anleger festhielten. Ähnlich ambiva-
lent wirkte aussenpolitischer Druck. 1931, auf dem
Flöhepunkt der Weltwirtschaftskrise, versuchte die
deutsche Regierung, die Kapitalflucht mit einer
Notverordnung e inzudämmen. 7 9 Damals erschie-
nen im Ausland Artikel über Liechtenstein, die sei-
ne neue Bedeutung als Finanzplatz selbst dem ge-
wöhnlichen Zeitungsleser mit Überschriften wie
«Eine Insel im Krisenmeer» 8 0 oder «Im Land der
geflüchteten Millionen» 8 1 vor Augen führten.
Die Liechtensteiner Treuhänder überliessen die
Verwaltung der in den Sitzunternehmen stecken-
den Kapitalien ursprünglich den Banken, nament-
lich jenen auf dem Platz Zürich. Mit der Zeit gingen
sie dazu über, sich selbst um diese Vermögen zu
kümmern, ja einige Treuhänder wollten es der
LGT/BiL gleich tun und ihren Kunden eine eigene
Bank zur Verfügung stellen. So entwickelte sich
1956 aus dem Allgemeinen Treuunternehmen die
Verwaltungs- und Privatbank (VPB). Die Landes-
96
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
bank, die LGT/BiL und die VPB blieben bis 1992
die einzigen Banken auf dem Platz Liechtenstein.
Die Regierung hielt die Zahl der Banken während
Jahrzehnten niedrig, weil sie die Aufmerksamkeit
der ausländischen Politik nicht auf die Steueroase
Liechtenstein lenken wollte. 8 2 Seit 1992 wurden
weitere Banken zugelassen, so die Neue Bank, wel-
che ehemalige Manager der BiL ins Leben riefen.
Seit 1997 eröffneten auch einige ausländische Geld-
institute einen liechtensteinischen Ableger. Das Ka-
pital, das über das Gesellschaftswesen nach Liech-
tenstein strömte, konnte unmöglich im Lande selbst
angelegt werden. Dafür war das Fürstentum schlicht
zu klein. Für die Liechtensteiner Banken hiess
dies, dass sie mit ausländischen, namentlich mit
schweizerischen, Instituten kooperieren und das
meiste Geld letztlich doch wieder dort platzieren
mussten.
Zwischen 1992 und 2002 wuchs die Zahl der
Liechtensteiner Banken von drei auf sechzehn.
Auch die Zahl der Bankangestellten vervielfachte
sich seit den 1960er Jahren. Im internationalen
Vergleich blieb sie allerdings klein. Offensichtlich
ist auch die Abhängigkeit des Bankenplatzes vom
Gesellschaftswesen: das Wachstum der Kunden-
vermögen korrelierte stark mit der Entwicklung
der Sitzunternehmen. Der Beitritt zum Europäi-
schen Wirtschaftsraum eröffnete dem Finanzplatz
1995 neue Möglichkeiten im Bereich der Versiche-
rungs- und Fondswirtschaft. Es wird sich weisen,
ob sich mit diesen Diversifizierungen die Abhän-
gigkeit vom traditionellen Gesellschaftswesen redu-
zieren lässt.
Interessant ist vor allem der aussenpolitische Kon-
text, in den der Finanzplatz eingewoben war (und
ist). Fast immer war es aussenpolitischer Druck, der
zu regulatorischen Veränderungen führte. Eine kur-
ze Chronologie der wichtigsten Umgestaltungen des
PGR soll dies zum Schluss dieses Aufsatzes zeigen:
1938
Eine erste Änderung erfuhr das Personen- und Ge-
sellschaftsrecht 1938. Nach dem Einmarsch
Deutschlands in Österreich zogen viele Sitzunter-
nehmen aus Liechtenstein ab. Um sie zum Bleiben
zu bewegen, wurde der Geheimnisschutz für Sitzun-
ternehmen verstärkt, namentlich der Schutz für
Stiftungen und Anstalten. «Zur Beruhigung des
Gründers» 8 1 durfte dieser die Gründungsakten fort-
an selbst aufbewahren und musste sie nicht mehr
beim Öffentlichkeitsregister hinterlegen.
73) Wie schwierig staatliche und private Interessen gerade auch auf
der obersten Ebene der Politik zu trennen sind, mag folgendes Bei-
spiel illustrieren. Hans-Adams Vater Franz-Josef II. setzte sich in
den 1950er Jahren da fü r ein. dass Liechtensteiner T reuhände r auch
ausländische Juristen anstellen durften (Merki 2003 [wie Anm. 1],
S. 110). Man kann sich des Findrucks nicht erwehren, dass es ihm
dabei nicht nur um das Wohl des Finanzplatzes ging, sondern auch
(vor allem?) um das der fürstl ichen Bank in Liechtenstein.
74) Dazu: LLA. RF 159/105/4.
75) Vgl. Rcchenschafts-Bericht der Regierung 1930. S. 114.
76) Zu den Gründen für den Niedergang der Anstalt oder generell
des kommerziell tätigen Unternehmens: Merki 2005 (wie Anm. 67),
hier S. 180.
77) Vortrag von Klaus Tschütscher (damals stellvertretender Leiter
der liechtensteinischen Steuerverwaltung, heute Regierungschef-
Stellvertreter) am 25. November 2003 im Liechtenstein-Institut. Eine
liechtensteinische Stiftung hat meistens keinen wohltätigen oder ge-
meinnützigen Zweck. Sie dient vielmehr dazu. Famil ienvermögen zu
verwalten und den finanziellen Unterhalt der Angehörigen sicherzu-
stellen. Ausserdom ist sie da fü r prädest inier t , Vermögen trotz eines
Gencrationenwechsels vor einem Erbgang im juristischen Sinne zu
bewahren (vgl. Bosch, Harald: Die liechtensteinische Stiftung. Bern/
Wien. 2005).
78) Dazu zwei Beispiele. 1. Der Hamburger Wirtschaftsanwalt A l -
brecht Dieckhoff publizierte 1930 in der Deutschen Steuer-Zeitung
mehrere Artikel über die «Holdinggesetzgebung in Europa». Dieck-
hoff war Geschäf t spar tner des Vaduzer Anwalts Ludwig Marxer.
2. Im englischen Accountant erschienen 1931 zwei Aufsätze über
«statue law» und «taxation» in Liechtenstein. Verfasst hatten sie R.
E. S. Blank, ein in Bregenz ansäss iger Counsellor, und der Vaduzer
Treuhände r Guido Feger. der Gründer des Allgemeinen Treuunter-
nehmens ATU.
79) Zum Versiegen des Investorenstroms zu Beginn der 1930er
Jahre vgl. die Akten im Landesarchiv: L L A . RF 120/24, RF 122/45.
RF 122/91. RF 123/34. RF 129/91. l iF 131/229.
80) Tiroler Anzeiger vom 28. November 1931.
81) Leipziger Neueste Nachrichten vom 22. Dezember 1931.
82) Zum Banken-Protektionismus der 1960er, 1970er und 1980er
Jahre sowie zu dessen Ende: Merki 2005 (wie Anm. 67), S. 183/184.
83) Motivenbericht betr. Art. 554 PGR (LLA, RF 179/358). Diese
Bestimmung wurde 1963 wieder aufgehoben.
97
1963
Zu Beginn der 1960er Jahre gewann die europäi-
sche Einigung an Fahrt. Auch die Schweiz dachte
über eine Annäherung an die Europäische Wirt-
schaftsgemeinschaft (EWG) nach. Zugleich schnellte
die Zahl der Gründungen in die Höhe, wobei die l i -
beralen Bestimmungen des PGR auch einige dubio-
se Investoren anlockten, die man lieber nicht in
Liechtenstein gehabt hätte. Was aussenpolitischer
Druck bewirken konnte, sah man in Monaco, wo
Frankreich 1962 mit einem Federstrich jene Steuer-
vorteile zum Verschwinden brachte, die seine Bür-
ger im benachbarten Fürstentum genossen hatten.
Prinz Heinrich, der liechtensteinische Gesandte in
Bern, meinte damals in einem «streng vertrauli-
chen» Bericht: Falls Liechtenstein seine Karten auf
den Tisch legen müsse, werde es sich zur Überra-
schung des Schweizer Partners, aber auch der EWG
herausstellen, «dass die Monegassen im Vergleich
zu uns arme Waisenknaben sind» 8 4 . Durch rechtzei-
tige Reformen könne man ein «Massensterben der
Holdings» verhindern. Die Zahl der Neugründungen
werde dadurch zwar abnehmen, deren Qualität
aber besser werden. 8 5 Die 1963er Reformen brach-
ten unter anderem eine Erhöhung der Mindestkapi-
talsätze, das Ende der Steuerpauschalierung und
die Pflicht zur Einsetzung eines in Liechtenstein
wohnhaften, verantwortlichen Vertreters (statt ei-
nes blossen Repräsentanten).
1980
Der Reformschub von 1980 war eine Reaktion auf
die so genannte Texon-Affäre 8 6 . Er führte unter an-
derem zu strengeren Publizitäts-, Buchführungs-
und Verantworthchkeitsbestimmungen, zu einer Er-
höhung der Qualifikation der Treuhänder sowie zu
ersten Vorschriften über die Sorgfalt bei Finanzge-
schäften. Diese Reformen waren auch die Vorausset-
zung für den Abschluss eines Währungsvertrages,
der 1980 die Benutzung des Schweizer Frankens
durch Liechtenstein regelte.87 Schon 1977 hatten die
Schweizer Bundesräte Furgler und Chevallaz in ei-
ner Besprechung mit ihren liechtensteinischen Kol-
legen Klartext gesprochen. Finanzminister Georges-
Andre Chevallaz meinte damals, dass Liechtenstein
zwar «voll souverän» sei, dass es aber wegen der
«engen Bindung» an die Schweiz auf deren Interes-
sen Rücksicht nehmen müsse . 8 8
1992/97
Zu Beginn der 1990er Jahre kam ein Reformprozess
in Gang, der den Finanzplatz - von kurzen Unter-
brechungen abgesehen - bis heute beschäftigt. Hin-
tergrund der Änderungen war die Annäherung
Liechtensteins an die EU, die 1995 im Beitritt zum
Europäischen Wirtschaftsraum gipfelte. Dazu kam
der Druck aus der Schweiz, die ihrerseits den Pres-
sionen anderer Länder ausgesetzt war. Die Schweiz
verstärkte in den 1980er Jahren den Kampf gegen
die Geldwäscherei und akzeptierte nicht, dass sich
zwischen ihr und Liechtenstein ein Regelungsgefäl-
le auftat. Die Schweizer Regierung wollte nicht zu-
lassen, dass «der Finanzplatz Liechtenstein zur Um-
gehung der schweizerischen Rechtsordnung miss-
braucht werden kann» . 8 9 Dieser Wink mit dem
Zaunpfahl tat seine Wirkung. 1993 erhielten die
Liechtensteiner Treuhänder und Rechtsanwälte
Standesorganisationen öffentlichen Rechts, welche
die Überwachung ihres Berufes verbesserten.
1993/94 trat ein neues Bankengesetz in Kraft, das
insbesondere die Aufsicht über den liechten-
steinischen Bankensektor verstärkte. 1996 wurde
die Sorgfaltspflicht, auf welche sich die Banken
1977 «freiwillig» geeinigt hatten, in ein verbindli-
ches Gesetz umgewandelt und auf alle Finanz-
intermediäre, also auch auf die Anwälte und Treu-
händer, ausgedehnt. 1997 musste der abgeschottete
liechtensteinische Anwaltsmarkt für EU-Bürger
geöffnet werden. Vor den Änderungen der 1990er
Jahre waren die wenigen Liechtensteiner Stellen,
denen die Abwehr krimineller Gelder oblag, auf ver-
lorenem Posten gewesen. So stellte die Bankenkom-
mission 1988 fest, dass eine «effiziente Überwa-
chung» der Banken unmöglich sei, 9 0 und der liech-
tensteinische Staatsanwalt Frommelt beschwerte
sich 1986 bei der Regierung über zu wenig Personal
sowie seine «gesellschaftliche Isolierung». 9 1 Das
Gesellschaftswesen bereite ihm «grosse Verant-
wortlichkeitsprobleme». Die damit zusammenhän-
gende Wirtschaftskriminalität sei ein Problem, das
98
SOUVERÄNITÄT ALS STANDORTFAKTOR
CHRISTOPH MARIA MERKI
«im Inland weitgehend verschwiegen und unter-
drückt» werde. 9 2
Ab 2000
Offenbar gingen die Umgestaltungen der 1990er
Jahre nicht weit genug. Im Sommer 2000 wurde
Liechtenstein von der FATF, einem bei der OECD an-
gesiedelten Gremium zur Bekämpfung der Geldwä-
sche, auf die Liste der «nicht kooperativen» Staaten
gesetzt. Erst nachdem Liechtenstein sein Sorgfalts-
pflichtgesetz verschärft und eine staatliche Stelle zur
Bekämpfung der Geldwäscherei eingerichtet hatte,
wurde es wieder von dieser Liste gestrichen. Mit
den Gesetzen über die Sorgfaltspflicht bei Finanzge-
schäften hat sich Liechtenstein auf eine heikle Grat-
wanderung begeben bzw. begeben müssen. Auf der
einen Seite dieses Grates steht das Bestreben, krimi-
nelle Gelder fern zu halten; auf der anderen Seite
geht es um jene regulatorische Liberalität, welche
den Finanzplatz auszeichnet und ihn so attraktiv
macht.
Der Druck aus dem Ausland wird mit Sicherheit an-
halten. Der von den Hochsteuerländern eingeläute-
te Kampf gegen den «schädlichen Steuerwettbe-
werb» richtet sich gegen die Fiskalpolitik der Steu-
eroasen (zu denen Liechtenstein gerechnet wird)
und möchte diese unter anderem dazu bringen, bei
grenzüberschreitenden Steuerdelikten die für die
Verfolgung nötigen Informationen zur Verfügung zu
stellen. Hier besitzt Liechtenstein mit der Schweiz
einen wichtigen Verbündeten, denn das Wohlerge-
hen des Finanzplatzes Schweiz beruht zu einem
grossen Teil ebenfalls auf dem Bankgeheimnis. Ob
sich dieses Bankgeheimnis in seiner traditionellen
Form beibehalten lässt, ist allerdings fraglich.
87) Dazu: Kleine-Hartlage, Michael: Der Währungsve r t r ag Schweiz-
Liechtenstein. Bamberg, 1988.
88) LLA, RF 319/155, Notiz, über die Besprechung des Regierungs-
chefs und des Regierungschef-Stellvertreters mit Bundespräs ident
Furgler und Bundesrat Chevallaz in Bern am 16. Juni 1977.
89) In der Antwort auf eine Motion der Freisinnig-demokratischen
Fraktion vom 14. Juni 1990 (LLA. RF 343/31).
90) Die Liechtensteiner Banken weigerten sich bis 1993 mit Erfolg,
die Revisionsberichte ihrer Institute der mit der Aufsicht der Banken
beauftragten Kommission vorzulegen (vgl. u.a. LLA, RF 352/32 und
LLA, RF 331/80).
91) Schreiben vom 7. März 1986 an die Regierung (LLA, RF 336/3,
hier S. 10).
92) Ebd.
84) LLA, RF 290/72/19 (vierseitiges Aide memoire o.D.).
85) Ebd., S. 3.
86) Eine liechtensteinische Anstalt namens Texon diente dazu, italie-
nische Schwarzgelder anzulegen. Als sie 1977 zahlungsunfähig wur-
de, geriet die Schweizerische Kreditanstalt (heute: Credit Suisse) in
den Strudel hinein und musste Abschreibungen in Mill iardenhöhe
vornehmen.
99
SCHLUSS:
WIE M A N SEINE S O U V E R Ä N I T Ä T
V E R G O L D E T
Das Fürstentum Liechtenstein mag klein, machtlos
und von der Natur mit Bodenschätzen nicht eben
verwöhnt worden sein, aber es ist ein Staat und so-
mit souverän. Aus dieser Souveränität Kapital zu
schlagen - darin besteht der kluge Gedanke, der ei-
nen grossen Teil des hechtensteinischen Wohl-
standes erklärt. Liechtenstein benutzte seine Exi-
stenz als Staat dazu, ausländischen Interessenten
Dinge anzubieten, die in anderen Staaten nicht vor-
handen, kaum erhältlich oder schlicht unverkäuf-
lich waren: den liechtensteinischen Pass, einen
steuergünstigen Wohnsitz für vermögende Rentiers,
eigene Briefmarken statt Briefmarken jener Post-
verwaltungen, mit denen man wegen der Kleinheit
des Landes zusammenarbeiten musste. Am er-
folgreichsten war die Idee, sich als Zufluchtsort für
ausländisches Kapital anzubieten. Für diesen Zweck
instrumentalisierte man das zum Kern staatlicher
Hoheit gehörende Steuer- und Gesellschaftsrecht,
und zwar auf zweierlei Art und Weise: 1. machte
eine niedrige Gesellschaftssteuer das Fürstentum zu
einem attraktiven Domizil für ausländisch beherr-
schte Sitzunternehmen; 2. schuf man ein spezielles
Personen- und Gesellschaftsrecht, das jenen reichen
Ausländern entgegenkam, die sich nach grossen
Dispositionsmöglichkeiten, nach Anonymität und
Sicherheit sehnten.
Diese politökonomischen Innovationen, denen
eine gewisse Originalität nicht abgesprochen wer-
den kann, entstanden nach dem Ersten Weltkrieg,
also in einer Zeit der wirtschaftlichen Not, der in-
nen- und aussenpolitischen Neuorientierung. Faute
de mieux entschlossen sich die liechtensteinischen
Politiker dazu, für ausländische Investoren - seien
es nun Briefmarkensammler, Kapitalflüchtlinge oder
Einbürgerungswillige - einen roten Teppich auszu-
rollen. Politische Voraussetzung für die Kommer-
zialisierung der Souveränität war eine heikle Ba-
lance zwischen innen und aussen, zwischen Ko-
operation und Abgrenzung, eine Balance, die bis
heute immer wieder neu gefunden werden muss.
A N S C H R I F T DES
A U T O R S
Prof. Dr.
Christoph Maria Merki
Historisches Institut
der Universität Bern
Länggassstrasse 49
CH-3000 Bern 9
100
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
101
EIN «ANNEX
ÖSTERREICHS»
ODER EIN
SOUVERÄNER
STAAT?
LIECHTENSTEINS BEZIEHUNGEN ZUR
TSCHECHOSLOWAKEI NACH D E M ERSTEN
WELTKRIEG
RUPERT QUADERER
Inhalt
105 Bemühungen um die Anerkennung
der Souveränität nach dem Ersten Weltkrieg
110 Bemühungen um den Aufbau diplomati-
scher Beziehungen
110 - Allgemeine Bemühungen nach Kriegsende
110 - P r a g
114 Die Bodenreform in der Tschechoslowakei
und die Souveränitätsfrage
104
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
BEMÜHUNGEN U M DIE A N E R K E N N U N G
DER S O U V E R Ä N I T Ä T N A C H D E M E R S T E N
W E L T K R I E G
Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hatten
Liechtenstein zum Bewusstsein gebracht, dass es
für die Erhaltung seines Status als eigenständiger
Staat mehr Anstrengungen als bisher unternehmen
musste. Die Frage der Anerkennung seiner Neutra-
lität und seiner Souveränität wurde deshalb ein
zentrales Anliegen der aussenpolitischen Bemü-
hungen Liechtensteins.
Liechtenstein ging dabei auf verschiedenen Ebe-
nen vor. So sah die liechtensteinische Regierung in
der Teilnahme an der Pariser Friedenskonferenz,
welche seit Januar 1919 über die Neuordnung Eu-
ropas tagte, ein wichtiges Instrument ihrer Bemü-
hungen. Vor allem das Fürstenhaus verband damit
die Hoffnung, dadurch internationale Anerkennung
der Souveränität und der Neutralität zu erreichen.
Ein wesentlicher Beweggrund dieser Bestrebungen
war die in der Tschechoslowakei bevorstehende
Bodenreform und die damit verbundene Haltung
der tschechoslowakischen Regierung, welche Liech-
tenstein nicht als neutralen und souveränen Staat
anerkennen wollte.
In der Person des Juristen Emil Beck' hatte die
Regierung bereits einen geeigneten Vertreter Liech-
tensteins bei der Friedenskonferenz vorgesehen.
Prinz Eduard von Liechtenstein2, der Leiter der
kurz zuvor errichteten Liechtensteinischen Ge-
sandtschaft in Wien, hatte Emil Beck auch schon
ein detailliertes Aufgabenheft zukommen lassen.
Er riet Emil Beck vor allem, mit dem tschechoslo-
wakischen Minister des Äusseren eine freund-
schaftliche Verbindung zu suchen.
Der Jurist Emil Beck war
von 1919 bis 1933 Ge-
schäftsträger der liechten-
steinischen Gesandtschaft
in Bern
1) Emil Bock (1888-1973), 1919 bis 1933 Geschäf ts t räger der liech-
tensteinischen Gesandtschaft in Bern. Siehe dazu: Historisches
Lexikon der Schweiz, Band 3, Basel, 2002, S. 137.
2) Prinz Eduard von Liechtenstein (1872-1951), 1919 bis 1921
liechtensteinischer Gesandter in Wien.
105
S.(Ut&efin)0d)enfd)au.
Set BuShmtt unb bannt Dielen 'Sorgen cnt=
gcflcn eilen wir mit utiierm Sanbe.
3tad) einer neueften 2Mbung hat bei' fran=
äfi(d>e 2Kinifter be3 SluäWäriiaen an alle 3icu=
traten bie ©intobung ergefterf Iafien, für bic
SiSfufjion über ba§ äSöIferbu-nbproarainim sunt
20. 2ßärü 2>elegi«te äü entfenben. su bie=
fem Bekpiunfte iratwn bie SBebingungen für
b*n ^räliminarfrieb'en feftgeiefet icitt urab beu
3)eutid)ett übermittelt Werben. llnwillfürlid)
benJen! Wir beim Seien, biefer 9M;rid)t (in bie
i n t e r n a t i o n a l e ©telluna unitaeä San»
beä fefct unb für bie fUfunft. SBefanntlid» ftnb
©djritte für bie fiutuffuna Siedjtenfteinä alz
neutrales Sanb auf ber Prriebenäfomerens iun=
iernommen werben. Stör ©rgebnig ift nodi nitfjt
Mannt granfreitf» hat uns! je unb ic rücfjt nl£
neutrales Sanb, jonbern als baä, Wa3, mir bih
f|er leiber.toaren — afö ein älnfiängiel beä feinb»
liefen Defterrei^Unsorn betrac&tet.. 3krfdjie=
bene Umfränibe ßoben Meie Stnüdit anfdjeinenb
geredjtfertifli!. liniere Dteutralität mar leibet
Weber redjilid>, mirtfebaftlid» noife rooralifd} flanj
rinwanbfrei. SKoralifd): SDenfe ieber nur an bie
grofje Seui^freunbKdfeit im Sanbe, bie mm
einmal Sei ber leätfdjtrt ©timmuna ber Ärien»
fübrenben afö ein a3er6red)en gegolten fjaf.
Ungenauer widjha ift <rfia- feie. Sfncrfer.nuug
urtferer neutralen ©tellung. 3>ie Rentralmädite
muffen uorauSftai'tlid) nodi lange uor ber Sät«
beg 23ölfer6unbe§ ftebenb «an Einlaß Bitten.
@ie »erben außerhalb be# MferbunbeS als ©e=
fennseidjnete ftefjien! unb bie aus? bieicr uereiiv
Selten Stellung refiirltierenben mirtid-aftlldjci1
unb politifdjen Jiadjteile au tragen haben. Sn§
aSölterredjt Wirb für fie ein iBflidifenfjeft mit
minbem Siedjten, fie finb europiiifdic ©lieber
ber Sßölf*rgemeinfclKiTt smeiten Dfangeä. SBirt»
tid;aitUd) werben fie mit S>iffe»erttialsöHen 6e=
legt unb iljnen bie Stohftoffe w teureren 5ßrei=
fen afö bere Sceufralen Geliefert. Säerjdjtebenc
iBetdjriiniungen loerberr iljnen beim?» Silgureg
ber SriegSidjiaibeneilafe^oi-beruwgen auferlegt
werben. Sie bereits befannten ßonterensoeröf=
fentlidjurtflen Iafien b<irü6er für betr ©nfidjti»
gen, mit ber 2ßirflid)fcit Dtcdinenbeu' «inen
Zweifel nidft auffommen. Sie 3entmlmiid;;ie
ftnb auf Sabre hinaus? ruiniert unb ihre a}iir=
ger Werben erft lernen müffen, loa?: eä fjeijjt,
biieft unb inbireEt fteuern. — Sag ift bie un«=
Sittlidje 3?enTefi§ ber ©efdiidite.
Der obige Artikel aus den
Oberrheinischen Nachrich-
ten vom 29. März 1919
drückt die Sorge aus um
die drohende Benachteili-
gung, welche das Fürsten-
tum infolge seiner bisheri-
gen Anlehnung an Öster-
reich nun zu gewärtigen
hat
Am 20. Mai 1919 übermittelte Landesverweser
Prinz Kar l 3 an die Pariser Friedenskonferenz ein
«Memorandum der fürstlichen Regierung». 4 Adres-
sat des Memorandums war der Präsident der Kon-
ferenz, Georges Clemenceau3. Die Liechtensteini-
sche Gesandtschaft in Wien liess das Memorandum
zusätzlich an die diplomatischen Vertretungen
Schwedens, Grossbritanniens, Italiens, der USA
und Deutschlands sowie dem Apostolischen Nunti-
us in Wien zukommen. Al l diesen Anstrengungen -
auch Prinz Franz, der spätere Fürst Franz I., hatte
seine Beziehungen eingesetzt - war jedoch kein Er-
folg beschieden.
Eine indirekte Bestätigung der Souveränität Liech-
tensteins leitete Prinz Eduard aus dem Artikel 27
des Friedensvertrages von St-Germain ab. Dieser
erwähnte bei der Festlegung der Westgrenze Öster-
reichs neben der Schweiz auch Liechtenstein.6
Trotz geringer Aussicht auf Erfolg verfasste Prinz
Eduard im September 1919 ein weiteres Memoran-
dum zu Händen der Friedenskonferenz. Nach Prinz
Eduard entwickelte sich die Haltung der Tschecho-
slowakei gegenüber dem Staat Liechtenstein und
gegenüber dem Haus Liechtenstein immer mehr zu
einer aussenpolitischen Hypothek für Liechten-
stein. Prinz Eduard ging deshalb in seinem Memo-
randum vor allem auf die in der tschechoslowaki-
schen Presse publizierten und nach seiner Meinung
von einzelnen hohen Funktionären der Prager Re-
3) Prinz Karl von Liechtenstein (1878-1955), vom 13. Dezember
1918 bis 16. September 1920 als Landesverweser Chef der fürstli-
chen Regierung.
4) L L A RE 1919/589, 20. Mai 1919, « M e m o r a n d u m der fürstl ichen
Regierung an die Pariser Fr iedenskonferenz» (vervielfältigtes ma-
schinengeschriebenes Manuskript).
5) Georges Clemenceau (1841-1929), f ranzös ischer Politiker. Minis-
t e rpräs iden t von 1917 bis 1920.
6) Siehe Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich 1920/303, aus-
gegeben am 21. Juli 1920, IL Teil, Art. 27. Art. 27 lautet: «Die Gren-
zen Österreichs werden wie folgt festgesetzt... : 1. Gegen die Schweiz
und Liechtenstein: Die gegenwärt ige Grenze. ...».
106
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
Ich beehre mich noch diesen Anlass zu benutzen,
um eine A b s c h r i f t der vorr. Herrn Landesverweser s e lbs t
mitgencir.xenen Informat ion fUr Dr . Beck zu ersuchen,
w e i l das D u p l i k a t , welches irr. Netteste der Genehmigung
d ieser Inforir.et i cn durch den F ü r s t e n be i meiner Abreise
nach Prag vo r l ag und dessen S :J.ckle i tnng an die riofkenzlei
i ch erbeten habe, in Verstoss ge r i e t und mir n ich t nehr
v o r l i e g t , immerhin aber e inma l ig noch w i c h t i g rerden
kann. -
Der f ü r s t l i c h e Gesandte:
A . C .
A M B A S S A D E
DK LA
R E P U B L I Q U E F R A N ^ - A I S E
E N S U I S S E
Priire rapMltr rts indications:
W « 4 6e 6 J u l n
N° 127 « •
y
/
M o n a i e u r ,
J ' a i l ' h o n n e u r d ' a c c u a e r r e c e p t i o n de
1 'a ide-memoire qua voua m ' a v e z t r a n a m i a de l a p a r t de
S . A . S . l e P r i n c e de LICHTENSTEIN, conce rnan t l s j n e u t r & l i t e
de l a p r i n c i p a u t ^ .
J ' a l p r i a c o n n a i a a a n c e avec in te" re t de ce
document et voub p r i e de t r a n a m e t t r e a u P r i n c e mea v i f a
r emerc iemen ta pour c e t t e c o m m u n i c a t i o n . / .
V e u i l l e z ag re ' e r , M o n a i e u r , l e a aaeurancea
de ma c o n a i d e ' r a t i o n d i a t l n g u e ' e .
Le Charge" d ' A f f a i r e a :
Ausschnitt eines Schrei-
bens von Prinz Eduard von
Liechtenstein vom 19. Mai
1919 an die Regierung, in
welchem er den Landes-
verweser um die Zustel-
lung einer Abschrift eines
wichtigen Dokuments
bittet. Prinz Eduard war
um das Zustandekommen
des Memorandums an die
Pariser Friedenskonferenz
bemüht, in welchem der
liechtensteinische Stand-
punkt klargestellt werden
sollte.
Als Antwort auf das
Memorandum des Fürsten-
tums Liechtenstein folgte
von französischer Seite
lediglich eine freundlich-
unverbindliche Eingangs-
bestätigung, adressiert am
6. Juni 1919 an Emil Beck,
den Geschäftsträger der
liechtensteinischen
Gesandtschaft in Bern
Monaieur l e D r . E m i l e BECK
0 p t l n g e n 8 t r a s 8 e , \
B E R N E
107
Im Schloss von St-Ger-
main-en-Laye bei Paris
fanden 1919 die alliierten
Verhandlungen zur
Zukunft Österreichs statt.
Das besiegte Österreich
konnte nicht direkt an den
Gesprächen teilnehmen,
sondern lediglich schriftli-
che Vorschläge unterbrei-
ten. Der 1919 abgeschlos-
sene Vertrag von St-Ger-
main ist einer der Pariser
Vorortverträge, die den
Ersten Weltkrieg formal
beendeten.
Der Innenhof des Schlosses
von St-Germain-en-Laye.
Das ab 1539 errichtete
Bauwerk war bis 1682
Residenz-Ort der französi-
schen Könige. Die Wahl
dieses Schlosses als
Verhandlungsort unter-
streicht den wichtigen
Stellenwert, den die
Alliierten dieser Friedens-
konferenz beimassen.
108
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
1028 Staatggefegblatt. 90. 3tM, Sit. 303.
Partie IL
Fronti^res d'Autriche.
A r t i c l e 27.
Les frontieres de l'Autriche seront fixees
comme il suit (voir la carte annexee):
1" Avec la Suisse et avec Liechtenstein:
la frontiere actuelle.
2° Avec l'Italie:
De la cote 2645 (Gruben J.) vers l'Est et
jusqu'ä la cote 2915 (Klopaier Spitze):
H. Zeil.
STtttfct 27.
Sic ©tcnjcn Oftcrtcichs werben nric folgt
feftgcfefct (uctglcidje bie beigefügte Starte).
1. ®cgen bie ©djroeij unb gegen öiedjtcnftein:
35ie gegenwärtige Stenge.
2. ©egen Stalten:
SBon.bet Stote 2645 (®ruben=3.) ofttoärt*
bi8 jut Sbtc 2915 (filotiaict ©»ige):
Artikel 27 des Friedensver-
trags von St-Germain
definierte 1920 die neuen
Grenzen Österreichs. Die
explizite Erwähnung
Liechtensteins kann als in-
direkte Anerkennung der
Souveränität des Fürsten-
tums interpretiert werden.
gierung vertretenen Auffassungen ein. Deren The-
sen lauteten:
1. Das Fürstentum Liechtenstein ist kein souverä-
ner Staat, sondern ein blosser Annex Öster-
reichs.
2. Liechtenstein war im Weltkrieg nicht neutral,
sondern wurde im Jahr 1914 gleichzeitig mit
dem österreichischen Staatsgebiet Kriegsschau-
platz.
3. Der regierende Fürst von Liechtenstein stand
dem österreichischen Staate nicht als fremdes
Staatsoberhauptes gegenüber, sondern als einfa-
cher Untertan.
Gegen diese Thesen nahm das Memorandum aus-
führlich Stellung. Prinz Eduard wies in diesem Text
auch mit Nachdruck darauf hin, dass es dem Für-
sten bei einem Verlust der wirtschaftlichen Grund-
lage nicht mehr möglich wäre, für die Bedürfnisse
des Landes aufzukommen.
wer darin begründet, dass Liechtenstein ein Staats-
gebiet, ein Staatsvolk und eine «ursprüngliche
Herrschermacht» besitze. Mit der Rechtsstellung
als «Träger der souveränen Staatsgewalt seines
Staates» sei «ein persönliches Untertanenverhält-
nis» des Fürsten von Liechtenstein gegenüber ei-
nem anderen Staate nicht vereinbar.
Die Souveränitätsthematik beschäftigte die liech-
tensteinische Politik auch weiterhin. Prinz Eduard
stellte fest, dass die Selbständigkeit Liechtensteins
in den letzten Jahrzehnten «leider sehr wenig ge-
pflegt» worden sei. 9 Vorerst musste sich Liechten-
stein jedoch mit der indirekten Anerkennung der
Souveränität zufrieden geben. Ein weiteres Mal
war deutlich geworden, dass Liechtenstein nur
eine schwache Stimme erheben konnte, zumal die
Erfahrung über die richtige Art des Vorgehens fehl-
te und der Aufbau eines aussenpolitischen Bezie-
hungsnetzes noch mit mancherlei Mängeln belastet
war.
Zur theoretischen Unterstützung des Souveräni-
tätsanspruches liess das Fürstenhaus verschiedene
Gutachten erstellen. Deren Argumentation stützte
sich auf die historische Entwicklung Liechtensteins
seit dem Beitritt zum Rheinbund 1806. Der Völker-
rechtler Leo Strisower7 stellte in seinem Gutachten
«Die Souveränität des Fürsten von Liechtenstein» 8
fest: «Die Souveränität des Fürsten beruht auf der
Souveränität des liechtensteinischen Staates.» Die
Souveränität des Staates Liechtenstein sah Striso-
7) Leo Strisower (1857-1931), Ordinarius für Völkerrecht, interna-
tionales Privatrecht und Geschichte der Rechtsphilosophie an der
Universität Wien. Siehe dazu: Wilhelm Brauneder: Leseverein und
Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 bis
1990, Wien, 1992, S. 311.
8) Hausarchiv der Regierenden Fürs ten von Liechtenstein/Vaduz,
Karton 35: als Mikrof i lm Nr. 288 im L L A .
9) L L A SF 1.10/1921/77. 14. Mai 1921; Prinz Eduard an liechten-
steinische Regierung.
109
BEMÜHUNGEN U M DEN A U F B A U
DIPLOMATISCHER B E Z I E H U N G E N
A LLGEM EI NE BEMÜHUNGEN NACH
KRIEGSENDE
Liechtenstein hatte bis 1919 keine eigenen diplo-
matischen Vertretungen im Ausland. Seit 1880 hat-
te Österreich-Ungarn die «Vertretung der Angehö-
rigen des Fürstentums Liechtenstein im Auslande»
inne. 1 0 Verschiedene Ereignisse während des Krie-
ges hatten gezeigt, dass es für liechtensteinische
Staatsangehörige von Nachteil war, wenn ihre In-
teressen nicht durch eigene diplomatische Vertre-
tungen gewahrt wurden. Wiederholt hatten betrof-
fene Personen ihren Unmut über diese Zustände
zum Teil öffentlich geäussert. Gegen Ende des Krie-
ges wurde diese Frage auch in den Zeitungen the-
®a ruft tnmt nacfj mehreren S8oIf»»crtretent für
SßariS, nur um ja einen ©pajicrgaiig madjen 31t
fömieii auf Soften beS 2aitbe3; beim unter üüolfs-
Bertretcrn meint „man" fid) bod) felbft, bie „anberu"
geboren ja nidjt gum öolf. 5Da »erlangen fie öffent-
lich ihre beftgehafjten ©egner foften beiniffioniercn
unb in« Sfusiaub gehen unb fd)ic6eu jugleid) biefen
felbft fotdje gemeinen Sfhfidjten unter.
©a »reift mau fid; al-3 SanbeStetter um nidjt halb
ju fagen SanbeSöäter unb S8oIf3[jeIbcn unb fdjeut
fid) nidjt — bewußt ober imbcmujjt fei babinge-
fteHt — 2anbe3»errat 511 trei6cn. 5De;;n »a§ ift
eä anberä aI8 SanbeSocrrat, wenn in biefen fdjaeren
3eiten jebe SHeinigfcit, bie teiber in ben SBerfjält-
niffen lagen, als SRetttralitätSmibrigfeit r̂ itiflcftettt
wirb, nur um ja bem StuSlanbc ju fagen: ©djaut,
fo unneutral waren Wir; tierfahret alfo mit unä
banadj! Sa mufj- wohl jebem 9?ad)bcnfenben, auch
jebem ©emäjjigtcren ber 3}oIf3partei, ber ©ebanten
fommen: Sa Witt man 11118 beim abfolitt als StitS-
6unb ber 9Jid)tigfeif unb ©djlcchtigfeit Ejinfteftcn um
ja 31t hewirfeit, bafj Wir unfere ©elbftänbigfeit Ucr-
liercn? SDemt ba3 ift flar, bafj wir mm einmal
etwaä gebunben ftnb, fobalb wir uns ImfS ober retfjtS
in jottpolitifdjen STnfdjlufj begehen; ltnfclbftänbin. ift
ba« aber bod) nodj nidjt. ®a ftellt man fidj als
ruhige SBürger hin unb broht juglticß ben ©cgneru
unb bem gürften: SBir Werben über eud) binweg-
fcfjreiten; wir »erlangen ufw.
Ein kritischer Kommentar
im Liechtensteiner Volks-
blatt vom 12. Juli 1919 zu
den Friedensverhandlun-
gen in Paris
matisiert. Ein Beitrag in den «Oberrheinischen
Nachrichten» vom Februar 1918 kritisierte die
Haltung der Regierung gegenüber Liechtenstei-
nern, welche im Ausland ihre Hilfe benötigten. 1 1 In
Grossbritannien und den USA würden die Liech-
tensteiner wie Österreicher und Deutsche behan-
delt, woraus die Befürchtung erwachse, dass Liech-
tensteiner zum Militärdienst eingezogen würden,
meinte der Artikelschreiber. Er stellte die Frage,
wer denn die Interessen der Liechtensteiner im
Ausland vertrete. Vor allem betrachtete er das Feh-
len einer eigenen Vertretung in den Österreich
feindlichen Staaten als Problem: «Hilflos ohne je-
den Schutz und Rat stehen unsere Mitbürger im
fremden Lande und niemand will sich ihrer anneh-
men.» Um diesem Übel abzuhelfen, forderten die
«Oberrheinischen Nachrichten» eine eigene Vertre-
tung Liechtensteins im Ausland. Eine teilweise Lö-
sung dieses Problems brachte die Übernahme der
diplomatischen Vertretung Liechtensteins durch
die Schweiz im Oktober 1919.
Die Schilderung dieser Zustände kam den Ab-
sichten der Regierung und des Fürstenhauses ent-
gegen, diplomatische Vertretungen in mehreren
Staaten einzurichten. Mit Erfolg konnten diese Zie-
le in Wien und in Bern mit der Errichtung von Ge-
sandtschaften verwirklicht werden. Weitere Bemü-
hungen dieser Art in Paris oder im Vatikanstaat
scheiterten.
PRAG
Liechtenstein unternahm nach dem Ersten Welt-
krieg besondere Anstrengungen, um die Beziehun-
gen zu Prag mit der Errichtung einer Gesandtschaft
zu festigen. Wie schon bei der Errichtung der Ge-
sandtschaft in Wien setzte sich Prinz Eduard enga-
giert auch für eine diplomatische Vertretung Liech-
tensteins in Prag ein. Er erachtete Prag aus zwei
grundsätzlichen Erwägungen als eine wichtige Aus-
senstation für Liechtenstein: Es galt zum einen, den
Grundbesitz des Hauses Liechtenstein in der Tsche-
choslowakei zu sichern, und zum andern Liechten-
stein mit wichtigen Wirtschaftsgütern aus der Tsche-
110
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
•^« tZTy-C -*se*l. <*?^aC 2 ^ r p / U ' t t r i ~ ~ 6 * < ^ ;^c^*p^
«fit CT *»
-e^p^fi^.e^ ^i^c^f J K C L - U » o A ^ U t t t t » - <Ä*->
Prinz Franz von Liechten-
stein berichtet am 11. Juli
1921 seinem Bruder, dem
regierenden Fürsten Jo-
hann IL, über seine bishe-
rigen Bemühungen, bei
den tschechoslowakischen
und französischen Stellen
eine Anerkennung der
liechtensteinischen Sou-
veränität und Neutralität
zu erreichen
choslowakei, vor allem mit Mehl, Zucker und Koh-
le, zu versorgen.
Seit Oktober 1919 führte Prinz Eduard mit ver-
schiedenen Vertretern in Prag, darunter auch mit
dem Aussenminister Eduard Benes, Verhandlun-
gen über die Errichtung einer diplomatischen Ver-
tretung Liechtensteins in Prag. In Prag gab es je-
doch starke Strömungen gegen ein solches Vorha-
ben. Um dennoch zu einem Erfolg zu kommen, ver-
suchten liechtensteinische Vertreter die Unterstüt-
zung verschiedener Staaten zu erlangen. Unter an-
derem erwog die liechtensteinische Regierung, die
Schweiz für die Vertretung Liechtensteins in Prag
zu gewinnen. Diese Absicht stiess jedoch auf eine
abwehrende und verzögernde Haltung der Prager
Regierung. Benes meinte, dies könne «erst nach
vollzogener Regelung der Bodenreform mit dem
Fürstentum Liechtenstein» in Betracht gezogen
werden. 1 2 Infolge der ablehnenden Haltung Prags
sah auch die Schweiz keine Möglichkeit, diesen
Plan weiter zu verfolgen.
Von Liechtenstein aus erfolgten weitere Vorstös-
se. Im Juli 1921 unternahm Prinz Franz eine Tour
10) L L A RE 1919/6087ad589, Auszug aus dem Schreiben des k.u.k.
Ministeriums des Äussern vom 24. Oktober 1880 (zeitgenössische
Abschrift).
11) «Oberrheinische Nachrichten» 6./9. Februar 1918.
12) BA Bern 2001(E)/1969/262, Schachtel 43, 12. M a i 1921; Schwei-
zerisches Konsulat in Prag an Eidgenössisches Politisches Departe-
ment.
111
Prinz Franz von Liechten-
stein (1853-1938), Bruder
von Fürst Johann II. und
von 1929 bis 1938 dessen
Nachfolger als regierender
Fürst, setzte sich als Diplo-
mat für die Wahrung liech-
tensteinischer Interessen
in der Tschechoslowakei
ein
112
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
diplomatique nach Paris und Bern. Trotz Unterre-
dungen mit mehreren hochrangigen Politikern er-
hielt er jedoch lediglich allgemein gehaltene, höf-
lich diplomatische Antworten.
Ein im Dezember 1921 erstelltes liechtensteini-
sches Memorandum sah vor, Emil Beck, den liech-
tensteinischen Gesandten in Bern, als diplomati-
schen Vertreter Liechtensteins in Prag zu akkredi-
tieren. Prag reagierte jedoch auf diesen Vorstoss
ablehnend. Auch eine von Prag geforderte und von
der liechtensteinischen Regierung gegebene Er-
klärung, dass Liechtenstein auf jegliche «Sonderbe-
günstigung in Bezug auf die Bodenreform» verzich-
te, führte nicht zum erstrebten Ziel . 1 3
Nach weiteren, oft verzögerten und unterbro-
chenen Vorstössen gab die Prager Regierung im
November 1925 dem Eidgenössischen Politischen
Departement gegenüber zu verstehen, dass sie es
vorziehe «aus prinzipiellen Gründen jede Interven-
tion eines befreundeten Landes in Verhandlungen,
die eine rein interne Frage betreffen, wie die
Agrarreform, zu vermeiden». 1 4 Aufgrund dieser
Haltung der Tschechoslowakei kam das Eidgenös-
sische Politische Departement zum Schluss, dass
«weitere Schritte ... deshalb wohl nicht in Betracht
kommen» würden . 1 5
Die Frage der Übernahme der Interessenvertre-
tung Liechtensteins in Prag durch die Schweiz trat
damit für ungefähr ein Jahrzehnt in den Hinter-
grund. Im April 1938 richtete die Liechtensteini-
sche Gesandtschaft Bern aufs Neue eine Anfrage an
das Eidgenössische Politische Departement, ob die
Schweiz bereit wäre, die liechtensteinischen Inter-
essen in der Tschechoslowakei zu vertreten.1 6 Am
13) L L A Gesandtschaftsakten Bern, Schachtel 2 (Interessenvertre-
tung Prag), p räs . 12. Februar 1923; Entwurf «An das Ministerium
des Aeussern der Cechoslowakischen Republik».
14) BA Bern, 2001 (E)/l969/262, 59, 4. November 1925; tschecho-
slowakische Gesandtschaft in Bern an Eidgenössisches Politisches
Departement.
15) BA Bern, 2001(E)/1969/262, 59, 13. November 1925; Bundesrat
Motta an Fürst Johann IL
16) BA Bern, 2001(E)/1969/262, 59, 5. Apr i l 1938.
Dieser wertvol len Dienste, die Huer Liebden damit
Mir und Meinem FUrstenturae ge le i s t e t haben und für die Ich
Meinen wirmsten Lank ausspreche, möchte Ich auch fUrderhin
nicht entraten und um diese fernere Tät igkei t mit den Bestim-
mungen der neuen Verfassung i n vo l len Einklang zu bringen, be-
traue Ich Üuer Liebden auf Grund des Artikels dreizehn der 7er-
fassungsurkunde vom fünften Oktober eintausendneunhunderteinund-
zwanzir; mit der Ausübung Mir auf dem Gebiete der Vertretung Mei-
nes Furstentumes nach Aussen zustehender Hoheitsrechte.
Gegeben zu Feldsberg, tun 24.Dezember 1921.
Mit diesem Schreiben vom
24. Dezember 1921 dankt
Fürst Johann II. seinem
Bruder, Prinz Franz, für
dessen bisher geleisteten
Dienste und überträgt ihm
die Vertretung des Fürs-
tentums Liechtenstein in
allen politischen Belangen
113
30. Juli 1938 erteilte die tschechoslowakische Re-
gierung ihre Zustimmung. 1 7 Das weitere Schicksal
der Tschechoslowakei erklärt, warum dieser Schritt
nicht mehr vollzogen wurde: Am 29. September
1938 kam es zum «Münchener Abkommen», am
1. Oktober 1938 erfolgte der deutsche Truppenein-
marsch in die sudetendeutschen Gebiete. Am 5. Ok-
tober 1938 trat Präsident Benes zurück, und am
16. März 1939 unterzeichnete Adolf Hitler den «Er-
lass über das Protektorat Böhmen und Mähren»,
was das Ende des bisherigen tschechoslowaki-
schen Staatswesens bedeutete.
Liechtenstein hatte sich während mehr als fünf
Jahren intensiv darum bemüht, in Prag entweder
eine eigene Aussenstelle zu errichten oder wenig-
stens - wie in anderen Staaten - durch die Schweiz
dort vertreten zu werden. Diese Bemühungen wa-
ren gemeinsam vom LIaus Liechtenstein und vom
Staat Liechtenstein getragen worden. Haus und
Staat hatten ihre gleichgerichteten Interessen in
der Wahrung des Grundbesitzes des Hauses Liech-
tenstein in der Tschechoslowakei. Das Haus strebte
diese Besitzstandswahrung als Grundlage seines
Vermögens an. Der souveräne Staat war dabei die
Plattform, von welcher aus der tschechoslowaki-
sche Angriff auf das Hausvermögen abgewehrt
werden sollte. Für den Staat Liechtenstein war die
Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage des Fürst-
lichen Hauses von grosser Bedeutung, weil er gera-
de in den Jahren des Umbruchs nach dem Ersten
Weltkrieg auf dessen materielle Unterstützung an-
gewiesen war.
Das Scheitern dieser Bemühungen macht aller-
dings auch offenbar, dass der Kleinstaat Liechten-
stein trotz guter Beziehungen einzelner Exponen-
ten, vor allem des Fürstenhauses, sich kaum gegen
die Interessen grösserer Staaten durchsetzen konn-
te. Die Anliegen Liechtensteins waren für andere
Staaten eher bedeutungslos, so dass sich diese des-
wegen nicht auf diplomatisches Glatteis begeben
wollten. Das Fürstentum Liechtenstein bekam bei
dieser Gelegenheit wieder die Nachteile des macht-
losen und einflussarmen Kleinstaates zu spüren,
der auf die tatkräftige Unterstützung starker Part-
ner angewiesen war.
DIE B O D E N R E F O R M IN DER T S C H E C H O S L O -
WAKEI UND DIE S O U V E R Ä N I T Ä T S F R A G E
Am 14. Oktober 1918 konstituierte sich in Paris die
Tschechoslowakische Provisorische Regierung. Mit
Thomas Masaryk und Eduard Benes standen an
der Spitze des Staates zwei Persönlichkeiten, die
international grosses Ansehen genossen. Am 14.
November 1918 erklärte der tschechoslowakische
Ministerpräsident Karel Kramaf in der ersten Sit-
zung der Nationalversammlung das Haus Habs-
burg für abgesetzt und proklamierte den tsche-
choslowakischen Staat als Republik. 1 8 Am 18. April
1920 fanden die ersten Parlamentswahlen statt.
Aus ihnen gingen die Sozialdemokraten mit 74
Mandaten als stärkste Partei hervor. Das Aussen-
ministerium war von 1918 bis 1935 in den Händen
von Benes. Er war «frankophil aus Überzeugung»,
integrierte die Tschechoslowakei in das französi-
sche Paktsystem und sicherte sein Land zusätzlich
durch politische Bündnisse und Wirtschaftsverträ-
ge mit den Balkanstaaten ab. 1 9 Durch sein Wirken
im Völkerbund verhalf Benes der Tschechoslowa-
kei «zu einem ihre tatsächlichen politischen, mili-
tärischen und wirtschaftlichen Kräfte weit überfor-
dernden Platz im europäischen Mächtekonzert». 2 0
Für Liechtenstein war die starke internationale
Vernetzung der Tschechoslowakei von Nachteil. Dies
zeigte sich vor allem in seinen Bemühungen um die
Anerkennung der Souveränität. Liechtenstein ge-
riet in den Interessenkonflikt zwischen dem ausge-
dehnten Grundbesitz des Hauses Liechtenstein in
der Tschechoslowakei und der diesen Grundbesitz
bedrohenden Bodenreform. Diese Bodenreform
hatte eine historische und eine sozialpolitische Kom-
ponente. Vom historisch rechtfertigenden Stand-
punkt aus sollte das «Unrecht von 1620», nämlich
die Überführung eines Teiles des Grossgrundbesit-
zes nach der «Schlacht am Weissen Berg» in deut-
sche Hände, wieder rückgängig gemacht werden. 2 1
Die sozialpolitische Komponente zeigte sich in der
Umsetzung der Bodenreform, die zu heftigen Strei-
tereien zwischen den Sozialisten und den Agra-
riern führ te . 2 2 Die Agrarier wollten das gekaufte
und konfiszierte Land direkt in das Eigentum der
114
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
kleinen und mittelgrossen Bauern überführen. Die
Sozialisten hingegen wollten das Land entschädi-
gungslos in Staatseigentum oder in genossenschaft-
liche Landwirtschaften umwandeln.
Thomas Garrigue Masaryk
(1850-1937), links im Bild,
amtete von 1918 bis 1935
als Staatspräsident der
Tschechoslowakei
17) BA Bern, 2001(E)/1969/262, 59.
18) Siehe dazu Hoensch, Tschechoslowakei, S. 28.
19) Ebenda, S. 50.
20) Ebenda, S. 50.
21) Ebenda, S. 42. In der Schlacht am Weissen Berg (8. November
1620) unterlagen die böhmischen Stände unter der Führung ihres
Königs Friedrich V. von der Pfalz («Winterkönig») den Truppen der
katholischen Liga. Kaiser Ferdinand II. konnte nun seinen Anspruch
auf die Krone in Böhmen durchsetzen. Die böhmischen Länder
wurden rekatholisiert und die Stände Böhmens völlig entmachtet.
22) Siehe dazu Benes, Tschechoslowakische Demokratie, S. 99-101.
Eduard Benes (1884-
1948), rechts im Bild, war
von 1918 bis 1935 tsche-
choslowakischer Aussen-
minister; von 1935 bis
1938 und nochmals von
1945 bis 1948 war er
Staatspräsident seines
Landes
115
N r. 6 Ö
Diplomateri'Paß.
Im Namen des Fürstentums Liechtenstein werden alle inländischen und
ausländischen Behörden geziemend ersucht,
den Herrn
allerorten frei und ungehindert passieren, auch £^U& nötigenfalls allen
Schutz und Beistand angedeihen zu lassen.
Vaduz, den $j- '/TH-A^: 19 / /
Die fürstliche Regierung:
Gül t ig :
Dem Geschäftsträger der
liechtensteinischen
Gesandtschaft in Bern,
Emil Beck, stellte die
liechtensteinische Regie-
rung am 31. Mai 1919
einen Diplomaten-Pass
aus. Emil Beck war als
offizieller Vertreter des
Fürstentums Liechtenstein
am Friedenskongress in
Paris bestimmt.
Für die Umsetzung der Bodenreform erliess das
Parlament eine grosse Anzahl von Gesetzen und
Verordnungen. Das Bodenenteignungsgesetz vom
16. April 1919 bevollmächtigte die Regierung, alle
Landgüter, die mehr als 150 Hektar landwirtschaft-
lich nutzbaren Bodens oder 250 Hektar überhaupt
an Grund und Boden besassen, zu enteignen.2 3
Durch das Bodenzuweisungsgesetz vom 30. Januar
1920 sollten «vorzugsweise Kleinbauern zufrieden-
gestellt werden», während das übrige Land, das
heisst der Rest, in «Restgüter» aufgeteilt werden
sollte.2 4 Das Schadenersatzgesetz vom 8. April 1920
regulierte die Höhe der Entschädigung, die an die
Besitzer des enteigneten Bodens ausbezahlt wer-
den sollte. Die Entschädigung wurde auf der
Grundlage des Durchschnittspreises der Jahre
1913 bis 1915 festgesetzt. In den meisten Fällen
wurde nur ein kleiner Betrag in bar ausbezahlt, der
Rest wurde in Form von Wertpapieren bezahlt. Die
Entschädigungssumme, welche ungefähr 25 Pro-
zent des tatsächlichen Wertes nach dem Krieg aus-
machte, war «Gegenstand heftiger Debatten im
Lande.» 2 5 Die Durchführung der Bodenreform, für
die aufgrund des Gesetzes vom 2. Juni 1919 das
Bodenamt zuständig war, erfolgte stufenweise. Ein
Merkmal der Bodenreform war die Langsamkeit
ihrer Durchführung. «1938, als die Tschechoslowa-
kei zerstört wurde, war sie immer noch nicht been-
det .» 2 6
Der Grundbesitz des Hauses Liechtenstein war
von diesen Reformen gravierend betroffen. 2 7 Die
Enteignungsproblematik war bald nach Kriegsende
ein zentrales Thema für die liechtensteinische Gü-
terverwaltung geworden. Vor allem wurde der Zu-
sammenhang zwischen der drohenden Enteignung
und der Anerkennung der Souveränität Liechten-
steins deutlich. So machte Prinz Eduard im März
1919 Emil Beck in Bern darauf aufmerksam, dass
Benes bei der Friedenskonferenz in Paris eventuell
auf die Enteignung des landwirtschaftlichen Besit-
zes zu sprechen kommen könnte. In diesem Fall
sollte Beck den Standpunkt vertreten, «dass derar-
tige Schritte gegen einen Souverän nicht usuell
[seien] und der internationalen Höflichkeit zu-
widerlaufen» würden . 2 8
116
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADER ER
Prinz Eduard versuchte auch den schweizeri-
schen ausserordentlichen Gesandten in Wien, Char-
les Bourcart, für die liechtensteinische Sache zu ge-
winnen. Prinz Eduard hatte diesem das «Fürsten-
tum seines Onkels» wärmstens empfohlen. Er stell-
te gegenüber Bourcart das Weiterbestehen Liech-
tensteins und die Rettung der grossen Besitzungen
des Fürsten in Österreich, Ungarn und vor allem in
der Tschechoslowakei als eine Garantie gegen den
Bolschewismus dar.2 9 Bourcart nahm diesen Ge-
danken auf und meinte, dass das immense Vermö-
gen Fürst Johanns II. wirklich eine seriöse Hilfe für
die gute Sache sein könne. 3 0 Auch in weiteren ver-
traulichen Stellungnahmen an das Eidgenössische
Politische Departement setzte sich Bourcart für die
Anliegen Liechtensteins ein. Er bezeichnete Prinz
Eduard als «mehr oder weniger Minister des Aeus-
sern seines Onkels». 3 1 Er betonte in zwei weiteren
Berichten an den Bundesrat, dass «dem Fürsten
und seiner Familie» viel an der Souveränität gele-
gen sei, «weil die grossen Güter, die der Fürst na-
mentlich in Böhmen» besitze, ihm eher belassen
würden, «wenn er ein fremder Monarch» sei. 3 2
Wenn der Fürst hingegen als ein «aristokratischer
und zudem als ein österreichischer Grossgrundbe-
sitzer wie ein anderer» angesehen würde, bestehe
die Gefahr, dass sein Besitz enteignet und verteilt
würde.
Im Juni 1919 teilte der Zentraldirektor der fürst-
hch-liechtensteinischen Hofkanzlei der Regierung
in Vaduz mit, dass das tschechoslowakische Acker-
bauministerium darum nachgesucht habe, eine Zu-
sammenstellung über die Art der Erwerbung des
fürstlichen Besitzes in der Tschechoslowakei vor-
zulegen. 3 3 Die Hofkanzlei vermutete, dass eine sol-
che Aufstellung dem tschechoslowakischen Acker-
bauministerium als Entscheidungshilfe dafür die-
nen sollte, für welche Güter die Tschechoslowakei
bei einer allfälligen Enteignung eine Entschädigung
zu bezahlen hätte und welche Güter entschädi-
gungslos konfisziert würden. Der Archivar des
Liechtensteinischen Hausarchivs, Franz Wilhelm,
erstellte im Juni 1919 eine «Erwerbungsgeschichte
der fürstlich Liechtenstein'sehen Herrschaften und
Güter im Gebiete des cechoslovakischen Staates». 3 4
Gemäss dieser Aufstellung bestand der Güterbesitz
des Hauses Liechtenstein in der Tschechoslowakei
im Jahr 1919 aus 24 Herrschaften. Die Gesamtflä-
che dieser Besitzungen machte insgesamt 160 000
Hektar aus, davon waren 124 000 Hektar Forst-
wirtschaft und 36 000 Hektar Landwirtschaft. 3 5
Liechtenstein bemühte sich weiterhin, auf ver-
schiedenen Wegen seine Interessen durchzusetzen.
Neben Vorstössen bei den Grossmächten und di-
rekten Verhandlungen mit der Tschechoslowakei
setzte man auch auf die besonderen Dienste der
Schweiz und hoffte, aufgrund von deren hohem
internationalem Ansehen Erfolge erzielen zu kön-
nen. In diesem Sinne erstellte Emil Beck im Febru-
23) Ebenda, S. 100. Zusätzlich: Hoensch, Tschechoslowakei. S. 42.
24) Toichova, Wirtschaftsgeschichte, S. 31.
25) Benes, Tschechoslowakische Demokratie, S. 100,
Anmerkung 127.
26J Ebenda, S. 101.
27) Siehe dazu grundsätzl ich Dallabona, Bodenreform, Wien 1978.
28) L L A Gesandtschaftsakten Bern. V2/170/5, 6. März 1919; Prinz
Eduard an Emil Beck.
29) LLA. Mikrofi lm Bundesarchiv Bern: 2001(B)/2. Schachtel 1,
23. Mai 1919, Bourcart an Charles Lardy, Minister in der Abteilung
für Auswärt iges , Bern. «Prince Edouard ... m'a chaudement recom-
mando la prineipaute de son onclo. 11 considere son mainticn - et le
sauvetage des grandes proprictes du prince en Autriche, en Hongrie
et notamment en Tcheco-Slovaquie - comme une garantie contre le
bolchevismo.»
30) «La fortune immense de S.A.S. Jean II peut, en effet. etre un
serieux soutien pour la bonne cause.»
31) LLA Mikrofi lm Bundesarchiv Bern. 2001 (B)/2, Schachtel 11,
4. November 1919; Bourcart an Eidgenössisches Politisches Departe-
ment.
32) LLA Mikrofi lm Bundesarchiv Bern. 2001 (ß)/2. Schachtel 11.
10. Dezember 1919; Bourcart an Eidgenössisches Politisches Depar-
tement.
33) Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liechtenstein/Wien.
Karton 16161-1, 21. Juni 1919; fürst l ich-liechtensteinische Hofkanzlei
an Regierung in Vaduz.
34) Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liechtenstein/Wien,
Karton 1616H, N° 7113, 25. Juni 1919.
35) Bundesarchiv Bern 2001 (E)/l969/262, Schachtel 59; Memoran-
dum betreffend Enteignung, von Emil Beck am 12. November 1924
dem Schweizerischen Bundesrat überreicht .
117
ar 1920 zu Händen des Schweizerischen Bundes-
rates einen ausführlichen Kommentar zur Entwick-
lung der Bodenreform in der Tschechoslowakei.
Die Absicht dieses Schreibens war es, den Bundes-
rat um «eventuelle Vorbringung einschlägiger Wün-
sche bei den Ententemächten zu ersuchen.» 3 6 Diese
präventive Massnahme war für den Fall gedacht,
wenn es «wider Erwarten nicht immer möglich
sein sollte, die dem Fürsten und seinem Vermögen
auf Grund seiner völkerrechtlich anerkannten Sou-
veränität zukommende Behandlung zu sichern.»
Dieser vorbereitende Schritt weist darauf hin, dass
man in Liechtenstein die Frage der Bodenreform in
der Tschechoslowakei mit einer gewissen Besorg-
nis verfolgte. Beck erwähnte zur Verdeutlichung
dieser Bedenken die Gesetze, welche in der Tsche-
choslowakei zur Durchführung der Konfiskation
des Grossgrundbesitzes erlassen worden waren. Er
brachte auch die Bedenken der liechtensteinischen
Regierung zur Sprache, dass in der Tschechoslowa-
kei «in einzelnen Köpfen» die Vorstellung vorhan-
den gewesen sei, «in einem eigenen Gesetzespara-
graphen die Konfiskation des unbeweglichen Ver-
mögens der fürstlich liechtensteinischen Familie in
Böhmen auszusprechen». Diese Idee der Konfiska-
tion sei zwar fallen gelassen worden, es gebe aber
immer noch Anzeichen dafür, dass eine generelle
Bestimmung aufgenommen werden solle, «welche
in der Praxis gegen den fürstlichen Besitz verwend-
bar sein» werde.
In seinem Bericht nahm Emil Beck auch Stellung
zu verschiedenen Gutachten, die in der Tschecho-
slowakei zu der Frage der Enteignung ausgearbei-
tet worden waren. Der Historiker Josef Pekaf 3 7 be-
zeichnete in seinem Gutachten vom 23. November
1919 jenen Grundbesitz als widerrechtlich erwor-
ben, welcher nach der Schlacht am Weissen Berg
durch Konfiszierung aus dem Besitz des böhmi-
schen Adels in den Besitz der neuen Eigentümer
gelangt war. Nach Pekaf war die entschädigungslo-
se Enteignung aus juristischer Sicht wegen Verjäh-
rung nicht mehr zu rechtfertigen; die damalige
Konfiskation habe auch dem Gesetz von 1608 wi-
dersprochen, nach welchem Hochverrat nicht mit
Vermögenskonfiskation zu bestrafen gewesen wäre.
Unrechtmässig seien damals nur jene Güter erwor-
ben worden, welche «gewissen Getreuen der Habs-
burger schenkungsweise» übergeben worden sei-
en. Pekaf kam daher zu dem - nach Emil Beck «le-
diglich national-chauvinistischen Masseninstinkten
gefälligen» - Schlüsse, «man solle eine gewissermas-
sen manifestationelle Strafe» verhängen. Diese be-
stünde in der Bestrafung des Hauptrepräsentanten,
sowohl der «damaligen absolutistischen Regierungs-
willkür», als auch des ersten Repräsentanten, «viel-
mehr Ausführers der Korruptionsclique, welche das
meiste Unheil gestiftet hat, das ist des Fürsten Karl
von Liechtenstein, welcher als Bevollmächtigter Ver-
treter des Königs mit der Bestrafung des böhmi-
schen Adels betraut war». Fürst Karl von Liechten-
stein könne - so argumentierte Pekaf weiter - aller-
dings «nicht anders als in seinen Nachkommen be-
straft werden», und zwar durch entschädigungslose
Konfiskation jener Güter, «welche seine Vorfahren,
wenn es auch nicht Vorfahren direkter Linie wa-
r e n a u s der Beute nach der Schlacht am Weissen
Berg für ihr Geschlecht erworben» hätten.
Der Jurist Karl Kadlec 3 8 erachtete es in seinem
Gutachten vom 27. November 1919 als «unbillig»,
solche Güter ohne Entschädigung wegzunehmen,
«deren Eigentum ... in die Zeit des Umsturzes nach
der Schlacht am weissen Berg» zurückreiche. Was
das fürstlich-liechtensteinische Eigentum betraf, so
empfahl Kadlec dennoch, «der fürstlichen Familie
ohne jede Entschädigung den gesamten aus den
Konfiskationen nach 1620 herrührenden Besitz
wegzunehmen.. .». Kadlec argumentierte, dies sei
eine «gerechte Strafe» für die «grundlose, zum
Nachteil des böhmischen Adels sowie des böhmi-
schen Staates erfolgte Bereicherung.» Diese Strafe
sei zudem als «minimal» zu bezeichnen, «da der
Familie noch die Nutzungen für 3 Jahrhunderte
verbleiben» würden.
Der Jurist Anton Hobza 3 9 argumentierte hin-
sichtlich des unbeweglichen Vermögens des Hau-
ses Liechtenstein vom Standpunkt des Völkerrechts
aus. Nach ihm hatte der Fürst von Liechtenstein in
Österreich eine doppelte rechtliche Stellung: Er
war sowohl einheimischer Adeliger und Mitglied
des österreichischen Herrenhauses als auch Sou-
118
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
verän eines Staates. Da der Fürst von Liechtenstein
«unstreitig im Subjektionsverhältnis zu Österreich
[gestanden habe, komme] ihm der Anspruch auf
Exterritorialität nicht zu.» Nach Hobza war die
Tschechoslowakei auch nicht völkerrechtlich ver-
pflichtet, dem Fürsten die Stellung einer exterrito-
rialen Persönlichkeit zuzugestehen, «und zwar
auch dann nicht, wenn ihm andere Staaten eine
solche Stellung zuerkennen würden», weil der
Fürst nicht völlig souverän sei, was sich vor allem
in den Bereichen Justiz, Zollgebiet und Diplomatie
zeige. Nach Hobza bildete das Fürstentum «nur ein
blosses Annex oder eine Pertinenz Österreichs».
Daraus leitete Hobza ab, dass sich Liechtenstein
mit der Tschechoslowakei im Kriegszustand befin-
de, beziehungsweise könne die Tschechoslowakei
«darüber nach freiem Ermessen entscheiden».
Bei Anerkennung der Neutralität Liechtensteins,
so folgerte Hobza weiter, wäre eine Konfiskation
des Vermögens «insoweit sich dieselbe auf eine
spezielle, direkt gegen den Fürsten gerichtete ge-
setzliche Vorschrift gründen würde, mit Rücksicht
auf das Völkerrecht prinzipiell ausgeschlossen».
Eine Verstaatlichung des Eigentums ohne Entschä-
digung wäre nach Hobza auf Grund eines Gesetzes
nur dann möglich gewesen, wenn dieses «in ab-
stracto für alle Fälle» erlassen worden wäre, «ohne
zwischen In- und Ausländern zu unterscheiden.»
Als letzte Schlussfolgerung hielt Hobza fest, dass
der Staat «jedenfalls ... gegen Entschädigung den
gesamten liechtensteinischen Besitz im Gebiete der
Republik konfiszieren» könne.
Nach Emil Becks Einschätzung schien in der
Tschechoslowakei «nun tatsächlich die Absicht zu
bestehen», eine solche allgemeine Formulierung
des Gesetzes in Antrag zu bringen, «welche dann
das Einschreiten gegen die fürstliche Familie er-
möglichen würde.» Beck erinnerte allerdings dar-
an, dass alle Grossmächte der Entente die Vertre-
tung Liechtensteins durch die Schweiz anerkannt
hätten, womit auch die Neutralität Liechtensteins
anerkannt worden sei. Als Argumentationshüfe über-
gab Beck dem Bundesrat jene Note, welche Liech-
tenstein an die Friedenskonferenz über die Frage
der Neutralität Liechtensteins gerichtet hatte. Die
Bedeutung der Haltung der Grossmächte gegenü-
ber Liechtenstein zeigte sich in der Bemerkung
Becks, Aussenminister Benes habe zwar «in lie-
benswürdigster Weise» zu erkennen gegeben, dass
er nicht die Absicht habe, bei den «auf die Enteig-
nung des fürstlichen Besitzes abzielenden Bestre-
bungen mitzuwirken.» Benes habe aber die Sou-
veränität und Neutralität Liechtensteins bezweifelt
und erklärt, sich in dieser Hinsicht «den Entschlüs-
sen der Grossmächte der Entente» anzuschliessen.
Wie weitere Angriffe in einem Teil der tschechi-
schen Presse zeigten, war der Besitz des Hauses
Liechtenstein ein in der Tschechoslowakei auch öf-
fentlich diskutiertes Thema. In der Abendausgabe
des «Prava lidu» vom 15. Juni 1920 hielt ein Arti-
kel unter dem Thema «Die Kolodejer Frage» fest:
«Wir kennen keine Souveränität Liechtensteins.
Die Liechtensteinischen Güter gehören der Repu-
blik.» 4 0 Der Artikel nahm Bezug auf die aus seiner
Sicht unrechtmässige Erwerbung von Gütern durch
Karl von Liechtenstein nach der Schlacht am Weis-
sen Berg und folgerte daraus, dass dieser dadurch
Lehensmann der böhmischen Krone geworden sei.
Dieses Verhältnis dauere auch in der Gegenwart
noch an, lediglich mit dem Unterschied, dass die
Hoheitsrechte der Böhmischen Krone auf die tsche-
chisch-slowakische Republik übergegangen sei.
Weil Liechtenstein erst 1719 entstanden sei, habe
dieses neue Fürstentum «absolut gar keine Bezie-
36) L L A Gesandtschaftsakten Bern. o. Nr., 15. Februar 1920.
37) Josef Pekaf (1870-1937). tschechischer Historiker, Professor an
der Karlsuniversität in Prag, Mitglied der Tschechischen Akademie
der Wissenschaft und der Kunst. (Siehe Milan Churan, Kdo byl kdo,
II. N - Z , Prag, 1998.)
38) Karel Kadlec (1865-1928), tschechischer Jurist, Professor an der
Karlsuniversität in Prag; Mitglied der Tschechischen Gesellschaft der
Wissenschaften und der Tschechischen Akademie der Wissenschaft
und der Kunst. (Siehe Ceskoslovensky biograficky slovm'k, Prag,
1992, S. 294.)
39) Anton Hobza (1876-1954). tschechischer Jurist, Professor an der
Karlsuniversität in Prag. Jurist im Aussenministerium, Mitglied des
Ständigen Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. (Siehe Cesko-
slovensky biograficky slovm'k, Prag, 1992, S. 215 f.)
40) L L A Akten Gesandtschaft Wien V3/108/1920, übersetz ter Text
aus dem «Prava lidu», Nr. 133, 15. Juni 1920.
119
Guiseppe Motta (1871-
1940), Mitglied des
Schweizerischen Bundes-
rats von 1911 bis 1940; in
dieser Funktion war er von
1912 bis 1919 Vorsteher
des Finanz- und Zolldepar-
tements sowie von 1920
bis 1940 Vorsteher des
Eidgenössischen Politi-
schen Departements, wel-
ches dem Aussenministe-
rium entspricht
hung zur Böhmischen Krone». Daraus ergebe sich,
dass der «Fürst Liechtenstein souverän [sei] in sei-
nem Fürstentum Liechtenstein, aber nicht im Be-
reiche der tschechoslowakischen Republik.» Der
Artikel schloss mit der resoluten Forderung: «Die
Wegnahme ihrer ungerechtfertigt erworbenen Gü-
ter ist die allerheiligste Pflicht unserer Republik.»
Diesem Presseartikel war bereits am 3. Mai 1920
eine Protestversammlung der Einwohner von Kolo-
dej vorausgegangen.41 Der Protest richtete sich ge-
gen die Absicht der liechtensteinischen Verwal-
tung, im Kolodejer Schloss die Zentraldirektion der
liechtensteinischen Herrschaft in der Tschechoslo-
wakei unterzubringen. 4 2
Im Februar 1921 nahm die Zentraldirektion 4 3 in
einem Memorandum Stellung zu den verschiede-
nen im Zusammenhang mit der Bodenreform er-
lassenen tschechoslowakischen Gesetzen.4 4 Das
Memorandum kritisierte vor allem das Schadener-
satzgesetz vom 8. April 1920. Die Entschädigung
für die bisherigen Bodenbesitzer sei so tief ange-
setzt, dass dies einer Konfiskation gleichkomme.
Die Zentraldirektion kritisierte den Paragraphen
41 dieses Gesetzes, der den Ablösungspreis auf den
Durchschnittspreis der Jahre von 1913 bis 1915
festsetzte. Eine österreichische Krone hatte damals
einem Schweizerfranken entsprochen. 1921 ent-
sprach ein Schweizerfranken 13 tschechischen
Kronen. Dies bedeutete für die Grossgrundbesitzer
einen Verlust von 12/13 ihres Vermögens. Dazu
kam noch, dass die Konfiskationssumme bis zu 40
Prozent gekürzt werden konnte. Die Grossgrundbe-
sitzer kamen so noch auf rund 1/26 des Friedens-
wertes ihres Eigentums. Ausserdem bekamen die
Besitzer diese Entschädigung nicht in bar ausbe-
zahlt, sondern als Gutschrift. Die Entschädigung
verstiess nach Auffassung der Zentraldirektion ge-
gen die Grundsätze des Völkerrechts, vor allem ge-
gen den Artikel XVII der Deklaration der Men-
schenrechte über die Unverletzlichkeit des Eigen-
tums. 4 5 Die Zentraldirektion forderte, die Entschä-
digung für Enteignungen müsse ausreichend sein,
andernfalls müssten die Regierungen zum Schutz
ihrer Untertanen eintreten. Dies erfordere direkte
diplomatische Verhandlungen, wie sie Artikel 17
120
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
und 13 des Völkerbundsabkommens vorsehen
würden . 4 6 Die Zentraldirektion liess das Memoran-
dum den Gesandten jener Staaten zukommen, aus
welchen ausländische Bodenbesitzer in der Tsche-
choslowakei stammten. Es handelte es sich um
Staatsangehörige aus Belgien, Grossbritannien,
Frankreich, Italien, der Schweiz und Liechtenstein.
Im März 1921 äusserte Landesverweser Josef
Peer 4 7 gegenüber der fürstlich-liechtensteinischen
Kabinettskanzlei, dass das tschechoslowakische
Aussenministerium «noch immer die Souveränität
Seiner Durchlaucht anzweifle.» 4 S Er plädierte des-
halb dafür, «die geplante Aktion auf die Ausländer-
qualität Seiner Durchlaucht ... aufzubauen». Die
liechtensteinische Regierung sollte sich nach Peer
bei der schweizerischen Regierung dafür einsetzen,
dass diese ihren diplomatischen Vertreter in Prag
beauftrage, die Interessen des Fürsten und des
Prinzen Alois «im Sinne der Intention der fürstl.
Zentraldirektion zu wahren.» Josef Peer riet auch
dazu, dass Fürst Johann II. persönlich ein Schrei-
ben in dieser Angelegenheit an den schweizeri-
schen Bundespräsidenten richten sollte. Er schlug
vor, die zu Bundesrat Giuseppe Motta, dem Chef
des Politischen Departementes, aufgebauten Bezie-
hungen zu nutzen. Er anerbot darüber hinaus, sich
bei Bundesrat Motta «für die nachdrückliche Ver-
wendung des Schweizer Vertreters in Prag» einzu-
setzen.
Die liechtensteinische Verwaltung in Wien und
die Regierung in Vaduz mussten im weiteren Ver-
lauf der Bodenreform einsehen, dass ihre Bemü-
hungen um ein Verzögern oder gar Verhindern die-
ser Entwicklung in der Tschechoslowakei wenig
Wirkung zeigte. Am 29. September 1924 ersuchte
deshalb Emil Beck Bundesrat Giuseppe Motta, sich
«für das Fürstenanliegen» zu verwenden und diese
Angelegenheit eventuell mit Aussenminister Benes
zu besprechen.4 9 Laut den Angaben Becks waren
bis zu diesem Zeitpunkt 11 000 Hektar landwirt-
schaftlicher Boden und 9500 Hektar Waldboden
enteignet worden. Dazu waren 6500 LIektar Boden
«in Übernahme befindlich». Eine amtsinterne Ak-
tennotiz des Eidgenössischen Politischen Departe-
mentes hielt dazu fest, dass diese Angelegenheit
nicht mit Benes besprochen werden konnte, da sie
zu spät eingereicht worden sei. 5 0
Am 12. November 1924 überreichte Emil Beck
dem Eidgenössischen Politischen Departement ein
Memorandum. 5 1 Darin wurde der Verlust an fürstli-
41} Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liechtenstein/Vaduz,
Karton 221-500/1920, Nr. 428, 5. Juni 1920; Bericht an den Fürs-
ten.
42) Gemäss diesem Bericht war die Zentraldirektion ein Beamten-
und Dienerapparat, der beinahe 1000 Personen zählte und Forst-
und Landwirtschaftsboden von über 100 000 Hektar umfasste.
43) «Fürstlich Liechtenstein'sehe Zentraldirektion»: Im Rahmen der
Reorganisation der Verwaltung des gesamten Güterbesi tzes des Hau-
sos Liechtenstein im Oktober 1919 errichtete Behörde der Güterver-
waltung mit Sitz in Prag. Die Zentraldircktion war auf Wunsch des
tschechoslowakischen Bodenamtes errichtet worden. Grund dieses
Schrittes war es, die Verwaltung der liechtensteinischen Güter in der
Tschechoslowakei von der fürst l ich-l iechtensteinischen Hofkanzlei in
Wien zu «emanzip ieren» .
44) L L A SF 1.10/1921/26, 21. Februar 1921; Entwurf des Memoran-
dums. Sämtliche in der Tschechoslowakei liegenden liechtensteini-
schen Güter sollten auf Wunsch des Bodenamtes ausschliesslich von
einer Zentraldirektion verwaltet werden, die «ihren Sitz in der tsche-
choslowakischen Republik hat und haben muss» .
45) Es ist unklar, welche Deklaration der Menschenrechte gemeint
ist. Artikel 17 der f ranzös ischen Verfassung von 1791 lautet: «Da
das Eigentum ein unverletzliches tmd heiliges Recht ist, kann es nie-
mand genommen werden ...».
46) Artikel 13 der Völkerbundssatzung: «Die ßundesmitg l ieder kom-
men überein, dass, wenn zwischen ihnen eine Streitfrage entsteht,
die nach ihrer Ansicht einer schiedsrichterlichen Lösung zugänglich
ist und die auf diplomatischem Wege nicht zufriedenstellend geregelt
werden kann, die Frage in ihrer Gesamtheit der Schiedsgerichtsbar-
keit unterbreitet werden soll.»
Artikel 17 der Völkerbundssatzung: «Bei Streitfragen zwischen
einem Bundesmitglied und einem Nichtmitglied oder zwischen
Staaten, die Nichtmitglieder sind, werden der Staat oder die Staaten,
die Nichtmitglieder sind, aufgefordert, sich für die Beilegung der
Streitfragen den Bundesmitgliedern obliegenden Verpflichtungen zu
unterwerfen, und zwar unter den vom Rate für gerecht erachteten
Bedingungen ...». Zitiert nach StaatsgesetzbUitt für die Republik
Österreich Nr. 303, ausgegeben am 21. Juli 1920.
47) Josef Peer (1864-1925), Dr. iur , Landesverweser (Regierungs-
chef) vom 15. September 1920 bis 23. März 1921.
48) LLA SF 1.10/1921/33. 7. März 1921; Peer an fürstlich-liechten-
steinische Kabinettskanzlei.
49) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59.
50) BA Bern, 2001 (EVI 969/262, Schachtel 59, «Notiz» auf dem
Schreiben Emil Bocks an Bundesrat Motta vom 29. September 1924.
51) BA Bern, 2001(E)/1969/262. Schachtel 59.
121
chem Grundbesitz durch Enteignungen auf 17 Pro-
zent des Gesamtbesitzes beziffert. Ein grosser
Nachteil für die Bodenbesitzer zeigte sich jedoch
dadurch, dass bei den Entschädigungszahlungen
zwar die Preise von 1913 bis 1915 als Grundlage
genommen wurden, für eine damalige Goldkrone
aber nur eine tschechische Krone bezahlt wurde.
Diese galt lediglich noch 1/6 der Goldkrone. Der
Verlust belief sich für das Haus Liechtenstein nach
den Angaben Becks zu diesem Zeitpunkt auf 15
Millionen Schweizerfranken.
Im Januar 1925 richtete Beck ein weiteres Ge-
such an Bundesrat Motta. 5 2 Beck hielt in diesem
Schreiben fest, dass in der Enteignungsfrage die
«Grenze des Zumutbaren» erreicht sei. Er ersuchte
im Namen des Fürsten Johann II. Bundesrat Motta,
in Vertretung Liechtensteins bei der tschechoslo-
wakischen Regierung wegen der Besitzungen des
Fürsten vorzusprechen. Nach den Vorstellungen
Johanns II. hätte Motta auf die Auszahlung des Ge-
genwertes für die enteigneten Besitzungen in der
Höhe von 44144 099 tschechischen Kronen drin-
gen sollen. Für weitere künftige Enteignungen
wäre der volle Marktwert zu bezahlen gewesen.
Grundsätzlich jedoch stellte sich Fürst Johann II.
auf den Standpunkt, dass keine weiteren Enteig-
nungsmassnahmen mehr durchgeführt werden
sollten. Wenn dies dennoch der Fall sein sollte, so
erwog Fürst Johann IL, ein internationales Schieds-
gericht, etwa den Ständigen Internationalen Ge-
richtshof in Den Haag, anzurufen. Fürst Johann II.
liess durch Emil Beck an Bundesrat Motta die Bitte
herantragen, Motta möge die Angelegenheit per-
sönlich in die Hand nehmen. Zusammen mit dem
Ersuchen um Unterstützung reichte Emil Beck ein
weiteres Memorandum an das Eidgenössische Poli-
tische Departement ein. 5 3 Die Argumente dieses
Textes konzentrierten sich vor allem auf die Tatsa-
che, dass Ausländer nur gegen volle Entschädigung
enteignet werden dürften. Dies treffe um so mehr
auf den Fürsten von Liechtenstein, einen ausländi-
schen Souverän, zu.
Emil Beck ersuchte das Eidgenössische Politi-
sche Departement, das Memorandum zur Bodenre-
form auch der tschechoslowakischen Gesandt-
schaft zuzustellen.5 4 Beck erhoffte sich davon die
Möglichkeit, «die Frage in freundschaftlichem Gei-
ste» diskutieren zu können. Mit Hilfe der Schweiz
meinte Beck von der tschechoslowakischen Regie-
rung auch erfahren zu können, «welche Fragen sie
vor der Aufnahme der ordentlichen diplomatischen
Beziehungen zum Fürstentum geregelt wissen
möchte.» Beck vermutete wohl richtig, dass die
Durchführung der Bodenreform dabei eine zentra-
le Rolle spielen werde. Gleichsam als Bestätigung
dieser Annahme notierte Motta am 9. Januar 1925:
«... Gerade heute haben wir von der tschechischen
Gesandtschaft vernommen, dass deren Regierung
das Fürstentum Liechtenstein noch nicht aner-
kannt habe .» 5 5
Die weiteren Kontakte der liechtensteinischen
Gesandtschaft in Bern mit dem Eidgenössischen
Politischen Departement zeigen, dass Liechtenstein
sehr grossen Wert auf die Unterstützung durch die
Schweiz legte. Dies war auch dadurch bedingt,
dass die direkten Vorstösse von Wien und Vaduz
aus in Prag wenig Hoffnung auf Erfolg aufkommen
Hessen. Am 14. April 1925 informierte Emil Beck
das Eidgenössische Politische Departement dar-
über, dass die Enteignungen in der Tschechoslowa-
kei weiter gingen, obwohl im oben erwähnten Me-
morandum darum gebeten worden sei, dass dies
«bis zur Abklärung der grundsätzlichen Fragen un-
terbleiben» solle. 5 6 Beck richtete deshalb ein
«dringliches Ersuchen» an die Schweiz, die Tsche-
choslowakei zu ersuchen, ihren Standpunkt zu den
grundsätzlichen Fragen zu erörtern.
Das Eidgenössische Politische Departement wies
Beck umgehend darauf hin, dass eine Intervention
in Prag durch die Schweiz nicht in Betracht kom-
men könne, da die Tschechoslowakei es ausdrück-
lich abgelehnt habe, vom schweizerischen General-
konsulat Gesuche in Vertretung liechtensteinischer
Interessen entgegenzunehmen.57 Dennoch versuch-
te Motta bei Benes für Liechtensteins Anliegen Ver-
ständnis zu wecken. Er übergab diesem in Genf
eine Kopie des von Liechtenstein ausgearbeiteten
Memorandums und empfahl «ihm den Fall münd-
lich». 5 8 Auf die Empfehlung Mottas hin empfing
Benes zwar in Genf den liechtensteinischen Ge-
122
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
sandten Beck, machte diesem jedoch keinerlei po-
sitive Zusage in der Frage der Anerkennung Liech-
tensteins, beziehungsweise der Enteignungen des
Besitzes des Hauses Liechtenstein. Benes versprach
Emil Beck lediglich, er werde die Angelegenheit
prüfen.
Emil Beck blieb, wohl auch auf Drängen von
Wien und Vaduz aus, beharrlich und wandte sich
Ende Mai 1925 nochmals an Motta und hat ihn,
«Fürsprache für eine gerechte und billige Lösung»
bei Benes einzulegen.5 9 Beck beurteilte eine per-
sönliche Intervention Mottas als «besonders wert-
voll», da die tschechoslowakische Regierung eine
offizielle Vertretung Liechtensteins durch die Schweiz
ablehne. Beck erwartete von Mottas Fürsprache
eine «ausgezeichnete Wirkung». Motta wandte sich
denn auch an Benes, da mehrere Vorstösse von
Seiten des Eidgenössischen Politischen Departe-
mentes bei der tschechoslowakischen Gesandt-
schaft in Bern ohne Erfolg geblieben waren. 6" Mot-
ta übermittelte Benes den Wunsch Liechtensteins,
dass das Gesetz über die Bodenreform, soweit es
den Besitz des Fürsten von Liechtenstein betreffe,
in einer moderaten Art besprochen werde. Motta
übernahm die liechtensteinische Argumentation,
dass die von den tschechoslowakischen Behörden
getroffenen Massnahmen schwerwiegende Auswir-
kungen auf die finanzielle Situation eines kleinen
Staates haben könnten, den zahlreiche Bande der
Freundschaft und Nachbarschaft mit der Schweiz
verbänden. Motta bat Benes, die Vorschläge der
liechtensteinischen Regierung mit seinem bekann-
ten Geist der Versöhnung zu prüfen, um möglichst
bald zu einer angemessenen Regelung zu kommen.
Benes reagierte rasch und hielt gegenüber Motta
fest, dass er nicht verkenne, dass die angesproche-
ne Frage infolge der Nichtanerkennung Liechten-
steins durch die Tschechoslowakei sehr kompliziert
sei und unter streng interner Sicht einige Schwie-
rigkeiten biete.6 1 Benes versprach, die Angelegen-
heit «mit Interesse» zu verfolgen. Bevor er jedoch
detaillierte Erklärungen und seine definitive An-
sicht dazu äussern könne, müsse er weitere Aus-
künfte in Prag einholen. Eine interne Randnotiz
des Eidgenössischen Politischen Departementes
hielt dazu fest, dass «vorderhand keine weitere
Mitteilung» gemacht werden solle.
Am 29. September 1925 richtete Fürst Johann II.
persönlich ein Schreiben an Bundesrat Motta. 6 2
Fürst Johann II. legte ebenfalls die Situation der
Enteignungen dar und folgerte daraus, dass ein
Ausgleich mit entsprechender Entschädigung an-
zustreben sei. Nach Fürst Johann II. war dies vor
allem wichtig wegen der «Vermögensgebahrung»,
und zwar sowohl im Hinblick auf das Haus als auch
auf das Land Liechtenstein. Fürst Johann IL gab
abschliessend der Hoffnung Ausdruck, dass Bun-
desrat Motta bei seinem «Gerechtigkeitssinn» und
seiner «überragenden Stellung» die Bestrebungen
zur Ordnung der Besitzverhältnisse des Fürsten
von Liechtenstein auch weiterhin «gütigst unter-
stützen wolle».
Das Eidgenössische Politische Departement un-
terrichtete das schweizerische Generalkonsulat in
Prag darüber, dass Benes erklärt habe, keine Mög-
lichkeit zu sehen, die strikte Anwendung des Bo-
52) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59, 9. Januar 1925;
Gesandtschaft Bern an Eidgenössisches Politisches Departement.
53) BA Bern, 2001 (EVI969/262, Schachtel 59, 9. Januar 1925.
54) BA Bern, 2001(E)/1969/262. Schachtel 43, 16. Februar ) 925:
Gesandtschaft Bern an Eidgenössisches Politisches Departement.
55) BA Bern, 2001(E)/1969/262. Schachtel 59, 9. Januar 1925.
Randnotiz.
56) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59, 14. Apr i l 1925;
Gesandtschaft Bern an Eidgenössisches Politisches Departement.
57) BA Bern, 200KEJ/1969/262, Schachtel 59, 15. Apr i l 1925;
Eidgenössisches Politisches Departement an Schweizer Generalkon-
sulat in Prag.
58) BA Bern, 2001 (EVI969/262. Schachtel 59, 5. Mai 1925; Randnotiz
Mottas in Französisch auf dem in f ranzösischer Sprache abgefassten
Memorandum Liechtensteins.
59) BA Bern, 200KEV1969/262 . Schachtel 59, 25. Mai 1925:
Gesandtschaft Bern ab Eidgenössisches Politisches Departement.
60) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59, 3. Juni 1925: Bun-
desrat Motta an Benes, «President de la Conference internationale
du Travail Geneve». Original in f ranzösischer Sprache.
61) BA Bern, 2001(E)/1969/262. Schachtel 59, 11. Juni 1925; Benes
an Bundesrat Motta. Originaltext in f ranzösischer Sprache.
62) BA Bern, 2001 (E)/1969/262, Schachtel 59, 29. September 1925;
Johann 11. aus Feldsbei'gan Bundesrat Motta.
123
denreformgesetzes von den fürstlich-liechtensteini-
schen Gütern abzuwenden. 6 3 Ein letzter Versuch,
der von der fürstlichen Güterverwaltung unternom-
men werde, sei eine Konferenz von liechtensteini-
schen und tschechoslowakischen Vertretern mit
Beteiligung eines Schweizer Delegierten.
Trotz der inständigen Bitte von Fürst Johann II.
sah Bundesrat Motta keine Möglichkeit, weitere
Schritte zu Gunsten Liechtensteins zu unterneh-
men, da die Tschechoslowakei alle bisherigen Ver-
mittlungsvorschläge abgelehnt hatte. Die Prager
Regierung sprach sich auch gegen eine schweizeri-
sche Beteiligung bei einer vorgesehenen Bespre-
chung zwischen Vertretern der liechtensteinischen
Zentraldirektion und den tschechoslowakischen Be-
hörden aus. Prag bedauerte, aus prinzipiellen
Gründen keinen Schweizer Vertreter zu einer sol-
chen Besprechung einladen zu können. 6 4 Bundes-
rat Motta verständigte Fürst Johann II. darüber,
dass der schweizerische Bundesrat die Gesetzge-
bung der Tschechoslowakei in der Enteignungsan-
gelegenheit zwar fraglich finde und er deshalb die
Bestrebungen des Eidgenössischen Politischen De-
partementes auf Milderung der tschechoslowaki-
schen Massnahmen gebilligt habe. 6 5 Den Bestre-
bungen des Eidgenössischen Politischen Departe-
mentes sei jedoch leider kein Erfolg beschieden ge-
wesen. Da die Tschechoslowakei aus innenpoliti-
schen Gründen auf die schweizerischen Vermitt-
lungsvorschläge nicht eintrete, würden weitere
Schritte des Eidgenössischen Politischen Departe-
mentes «wohl nicht in Betracht kommen.» Motta
stellte aber in Aussicht, die Schweiz werde ihre
Dienste neuerdings zur Verfügung stellen, wenn
eine nochmalige Intervention möglich und ange-
bracht erscheinen sollte.
Als weitere flankierende Massnahme versuchte
Prinz Franz in Paris seine Verbindungen einzuset-
zen. Er beabsichtigte, mit Aussenminister Aristide
Briand eine Aussprache wegen der Enteignungen
in der Tschechoslowakei zu führen . 5 6 Prinz Franz
wollte Briand veranlassen, Benes im Sinne eines
Entgegenkommens auf die Wünsche des Fürsten
von Liechtenstein zu beeinflussen. Prinz Franz
scheiterte jedoch mit seinem Vorhaben. Er wurde
lediglich von Generalsekretär Philippe Berthelot
empfangen. Prinz Franz machte gegenüber dem
schweizerischen Botschafter in Paris, Alphonse Du-
nant, seiner tiefen Verärgerung Luft. Er bezeichne-
te die Mitglieder der Prager Regierung, jede diplo-
matische Höflichkeit ausser Acht lassend, als «Ban-
diten von Prag».
Der Enteignungsvorgang liess sich trotz aller
Anstrengungen von Seiten des Hauses Liechten-
stein, seiner Verwaltung und der Regierung und ih-
rer diplomatischen Dienste nicht mehr aufhalten.
In verschiedenen Enteignungs- und Veräusse-
rungsaktionen verlor das Haus Liechtenstein in
den Jahren 1921 bis 1938 von rund 160 000 Hek-
tar Grundbesitz 91500 Hektar. Dies entsprach ei-
nem Verlust von 57,18 Prozent des Gesamtbesitzes
in der Tschechoslowakei.6 7 Dabei gilt es zu beach-
ten, dass die Entschädigungspreise nach den
Durchschnittspreisen der Jahre 1913 bis 1915 be-
rechnet wurden, «so dass der Entschädigungspreis
nur einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes des
Grundbesitzes ausmachte .» 6 8
Die Durchführung der Bodenreform in der Tsche-
choslowakei hatte für das Haus Liechtenstein zwei-
felsohne schwerwiegende Auswirkungen. Wenn
dadurch auch nicht die materielle Existenz insge-
samt gefährdet wurde, so waren die Verluste an
Grundbesitz doch erheblich und der Ausfall an Ein-
kommen empfindlich spürbar. Durch das sowohl
von Seiten des Fürstenhauses als auch vom Land
Liechtenstein wiederholt vorgebrachte Argument,
dass der Vermögensverlust sich auch für das Land
nachteilig auswirken würde, sollte auf die Durch-
führung der Bodenreform eingewirkt werden. Es
zeigte sich jedoch auch in diesem Fall, dass der
Kleinstaat Liechtenstein ohne Unterstützung von
aussen gegen die Interessen anderer Staaten nicht
aufkommen konnte. Auch die Schweiz, welche
Liechtenstein grosses Verständnis entgegenbrach-
te, konnte in der Frage der Bodenreform keine Ver-
änderung der Haltung der tschechoslowakischen
Regierung bewirken. Es war für die Schweiz letzt-
endlich ein rationales Abwägen, wieviel Einsatz sie
für den Kleinstaat Liechtenstein bringen wollte, oh-
ne das Verhältnis zu anderen betroffenen Staaten
124
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
zu belasten. Diese Haltung kommt in einer Stel-
lungnahme des Eidgenössischen Politischen Depar-
tementes deutlich zum Ausdruck, welche festhielt,
dass die Schweiz Liechtenstein als souveränen
Staat anerkenne.6 9 Eine andere Frage aber sei, «ob
und inwieweit» die Tschechoslowakei verpflichtet
sei, «den Fürsten Liechtenstein einzig als fremden
Souverän zu behandeln», gegebenenfalls seinen
Besitzungen eine Vorzugsbehandlung angedeihen
zu lassen. In der internen «Notiz» des Eidgenös-
sischen Politischen Departementes heisst es wei-
ter: «Vom tschechoslowakischen Standpunkt aus
kann es, nicht unbegreiflicherweise, als ein abusus
juris betrachtet werden, wenn der Souverän
Grundbesitz für die Exterritorialität beansprucht,
zumal wenn dieser Privatbesitz ein Mehrfaches des
souveränen Territoriums bildet. Est modus in re-
bus.»
Die Bodenreform in der Tschechoslowakei war
nicht nur, wie es auf den ersten Blick erscheinen
mag, eine Angelegenheit, die das Vermögen des
Hauses Liechtenstein betraf. Es war ein Vorgang,
der für Liechtenstein auch staatspolitisch bedeut-
sam war. Da die tschechoslowakische Regierung
bei der Enteignung von ausländischem Grundbe-
sitz auf Schwierigkeiten stiess, suchte sie für die
Durchsetzung ihrer Ziele die richtige taktische Ver-
63) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59; 15. Oktober 1925:
Eidgenössisches Politisches Departement an schweizerisches Gene-
ralkonsulat in Prag.
64) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 59, 4. November 1925;
tschechoslowakische Gesandtschaft in Bern an Eidgenössisches
Politisches Departement.
65) BA Bern. 2001(E)/1969/262, Schachtel 59, 13. November 1925;
Bundesrat Motta an Fürst Johann II.
66) BA Bern, 20()l(E)/1969/262, Schachtel 59, 26. November 1925;
Eidgenössisches Politisches Departement an schweizerische Ge-
sandtschaft in Paris.
67) BA Bern, 2001 (E)/l969/262, Schachtel 59; Memorandum vom
29. Mai 1945. Siehe dazu auch Dallabona, Bodenreform, S. 46-52.
68) Dallabona, Bodenreform. S. 32 und S. 52-53.
69) BA Bern, 2001(E)/1969/262, Schachtel 43, «Notiz» ohne Datum
auf dem Schreiben des schweizerischen Konsulats in Prag an das
Eidgenössische Politische Departement vom 12. Mai 1921.
Siedjtenftetn Ijcit immer als ein atiifjäuciiel
beS uiiferfscflanpjcjtieii Öef t erre id ) fieaottcn mb
ift bnljcr ioJs SDcitftlieb ber Stnntenaemcinfcfiaft
nicht fjcruorflctretcrt, ntxf) auracfallen. 5?n bkfeut
S inne j a p ißt ber imncicljene SSijlferrerijtälchrer
u. S i j j t in icintm m e i t u e r ö r c i t e t e n 33uclje üfier
S ö l f e r r e r f j t : „ £ a „ u (b. 1). au ben aufacsciljlfen
curoüäi jcöen 'Staaten ber $>iftfcrred)tSflcmeiu=
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SiecfHcufreiu, Satt M a r i n o atitb SDtaflaco, bie
att bjem $ a « a , c r S'dcbcnSfonrerenfien nid}t 6etet=
•liflt Waren uw& als f e I '5 fr ä n b i ti t ( l i eber
ber Sfaatenflemdnfdjaft Baum miteteredmet locr=
b'erc können." 's>oiv)cit- finben Wir eS t?c6ratf)t,
&ir, £ e f l c t r c i d ) uns uerfrat unb nicfit ucriraf.
— GsS mu\\ bal>er jeben Siethtenfteiner freuen,
bau wir buref;. ©rnen-nun« etaeuer 'bipfornofi*
fcher S u r t f t i o n ä r e bleiern uirijalt&aren tRitftanb
a&sufielfen itidjeni %n iüttflfrer Bc i t Haben beS=
Ijalß Skfjientitct unb Sinanafoiumiffion einem
Shitracj nuf Srrtrfjtunp, Don SBerrteiuiictcn Sied}»
tcnfteinS in S i e n unb S e r n .wneftunm.t. Qu
ffiteu unb ' i k r n 'füllen & e fw n b t f dj a f i. e u
auf Soffen beS SanbeS unb beS d ü r f t e n tnidj=
tet werben, ^ n bebeufenben S t ä b t c n beS 3CuS=
Inubes fiincieaen jolfeu cfniemaintticft uerroaftete
licdjtenfteinijrfie ftonfulate naef) SBebrtrf crridjtet
merben. $offcnthtf} uertritf uns im üürißcir b k
^djmcia in B u f u n f h beim wer mit ben öfter»
rcidjijdjcn Orfloncn i m S'fuSlaitbc au tun finde,
ber lucifi nur ,ut fjitf bie Screditituuia. biefcS
SBunfcfK-S. — 2 n Sicdjknftein) ein Keiner S k w t
•ift, läf t f firf? aitdi fracieu, ob mir tu S ß k n unb
S e r n niri)f lu c h i fl-c v foft)t>iefirtc b ip tomat i»
jdjc ' ^ u n f t i n n ä r e (SRiniftenefibcntten ober ©e=
'itfjiiftSträner) nimt-elfcn fü l len . @S mürbe für
-uufer H e i n e « Sanb edenfo ctcuttricn wie für Sit»
r e m k r n unb anberc ffcin'en Staaten. S e r 3Bk=
ner Soften fann jebenfads 'mit ber Reit aura,c=
faffeif merben, benu tntiarfjlicf) fiat bnS Sanb, mit
'ShtSnafwite beS iyüifireni, bort feine .^nteveffen
W mafjrcu. 3 » erwarten ift enbliri), bnü and)
biiefe Soften mit cutfürecn'cnb bfiuofratiid;cm
Tveffonnl aeftellt wirb unb bau fie nirfjr 35cv=
iorflunpspoften für aemiffe ftreiie fein merben.
i'fitf tviejen Hjirfhinb titörljfen mir fieitic ' - m
fliniocifeii.
In diesem Beitrag in den
Oberrheinischen Nachrich-
ten vom 26. April 1919
wird die Einrichtung von
liechtensteinischen Ge-
sandtschaften in Wien und
in Bern begrüsst. Nebst der
möglichen Eröffnung wei-
terer Konsulate in anderen
Hauptstädten hofften die
Oberrheinischen Nachrich-
ten im Übrigen, dass in
Zukunft die Schweiz
Liechtenstein im weiteren
Ausland diplomatisch
vertreten werde.
125
haltensweise. Diese Taktik ging darauf aus, Liech-
tenstein als einen Staat zu interpretieren, der nicht
als souverän, sondern als ein Annex Österreichs zu
gelten habe. Daraus leitete die tschechoslowaki-
sche Regierung ab, dass Liechtenstein im Ersten
Weltkrieg nicht neutral gewesen sei, sondern an
der Seite Österreichs aktiv Krieg führend mitge-
wirkt habe. Aus diesem Umstand folgerte sie, dass
der regierende Fürst von Liechtenstein als öster-
reichischer und somit für die Tschechoslowakei als
feindlicher Staatsbürger zu gelten habe. Infolge sei-
nes «Subjektionsverhältnisses» zu Österreich kam
ihm nach Interpretation der tschechoslowakischen
Regierung kein Anspruch auf Exterritorialität zu,
wie dies bei einem Oberhaupt eines souveränen
Staates nach Völkerrecht der Fall gewesen wäre.
Die Republik der Tschechoslowakei versuchte des-
halb von Beginn ihrer Existenz an, Einfluss darauf
auszuüben, dass Liechtensteins Souveränität und
Neutralität international nicht anerkannt wurde.
Dies wirkte sich für Liechtenstein aussenpolitisch
nachteilig aus. Sowohl an der Pariser Friedenskon-
ferenz als auch bei der Aufnahme in den Völker-
bund stand Liechtenstein in Bezug auf seine staatli-
che Unabhängigkeit und Neutralität unter einer
drückenden Beweislast. Auch die Beziehungen
Schweiz - Liechtenstein waren von der tschechi-
schen Bodenreform betroffen. Die Schweiz geriet
infolge der Übernahme der auswärtigen diplomati-
schen Vertretung Liechtensteins seit Oktober 1919
in das tschechoslowakisch-hechtensteinische Span-
nungsfeld. Dabei zeigte sich allerdings, dass die
Staatsraison den Entscheidungsspielraum der
schweizerischen Bundesbehörden stark einengte
und ihr Verhalten im Konfliktfall dirigierte.
Liechtenstein bemühte sich auf diversen Wegen
um Durchsetzung seiner Interessen. Einerseits ver-
suchte es, bei den Grossmächten für sein Anliegen
Gehör zu finden, andererseits hoffte man durch di-
rekten Kontakt mit der Tschechoslowakei zu einem
Erfolg zu kommen. Als dritten Weg versprach man
sich vieles von den «besonderen Diensten» der
Schweiz. Als weitere Möglichkeiten setzten die Hof-
kanzlei, die liechtensteinischen Gesandtschaften in
Wien und Bern, Prinz Franz und selbst Johann II.
persönlich einige Hoffnung auf direkte Kontakte zu
einflussreichen Persönlichkeiten.
Vor diesem Hintergrund sind die eifrigen politi-
schen und diplomatischen Tätigkeiten zu sehen,
die in Wien, Vaduz, Bern, Prag, Genf und Paris auf
verschiedenen Ebenen entfaltet wurden. Jede Seite
versuchte, ihre Auffassung durch Argumente von
Gutachtern zu untermauern. Letztlich machte aber
auch hier wieder der Kleinstaat Liechtenstein die
ernüchternde Erfahrung, dass er auf das Wohlwol-
len und auf die Grossmut der Stärkeren angewie-
sen ist.
126
EIN «ANNEX ÖSTERREICHS» ODER EIN SOUVERÄNER
STAAT? / RUPERT QUADERER
L I T E R A T U R -
VERZEICHNIS
Benes, Tschechoslowaki-
sche Demokratie
Vaclav Benes: Die Tsche-
choslowakische Demokra-
tie und ihre Probleme
1918-1920. In: Victor
Mamatey/Radomir Luza
(Hrsg.), Geschichte der
Tschechoslowakischen
Republik 1918-1948.
Wien-Köln-Graz, 1980.
Dallabona, Bodenreform
Lucia Dallabona: Die Bo-
denreform in der Tsche-
choslowakei nach dem
1. Weltkrieg unter beson-
derer Berücksichtigung
des Fürstlich-Liechtenstei
nischen Besitzes. Wien,
1978.
Hoensch, Tschechoslo-
wakei
Hoensch Jörg: Geschichte
der Tschechoslowakei.
Stuttgart, Berlin, Köln.
19923
Teichova, Wirtschaftsge-
schichte
Alice Teichova: Wirt-
schaftsgeschichte der
Tschechoslowakei 1918-
1980. Wien. 1988.
R E N U T Z T E A R C H I V -
R E S T Ä N D E
Liechtensteinisches Lan-
desarchiv, Vaduz (LLA):
- Regierungsakten RE
1919 und 1920
- SF 1.10
- Gesandtschaftsakten
Bern
- Gesandtschaftsakten
Wien
- Mikrofilm Bundesarchiv
Bern, 2001(B)/2
Hausarchiv der Regieren-
den Fürsten von Liechten-
stein, Vaduz:
- Karton 35 (als Mikrofilm
im LLA)
- Karton 221-500/1920
Hausarchiv der Regieren-
den Fürsten von Liechten-
stein/Wien:
- Karton 1616H
Bundesarchiv Bern (BA):
- 200HEV1969/262
RILDNACHWEIS
S. 115: Privatbesitz Eva
Rückstätter, Hohenems
Übrige Abb.: Liechtenstei-
nisches Landesarchiv,
Vaduz
ANSCHRIFT DES
A U T O R S
Dr. phil. Rupert Quaderer
Fürst-Johannes-Strasse 26
FL-9494 Schaan
A R K Ü R Z U N G S V E R -
ZEICHNIS
LLA
Liechtensteinisches Lan-
desarchiv
BA
Schweizerisches
Bundesarchiv, Bern
SF
Sonderfaszikel
127
LIECHTENSTEINS
BEZIEHUNGEN ZUR
TSCHECHOSLOWAKEI
UND ZU DEREN
NACHFOLGESTAATEN
SEIT 1945
ROLAND M A R X E R
Inhalt
133 EINFÜHRUNG 146 ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
134 DIE RILATERALEN BEMÜHUNGEN
LIECHTENSTEINS
147 EXKURS: DER «BILDERFALL»
134 Die liechtensteinischen Besitzungen in der
Tschechoslowakei
Liechtenstein gegen Deutschland - Urteil
des Internationalen Gerichtshofs vom
10. Februar 2005
136 DIE MULTILATERALEN BEMÜHUNGEN
LIECHTENSTEINS
136 Die Aufnahme der Tschechischen und der
Slowakischen Republik in die KSZE
137 Die Aufnahme der Tschechischen und der
Slowakischen Republik in den Europarat
138 Freihandelsabkommen der EFTA-Staaten
mit der Tschechoslowakei und ihren Nach-
folgestaaten
138 Die Aufnahme der Tschechischen und der
Slowakischen Republik in die UNO
138 Der Beitritt der Tschechoslowakei zum
Patentübereinkommen
138 Die Aufnahme der Tschechischen und der
Slowakischen Republik in den EWR
138 - Die Situation vor der Paraphierung des
Erweiterungsabkommens am 3. Juli 2003
140 - Die Entwicklung nach der Paraphierung
des Erweiterungsabkommens am 3. Juli
2003 bis zur Unterzeichnung am 13./14.
Oktober 2003
142 - Die (definitiven) Erklärungen in der
Schlussakte zum EWR-Erweiterungsab-
kommen vom 14. Oktober 2003
145 - Ratifikation des EWR-Erweiterungsab-
kommens
145 Vorgehen Liechtensteins im Zusammenhang
mit dem Abkommen zur Zinsbesteuerung
132
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Einführung
Nach der Auflösung der Österreichisch-ungarischen
Monarchie entstand 1918 aus Böhmen, Mähren,
(Österreichisch-)Schlesien und der Slowakei die
Tschechoslowakei. Sie teilte sich 1993 in die Tsche-
chische Republik und die Slowakische Republik.1
Die Tschechoslowakei anerkannte 1918 die liech-
tensteinische Souveränität nicht und lehnte 1923
die Errichtung einer liechtensteinischen Gesandt-
schaft in Prag und 1925 die Vertretung Liechten-
steins durch die Schweiz ab. Sie betrachtete den
Fürsten von Liechtenstein als den Habsburgern un-
tergeordnet, um den Grundbesitz des Hauses
Liechtenstein in die 1918 proklamierte Bodenre-
form einbeziehen zu können. Durch diese wurden
bis 1936 rund 57 Prozent des fürstlich-liechtenstei-
nischen Grundbesitzes in der Tschechoslowakei
enteignet.
Im Juli 1938 stimmte die Tschechoslowakei der
Vertretung der liechtensteinischen Interessen durch
die Schweiz zu und anerkannte Liechtenstein da-
durch implizit als souveränen Staat. Im Oktober
1938 erfolgte der deutsche Truppeneinmarsch und
im März 1939 wurde das «Protektorat Böhmen und
Mähren» geschaffen. 1945 brach die Tschechoslo-
wakei die diplomatischen Beziehungen zu Liech-
tenstein ab und konfiszierte entschädigungslos das
Vermögen aller liechtensteinischen Staatsangehöri-
gen, das auf ihrem Staatsgebiet lag (betroffen war
vor allem das Fürstenhaus): Liechtensteinische
Staatsangehörige wurden als «Personen deutscher
Nationalität» im Sinne des Benes-Dekrets Nr. 12
angesehen, unter Missachtung der liechtensteini-
schen Souveränität und Neutralität. Das gleiche
Schicksal widerfuhr auch deutschsprachigen Staats-
bürgern anderer Länder, zum Beispiel der Schweiz.
Die meisten dieser Länder schlössen aber bereits
unter dem kommunistischen Regime der Tschecho-
slowakei Entschädigungsabkommen ab.
Liechtenstein brachte gegenüber der Tschecho-
slowakei ständig und wiederholt zum Ausdruck,
dass es die 1945 erfolgte Konfiskation liechtenstei-
nischen Vermögens als Vermögen von Personen
«deutscher Volkszugehörigkeit» als einen inakzep-
tablen Verstoss gegen das Völkerrecht ansieht. Bei
der Aufnahme der Tschechischen Republik2 in den
Europarat 1993 enthielt sich Liechtenstein der
Stimme. Liechtenstein ratifizierte die Freihandels-
abkommen der EFTA-Staaten mit der Tschechoslo-
wakei bzw. ihren Nachfolgestaaten nicht.3 Bisher
haben weder die Tschechische Republik noch die
Slowakische Republik die 1938 erfolgte Anerken-
nung Liechtensteins bestätigt. Sie waren auch nicht
bereit, den Streitfall vor dem Internationalen Ge-
richtshof (IGH) zu klären. 4 Dies hat 2003 im Zu-
sammenhang mit der Erweiterung des Abkom-
mens über den Europäischen Wirtschaftsraum
(EWR) zu Problemen geführt: Die beiden neuen
EU-Staaten akzeptierten den Vorschlag, die Aner-
kennung der liechtensteinische Souveränität seit
1806 zu bestätigen, nicht, was eine Verzögerung
der Unterzeichnung des Abkommens um rund ei-
nen Monat zur Folge hatte. Dabei gab Liechtenstein
Erklärungen ab, in welchen auf die offenen Fragen
und die liechtensteinische Position hingewiesen
wurde. 5
Die nachstehenden Ausführungen 6 schildern die
bilateralen und multilateralen Bemühungen Liech-
tensteins seit Beginn der Neunzigerjahre des letz-
ten Jahrhunderts, die durchgehende Anerkennung
seiner Souveränität durch die Tschechische und
Slowakische Republik zu erreichen.
1) Diese Einführung stützt sich auf den Artikel des Autors für das
Historische Lexikon für das Fürs ten tum Liechtenstein.
2) Wenn nachstehend von der Tschechischen Republik gesprochen
wird, gelten die grundsätz l ichen offenen Fragen im Wesentlichen
auch bezüglich der Slowakischen Republik.
3J Diese Frcihandelsabkommen sind in den Beziehungen der beiden
Staaten zu Island, Norwegen und Liechtenstein ausser Kraft, seit die
beiden Staaten am 1. Mai 2004 der E U beigetreten und damit Be-
standteil des Europäischen Wirtschaftsraums, EWR, geworden sind.
4) Es sei zur Klarstellung daraufhingewiesen, dass die Klage
Liechtensteins vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) - siehe
«Exkurs» - sich gegen die Bundesrepublik Deutschland richtete, nicht
gegen die Tschechische bzw. die Slowakische Republik. A m Verfahren
vor dem IGH waren nur Liechtenstein und Deutschland beteiligt.
5) Siehe hierzu Kapitel «Die multilateralen Beziehungen Liechten-
steins». S. 136-146.
6) Es handelt sich angesichts der Vorgaben zum Umfang des Artikels
um eine Zusammenfassung wesentlicher Ereignisse, die keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann.
133
Die bilateralen Bemühungen
Liechtensteins
DIE LIECHTENSTEINISCHEN BESITZUNGEN
IN DER T S C H E C H O S L O W A K E I
Für Liechtenstein als Staat, für das Fürstenhaus,
aber auch für einzelne liechtensteinische Staatsan-
gehörige, die nicht zur Fürstlichen Familie zählten,
entstand insbesondere aufgrund der so genannten
Benes-Dekrete7, eine schwierige Situation. Durch
eines der Dekrete wurden liechtensteinische Staats-
angehörige als deutsche Staatsangehörige qualifi-
ziert. Sie wurden enteignet, ihr Vermögen wurde -
entschädigungslos, auch dies im Widerspruch zum
Völkerrecht - konfisziert.8 Als «Deutsche» wurden,
gemäss der Volkszählung von 1930, jene definiert,
die Deutsch als ihre Muttersprache angegeben hat-
ten: «Alle Personen der deutschen oder magyari-
schen Volksgruppe, wie in den Volkszählungen
nach 1929 angegeben.» 9 Damit war auch die Frage
der Anerkennung Liechtensteins als souveräner
Staat betroffen. 1 0
Im Unterschied zu Liechtenstein hatte die Schweiz
1939 die Existenz der von Deutschland geschaffe-
nen Protektorate Böhmen und Mähren und der Slo-
wakischen Republik anerkannt.1 1 Damit waren die
Beziehungen der Schweiz zur Tschechoslowaki-
schen Republik als erloschen zu betrachten. Im Fe-
bruar 1945 machte die Schweiz der tschechoslo-
wakischen Regierung im Exil in London den Vor-
schlag, die diplomatischen Beziehungen wieder
herzustellen. Die tschechoslowakische Regierung
stimmte zu. Bezüglich der Vertretung der Interes-
sen Liechtensteins durch die Schweiz erklärte das
tschechoslowakische Aussenministerium, durch
die Unterbrechung der schweizerischen-tschecho-
slowakischen Beziehungen während des Krieges
hätten sich auch die Beziehungen zu Liechtenstein
gelöst. Daher erwähnte der Notenwechsel von
1945, durch welchen die diplomatischen Beziehun-
gen zwischen der Schweiz und der Tschechoslowa-
kei wieder hergestellt wurden, Liechtenstein nicht.
Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei
und Liechtenstein waren somit nicht wieder herge-
stellt worden.
Über die Schweizer Gesandtschaft in Prag wies
die liechtensteinische Regierung im Jahr 1947 dar-
aufhin, dass die Beziehungen während des Krieges
niemals rechtlich abgebrochen worden seien.12 Liech-
tenstein habe weder die Protektorate Böhmen und
Mähren noch die Unabhängigkeit der Slowaki-
schen Repuhük anerkannt. Die Unterbrechung der
Beziehungen der Tschechoslowakei zur Schweiz
habe auf die Beziehungen mit Liechtenstein keine
Auswirkungen haben können, da Liechtenstein ein
eigener souveräner Staat sei, dessen Verbindung
mit der Schweiz rein wirtschaftlicher Natur war.
Deshalb bestand aus Sicht der liechtensteinischen
Regierung die rechtliche Situation, wie sie schon
1938 galt, als die Tschechoslowakei zugestimmt
hatte, dass die Schweizer Gesandtschaft die Inter-
essen Liechtensteins vertreten könne . 1 3 Die tsche-
choslowakische Regierung antwortete nicht auf
diese Argumente. Die Schweizer Regierung bemüh-
te sich bis 1949, die Interessen Liechtensteins in
der Tschechoslowakei zu vertreten.1 4
Nach der Machtübernahme durch die Kommu-
nisten war es wegen der mangelnden Gesprächs-
bereitschaft der tschechoslowakischen Seite nicht
möglich, in direkten bilateralen Verhandlungen
oder im Zusammenhang mit dem schweizerisch-
tschechoslowakischen Entschädigungsabkommen 1 5
zu einer Lösung zu kommen. Hierzu erfolgten ins-
besondere diverse Notenwechsel zwischen Liech-
tenstein und der Tschechoslowakei.1 6
Im Herbst 1990 übergab Liechtenstein in Prag
ein Aide-memoire, das den Wunsch nach Entschä-
digungsverhandlungen beinhaltete. Es kam zu drei
Gesprächs- bzw. Verhandlungsrunden zwischen
Liechtenstein und der Tschechoslowakei.1 7 Eine in-
formelle Gesprächsrunde fand im Juni 1991 in
Prag statt, eine erste Verhandlungsrunde im De-
zember 1991 in Prag und eine zweite im Februar
1992 in Vaduz. Liechtenstein brach anschliessend
die Verhandlungen ab, da sich herausstellte, dass
die andere Seite1 8 auf die hechtensteinischen Vor-
stellungen und Forderungen nicht eingehen würde.
Am 1. Januar 1993 teilte sich die Tschechoslowa-
kei in die Tschechische Republik und die Slowaki-
sche Republik. 1 9 Beide Staaten mussten sich um die
Anerkennung durch die anderen Staaten und um
die eigenständige Aufnahme in internationale Or-
134
ganisationen bemühen. Dies bedeutete auch, dass
Liechtenstein nun mit zwei Staaten zu sprechen
und allenfalls zu verhandeln hatte, soweit es um
die Benes-Dekrete und die damit verbundenen offe-
nen Fragen ging. Das Ersuchen der Tschechischen
Republik um Anerkennung beantwortete Liechten-
stein dahingehend, dass es die Existenz des neuen
Staates auf der Basis der Gegenseitigkeit anerken-
nen würde. Liechtenstein schlug vor, Verhandlun-
gen über die diplomatischen Beziehungen und an-
dere ungelöste Fragen einschliesslich der Konfiska-
tion liechtensteinischen Besitzes aufzunehmen.
Die Umwälzungen des Jahres 1989 schienen
auch die Verbesserung der Beziehungen zwischen
Liechtenstein und den beiden Nachfolgestaaten der
Tschechoslowakei zu begünstigen. Es fanden ab
1999 Sondierungsgespräche mit der slowakischen
Seite statt, um zu einer Lösung zu gelangen, die
aber nach einiger Zeit wieder ohne konkrete Er-
gebnisse unterbrochen wurden.
Die Einladung des liechtensteinischen Regie-
rungschefs vom Mai 1999 an den tschechischen Mi-
nisterpräsidenten zu einem Besuch in Liechtenstein
wurde von diesem sehr aufschiebend beantwortet.
Es wurde aber die Absicht der tschechischen Seite
deutlich, dass zuerst diplomatische Beziehungen
hergestellt werden sollten. In der Note der Regie-
rung vom 5. Mai 1997 2 0 an die tschechische Regie-
rung im Zusammenhang mit der bzw. in Folge der
so genannten Deutsch-Tschechischen Erklärung
vom 21. Januar 1997 2 1 hatte die liechtensteinische
Regierung klar und eindeutig die Bereitschaft er-
neuert, auch im Hinblick auf eine gewünschte Nor-
malisierung der bilateralen Beziehungen, über offe-
ne Fragen zwischen der Tschechischen Republik
und dem Fürstentum Liechtenstein sowie über Fra-
gen gemeinsamen Interesses weiterhin Gespräche,
gegebenenfalls Verhandlungen, zu führen. Diese
Note wurde von tschechischer Seite nie konkret be-
antwortet.
Liechtenstein hatte sich durchgehend auf den
Standpunkt gestellt, dass die Entschädigungsfragen
einer Lösung zugeführt werden müssten, wenn die
formelle Anerkennung der beiden Nachfolgestaa-
ten durch Liechtenstein und die Aufnahme diplo-
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
/) Benes war der damalige Präs ident der Tschechoslowakei.
8) Die nachstehenden Ausführungen lassen den Umfang der Entschä-
d igungsansprüche ausser Acht, da eine Konzentration auf die souve-
ränitätspoli t ischen Fragen beabsichtigt ist.
9) FO 371/47163. Kanzleigerichtsschreibcn vom 16. Juli 1945 von
der britischen Gesandtschaft in Prag, zitiert nach Bcattie, Liechten-
stein, S. 148.
10) Zu den Benes-Dokreten ausführl ich: Beattie. Liechtenstein,
S. 142 ff.
11) Lussy Hanspoter /Löpez , Rodriges: Finanzbeziehungen Liechten-
steins zur Zeit des Nationalsozialismus, Studie im Auftrag der
Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg. Vaduz, Zürich. 2005. S. 272-273.
12) Beattie. Liechtenstein, S. 148.
13) Ebenda, S. 151, hier in Fussnoto 17 Verweis auf «Liechtensteiner
Vaterland» vom 1. März 1950, aus «Liechtenstein 1938-1978»,
S. 124-125.
14) Beattie, Liechtenstein, S. 151.
1 5) Das En t schäd igungsabkommen der Schweiz mit der Tschechoslo-
wakei enthielt also keinen Bezug zu Liechtenstein.
16) Hinweise darauf im Aide-memoire der Regierung des Fürsten-
tums Liechtenstein vom 29. Oktober 1990, welches die liechtensteini-
sche Regierung in der Erwartung verfassto, dass angesichts der
damals (1990) «aktuellen gesamteuropä ischen Entwicklungen ...»
eine «zukunftsor ient ier te Bereinigung des Fragenkomplexes... von
beiderseitigem Interesse ist». Aide-memoire n.publ., Akten des Amtes
für Auswärt ige Angelegenheiten, Vaduz.
17) Rechenschaftsbericht der Regierung 1991. S. 107; 1992. S. 101,
106.
18) Es handelte sich also noch um die Tschechoslowakei, welche kei-
ne grundsätzl iche Anerkennung der Vermögensforderungen ausspre-
chen wollte, offenbar vor allem auch aus innenpolitischen Gründen,
wegen der möglichen präjudiziellen Wirkungen in Bezug auf andere
offene Entschädigungsfragen wie etwa diejenigen der Sudetendeut-
schen.
19) Beattie. Liechtenstein, S. 406 ff.
20) Nicht veröffentlicht.
21) Liechtenstein hatte am 5. Mai 1997 Noten an die deutsche und die
tschechische Regierung adressiert, in denen sie unter Bezugnahme
auf die am 21. Januar 1997 in Prag von den beiden Regierungen
verabschiedete Erklärung unter anderem darauf hinwies, dass diese
Erklärung die Rechte des Fürs ten tums Liechtenstein sowie die Rechte
seiner Staa tsangehör igen im Hinblick auf die völkerrechtswidrige
Enteignung liechtensteinischen Vermögens durch die tschechoslowa-
kische Regierung nicht berühr t , obwohl diese Enteignungen unter
dem Titel «volksdeutsches Vermögen» oder «deutsches Auslandsver-
mögen» erfolgt sind. Die Regierung gehe ausserdem davon aus. dass
Deutschland in seinen Beziehungen zu Tschechien alles unterlassen
werde, was die Rechte Liechtensteins gegenüber der Tschechischen
Republik schmälern könnte .
135
Die multilateralen Bemühungen
Liechtensteins
matischer Beziehungen mit Liechtenstein erfolgen
sollte. Konkrete Fortschritte konnten also aus liech-
tensteinischer Sicht nur im Rahmen und Umfang
eines Gesamtpakets an Lösungen erzielt werden.
Die beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei
hielten ihrerseits an der Position fest, es seien zu-
erst die diplomatischen Beziehungen aufzuneh-
men, anschliessend könnten alle (anderen) offenen
Fragen in den Beziehungen der drei Staaten zuein-
ander geklärt werden.
Die liechtensteinische Position beinhaltete im-
mer auch das Argument, dass die Verantwortung
gegenüber Liechtenstein von der früheren Tsche-
choslowakei an die beiden Nachfolgestaaten über-
gegangen sei, was von diesen beiden Staaten - so-
weit ersichtlich - grundsätzlich nicht bestritten wur-
de. Dementsprechend hatte die liechtensteinische
Regierung die identischen Fragen und Probleme
ursprünglich mit der Tschechoslowakei und ansch-
liessend mit den beiden Nachfolgestaaten - und mit
diesen dann auf separatem Weg und mit unter-
schiedlichen bilateralen Kontakten - behandelt.2 2
Eine Annäherung der Standpunkte ist bisher im
Wesentlichen ausgeblieben.
Für die beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslo-
wakei hatte ihre Selbständigkeit zur Folge, dass sie
(neu) um Aufnahme in diejenigen internationalen
Gremien ansuchen mussten, in welchen die Tsche-
choslowakei vor ihrer Auflösung bereits Mitglied
gewesen war.
Parallel zum bilateralen Vorgehen war die liech-
tensteinische Regierung darauf bedacht, in interna-
tionalen Organisationen, schon vor der Teilung der
Tschechoslowakei und vor allem auch nachher, in
geeigneter Weise auf die offenen Fragen in den Be-
ziehungen Liechtensteins zur Tschechischen und
zur Slowakischen Republik hinzuweisen. Die jewei-
ligen Verfahren zur Aufnahme der beiden Staaten
in internationale Institutionen boten daher Liech-
tenstein die Gelegenheit, auf die offenen Fragen in
den Beziehungen zu diesen beiden Staaten auf-
merksam zu machen.
DIE A U F N A H M E DER T S C H E C H I S C H E N UND
SLOWAKISCHEN R E P U B L I K IN DIE K S Z E
Liechtenstein erhob daher gegen die Aufnahme der
Tschechischen Republik unter anderem in die da-
malige K S Z E 2 3 (die heutige OSZE 2 4) Widerspruch. 2 5
Liechtenstein verweigerte den in der KSZE üb-
lichen Konsens (es gibt keine eigentlichen Abstim-
mungen) nicht, konnte aber erreichen, dass beim
Dritten Treffen des KSZE-Rates auf Ministerebene
vom Dezember 1992 in Stockholm in einer
Erklärung der Vorsitzenden 2 6 die betroffenen Staa-
ten 2 7 aufrief, ihre offenen Fragen mit Liechtenstein
einer Lösung zuzuführen. Liechtenstein benützt
anlässlich der jährlich stattfindenden Wirtschaftsfo-
ren der OSZE in Warschau die Gelegenheit, auf die
ungelösten offenen Fragen hinzuweisen. Die tsche-
chische Seite reagierte bisher darauf, sei es münd-
lich, sei es schriftlich, mit nicht immer identischen
Argumenten. 2 8 Im Verlauf der Jahre wurde die ent-
schädigungslose Enteignung vor allem mit den fol-
genden zwei Argumenten begründet: Das Potsda-
mer Abkommen hätte eine genügende völkerrecht-
liche Grundlage für die entschädigungslose Enteig-
nung auch von Drittstaatangehörigen geliefert bzw.
136
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Liechtenstein sei kein souveräner Staat zu dem
Zeitpunkt gewesen, womit das völkerrechtliche Ver-
tretungsrecht der Enteigneten durch Liechtenstein
hinfällig sei.
DIE A U F N A H M E DER T S C H E C H I S C H E N
UND SLOWAKISCHEN R E P U B L I K IN DEN
E U R O P A R A T
Die Aufnahme der beiden Staaten in den Europarat
wurde in einem verkürzten Verfahren durchgeführt,
in welchem sich erstmals in der Geschichte des Eu-
roparates zwei Staaten bei einem Aufnahmeantrag
der Stimme enthielten.2 9 Liechtenstein stellte sich
dabei auf den Standpunkt, dass solange die beiden
neuen Regierungen an Beschlüssen festhielten, wel-
che die Souveränität Liechtensteins negieren, und
solange sie sich weigerten, Liechtenstein gleich wie
andere Staaten zu behandeln, eine Normalisierung
der bilateralen Beziehungen nicht möglich sei. Als
Ergebnis wurde von der Parlamentarischen Ver-
sammlung eine Direktive angenommen, mit wel-
cher die Aufnahmekandidaten aufgefordert wur-
den, die anlässlich der Aufnahme gemachten Zusi-
cherungen auch emzuhalten. Die Tschechische sowie
die Slowakische Republik verpflichteten sich dabei,
alle offenen Fragen in den Beziehungen zu den Mit-
gliedsstaaten des Europarates durch Dialog und
Verhandlungen zu regeln. 3 0
Es erfolgten liechtensteinische Interventionen in
der Parlamentarischen Versammlung des Europa-
rats vom 29. Juni 1993 und anlässlich des Be-
schlusses zur Aufnahme der beiden Nachfolgestaa-
ten der Tschechoslowakei in den Europarat vom
30. Juni 1993. 3 1 Liechtenstein stellte sich im Mini-
sterkomitee des Europarates, welches nach Vorlie-
gen einer positiven Aufnahmeempfehlung der Par-
lamentarischen Versammlung über die Aufnahme
von Neumitgliedern in den Europarat entscheidet,
der Aufnahme der beiden Staaten nicht entgegen.
Liechtenstein enthielt sich der Stimme. Im Septem-
ber 1997 brachte die liechtensteinische Parlamen-
tarierdelegation in der Parlamentarischen Ver-
sammlung ein Amendment 3 2 durch, in welchem
darauf hingewiesen wird, dass die Mitgliedschaft
im Europarat auch die Bereitschaft bedeute, über
Dialoge und Verhandlungen jede offene Frage in
den Beziehungen der Mitgliedsstaaten zu regeln. 3 3
Am 26. April 1999 sprach der tschechische Mini-
sterpräsident, Milos Zeman, vor der Parlamentari-
schen Versammlung. 3 4 Im Rahmen der Fragestun-
de antwortete er auf die Frage eines Parlamenta-
riers, welche Flindernisse gegen die Anerkennung
Liechtensteins durch Tschechien stellten, dass be-
stimmte Fragen bezüglich der Eigentumsverhält-
nisse zwischen Liechtenstein und Tschechien offen
seien. Diese Probleme seien nicht isoliert zu be-
22) Die Gespräche und Kontakte mit den beiden Nachfolgestaaten
erfolgten getrennt und auch zeitlich nicht durchgehend parallel.
23) Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
24) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
25) Rechenschaftsbericht der Regierung 1992, S. 103.
26) Es handelte sich um die damalige schwedische Aussenministorin;
Journal Nr. 2, JC /EJ02 , zum Dritten Treffen des KSZE-Rates in
Stockholm 1992.
27) Gemeint sind die beiden Nachfolgestaaten, ohne dass sie genannt
werden.
28) Nicht veröffentlichte Berichte der liechtensteinischen Delegation
beim Wirtschaftsforum.
29) Ungarn bei der Slowakischen Republik (Minderheitenproblema-
tik) und Liechtenstein bei der Tschechischen Republik. Entscheidun-
gen des Ministerkomitees des Europarats, 496. Sitzung vom 30. Juni
1993.
30) Protokoll (Minutes of Proceedings), AS (1997) PV 25, über den
Vierten Teil der 25. Session, Sitzung vom 22.September 1997; Bezüg-
lich Tschechiens: Empfehlung 1338 (1997) botreffend die Verpflich-
tungen und Bemühungen der Tschechischen Republik als Mitglied-
staat.
31) Rechenschaftsbericht der Regierung 1993, S. 99.
32) Zusatz- bzw. Abände rungsan t r ag .
33) Parlamentarische Versammlung des Europarats, Doc. 6855
(Tschechien) und 6864 (Slowakei), Amendment Nr. 1 vom 25. Juni
1993: Parlamentarische Versammlung des Europarats, Stellungnah-
me (Opinion) Nr. 174 (1993) betreffend das Gesuch der Tschechischen
Republik um Aufnahme in den Europarat, Stellungnahme (Opinion)
Nr. 175 (1993) betreffend das Gesuch der Slowakischen Republik um
Aufnahme in den Europarat.
34) Protokoll über die 9. Sitzung der Parlamentarischen Versamm-
lung vom 26. Apr i l 1999, 15 Uhr, f ranzösische Fassung, (AS (1999) CR
9, S. 18.
137
trachten, andere solche Probleme hätten eine Lö-
sung gefunden, so jene im Verhältnis Tschechiens
zu Deutschland. Er würde gerne nach Vaduz rei-
sen, wenn er eingeladen würde, und er gab sich
überzeugt, dass sich daran anschliessende bilate-
rale Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen wer-
den könnten. 3 5
F R E I H A N D E L S A B K O M M E N DER I I T A -
STAATEN MIT DER T S C H E C H O S L O W A K E I
UND IHREN N A C H F O L G E S T A A T E N
Die EFTA-Staaten hatten mit der Tschechoslowakei
im Jahr 1992 ein Freihandelsabkommen abge-
schlossen. Liechtenstein hatte es unterzeichnet, mit
dem Hinweis auf die offenen Fragen in den Bezie-
hungen zur Tschechoslowakei aber nie ratifiziert. 3 6
Im April 1993 wurde das genannte Freihandels-
abkommen über die Unterzeichnung von zwei
«Nachfolgeprotokollen» den realen Verhältnissen
des Bestehens von zwei voneinander unabhängi-
gen Staaten angepasst.37 Liechtenstein beschränkte
sich in der Folge auf die «provisorische Anwen-
dung» der beiden Protokolle ab dem 1. Januar
1997, ohne die beiden Protokolle zu ratifizieren.
DIE A U F N A H M E DER T S C H E C H I S C H E N UND
SLOWAKISCHEN R E P U R L I K IN DIE UNO
Die Aufnahme der beiden Nachfolgestaaten der
Tschechoslowakei in die UNO erfolgte am 19. Janu-
ar 1993 3 8 im Rahmen der 47. Session der UNO-Ge-
neralversammlung. Da die Aufnahme neuer UNO-
Mitglieder in der Generalversammlung üblicher-
weise per Akklamation erfolgt, verzichtete Liech-
tenstein darauf, eine Stimmerklärung abzugeben.
Im Auftrag der Regierung hatte die Ständige Ver-
treterin Liechtensteins aber in einer Note an den
UNO-Generalsekretär festgehalten, welches die
Gründe für die ungelösten offenen Fragen im Ver-
hältnis Liechtensteins zu den beiden Nachfolge-
staaten sind. Diese Note wurde als Dokument zum
entsprechenden Tagesordnungspunkt der General-
versammlung registriert und ist damit Bestand-
teil des Aufnahmeverfahrens für die beiden Staa-
ten. 3 9
DER R E I T R I T T DER T S C H E C H O S L O W A K E I
Z U M P A T E N T Ü R E R E I N K O M M E N
Im Zusammenhang mit dem von der Tschechoslo-
wakei geäusserten Wunsch, dem Europäischen Pa-
tentübereinkommen 4 0 beizutreten, thematisierte der
liechtensteinische Delegierte im Verwaltungsrat der
Europäischen Patentorganisation 1997 die offenen
Fragen in den Beziehungen zwischen Liechtenstein
und der Tschechoslowakei.4 1
DIE A U F N A H M E DER T S C H E C H I S C H E N UND
SLOWAKISCHEN R E P U B L I K IN D E N EWR
Von besonderem Interesse sind die Bemühungen
der liechtensteinischen Regierung im Rahmen der
Verhandlungen zur EWR-Erweiterung unter ande-
rem durch die Tschechische und die Slowakische
Republik. Sie sollen daher etwas ausführlicher be-
handelt werden, weil sie auch den Gesamtkontext
der Problematik der Beziehungen eindrücklich dar-
legen. 4 2
DIE SITUATION VOR DER PARAPHIERUNG DES
ERWEITERUNGSABKOMMENS A M 3. JULI 2003
In einem Aide-memoire vom 4. April 2003 4 3 zuhan-
den aller künftigen Vertragsparteien begrüsste die
Regierung die anstehende EWR-Erweiterung und
die fortschreitende Integration in Europa. Sie mach-
te aber gleichzeitig auch auf die offenen Fragen in
den Beziehungen zwischen Liechtenstein und der
Tschechischen Republik und der Slowakischen Re-
publik aufmerksam. Die Regierung stellte nicht die
aus Sicht der betroffenen Staaten behauptete Recht-
mässigkeit der Benes-Dekrete in Frage, sondern
behandelte die offenen Fragen unter dem für
Liechtenstein wesentlichen Aspekt der Anerken-
138
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
nung der liechtensteinischen Souveränität. Die Re-
gierung stellte dar, dass das EWR-Abkommen ein
Vertrag unter internationalem Recht ist und daher
die Vertragsparteien sich gegenseitig als souveräne
Staaten anerkennen müssen. Im Weiteren wurde
auf die bisher geführten Verhandlungen zu den of-
fenen Fragen eingegangen, und es wurden Vor-
schläge zum weiteren Vorgehen gemacht. Die Re-
gierung erklärte dabei, dass sie sich bewusst sei,
dass die Frage der Behandlung von Eigentum nicht
in kurzer Frist bereinigt werden kann. Die Regie-
rung verlangte aber von den beiden Staaten, wie
dies ihr Vorgängerstaat, die Tschechoslowakei, im
Jahr 1938 tat, dass die beiden Staaten Liechten-
stein vorbehaltlos als souveränen Staat anerken-
nen und ihre Bereitschaft erklären, zu den offenen
Fragen bezüglich des Eigentums im Rahmen einer
friedlichen Streitbeilegung eine Lösung zu errei-
chen. Vor diesem Hintergrund hatte Liechtenstein
diesbezüglich den beiden Staaten eine Note zukom-
men lassen und die Vertragsparteien des Erweite-
rungsabkommens um Unterstützung der Anliegen
Liechtensteins ersucht.
Liechtenstein hatte dann im Hinblick auf die Pa-
raphierung des Erweiterungsabkommens am 3. Juli
2003 eine Erklärung abgegeben. Darin ging die Re-
gierung von der Annahme aus, dass die Tschechi-
sche Republik und die Slowakische Republik Liech-
tenstein ohne Vorbehalt anerkennen. Im Gegenzug
anerkennt sie diese beiden Staaten. Weiters nahm
sie an, dass eine einvernehmliche Lösung der noch
offenen Frage hinsichtlich der entschädigungslosen
Enteignungen im Jahre 1945 in beiderseitigem In-
teresse ist. Sie schlug hierfür vor, Mechanismen für
die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in An-
spruch zu nehmen, zum Beispiel den Valletta-Me-
chanismus der OSZE. 4 4
Die Tschechische Republik und die Slowakische
Republik gaben zu dieser Erklärung Liechtensteins
jeweils eine eigene Erklärung ab. 4 5
In dieser Stellungnahme zur Erklärung Liech-
tensteins anerkennt somit die Tschechische Repu-
blik das Fürstentum Liechtenstein als souveränen
Staat. Auch die Slowakische Republik bringt in ih-
rer Erklärung ihre Anerkennung Liechtensteins
zum Ausdruck, erklärt jedoch, die Bedingungen/
Einwände Liechtensteins als nicht rechtlich ver-
bindlich anzusehen, da ihrer Ansicht nach die ge-
genseitige Anerkennung von Staaten gemäss dem
Völkerrecht ohne Einwände und einseitige Bedin-
gungen erfolgen müsse. Streitpunkt im Rahmen
dieser EWR-Verhandlungen war somit nicht die
entschädigungslose Enteignung, sondern die vor-
behaltlose Anerkennung Liechtensteins. Tschechi-
en und die Slowakei hatten seit ihrer Entstehung
die Politik ihres Vorgängerstaates, der Tschechoslo-
wakei, übernommen, Liechtensteins ununterbro-
chene Souveränität nicht anzuerkennen, um seine
Völkerrechtssubjektivität zum Zeitpunkt der Ent-
eignungen zu umgehen. Liechtenstein andererseits
sah aus eben diesem Grund eine angebotene Aner-
kennung ex nunc, ohne die Klarstellung der sou-
veränitätsrechtlichen Kontinuität als ungenügend
35) Diese Aussage war Anlass für die liechtensteinische Regierung,
Milos Zeman im Mai 2005 schriftlich nach Liechtenstein einzuladen.
Siehe S. 134-136 dieses Artikels.
36) Das Allkommen ist daher im Liechtensteinischen Landesgesetz-
blatt auch nie publiziert worden. Da dieses Freihandelsabkommen im
Wesentlichen Zollvertragsmaterie abdeckte, war Liechtenstein aber
durch die Ratifikation des Abkommens durch die Schweiz, auf der
Grundlage des Zollvertrags zwischen Liechtenstein und der Schweiz
in diese Bestimmungen eingebunden. Auf tschechoslowakischer Seite
wurde dies allerdings in Einzelfällen anders gesehen, wie etwa die
Verhinderungen bzw. Verzögerungen von Warentransporten aus
Liechtenstein in die Tschechoslowakei durch tschechoslowakische
Grenzorgane zeigen.
37) Rechenschaftsbericht der Regierung 1993. S. 100.
38) Ebenda, S. 101-102.
39) Ebenda. Ferner: United Nations Genoral Assembly. Dok. A/47/848
vom 31. Dezember 1992.
40) LGB1. 1980 Nr. 35/1 i.d.g.R. SR 0.232.142.2.
41) Interne Akten des Amtes für Auswärt ige Angelegenheiten. Die
beiden Nachfolgestaaten sind dem Europäischen Patentüberc inkom-
men am 1. .Juli 2002 beigetreten.
42) Bericht und Antrag der Regierung zum EWR-Erweiterungsab-
kommen, Nr. 2/2004 vom 27. Januar 2004, S. 39 ff.
43) Zusammenfassung des englischen Originals im Bericht und An-
trag Nr. 2/2004, S. 39, auf Deutsch.
44) Erklärung im Wortlaut in Bericht und Antrag Nr. 2/2004,
S. 40-41 .
45) Ebenda.
139
an. Eine solche Anerkennung sei fehlerhaft, da ja
gerade die gleichen Staaten die Souveränität Liech-
tensteins zumindest für das Jahr 1945 in Zweifel
ziehen würden. Liechtensteins Souveränität hätte
aber zu keinem Zeitpunkt, also auch 1945 nicht, ir-
gendeine Unterbrechung erfahren und sei auch
von allen anderen Staaten über all die Jahre hin-
weg anerkannt worden.
DIE ENTWICKLUNG NACH DER PARAPHIE-
RUNG DES ERWEITERUNGSABKOMMENS A M
3. JULI 2003 BIS ZUR UNTERZEICHNUNG
A M 13./14. OKTOBER 2003
Die Standpunkte Liechtensteins einerseits und Tsche-
chiens und der Slowakei andererseits waren damit
nicht miteinander vereinbar. Es gelang jedoch, Ver-
handlungsgespräche zu führen, um im Hinblick auf
die Unterzeichnung des EWR-Erweiterungsabkom-
mens zu einer einvernehmlichen Lösung bzw. Fest-
legung zu weiteren Schritten zu gelangen. Haupt-
sächlich ging es darum, eine Kompromissformel für
die Anerkennungsfrage zu finden. Nach anfänglich
ermutigend verlaufenden Gesprächen teilte die
tschechische Seite überraschend mit, dass man auf
der zuvor eingebrachten eigenen Anerkennungsfor-
mel beharren würde, womit die gemeinsam disku-
tierten Formulierungsansätze gegenstandslos wur-
den. Die liechtensteinische Regierung stellte sodann
allen anderen Vertragsparteien des Erweite-
rungsabkommens am 23. September 2003 erneut
ein Aide-memoire zu, dessen Wortlaut nachstehend
zitiert sei: 4 6
«Die Regierung des Fürstentums Liechtenstein hat-
te in ihrem Aide-memoire vom 4. April 2003 ihren
Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass im Rahmen
der von dem Fürstentum Liechtenstein ausdrück-
lich begrüssten Integration der neu aufzunehmen-
den Staaten in den Europäischen Wirtschaftsraum
(EWR) auch die zwischen dem Fürstentum Liech-
tenstein und der Tschechischen Republik sowie der
Slowakischen Republik bestehenden völkerrecht-
lichen Statusfragen einer Klärung zugeführt wer-
den können. In dem Aide-memoire wurde die Sorge
des Fürstentums Liechtenstein zum Ausdruck ge-
bracht, dass die von der früheren Tschechoslowa-
kei und ihren heutigen Nachfolgern, der Tschechi-
schen Republik wie auch der Slowakischen Repu-
blik, weiter verfolgte und bis heute bestehende
Nichtanerkennungspolitik gegenüber dem Fürsten-
tum Liechtenstein mit dem Grundkonzept des EWR
unvereinbar ist. Der EWR beruht auf dem Konsens
von souveränen Staaten, die sich jeweils wechsel-
seitig als gleichberechtigt und souverän anerken-
nen, so wie sie bestehen und bestanden haben. Zu-
gleich hatte das Fürstentum Liechtenstein seine
Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass in bilatera-
len Gesprächen mit der Tschechischen Republik
und der Slowakischen Republik diese Fragen einer
Lösung zugeführt werden können. Bedauerlicher-
weise hat sich diese Hoffnung bis heute nicht er-
füllt.
Das Fürstentum Liechtenstein hat seine Bereit-
schaft erklärt - und ist hierzu auch nach wie vor
bereit -, die neu entstandenen Staaten, die Tsche-
chische Republik und die Slowakische Republik,
uneingeschränkt anzuerkennen, wenn von diesen
Staaten die Respektierung des Fürstentums Liech-
tenstein als ein seit 1806 souveräner und eigen-
ständiger Staat ausgesprochen und gewährleistet
wird. Das Fürstentum Liechtenstein hat gegenüber
der Tschechischen Republik folgende Formulierung
einer gemeinsamen Erklärung vorgeschlagen, die
analog auch für die Slowakische Republik formu-
liert würde:
<The Czech Republic hereby expressly declares to
respect the Principality of Liechtenstein without re-
servation as a sovereign and recognized State since
1806. The Principality of Liechtenstein expresses
likewise the recognition of the Czech Republic as a
sovereign State since 1 January 1993.>47
Eine Erklärung der Tschechischen wie auch der
Slowakischen Republik, das Fürstentum Liechten-
stein als einen schon seit der Zeit vor Entstehen der
Tschechoslowakei existierenden souveränen Staat
zu respektieren, ist deshalb notwendig, weil sowohl
die Tschechoslowakei wie auch ihre Nachfolger, die
Tschechische Republik und die Slowakische Repu-
blik, gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein die
140
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Politik der Nichtanerkennung betrieben haben. Der
Vorgängerstaat der Tschechischen Republik und
der Slowakischen Republik, die Tschechoslowakei,
hatte im Jahre 1938 das Fürstentum Liechtenstein
als souveränen Staat anerkannt. Das Fürstentum
Liechtenstein wiederum unterstützte im Gegenzug
die seinerzeitige Exilregierung der Tschechoslowa-
kei in London und gehörte zu den wenigen Staaten,
die weder das Münchener Abkommen von 1938
noch die damit verbundene Annexion der Tsche-
choslowakei durch das Deutsche Reich anerkannt
haben. Ungeachtet dessen hat jedoch die Tschecho-
slowakei nach Ende des II. Weltkrieges im Jahre
1945 die gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein
ausgesprochene Anerkennung nicht fortgeführt, son-
dern seit diesem Zeitpunkt eine konsequente Politik
der Nichtanerkennung verfolgt. Diese Politik hat
dazu geführt, dass liechtensteinische Staatsange-
hörige nach dem Krieg sowohl von der Tschechoslo-
wakei als auch von den Nachfolgestaaten, der Tsche-
chischen Republik und der Slowakischen Republik,
bis zum heutigen Tag als Deutsche behandelt wur-
den und weiterhin behandelt werden.
Auch in den Verhandlungen mit dem Fürstentum
Liechtenstein, die vor kurzem stattgefunden haben,
hat die Tschechische Republik es erneut abgelehnt,
eine Erklärung dahingehend abzugeben, dass sie
das Fürstentum Liechtenstein als einen seit langem
souveränen und eigenständigen Staat respektiert.
Sie hat vielmehr das Fürstentum Liechtenstein wis-
sen lassen, dass sie lediglich eine völkerrechtliche
Neu-Anerkennung des Fürstentums Liechtenstein
mit sofortiger Wirkung aussprechen könne, ohne
sich hierbei von der Politik der Nichtanerkennung in
der Vergangenheit zu distanzieren und zugleich si-
cherzustellen, dass diese in der Zukunft unter-
bleibt. Die Tschechische Republik ist lediglich bereit
gewesen, eine Erklärung folgenden Inhalts abzuge-
ben:
<The Czech Republic noted that the declaration
made by the Principality of Liechtenstein on the oc-
casion of the conclusion of the agreement between
the candidate countries and members of the Euro-
pean Economic Area contains an express recogniti-
on of the Czech Republic. The Czech Republic assu-
mes that this Step also expresses the interest of the
Principality of Liechtenstein in establishing diplo-
matic relations and, as a State maintaining diplo-
matic relations with more than 180 countries of the
world, member of the United Nations, OSCE, Council
ofEurope and NATO awaiting the ratification of the
EU accession, welcomes it. The Czech Republic
declares that it also recognizes the Principality of
Liechtenstein as a sovereign State.>4S
Die Funktionsfähigkeit des EWR als ein inte-
grierter Wirtschaftsraum setzt aber voraus, dass
alle Staaten sich nicht nur wechselseitig als souve-
rän anerkennen, sondern auch bereit sind, diese
Anerkennung entsprechend umzusetzen. Dies ist
bisher nicht gesichert. Das Fürstentum Liechten-
stein muss deshalb darauf bestehen, dass vor Un-
terzeichnung der Schlussakte sowohl die Tschechi-
sche Republik als auch die Slowakische Republik
vorbehaltlos erklären, dass sie das Fürstentum
Liechtenstein als einen bereits seit langem aner-
kannten und souveränen Staat respektieren. Umge-
kehrt ist das Fürstentum Liechtenstein seinerseits
bereit, die neu entstandenen Staaten, die Tschechi-
sche Republik und die Slowakische Republik, völ-
kerrechtlich erstmals anzuerkennen, wobei die Ein-
46) Ebenda, S. 43-46.
47) Inoffizielle Übersetzung: «Die Tschechische Republik erklär t hier-
mit ausdrücklich, das Fürs ten tum Liechtenstein ohne Vorbehalt als
seit 1806 souveränen und anerkannten Staat zu respektieren. Das
Fürs tentum Liechtenstein bringt in gleicher Weise die Anerkennung
der Tschechischen Republik als souveränen Staat seit dem 1. Januar
1993 zum Ausdruck.»
48) Übersetzung gemäss deutschem Text in der Schlussaktc: «Die
Tschechische Republik hat zur Kenntnis genommen, dass die Er-
klärung des Fürs ten tums Liechtenstein aus Anlass des Abschlusses
des Übere inkommens zwischen den Bewerber ländern und den Mit-
gliedern des Europäischen Wirtschaftraums eine ausdrückliche An-
erkennung der Tschechischen Republik enthält . Die Tschechische
Republik nimmt an, dass dieser Schritt auch das Interesse des Fürs-
tentums Liechtenstein an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen
bekundet, und begrüsst ihn als Staat, der diplomatische Beziehungen
zu mehr als 180 Staaten der Welt unterhäl t , Mitglied der Vereinten
Nationen, der OSZE, des Europarats und der NATO ist und die
Ratifikation des EU-Beitritts erwartet. Die Tschechische Republik
erklärt, dass auch sie das Fürs ten tum Liechtenstein als souveränen
Staat anerkennt .»
141
zelheiten der Aufnahme diplomatischer Beziehun-
gen bilateralen Gesprächen vorbehalten bleiben
können.
Was die weiteren in dem Aide-memoire vom
4. April 2003 angesprochenen offenen Vermögens-
fragen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein ei-
nerseits und der Tschechischen Republik und der
Slowakischen Republik andererseits anbelangt, so
ist das Fürstentum Liechtenstein - wie dies auch in
verschiedenen Gesprächen zum Ausdruck gebracht
wurde - bereit, diese einer künftigen Klärung auf bi-
lateraler Ebene zuzuführen, sofern nur von der
tschechischen und slowakischen Seite die Bereit-
schaft bekundet wird, in entsprechende Verhand-
lungen mit dem Ziel einer ernsthaften Lösung ein-
zutreten.»
DIE (DEFINITIVEN) ERKLÄRUNGEN IN DER
SCHLUSSAKTE ZUM EWR-ERWEITERUNGSAB-
K O M M E N VOM 14. OKTOBER 2003
In einer Note vom 9. Oktober 2003 teilte die liech-
tensteinische Regierung allen Vertragsparteien des
Erweiterungsabkommens mit, 4 9 sie gehe davon aus,
dass alle Vertragsparteien Liechtenstein als lange
bestehenden souveränen und anerkannten Staat,
der im ganzen Ersten und Zweiten Weltkrieg neutral
war, anerkennen. Wenn diese Erklärung für alle
Vertragsparteien unbestritten und annehmbar sei,
sei Liechtenstein in der Lage, das EWR-Erweite-
rungsabkommen zu unterzeichnen.
Alle Vertragsparteien mit Ausnahme der Tsche-
chischen und der Slowakischen Republik erhoben
keine Einwände. Die beiden Staaten brachten durch
ihre erneuten Erklärungen kurz vor der Unter-
zeichnung des Erweiterungsabkommens Vorbehal-
te an.
Die Erklärung der Tschechischen Republik in der
Schlussakte lautet:50
«Die Tschechische Republik begrüsst den Abschluss
des Übereinkommens zwischen den Bewerberlän-
dern und den Mitgliedern des Europäischen Wirt-
schaftsraums als wichtigen Schritt zur Überwin-
dung der früheren Teilung Europas und zu seiner
weiteren politischen und wirtschaftlichen Entwick-
lung. Die Tschechische Republik ist bereit, im Euro-
päischen Wirtschaftsraum mit allen Mitgliedstaa-
ten zusammenzuarbeiten, einschliesslich des Fürs-
tentums Liechtenstein.
Gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein hat
die Tschechische Republik seit ihrer Gründung ein
deutliches Interesse an der Aufnahme diplomati-
scher Beziehungen gezeigt. Bereits 1992 übersand-
te sie den Regierungen aller Staaten, einschliess-
lich des Fürstentums Liechtensteins, Ersuchen um
Anerkennung als neues Völkerrechtssubjekt mit
Wirkung vom 1. Januar 1993. Während praktisch alle
Regierungen positiv reagierten, ist das Fürstentum
Liechtenstein bisher eine Ausnahme.
Die Tschechische Republik misst Erklärungen, die
nicht im Zusammenhang mit dem Gegenstand und
dem Zweck dieses Übereinkommens stehen, keine
rechtlichen Wirkungen bei.»
Die Erklärung der Slowakischen Republik hat fol-
genden Wortlaut:5 1
«Die Slowakische Republik begrüsst den Abschluss
des Übereinkommens zwischen den Bewerberlän-
dern und den Mitgliedern des Europäischen Wirt-
schaftsraums als wichtigen Schritt zur weiteren
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in Eu-
ropa.
Seit ihrer Gründung erkennt die Slowakische Re-
publik das Fürstentum Liechtenstein als souverä-
nen und unabhängigen Staat an und ist bereit, di-
plomatische Beziehungen zum Fürstentum aufzu-
nehmen.
Die Slowakische Republik misst Erklärungen, die
nicht im Zusammenhang mit dem Gegenstand und
dem Zweck dieses Übereinkommens stehen, keine
rechtlichen Wirkungen bei.»
Die Regierung sah sich aufgrund dieser Ausgangsla-
ge nicht in der Lage, die Unterzeichnung des Ab-
kommens am 13. bzw. 14. Oktober 2003 vorzuneh-
men. Darüber informierte sie alle künftigen Ver-
tragsparteien am 13. Oktober 2003. Island und
Norwegen schlössen sich am 14. Oktober dieser
142
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Haltung solidarisch an und beide Staaten bemühten
sich anschliessend, in Absprache mit Liechtenstein,
über Verhandlungen einen Kompromiss zu errei-
chen. 5 2
Schliesslich beschloss die Regierung in Abspra-
che mit Island und Norwegen, im Interesse des Wei-
terbestands des EWR und seiner Erweiterung - bei-
des wurde von der Regierung nie in Frage gestellt -
das Abkommen am 11. November 2003 in Vaduz
zusammen mit Island und Norwegen zu unterzeich-
nen. Italien als Vorsitzland der EU unterzeichnete
zusammen mit der Kommission am gleichen Tag in
Brüssel.
Der Entscheid der Regierung, die Unterzeichnung
vorerst zu verweigern und dann doch am 11. No-
vember 2003 durchzuführen, beruhte unter ande-
rem auf folgenden Beweggründen:
- Die Regierung hatte am 19. August 2003 das am
3. Juli 2003 paraphierte Abkommen zur Kenntnis
genommen und die Unterzeichnung des Abkom-
mens beschlossen. Die Regierung tat dies im Be-
wusstsein der offenen Fragen in den Beziehungen
zwischen Liechtenstein und der Tschechischen Re-
publik sowie der Slowakischen Republik, wie sie in
den Einseitigen Erklärungen der drei Staaten zu den
am 3. Juli 2003 paraphierten Texten zum Ausdruck
kamen.
- Allen künftigen Vertragsparteien des EWR-Er-
weiterungsabkommens wurde das Aide-memoire
vom 4. April 2003 verteilt, das die Position Liechten-
steins bezüglich der Beziehungen zu den beiden
Nachfolgestaaten der ehemaligen Tschechoslowa-
kei ausführlich darstellte. Diese Darstellung war so-
mit allen Unterzeichnerstaaten des Abkommens
zum Zeitpunkt der Paraphierung und Unterzeich-
nung des EWR-Erweiterungsabkommens bekannt.
Bereits mehrmals vor den Erweiterungsverhand-
lungen war von Liechtenstein auf die Problematik
hingewiesen worden. So gab der liechtensteinische
Aussenminister auf politischer Ebene im Rahmen
des EWR-Rates vom 22. Oktober 2002 sowie 15. April
2003 entsprechende Erklärungen ab.
- Die im zeitlichen Umfeld der Paraphierung des
Abkommens noch optimistischen Perspektiven, auf-
grund derer zwischen dem hechtensteinischen und
dem tschechischen Botschafter Gespräche im Hin-
blick auf eine Lösung geführt wurden, wurden von
tschechischer Seite abrupt zerstört. Dies war für die
Regierung der Anlass, in einem weiteren Aide-me-
moire vom 23. September 2003 alle Vertragspartei-
en auf die für Liechtenstein gegebene Ausgangslage
hinzuweisen. Die Regierung brachte dabei deutlich
zum Ausdruck, dass die Funktionsfähigkeit des
EWR voraussetzt, dass alle Staaten sich nicht nur
wechselseitig als souverän anerkennen, sondern
auch bereit sind, diese Anerkennung entsprechend
umzusetzen. Die Regierung musste daher darauf
bestehen, dass vor der Unterzeichnung der Schluss-
akte sowohl die Tschechische Republik als auch die
Slowakische Republik vorbehaltlos erklären, dass
sie Liechtenstein als einen bereits seit langem aner-
kannten und souveränen Staat respektieren. Umge-
kehrt erklärte sich die liechtensteinische Regierung
bereit, die aus der ehemaligen Tschechoslowakei
neu entstandenen beiden Staaten völkerrechtlich
erstmals anzuerkennen. Die Einzelheiten der Auf-
nahme diplomatischer Beziehungen wurden
gemäss Vorschlag Liechtensteins bilateralen Ge-
sprächen vorbehalten. Die Regierung hatte zudem
vorgeschlagen, die offenen Vermögensfragen einer
künftigen Klärung zuzuführen, sofern die beiden
Staaten nur bereit wären, in entsprechende Ver-
handlungen mit dem Ziel einer ernsthaften Lösung
einzutreten.
- Die anschliessend mit der Tschechischen Repu-
blik geführten Gespräche brachten kein für Liech-
tenstein befriedigendes Ergebnis. Die liechtenstei-
nische Regierung bemühte sich aber weiterhin um
eine Lösung im beiderseitigen Einvernehmen und
war dabei zu wesentlichen Kompromissen bereit.
- Kurzfristig, am Wochenende vor dem Unter-
zeichnungsdatum vom 14. Oktober 2003, teilte die
49) Bericht und Antrag der Regierung Nr. 2/2004, S. 46.
50) Ebenda.
51) Ebenda, S. 47.
52) Ebenda, S. 47 ff.
143
Regierung Tschechiens mit, dass sie sich allen Vor-
schlägen Liechtensteins verweigere. Dies führte in
konsequenter Haltung der liechtensteinischen Re-
gierung dazu, dass Liechtenstein das Abkommen
am 14. Oktober 2003 nicht unterzeichnete. Die
EFTA-/EWR- Partner Norwegen und Island erklär-
ten sich solidarisch mit Liechtenstein und unter-
zeichneten das Abkommen ebenfalls nicht. Eben-
falls unterzeichnete Italien nicht, dies aber aus der
Überlegung heraus, dass Italien als Vorsitzland der
EU als letzter Staat unterzeichnen würde.
- Die Regierung bedauerte, dass die vielfältigen
Bemühungen Liechtensteins, in Zusammenarbeit mit
seinen EFTA-/EWR-Partnern und dem zuständigen
EU-Kommissar, welchen sie für ihren solidarischen
Einsatz einen besonderen Dank ausspricht, eine
Lösung zu erzielen, insbesondere seitens der Tsche-
chischen Republik nicht anerkannt wurden. Die
Regierung sah sich nun angesichts der politischen
Bedeutung des EWR und dessen Erweiterung im
allgemeinen Interesse und im besonderen Interes-
se für Liechtenstein veranlasst, die Unterzeichnung
wie vorgesehen am 11. November 2003 vorzuneh-
men. Von diesem Vorgehen unberührt bleiben soll-
ten die von Liechtenstein gestellten und weiterhin
aufrecht erhaltenen Forderungen nach einer durch-
gehenden Anerkennung Liechtensteins durch alle
Vertragsparteien des EWR-Erweiterungsabkom-
mens.
Bei der Unterzeichnung des Abkommens am 11. No-
vember 2003 gab der liechtensteinische Aussenmi-
nister folgende Erklärung ab: 5 3
«Mit Bedauern muss das Fürstentum Liechtenstein
den Umstand zur Kenntnis nehmen, dass die Tsche-
chische Republik und die Slowakische Republik die
innerhalb der Gemeinschaft der Staaten einschliess-
lich der Europäischen Union unbestrittene Tatsache
nicht akzeptieren, dass das Fürstentum Liechten-
stein ein seit langem bestehender souveräner und
anerkannter Staat ist, der während des ganzen Er-
sten und Zweiten Weltkriegs neutral war.
Indem sie diese Position einnehmen, verfolgen
die Tschechische Republik und die Slowakische Re-
publik ohne Unterbruch gegenüber Liechtenstein
die Politik der Nicht-Anerkennung ihres Vorgänger-
staats, der Tschechoslowakei. Während die Tsche-
choslowakei das Fürstentum Liechtenstein im Jahr
1938 als souveränen Staat anerkannt hatte, wurde
diese Anerkennung im Jahr 1945 nicht aufrecht er-
halten. Diese Nicht-Anerkennung kam zur Haupt-
sache zum Ausdruck, als im Jahr 1945 das Eigen-
tum liechtensteinischer Staatsangehöriger ohne Ent-
schädigung enteignet wurde aufgrund der Behaup-
tung, dass es dem Deutschen Volk gehöre, und diese
Enteignung stellte eine Verletzung des Völkerrechts
dar, wie es zu jenem Zeitpunkt bereits in Kraft
stand.
Das Fürstentum Liechtenstein sieht sich veran-
lasst festzustellen, dass die bei zwei künftigen EWR-
Mitgliedstaaten fehlende Respektierung der Sou-
veränität und der ihr innewohnenden Rechte eines
der EWR-Staaten weder mit dem Geist und den
Prinzipien des Europäischen Wirtschaftsraums noch
mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts
vereinbar ist. Dennoch hat das Fürstentum Liech-
tenstein, im Interesse einer fortgesetzten multilate-
ralen Zusammenarbeit im Rahmen des Europäi-
schen Wirtschaftsraums, beschlossen, das Abkom-
men zu unterzeichnen. Ungeachtet dessen behält
sich das Fürstentum Liechtenstein das Recht vor,
die möglichen politischen, rechtlichen und wirt-
schaftlichen Schlussfolgerungen, die das Fürsten-
tum Liechtenstein im Hinblick auf die Position der
Tschechischen Republik und der Slowakischen Re-
publik zu ziehen hat, zu prüfen.»
Im Weiteren äusserte der liechtensteinische Aus-
senminister die Hoffnung, dass in Zukunft eine Lö-
sung zu dieser offenen Frage und zu anderen bilate-
ralen Problemen zwischen dem Fürstentum Liech-
tenstein und der Tschechischen Republik und der
Slowakischen Republik gefunden und so eine frucht-
bare und gewinnbringende Zusammenarbeit unter
allen Mitgliedern des EWR ermöglicht werde. Die
Regierung wird diese Angelegenheit weiterhin mit
grösster Aufmerksamkeit verfolgen und behält sich
weitere Schritte - darunter auch die Abgabe einer
Erklärung bis zur Ratifikation - vor, um die Rechts-
position Liechtensteins zu wahren.
144
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Anlässlich der Debatte im Landtag zur Genehmi-
gung des EWR-Erweiterungsabkommens ging der
liechtensteinische Aussenminister nochmals aus-
führlich auf die Beweggründe für die Vorgangswei-
se der Regierung ein. 5 4 Sie decken sich im Wesent-
lichen mit den Ausführungen im Bericht und An-
trag der Regierung Nr. 2/2004 und enthalten auch
noch weitere Begründungen für das Verhalten der
liechtensteinischen Regierung. Zusammenfassend
hielt der Aussenminister fest, dass die Regierung
dem ihr dauernd übertragenen Auftrag nachge-
kommen sei, die Interessen des Staates Liechten-
stein wahrzunehmen und zu vertreten, die in die-
sem Zusammenhang vornehmlich und wesentlich
auf die Frage der durchgehenden Anerkennung der
Souveränität Liechtensteins durch die Tschechi-
sche und die Slowakische Republik ausgerichtet
waren. Die zahlreichen Reaktionen aus dem Kreis
der Vertragsparteien, die das Vorgehen Liechten-
steins als richtig einschätzten, hätten die Position
der Regierung bestätigt. Die offenen Fragen Liech-
tensteins im Verhältnis zu den beiden Staaten seien
damit einerseits in den einzelnen Aussenministeri-
en ins Bewusstsein gerückt worden, andererseits
habe auch auf die Solidarität vor allem der beiden
EFTA-Partner im EWR, nämlich Norwegen und Is-
land, gezählt werden können, die Liechtenstein in
seinen Bemühungen tatkräftig und mit persönli-
chem Einsatz der Aussenminister unterstützt hät-
ten. Für Liechtenstein sei die offene Frage gegen-
über Tschechien und der Slowakei keine lediglich
bilaterale mehr, keine, die nur noch Liechtenstein
gegenüber den beiden Staaten stelle, sondern die
EWR-/EFTA-Staaten hätten sich solidarisch er-
klärt. Die EU-Kommission habe im Sinne Liechten-
steins versucht, mit den beiden Mitgliedern zu ver-
handeln. Dies habe nicht nur Rückwirkungen, son-
dern insbesondere Zukunftswirkung. Damit sei
auch die Position Liechtensteins gegenüber Tsche-
chien und der Slowakei insofern gestärkt, als die
beiden Staaten erkennen müssten, dass die offenen
Fragen nicht nur ein bilaterales Thema seien, dass
europäisch ein Verständnis vorhanden und von be-
stimmten Staaten konkret auch eine Unterstützung
gegeben sei.
Abgesehen von dieser direkten Frage habe dies
auch die Haltung Liechtensteins, die zwar für die
EWR-Erweiterung kompromissbereit, in Bezug auf
die Souveränität Liechtensteins im liechtensteini-
schen Verständnis aber klar gewesen sei, auch ihre
Auswirkungen auf andere Vertragsverhältnisse und
Verhandlungen. Liechtenstein sei als konsequent
verhandelnder Verhandlungspartner angesehen wor-
den. 5 5
RATIFIKATION DES EWR-ERWEITERUNGS-
A B K O M M E N S
Anlässlich der Ratifikation dieses Erweiterungsab-
kommens gab Liechtenstein eine weitere Erklärung
ab, die nicht nur das Verständnis beinhaltete, dass
sich die Vertragsparteien verpflichten, «sich um die
Beilegung zwischen ihnen bestehender, bislang un-
gelöster Streitigkeiten auf friedlichem Wege auf der
Grundlage des Völkerrechts» zu bemühen, sondern
auch, dass «mit der Ratifikation dieses Übereinkom-
mens das Bestehen des Fürstentums Liechtensteins
als seit langem bestehender souveräner Staat auch
für die in Artikel 1 dieses Übereinkommens genann-
ten <neuen Vertragsparteien) ausser Zweifel steht.»
V O R G E H E N LIECHTENSTEINS IM
Z U S A M M E N H A N G MIT D E M A R K O M M E N
ZUR Z I N S R E S T E U E R U N G
Die Regierung bestätigte die in ihrer Sicht konse-
quente Haltung im Zusammenhang mit der Unter-
zeichnung und Ratifikation des mit der EU abge-
schlossenen Abkommens zur Zinsertragsbesteue-
53) Ebenda, S. 51-52.
54) Protokoll über die Landtagssitzung vom 10. März 2004.
S. 78-105.
55) Siehe hierzu die Verhandlungen bzw. Erklärungen zum Abkom-
men Liechtensteins mit der E U zur Zinsertragsbesteuerung.
145
Zukunftsperspektiven
rung.j6 Das Abkommen wurde am 7. Dezember
2004 unterzeichnet. Anlässlich der Unterzeichnung
wurde von liechtensteinischer Seite angesichts der
offenen Fragen in den Beziehungen zu Tschechien
und zur Slowakei eine Erklärung zur Anerkennung
seiner seit langem bestehenden Souveränität und
zur friedlichen Streitbeilegung von Konflikten mit
folgendem Wortlaut abgegeben:
«Das Fürstentuni Liechtenstein legt diesem Abkonz-
~izen, das dem gemeinsamen Interesse der weiteren
Entwicklung der priuilegierten Beziehzlng zwischen
der Gelizeinschaft und dem Fürstentzlm Liechten-
stein dienen soll, das gemeinsame Verständnis zu-
grunde, dass Ziel und Zweck dieses Abkommens,
wie sie sich insbesondere in der Präambel und in Ar-
tikel 1 manifestieren, tun2 Ausdruck bringen, dass
die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten das Für-
stentum Liechtenstein als einen seit langem beste-
henden souueränen Staat respektieren, mit dem
alle bestehenden zuie auch eventuell künftigen Kon-
flikte nzit den Mitteln der friedlichen Streitbeile-
gung auf der Grzlndlage des Völkerrechts gelöst
werden.
Dieses gemeinsanze Verständnis bildet für das
Fiirstentum Liechtenstein die Grundlage für die
uertrauensuolle Zusammenarbeit, wie sie die
Durchführung des Abkommens generell und insbe-
sondere uon Artikel 10 erfordert.»
Diese Erklärung war wieder in der Ratifikationsur-
- -
kunde Liechtensteins enthalten."' Auch diese Er-
klärung blieb von der Slowakei und Tschechien un-
widersprochen. Wenn auch die Souveränität Liech-
tensteins 1945 nicht ausdrücklich genannt wird, so
umfasst der Ausdruck «seit langem bestehender
souveräner Staat)) auch diesen Zeitpunkt zumindest
implizit.
Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass
Liechtenstein auch in Zukunft in ihr geeignet er-
scheinender Weise auf internationaler Ebene die of-
fenen bilateralen Fragen in den Beziehungen zur
Tschechischen Republik und Slowakischen Repu-
blik vorbringen wird.
Inwieweit allenfalls Verhandlungen des Fürsten-
tums Liechtenstein mit den beiden Staaten zu Fort-
schritten im bilateralen Verhältnis führen könnten,
muss offen bleiben.
56) Bericht und .A~itrag der Regierung Nr. 3/2005. S. 18: LGRI. 2005
Nr. 111.
5 i ) Nicht publiziert
Nach liechtensteinischer Auffassung behan-
delt Deutschland liechtensteinisches Vermögen
auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowa-
kei als deutsches Auslandsvermögen, das zur
Begleichung deutscher Reparationsschulden he-
rangezogen werden kann. Hintergrund des Falls
waren die Entscheidungen deutscher Gerichte,
insbesondere der Entscheid des deutschen Ver-
fassungsgerichts vom Januar 1998, welche die
geforderte Rückgabe eines Gemäldes des nie-
derländischen Malers Pieter van Laer aus dem
in Folge der Benes-Dekrete 1945 in der Tsche-
choslowakei entschädigungslos enteigneten Be-
sitz des damaligen Fürsten von Liechtenstein
ablehnten; dies mit der Begründung, dass der
sogenannte Überleitungsvertrag von 1954 einen
Klagestopp in dieser Frage vorsehe, der immer
noch gelte.59
In Bezug auf die Zuständigkeit des Gerichts
und die Zulässigkeit der Klage brachte Deutsch-
land sechs Einwendungen (Preliminary Objec-
tions) vor:
1. Es bestehe kein Streit zwischen Liechtenstein
und Deutschland («no dispute»);
2. Die Gerichtsbarkeit des IGH sei aus zeitlichen
Gründen nicht gegeben («ratione temporis»);
3. Es bestehe in der Sache nur ein inländischer
(deutscher) und kein internationaler (IGH-)
Gerichtsstand;
4. Die Rechtsmittel in der Tschechoslowakei
bzw. den Nachfolgestaaten seien nicht ausge-
schöpft worden («local remedies»);
5. Es seien dritte Staaten, d.h. Tschechoslowa-
kei bzw. ihre Nachfolgestaaten, betroffen
(«third party rule»);
6. Die Ansprüche Liechtensteins seien nicht
bzw. zu wenig substantiiert («lack of substan-
tiation»)
Liechtenstein hat diese Einwendungen zurück-
gewiesen (Observations). Vom 14. bis 18. Juni
2004 fand die mündliche Verhandlung des Fal-
les in Den Haag statt. Dabei spielten die Argu-
mente «ratione temporis» und «third party
rule» eine wichtige Rolle.
Der IGH hat in seinem Urteil vom 10. Febru-
ar 2005 festgestellt, dass ein Streit zwischen
Liechtenstein und Deutschland besteht. Damit
hat das Gericht den ersten Einwand (prelimina-
ry objection) Deutschlands betreffend die Zuläs-
sigkeit der Klage zurückgewiesen. Dem zweiten
Einwand - «ratione temporis» - hat der Gerichts-
hof stattgegeben und sich somit für nicht zu-
ständig erklärt, die liechtensteinische Klage ge-
gen Deutschland in der Sache («on the merits»)
zu beurteilen. Die übrigen vier Einwände Deutsch-
lands betreffend die Zulässigkeit der Klage
(«third party rule», «domestic Jurisdiction»,
«lack of substantiation», «local remedies») hat
der Gerichtshof in der Folge nicht beurteilt. Der
IGH hat damit keine meritorische Entscheidung
über den Streitfall getroffen, ausser darüber,
dass er besteht. Der Gerichtshof hat nicht ein-
stimmig entschieden, einige Richter haben sich
der Mehrheitsmeinung nicht angeschlossen und
teilweise interessante so genannte «Dissenting
Opinions» abgegeben. Damit ist das Verfahren
vor dem IGH abgeschlossen.
59) Die Klage war vom liechtensteinischen Staatsoberhaupt.
S.D. Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein, als Pri-
vatperson geführ t worden. Eine Klage des Fürs ten vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg
wurde im Juni 2001 abgewiesen.
148
LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW.
DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER
Q U E L L E N
Rechenschaftsberichte der
Regierung des Fürsten-
tums Liechtenstein an den
Hohen Landtag ab 1991
Die Aussenpolitik des
Fürstentums Liechten-
stein. Standort und Zielset-
zungen, Schriftenreihe der
Regierung Nr. 1/1988
Zielsetzungen und Priori-
täten der liechtensteini-
schen Aussenpolitik. Be-
standesaufnahme, Per-
spektiven, Schwerpunkte,
Schriftenreihe der Regie-
rung Nr. 1/1997
Bericht und Antrag der Re-
gierung an den Landtag des
Fürstentums Liechtenstein
betreffend das Überein-
kommen über die Beteili-
gung der Tschechischen Re-
publik, der Republik Est-
land, der Republik Zypern,
der Republik Lettland, der
Republik Litauen, der Re-
publik Ungarn, der Repu-
blik Malta, der Republik
Polen, der Republik Slowe-
nien und der Slowakischen
Republik am Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR-
Erweiterungsabkommen)
vom 14. Oktober 2003,
Nr. 2/2004
Bericht und Antrag betref-
fend das Abkommen vom
7. Dezember 2004 zwi-
schen dem Fürstentum
Liechtenstein und der Eu-
ropäischen Gemeinschaft
über Regelungen, die den
in der Richtlinie 2003/48/
EG des Rates vom 3. Juni
2003 im Bereich der Be-
steuerung von Zinserträ-
gen festgelegten Regelun-
gen gleichwertig sind
(Zinsbesteuerungsabkom-
men), sowie die Schaffung
des Gesetzes zum Zinsbe-
steuerungsabkommen mit
der Europäischen Gemein-
schaft vom 7. Dezember
2004 (Zinsbesteuerungs-
gesetz), Nr. 3/2005
Protokoll über die öffentli-
che Landtagssitzung vom
10. März 2004, Seiten
78-105
Beattie, David: Liechten-
stein. Geschichte und Ge-
genwart, Triesen, 2005
Raton, Pierre: Liechten-
stein. Staat und Geschich-
te, Vaduz, 1969
Press, Volker/Willoweit,
Diemar (Hrsg.): Liechten-
stein - Fürstliches Haus
und staatliche Ordnung:
Geschichtl. Grundlagen u.
moderne Perspektiven,
Vaduz, 1987
Bruha, Thomas/Pällinger,
Zoltän Tibor/Quaderer,
Rupert (Hrsg.): Liechten-
stein - 10 Jahre im EWR.
Bilanz, Herausforderun-
gen, Perspektiven, Liech-
tenstein Politische Schrif-
ten, Band 40, Verlag der
Liechtensteinischen Aka-
demischen Gesellschaft,
Vaduz 2005
Geiger, Peter/Brunhart,
Arthur/Bankier, David/
Michman, Dan/Moos,
Carlo/Weinzierl, Erika:
Fragen zu Liechtenstein in
der NS-Zeit und im Zwei-
ten Weltkrieg: Flüchtlinge,
Vermögenswerte, Kunst,
Rüstungsproduktion.
Schlussbericht der Unab-
hängigen Historikerkom-
mission Liechtenstein
Zweiter Weltkrieg, Vaduz,
Zürich, 2005
BENUTZTE ARCHIV-
BESTÄNDE
Akten des Amtes für Aus-
wärtige Angelegenheiten,
Vaduz
149
DANK
Der Autor dankt dem liech-
tensteinischen Botschafter
in Brüssel, S.D. Prinz Niko-
laus von und zu Liechten-
stein, für die sachkundige
Unterstützung.
ANSCHRIFT DES
A U T O R S
Botschafter Roland Marxer
Leiter des Amtes für Aus-
wärtige Angelegenheiten
Heiligkreuz 14
FL-9490 Vaduz
150
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
151
DIE EUROPÄISCHE
INTEGRATION ALS
TESTFALL LIECHTEN-
STEINISCHER
SOUVERÄNITÄT
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
Inhalt
155 Einleitung
156 Die EU als Rechtsgemeinschaft
156 Liechtensteinische Integrationsgeschichte
160 Bewertung des EWR-Abkommens aus
souveränitätspolitischer Sicht
163 Ausblick
154
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
EINLEITUNG
Geschichtlich hat sich der Souveränitätsbegriff von
der Gestalt des Souveräns, des Herrschers abgelei-
tet:1 Keine irdische Gewalt gab es über ihn. Souverä-
nität wurde und wird somit mit höchster weltlicher
Autorität gleichgesetzt. Im 18. und 19. Jahrhundert
wurde der Souveränitätsbegriff primär mit dem Na-
tionalstaat als solchen verbunden und zunehmend
funktional verstanden: Souverän war ein Staat
dann, wenn er die Attribute eines Staates hatte - ein
Volk, fest umrissene Grenzen und die effektive Kon-
trolle mit dem Gewaltmonopol - und von den ande-
ren Staaten als solcher anerkannt wurde. 2 Aus
rechtlicher Sicht kann Souveränität mit der alleini-
gen Befugnis letztendlich Recht zu setzen gleich ge-
setzt werden. Nach innen ist dann jede Rechtsset-
zung und seine Anwendung von diesem einen Staat
abgeleitet und nach aussen steht es ihm frei, Bin-
dungen einzugehen oder zu lösen.
Liechtenstein hat von einer starken Ausformung
des Souveränitätsbegriffes in der Zeit der National-
staaten profitiert: War man einmal als Staat unter
Staaten anerkannt, kam man in den Genuss der
grundsätzlich gleichen Achtung, unabhängig von
der Grösse. 3
Dieses «entweder oder» nationaler Souveränität
wird in den letzten Jahrzehnten immer mehr durch
zunehmende zwischenstaatliche Interdependenz
und die Beachtung effektiver Machtstrukturen auf
internationaler Ebene hinterfragt. Auch grosse Staa-
ten können einerseits viele ihrer Aufgaben nicht
ohne internationale Zusammenarbeit wahrnehmen
und anderseits sind sie, je mehr sie solche Abhängig-
keiten eingehen, desto weniger bereit, die Gleichbe-
rechtigung zwischen ungleich machtgewichtigen
Partnerstaaten anzuerkennen.4
Ebenso führt das Entstehen von transnationaler
Wirtschaftsmacht - multinationale Konzerne, inter-
nationale Investitionsinstrumente usw. welche
von einzelnen Staaten nur beschränkt kontrollier-
bar ist, zu einer Relativierung des klassischen Be-
griffs nationaler Souveränität und fördert zwischen-
staatliche Zusammenschlüsse. 5
In Europa haben diese Herausforderungen auf-
grund gesellschaftlicher und technischer Verände-
rungen teilweise eine Antwort in den Einigungsbe-
strebungen gefunden: Auch wenn das ursprüngli-
che Ziel der E U 6 der Erhalt des Friedens zwischen
seinen Mitgliedsstaaten ist,7 hat sie ihre Integrati-
onsdynamik doch erheblich dem Wunsch ihrer Mit-
gliedsstaaten zu einer besseren Wahrnehmung von
deren Aufgaben durch «Poolen der Souveränität»
zu verdanken.
Auch Liechtenstein muss sich dieser Herausfor-
derung stellen. Um seine Eigenständigkeit und die
heute unabdingbare internationale Aktionsfähigkeit
1) Geoffroy Thomas: Introduction to Political Philosophy. Duckworth.
2000. S. 83 ff.
2) Verdross Al f red /S imma Bruno: Universelles Völkerrecht. Theorie
und Praxis, 1984. Berlin S. 224.
3) Symbolisch stark zum Ausdruck kam diese Gleichheit in der Sou-
veränität , als 1975 anlässlich des Treffens der Staats- und Regie-
rungschefs im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusam-
menarbeit in Europa (KSZE) der liechtensteinische Regierungschef
tu rnusgemäss den Vorsitz führ te .
4) Bereits das in der UNO-Charta festgelegte Vetorecht der Gross-
mächte im Bereich der Sicherheit weist auf diese Problematik hin. In
der EU wurde die s tä rkere Beachtung der Grössenvcrhäl tnisse der
Staaten gegenüber ihrer Gleichberechtigung vor allem anlässlich der
Verhandlungen zum Vertrag von Nizza öffentlich sowie bei der Erar-
beitung des EU-Verfassungsvertrages thematisiert (siehe dazu auch
Norman, Peter: The Accidental Constitution, EuroComment, 2003.
S. 136 ff.).
5) Als Beispiel sei auf das Ausmass transnationaler Fusionen verwie-
sen. So ging es zum Beispiel beim Übernahmeangebo t der indischen
Stahlunternehmer Mittal für den europäischen Stahlkonkurrenten
Arcelor um einen angenommenen Übernahmepre i s von 18.6 Milliar-
den Euro (siehe Neue Züricher Zeitung vom 28. Januar 2006). Sol-
che Summen entsprechen in etwa dem halben Jahresbudget eines
europäischen Staates in der Grösse Belgiens. Zur allgemeinen Pro-
blematik der Souveräni tä t im Zeitalter der Globalisierung sei auch
auf den Beitrag von Kirt, Romain: Der Kleinstaat im Zeitalter der
Globalisierung in Liechtenstein. Politische Schriften, Band 39. ver-
wiesen.
6) Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel nur der Begriff
der Europäischen Union (EU) verwendet und nicht, je nach histori-
schem Kontext oder funktionalen Unterschieden die Begriffe Euro-
päische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäische Gemeinschaf-
ten oder Europäische Gemeinschaft (EG) verwendet.
7) Siehe dazu zum Beispiel Monnet, Jean: «L'Europe et l'organisati-
on de la paix». Publication du Centre de Recherche Europeen. Lau-
sanne, 1964.
155
zu bewahren, genügt es nicht mehr, sich auf einen
abstrakten Souveränitätsbegriff zu berufen. Es be-
darf einerseits der eigenständigen Leistungen auf
den Gebieten der Politik, der Kultur, der Wirtschaft
und anderseits der aktiven Teilnahme am interna-
tionalen Geschehen, wobei der europäischen Di-
mension eine besondere Rolle zukommt.
Im Folgenden soll daher das bisherige Vorgehen
Liechtensteins in diesem Integrationsgeschehen be-
leuchtet und einige Schlussfolgerungen daraus ge-
zogen werden.
DIE E U ALS R E C H T S G E M E I N S C H A F T
Einigungswerke oder Einigungsbestrebungen hat
die europäische Geschichte mehrere gekannt, vom
Römischen Reich über das Heilige Römische Reich,
zu Napoleon, bis zu den unglückseligen Unter-
drückungsaktionen der Nationalsozialisten und der
Kommunisten. Zumeist verstanden sich solche Rei-
che nicht oder noch nicht als europäische, sondern
waren imperiale Ausdehnungen nationaler Mächte.
Oder sie erzeugten nur wenig integrative Wirkung,
wie zum Beispiel das Heilige Römische Reich.
Die EU ist somit der erste friedliche Zusammen-
schluss mit hoher integrativer Wirkung und grosser
geografischer Ausdehnung in Europa. Erstmals ha-
ben eine Vielzahl von Staaten, den Kontinent über-
spannend, freiwillig einen beträchtlichen Teil ihrer
Souveränitätsrechte zur gemeinsamen Verwaltung
an gemeinsame Institutionen abgegeben. Das Mittel
dazu ist die kontinuierliche Rechtssetzung, wobei
dieses Recht nicht, wie Völkerrecht, nur die Staaten
bindet, sondern direkt Rechte und Pflichten für die
Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaftstrei-
benden schafft. Auch geht es nationalem Recht vor.8
Die Schaffungen dieses europäischen Rechtsbestan-
des kann als kulturelle Leistung bezeichnet werden
und hat deshalb in den 50 Jahren des Bestehens der
EU auch seine Wetterfestigkeit in politisch schwieri-
gen Zeiten bewiesen.
Der supranationale Weg der EU zur Rechtsge-
meinschaft hat sich in mehrfacher Hinsicht als Er-
folg herausgestellt: Es gelang, gemeinsame Politiken
wie die Zollunion und den gemeinsamen Aussen-
handel, den Binnenmarkt, die gemeinsame Wäh-
rung umzusetzen. Dies hat zu wirtschaftlichen Ver-
besserungen, zur Öffnung der Grenzen und schluss-
endlich zu einer europäischen Friedensordnung
beigetragen.
Gewonnen haben auch die Mitgliedsstaaten, ins-
besondere die Kleinen, dadurch, dass sich durch ge-
meinsames Auftreten ihr Gewicht auf internationa-
ler Bühne verstärkte. Sie müssen zwar weitgehende
Gesetzeskompetenzen an die EU abgeben, haben
aber Mitentscheidungsrechte und praktische Vortei-
le, wie bessere Absatzmärkte, verbilligte Wahrneh-
mung von Staatsausgaben usw.
Diese Erfolge der Integration haben die EU-Mit-
gliedschaft weithin attraktiv gemacht und zu ihrer
ständigen Ausweitung geführt. Aber auch Staaten,
die nicht der EU beitreten wollen, wie die heutigen
EFTA-Staaten, unter ihnen Liechtenstein, wollen an
gewissen EU-Politiken teilnehmen und sich assozi-
ieren. Sie nehmen es in Kauf, dass sie das EU-
Rechtssystem, selbst ohne Mitentscheidung, teil-
weise übernehmen müssen, um Vorteile aus der In-
tegration zu gewinnen. Souveränitätspolitisch sind
sie damit auf einem schmalen Pfad, der sich aber,
zumindest im Fall Liechtensteins, als gewinnbrin-
gend erwiesen hat.
LIECHTENS TEINIS CHE INTEGRATIONS-
G E S C H I C H T E
Liechtenstein hat als Kleinstaat in der einen oder
anderen Weise immer in starker Auslandsabhän-
gigkeit gelebt. Ja, man kann sogar sagen, es hat nie
etwas anderes als Integrationslösungen gekannt:
Die längste Zeit seiner Geschichte, vor seiner for-
malen Unabhängigkeit 1806, gehörte es dem Heili-
gen Römischen Reich an, danach dem Deutschen
Bund und bald danach begann es bilaterale Ver-
tragsbeziehungen, durch die es erhebliche Teile sei-
ner Souveränitätsrechte zuerst an Österreich und
seit 1921 an die Schweiz delegierte. Insofern war
die EWR-Assoziation für Liechtenstein, anders als
zum Beispiel für die Schweiz, kein radikal neuer
156
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
Am Ministertreffen der
EFTA-Räte in Genf vom
5. und 6. November 1984
nahmen als Vertreter
Liechtensteins Regierungs-
chef-Stellvertreter Hilmar
Ospelt (Zweiter v. r.) und
Benno Beck, der Leiter des
Amts für Volkswirtschaft
(r.), teil.
Weg in seinen Aussenbeziehungen. Bei der Ent-
scheidung über den Beitritt zum Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR) stellte sich somit weniger
die Frage, ob eine Integrationslösung für Liechten-
stein das richtige sei, sondern welche es wäre: Sollte
die Integration in den schweizerischen Wirtschafts-
raum weiterhin die Aussenbeziehungen überwie-
gend bestimmen, oder sollte daneben die Assoziati-
on mit der EU neue, zusätzliche Wege der interna-
tionalen Zusammenarbeit eröffnen?
Wie kam es aber zu dieser Alternative in Rich-
tung EU? Liechtenstein hatte in einem Zollvertrag
mit der Schweiz die Kompetenz abgetreten, das
Land in Handels- und ähnlichen Verträgen mit Dritt-
staaten einzubeziehen. So wurden im Verlauf der
Jahre verschiedene Abkommen der Schweiz mit der
EU ebenso für Liechtenstein anwendbar. Solange
dies klassische Handelsverträge im Bereich des in-
ternationalen Warenverkehrs waren, stellte dies
keine Probleme aus dem Selbstverständnis des Zoll-
vertrages und liechtensteinischer Souveränitätspo-
litik. Je mehr aber Verträge auch andere Wirt-
schaftsfragen regelten, wie zum Beispiel Wettbe-
werbsfragen, Investitionsschutz, öffentliches Auf-
tragswesen, bedurfte es der stillschweigenden oder
ausdrücklichen Zustimmung Liechtensteins zum
Einbezug. Als die Schweiz 1972 mit der EU ein Frei-
handelsabkommen abschloss, das unter anderem
auch eine Evolutivklausel vorsah, schlug Liechten-
stein vor, nicht einfach das Abkommen über den
Zollvertrag zu übernehmen, sondern dieses Abkom-
men über einen dreiseitigen Vertrag mit der EU und
der Schweiz anwendbar zu erklären. 9 Auch wenn
damit in der Substanz der über die Schweiz auf
Liechtenstein anwendbaren Vertragsbestimmun-
gen sich nichts änderte, hatte man doch ein Weg ge-
funden, der formal die nicht an die Schweiz abgetre-
tenen souveränen Kompetenzen berücksichtigte.
Damit hatte Liechtenstein auch das erste, wenn
auch dreiseitige, Abkommen mit der EU abge-
8) Hartley, Trevor C : The Foundations of European Community Law.
Clarendon Law Series, 1988, S. 181 ff.
9) Zusatzabkommen vom 22. Juli 1972 übe r die Geltung des Abkom-
mens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 22. Juli 1972 für das Fürs-
tentum Liechtenstein (Landesgesetzblatt LGBL 1973, 10/1).
157
schlössen. Das Freihandelsabkommen von 1972 ist
weiterhin in Kraft. Es wurde auch weiterentwickelt.
Im Falle von Liechtenstein wurde es zu einem erheb-
lichen Teil vom EWR-Abkommen überlagert.
Als die Mitglieder der EU in den 1970er und
1980er Jahren ihre Zusammenarbeit vertieften,
diese sich erweiterte und die Verwirklichung des
Binnenmarktes ihre Schatten voraus warf, stieg das
Interesse der EFTA-Staaten 1 0, ihre Vertragsbezie-
hungen zur EU zu vertiefen und wenigstens teilwei-
se am Binnenmarkt teilzunehmen. Auf Seiten der
EU bestand ebenfalls Interesse, war doch die EFTA
deutlich ihr grösster Handelspartner.
Dieses beidseitige Interesse führte im Rahmen ei-
ner gemeinsamen Ministersitzung in Luxemburg
am 9. April 1984 zur Verabschiedung eines Pro-
gramms, dessen Zielsetzung ein «dynamischer Eu-
ropäischer Wirtschaftsraum» war. 1 1 Grosse Fort-
schritte auf diesem Weg wurden in den darauf fol-
genden Jahren aber nicht erzielt. Die politische
Wende brachte dann eine Ansprache des damaligen
Präsidenten der Europäischen Kommission, Jac-
ques Delors, am 17. Januar 1989 im Europaparla-
ment in Strassburg. Er schlug als möglichen Weg
eine neue Assoziationsform zwischen EFTA und EU
vor, mit entsprechenden Institutionen für gemeinsa-
me Entscheidungen und Verwaltung eines solchen
Wirtschaftsraumes. Nach dem positiven Echo auf
diesen Vorschlag auf Seiten der EFTA kam es bald
zu exploratorischen Gesprächen zwischen den bei-
den Seiten.
Liechtenstein war in einer besonderen Situation:
Seit Gründung der EFTA, 1960, war das Land über
ein Sonderprotokoll in diesen Freihandelsverbund
integriert, ohne Mitglied zu sein. Gleichzeitig zeich-
nete sich spätestens 1989 ab, dass ein eventuelles
Abkommen über einen solchen Europäischen Wirt-
schaftsraum weit über die im Zollvertrag der Schweiz
delegierten Souveränitätsrechte gehen würde: Der
freie Verkehr von Personen, Dienstleistungen und
Kapital sowie weitere Bereiche wie soziale Sicher-
heit, Umwelt, Forschung, Erziehung, würden in der
einen oder anderen Form einbezogen werden. Der
traditionelle Ansatz, über einen dreiseitigen Vertrag
mit der Schweiz und den anderen Partnern ein sol-
ches Paket zu übernehmen, erwies sich als untaug-
licher Lösungsansatz. Es hätte nicht nur materiell
zu einem erheblichen Souveränitätsverlust geführt;
denn Liechtenstein hätte auf einen Schlag weitge-
hende Entscheidungsrechte an die Schweiz abgetre-
ten, die wiederum nur ein Partner auf Seiten der
«Minderheitsaktionäre» (der EFTA-Staaten) dieses
Unternehmens gewesen wäre. Auch musste damit
gerechnet werden, dass unterschiedliche Ausgangs-
lagen und Wirtschaftsinteressen zwischen Liechten-
stein und der Schweiz zu komplizierten Verhand-
lungssituationen mit der EU hätten führen können.
Es wurden somit ab Sommer 1989 aussenpolitische
Schritte gesetzt, um eine Statusverbesserung im
Rahmen der EFTA zu erlangen und als eigenständi-
ger Verhandlungspartner anerkannt zu werden, mit
der Zielsetzung, Vertragspartei eines eventuellen
EWR-Abkommen zu werden und die EFTA-Mit-
gliedschaft zu erlangen. Als eine Ministersitzung
zwischen EFTA und EU am 19. Dezember 1989 ent-
schied, formale Verhandlungen über eine EWR-Ab-
kommen aufzunehmen, bestand bereits Einverneh-
men zwischen EFTA und EU, Liechtenstein als
gleichberechtigten Verhandlungspartner anzuer-
kennen. 1 2
Für den liechtensteinischen Staat mit seinem
kleinen Verwaltungsapparat waren die sich über
fast drei Jahre hinziehenden EWR-Verhandlungen
nicht leicht zu bewältigen. Kaum ein Bereich der
Staatstätigkeit und der Wirtschaft waren von den
Verhandlungsmaterien ausgenommen und wurden
in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen behandelt. Die
aktive Teilnahme stärkte aber Liechtensteins Profil
gegenüber den EU- und den EFTA-Partnern und
baute das notwendige Wissen für die späteren Ver-
handlungen mit der EU und der Schweiz auf, als
aufgrund des Abseitsstehens der Schweiz vom
EWR-Abkommen spezielle Lösungen für Liechten-
steins Teilnahme an diesem Abkommen ausgehan-
delt werden mussten.
Als nach der Unterzeichnung des EWR-Abkom-
mens 1992 die Ratifikation des Abkommens an-
stand, bestand in Liechtenstein weitgehend die Er-
wartung, dass aufgrund der engen Vertragsbezie-
hungen, insbesondere der Zollunion, Liechtenstein
158
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
St—-^-ra^m
• — • H l «»II«
II
einem JA oder NEIN der Schweiz folgen würde. Un-
ter tatkräftiger Führung des Landesfürsten gab es
aber dann einen breiten politischen Konsens, auch
im Falle eines schweizerischen NEIN's, den liech-
10) Zum Zeitpunkt der EWR-Vorhandlungen und in den Jahren da-
vor umfasste die EFTA folgende sechs Mitgliedstaaten: Finnland, Is-
land, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz. Liechtenstein, ohne
Mitgliedstatus, war der Assoziation zu dem Zeitpunkt durch ein Son-
derprotokoll von 1960 angeschlossen.
11) Sven Norberg et al.: E E A Law, a Commentary on the E E A Agree-
ment. Fritzes, 1993.
12) Liechtenstein wurde ab diesem Zeitpunkt in allen gemeinsamen
Erklärungen und Schlussfolgerungen der ministeriellen Treffen und
hohen Verhandlungsgruppen als eine der sieben Verhandlungspar-
teien auf EFTA-Seite aufgeführ t .
Anlässlich der Unterzeich-
nung des EWR-Abkom-
mens in Portugal: die
Minister der EFTA-Staaten
(links) und die Minister
der EU-Staaten (rechts).
An den vorhergehenden
Verhandlungen über das
EWR-Abkommen im
Zeitraum von 1989 bis
1992 hatte Liechtenstein
als gleichberechtigter und
anerkannter Partner
teilgenommen.
159
An der Konferenz der
EFTA-Staaten von 1991 in
Wien nahmen als Vertreter
Liechtensteins (von links)
Regierungschef Hans Brun-
hart, Botschafter Prinz
Nikolaus von und zu Liech-
tenstein sowie Botschafte-
rin Andrea Willi teil
tensteinischen Wählerinnen und Wählern die Zu-
stimmung zum EWR-Abkommen zu empfehlen. 1 3
Nachdem sich daraufhin die liechtensteinische
Bevölkerung am 13. Dezember 1992 in einer Volks-
abstimmung, gegenläufig zur Schweiz, tatsächlich
für das EWR-Abkommen ausgesprochen hatte, be-
durfte es komplizierter Verhandlungen einerseits
mit der Schweiz, um die bestehenden bilateralen
Verträge den EWR-Erfordernissen anzupassen und
anderseits mit der EU, um spezifischen liechtenstei-
nischen Problemen, namentlich in Zusammenhang
mit der Zollunion, Rechnung zu tragen. Diese Ver-
handlungen und Vertragsanpassungen bedurften
einiger Zeit und konnten Anfang 1995 abgeschlos-
sen werden. 1 4
Auch in der Debatte vor der zweiten Volksabstim-
mung über die EWR-Vertragsanpassungen wurde
die Frage nach den souveränitätspolitischen Vor-
und Nachteilen einer solchen EU-Integration ge-
stellt. Die einen sahen diesen langfristig angelegten
Integrationsvertrag mit der EU als das Eingehen
weitgehend einseitiger Verpflichtungen liechten-
steinischerseits unter Gefährdung der gut einge-
spielten Partnerschaft mit der Schweiz. Die anderen
sahen das eigenständige Auftreten Liechtensteins
gegenüber den europäischen Partnern und die Di-
versifizierung seiner wirtschaftlichen Abhängigkei-
ten als Souveränitätsgewinn.
Nach positivem Abstimmungsausgang und Rati-
fikation der Verträge konnte das EWR-Abkommen
für Liechtenstein am 1. Mai 1995 in Kraft treten.
B E W E R T U N G DES E W R - A B K O M M E N S AUS
S O U V E R Ä N I T Ä T S P O L I T I S C H E R SICHT
Vorerst ist festzuhalten, dass das EWR-Abkommen
seit zehn Jahren gut funktioniert und sich für Liech-
tenstein in mehrfacher Hinsicht wirtschaftlich güns-
tig ausgewirkt hat. Sowohl die politischen Instanzen
als auch weitestgehend die Wirtschaftsverbände
kommen zu diesem Schluss. 1 5
Zu diesem wirtschaftlichen Erfolg drängt sich fol-
gender souveränitätspolitischer Hinweis auf: Eine
Voraussetzung einer möglichst grossen Entschei-
dungsfreiheit eines Staates ist es, das eigene Haus in
Ordnung zu halten. Ein Schuldner ist in geschwäch-
ter Position unternehmerisch tätig zu werden. Gera-
160
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
de für ein kleines Land, dem Machtmittel zumeist
fehlen, sind wirtschaftliche Gesundheit und ein or-
dentlich geführter Haushalt für ein glaubwürdiges
Auftreten wichtig. Auch kosten eigenständige Lö-
sungen und die Vertretung der Souveränität nach
aussen Geld. Es gilt zum Beispiel einen aussenpoliti-
schen Apparat zu unterhalten, Beiträge zur inter-
nationalen Zusammenarbeit zu erbringen und Öf-
fentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die dazu erforder-
lichen Mittel können langfristig nur über eine
gesunde Wirtschaft erbracht werden, welche wie-
derum der notwendigen, vom Staat zu erbringenden
Rahmenbedingungen bedarf. Diese Rahmenbedin-
gungen hängen für eine so international ausgerich-
tete Wirtschaft, wie die liechtensteinische, massgeb-
lich von den vom Ausland festgelegten bzw. vertrag-
lich vereinbarten Austauschbedingungen ab. Seit
dem Beitritt zum EWR hat sich die liechtensteini-
sche Wirtschaft positiv entwickelt und nicht zuletzt
wurde eine Diversifizierung im Bereich der Finanz-
dienstleistungen begünstigt. 1 6 Dies wiederum hat
den Staat und nicht zuletzt seine Finanzmittel ge-
stärkt, was, wie gesagt, souveränitätspolitisch von
einiger Bedeutung ist.
Eng mit diesen wirtschaftlichen Aspekten der
Souveränität ist der durch das Abkommen gegebene
Zwang zu eigenständigen Lösungen verbunden: Der
im Grossen und Ganzen doch sehr liberale Binnen-
markt der EU verlangte von den liechtensteinischen
Wirtschaftstreibenden, sich dem schärferen Wind
des Wettbewerbs in zuvor geschützten Wirtschafts-
bereichen zu stellen. Auch der Staat musste plötz-
lich in Bereichen aktiv werden, um die er sich zuvor
nicht gekümmert hat. Als Beispiel sei die eigene Ver-
sicherungsgesetzgebung genannt, die Liechtenstein
einem bisher unterentwickelten Sektor der Finanz-
dienstleitungen eröffnete.
Das EWR-Abkommen war aber nicht nur aus
wirtschaftspolitischer Perspektive ein Souveräni-
tätsgewinn. Vor allem aussenpolitisch hat Liechten-
stein sich damit stärker positioniert. Vor Abschluss
des EWR-Abkommens hatte Liechtenstein kaum Be-
ziehungen zur EU, dem in gewisser Beziehung be-
deutendsten Macht- und Wirtschaftsfaktor in Euro-
pa. Das EWR-Abkommen war das umfassendste As-
soziationsabkommen, dass die EU mit einem Staat
bzw. einer Staatengruppe abgeschlossen hat. AJJei-
ne dieser schlagartige Ausbau der Zusammenarbeit
mit der Europäischen Union und ihren vielen Mit-
gliedsländern ist ein unschätzbares Plus an aussen-
politischer Manövrierfähigkeit, trotz der gleichzeitig
eingegangenen vielfältigen Verpflichtungen gegen-
über diesem Riesenpartner. Der aussenpolitische
Prestigegewinn in Europa ist auch auf folgendem
Hintergrund zu sehen: Liechtenstein hatte sich in
den Jahrzehnten vor dem EWR Beitritt, sieht man
von einigen Mitgliedschaften in internationalen Or-
ganisationen ab, aussenpolitisch überwiegend auf
die Schweiz ausgerichtet, wie sich dies bereits aus
den Vertragsbeziehungen ersehen lässt. 1 7 Obwohl
die Souveränität Liechtensteins nicht angezweifelt
wurde, wurde man öfters von ausländischen Ge-
sprächspartnern gefragt, ob Liechtenstein sich nicht
mit der Zeit ganz in die Schweiz integrieren würde
mit dem faktisch damit einhergehenden Souveräni-
tätsverlust. Der EWR-Beitritt hat die Fähigkeit Liech-
tensteins zum Beschreiten eigener Wege und zu ei-
ner multipolaren Aussenpolitik unter Beweis ge-
stellt, bei gleichzeitigem Erhalt der freundnachbar-
lichen Beziehungen zur Schweiz.
Verstärkt hat das EWR-Abkommen auch die Zu-
sammenarbeit mit dem zweiten Nachbarland Liech-
tensteins, Österreich. Durch die weitgehende Teil-
13) Über die politischen Diskussionen vor der EWR-Abstimmung
vom 13. Dezember 1992 und übe r deren Ausgang sei auf die um-
fangreiche Berichterstattung in den beiden Landeszeitungen wäh-
rend diesen Wochen verwiesen (Liechtensteiner Volksblatt, Liechten-
steiner Vaterland).
14) Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürsten-
tums Liechtenstein betreffend die Teilnahme des Fürs ten tums Liech-
tenstein am Europäischen Wirtschaftsraum (Nr. 1/1995).
15) Siehe dazu die beiden Berichte und Anträge der Regierung an
den Landtag des Fürs ten tums Liechtenstein betreffend fünf Jahre
bzw. zehn Jahre Mitgliedschaft des Fürs ten tums Liechtenstein im
Europäischen Wirtschaftsraum (Nr. 42/2000 und Nr. 102/2005).
16) Siehe Bericht über 10 Jahre EWR Mitgliedschaft gemäss Fuss-
note 15 sowie Statistisches Jahrbuch, Fürs tentum Liechtenstein,
Jahrgang 2004. Hrsg. Amt für Volkswirtschaft.
17) Systematische Sammlung der liechtensteinischen Rechtsvor-
schriften, Band 0.1 und folgende.
161
nähme am EU-Binnenmarkt mit seinen vier Freihei-
ten hat sich der Austausch auf wirtschaftlicher und
politischer Ebene mit dem östlichen Nachbarland in
bedeutendem Masse erweitert, zumal dessen EU-
Mitgliedschaft für das assoziierte Liechtenstein hilf-
reich ist.
In den beiden nordischen EWR-EFTA-Ländern,
Island und Norwegen, wird innenpolitisch immer
wieder die Frage diskutiert, ob der EWR souverä-
nitätspolitisch akzeptabel sei: Man habe zwar einen
gewissen Einfluss auf die Entscheidungsvorberei-
tung in der EU, schlussendlich müsse man aber,
ohne Stimmrecht, die von der EU beschlossenen
Rechtsakte, soweit sie EWR-relevant sind, überneh-
men oder sonst das ganze Vertragswerk gefährden.
Man sei in die EU durch das EWR-Abkommen,
durch den Beitritt zu Schengen und andere Abkom-
men soweit integriert, dass nur eine Mitgliedschaft
demokratie- und schlussendlich souveränitätspoli-
tisch akzeptabel sei. Bisher hat allerdings diese in-
nenpolitische Argumentation nicht genügend Über-
zeugungskraft ausgelöst, um dem Beispiel anderer
EFTA-Staaten nachzufolgen, die 1995 EU-Mitglied
wurden. 1 8
In der Tat ist es souveränitätspolisch bedenklich,
eine erhebliche Fremdbestimmung ohne jegliche
Mitentscheidung akzeptieren zu müssen, zumal es
ja nicht nur um die Mitentscheidung im engen Sinn
geht, sondern zum Beispiel um die Möglichkeit im
Entscheidungsprozess, aus erster Hand Informatio-
nen zu erlangen. Wenn man schon Souveränitäts-
rechte aufgeben muss, wie dies alle EWR-Mitglieder
tun, so ist das Erlangen des Gegengeschäfts, näm-
lich die Mitentscheidung, eine an sich logische Fol-
gerung. Dieses Kalkül relativiert sich jedoch, wenn
man an folgende Aspekte denkt: Erstens ist das Mit-
entscheidungsrecht für kleine Staaten relativ: So
gibt es heute im Hauptentscheidungsorgan der EU,
dem Ministerrat, 321 Stimmrechte, nach Bevölke-
rungsgrösse (allerdings nicht linear proportional)
der 25 Mitgliedstaaten verteilt. Länder in der Grös-
senordnung von Island und Norwegen haben zwi-
schen drei und sieben Stimmrechten. 1 9 Im zweiten
wichtigen Entscheidungsorgan über Rechtsakte,
dem Europaparlament, sind die Bevölkerungsgrös-
sen in der Stimmkraft noch stärker berücksichtigt.
Das Mitentscheidungsrecht ist somit sehr relativ,
selbst wenn es noch Bereiche gibt, wie die Steuern
und das EU-Budget, in denen das Einstimmigkeits-
prinzip gilt. Aber selbst dort empfiehlt es sich, das
Vetorecht sehr zurückhaltend einzusetzen, um macht-
politisch nicht in eine Schieflage zu geraten. Bereits
bei der nächsten Erweiterung, die für 2007 oder
2008 für Bulgarien und Rumänien vorgesehen ist,
wird sich das Stimmgewicht der Kleinstaaten weiter
verringern. Stärker ist das Gewicht der einzelnen
Mitgliedsstaaten noch in der Europäischen Kom-
mission, wo jedes Land einen Kommissar stellt.
Aber auch dort dürfte längerfristig das Prinzip eines
Vertreters pro Land zu Gunsten einer kleineren,
schlagkräftigeren Kommission durchbrochen wer-
den. Souveränitätspolitisch sind noch andere Ge-
genargumente zu gewichten: So bedeutet ein Asso-
ziationsabkommen, wie das in gewisser Hinsicht
massgeschneiderte EWR-Abkommen, weniger Sou-
veränitätsverzicht. Die EFTA-EWR-Staaten bleiben
zum Beispiel frei in ihrer Handelspolitik gegenüber
Drittstaaten, in ihrer Landwirtschaftspolitik, in ih-
rer Steuerpolitik. Auch lässt sich der Vertrag leich-
ter kündigen als eine EU-Mitgliedschaft und es gibt
notfalls auch ein Vetorecht gegenüber Rechtsakten,
allerdings mit entsprechenden Nachteilen (Suspen-
sion von Teilen des Abkommens) für alle beteiligten
EWR-EFTA-Staaten. Nicht zu unterschätzen sind
auch die höheren Mitgliedschaftskosten in der EU,
welche entsprechende finanzpolitische Spielräume
verringern. Die Liste der Argumente für und wider
eine EU- bzw. EWR-Mitgliedschaft könnte noch ver-
längert werden. Sie macht deutlich, dass die souve-
ränitätspolitische Bewertung des EWR-Abkommen
für grössere Staaten als Liechtenstein nicht leicht
ist. Sicher ist, dass, je breiter und tiefer der Integra-
tionsgrad ist, desto stärker sind die Argumente für
eine EU-Vollmitgliedschaft.
Für Liechtenstein stellt sich die souveränitätspo-
litische Beurteilung des EWR-Abkommen anders
dar als wie für seine nordischen Partner. Erstens
sind die im Vergleich zur EU-Mitgliedschaft be-
schränkten Vertragsverpflichtungen von grösserem
Wert. Durch gleichzeitige Einbindung in den schwei-
162
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
zerischen Wirtschaftsraum hat Liechtenstein Ab-
satzchancen in die ganze umgebende Grossregion.
Ebenso ist der in Liechtenstein geltende Schweizer
Franken für seine Finanzdienstleitungen von Vor-
teil. Nur wenn die Schweiz gleichzeitig EU- Mitglied
würde, fielen die Vorteile, zwei Wirtschafträumen
anzugehören, weg.
Aber selbst im Falle einer EU-Mitgliedschaft der
Schweiz gäbe es gewichtige Argumente gegen eine
solche Liechtensteins. Zu nennen sind etwa die für
ein so kleines Land sehr hohen Verwaltungskosten
einer Mitgliedschaft.2 0
Ein Mitentscheidungsrecht Liechtensteins bei
Rechtsakten des Binnenmarktes ist aus folgender
Überlegung nur von relativem Interesse: Liechten-
stein kann auf Änderungen in der EU-Gesetzgebung
in der Regel rasch reagieren und Anpassungen der
eigenen Gesetzgebung sind relativ kostengünstig.
Abgesehen von einigen politisch und wirtschaftlich
sensiblen Rechtsakten (Finanzdienstleitungsbereich,
Personenverkehr) ist es somit für Liechtenstein billi-
ger, die eigene Gesetzeslage den Binnenmarktregeln
anzupassen als mit hohem Aufwand die Mitent-
scheidungsmöglichkeiten voll zu nutzen, zumal ja
die Beeinflussungsmöglichkeiten aufgrund der oben
erwähnten Stimmgewichtungen und der Machtver-
hältnisse ohnehin gering sind. Diese Überlegung
wird noch einsichtiger, wenn man bedenkt, dass es
ganze Sektoren der Binnenmarktgesetzgebung gibt,
die auf Liechtenstein ohnehin nicht anwendbar
sind. Sicherlich, es werden Stimmrechte immer
wieder für Tauschgeschäfte verwendet, was die vor-
herige Argumentation mindert. Doch kann eine
glaubwürdige, langfristig angelegte Aussenpolitik
solche Stimmabsprachen, ohne Berücksichtigung
der dem Wahlgeschäft zu Grunde liegenden Interes-
sen, nicht zur Maxime erheben.
Eine souveränitätspolitische Beurteilung des EWR-
Abkommens für Liechtenstein wird auch einen Ver-
gleich zum anderen grossen Integrationsvertrag
Liechtensteins, dem bilateralen Zollvertrag mit der
Schweiz, anstellen müssen. In beiden Verträgen
kommt Liechtenstein kein Mitentscheidungsrecht
bei zu übernehmenden Rechtsakten zu. Beim EWR-
Abkommen bestehen aber recht weit ausgebaute
Konsultationsrechte, inklusive der wichtigen Mög-
lichkeit, an der Erarbeitung von Gesetzesvorschlä-
gen durch die Europäische Kommission beratend
teilzunehmen. Auch aus diesem, zugegebenermas-
sen formalen Vergleich der beiden Integrationsver-
träge Liechtensteins, wird man keine Souveränitäts-
minderung durch das EWR-Abkommen ableiten
können.
Das EWR-Abkommen kann somit als souverä-
nitätspolitisch für Liechtenstein gelungener Kom-
promiss angesehen werden. Einerseits erhöht es
seine Wirtschaftskraft und seinen aussenpolitischen
Wirkungsbereich, diversifiziert seine Abhängigkei-
ten und anderseits behält es die für einen Kleinstaat
notwendigen Spielräume, inklusive Veto- und Kün-
digungsrecht.
A U S B L I C K
Souveränitätspolitisch wird Liechtenstein die eu-
ropäische Integration nicht isoliert von seinem rest-
lichen Beziehungsgeflecht betrachten dürfen. Es
geht darum, eine wohl ausgeglichene Gesamtaus-
senpolitik zu haben, von den globalen Einbindun-
gen, wie der UNO und der WTO bis zur Nachbar-
schaftspolitik. Der Europapolitik Liechtensteins
kommt aber in mehrfacher Hinsicht eine besondere
Bedeutung zu: Erstens sind unsere beiden Nach-
barn stark auf diese ausgerichtet. Selbst die Schweiz,
welche 1992 den EWR abgelehnt hatte, hat ihre fak-
tische Integration in die EU über bilaterale Verträge
in den letzten Jahren vorangetrieben. Diese integra-
tionspolitische Ausrichtung unserer Nachbarn drängt
uns gerade dazu, die direkte Beziehung mit Brüssel
18) Die 1995 von der EFTA zur E U überget re tenen Mitgliedstaatcn
waren: Finnland, Österreich, Schweden.
19) Malta, als kleinstes Mitgliedsland hat drei Stimmrechte, Staaten
von der Grössenordnung Norwegens, wie zum Beispiel Finnland, ha-
ben sieben Stimmrechte.
20) Auch die kleinsten EU-Mitgliedsstaaten unterhalten ständige
Vertretungen in Brüssel von wenigstens 30 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern um zumindest einen Teil der zirka 3000 Komitees und
Arbeitsgruppen, die den Mitgliedsländern offen stehen, zu verfolgen.
163
hoch auf die Prioritätenliste zu setzen. Die Alternati-
ve, nur mittelbar - sei es über Bern oder über Wien
- die Beziehungen nach Brüssel zu regeln, ist insbe-
sondere souveränitätspolitisch nicht attraktiv.
Zweitens ist zu sehen, dass Liechtensteins Wirt-
schaft in erster Linie auf das Europa der heutigen
EU ausgerichtet ist. Die Berücksichtigung dieser
Realitäten liegt ebenfalls im Landesinteresse.
Drittens gibt es eine ideelle Dimension der Inte-
grationspolitik: Die EU ist mit bisher doch erhebli-
chem Erfolg als europäische Friedensordnung an-
gelegt. Sie versucht politisch und wirtschaftlich ein
stabiles Europa aufzuhauen. Auch wenn sie bei die-
sen Zielsetzungen immer wieder Fehlleistungen er-
bringt und nationale Egoismen die Überhand be-
kommen, tun wir auch als Nichtmitgliedsland gut
daran, bei diesen Zielsetzungen zu kooperieren.
Die Teilnahme an der europäischen Integration
wird für Liechtenstein souveränitätspolitisch immer
ein schwierig zu erhaltendes Gleichgewicht sein: Ei-
nerseits geht es um die Delegation von Souverä-
nitätsrechten und anderseits um die Schaffung der
Rahmenbedingungen, in denen Liechtensteins Wirt-
schaft und Staat sich entfalten können.
Diesbezügliche Herausforderungen stehen auch
augenblicklich und in den kommenden Jahren an.
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang die ange-
strebte Assoziation Liechtensteins zu Schengen und
Dublin. 2 1 Ähnlich wie beim EWR-Abkommen würde
Liechtenstein durch einen solchen Assoziationsver-
trag verpflichtet werden, EU-Recht zu übernehmen,
zwar mit entsprechenden Konsultations- aber ohne
Mitentscheidungsrechte. Nachdem wir analoge De-
legationen von Souveränitätsrechten im Bereich der
Behandlung von Drittausländern und dem Perso-
nenverkehr an der Grenze mit der Schweiz bereits
haben, handelt es sich eher um einen Um- als um ei-
nen Ausbau solcher liechtensteinischer Verpflich-
tungen.
Eine in den nächsten Jahren weiter bestehende
Herausforderung wird auch die Weiterentwicklung
des EWR-Abkommen sein. Je mehr sich die Verträ-
ge der EU (das Primärrecht) verändern und die Inte-
gration sich vertieft, desto intensiver wird man sich
fragen müssen, ob der aus 1992 stammende EWR-
Abkommen seine Zwecke noch erfüllen kann. Viele
Bestimmungen dieses Abkommens wurden spiegel-
bildlich vom Primärrecht der EU übernommen.
Einige davon haben sich auf EU-Seite durch Ver-
t ragsänderungen 2 2 inhaltlich geändert. Auch ande-
re inzwischen eingetretene Vertragsänderungen und
Erweiterungen machen es oftmals schwer, abzu-
grenzen, welches Sekundärrecht (Binnenmark-
trichtlinien usw.) nun in den EWR gehört oder nicht.
Bisher konnten immer wieder gangbare Wege der
Vertragsinterpretation gefunden werden. Längerfri-
stig könnte aber, je nach politischer Entwicklung in
der EU und in den Beziehungen zu den EU-Nach-
barländern, der Druck steigen, umfassendere Asso-
ziationslösungen ins Auge zu fassen.
Es könnte aber durchaus sein, dass Liechtenstein
mit einer eventuellen Schengenassoziation das volle
Ausmass seiner Integrationsverträge mit der EU er-
füllt hat oder dass die EU im Verlaufe der nächsten
Jahre eine Gestalt erhält, welche eine Mitgliedschaft
auch für Liechtenstein attraktiver macht.
Aus der Erfahrung wird man sagen können, dass
Liechtenstein sich nicht auf alle Eventualitäten des
europäischen Geschehens langfristig vorbereiten
kann. Die Integrationspolitik wird eine Baustelle
bleiben bei der Liechtenstein souveränitätspolitisch
mehr Chancen als Risiken erwarten darf, wenn es
bereit ist, seinen Preis für die Eigenständigkeit zu
zahlen.
21) Das Schengenrecht bezweckt die Aufhebung der Binnengrenzen
für den Personenverkehr und sieht als flankierende Massnahmen ein
gemeinsames Visaregime und eine polizeiliche Zusammenarbeit vor.
Das Abkommen von Dublin regelt die Zusammenarbeit der Mit-
gliedsstaaten und assoziierten Länder im Bereich des Asylwesens.
Island und Norwegen gehören als einzige Nicht-EU-Mitgliedsländer
durch Assoziat ionsverträge sowohl Schengen als auch Dublin an. Die
entsprechenden Assoziat ionsverträgo mit der Schweiz sind unter-
zeichnet.
22) Seit dem Abschluss des EWR-Abkommens 1992 hat die EU be-
reits drei Ver t ragsänderungen ihrer Grundver t räge in Kraft gesetzt:
Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza. Im Ratifikati-
onsverfahren stecken geblieben ist ein vierter: der Europäische Ver-
lässungsver t rag .
164
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
NIKOLAUS VON LIECHTENSTEIN
BILDNACHWEIS A N S C H R I F T DES
A U T O R S
Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz Botschafter
S. D. Prinz Nikolaus
von und zu Liechtenstein
1, Place du Congres
B-1000 Bruxelles
165
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
167
DAS RUGGELLER
ZOLL- UND GAST-
HAUS «SCHWERT» -
EINE H O M M A G E A N
NAPOLEON?
PETER ALBERTIN
Inhalt
171 Einleitung
172 Die Bedeutung der Zollstation Ruggell
173 Einige Daten zur Zollstation und Rheinfähre
174 Befunde zur Baugeschichte
174 - Das Zoll- und Gasthaus von 1804
180 - Die Fassadengestaltung von 1804
180 - Spätere Umbauten
182 Das Mansardendach als architektonischer
Ausdruck und Wohnraumgewinn
183 Eine architektonische Hommage an
Napoleon?
170
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
EINLEITUNG
1998 ist in Ruggell das markante einstige Zoll- und
Gasthaus zum Schwert abgebrochen worden. Im
Auftrage der Gemeinde- und der Landesverwal-
tung erstellten wir im März 1996 ein vorgängiges
baugeschichtliches Gutachten zum noch genutzten
Gebäude. 1 Anlässlich der Vorarbeiten zum Gebäu-
deabbruch konnten wir im Mai 1998 im mittlerwei-
le geräumten Objekt weitere Befunde zur Bauge-
Abb. 1: Westansicht des
Zoll- und Gasthauses von
1804; links an Stelle der
einstigen Stallscheune
Schopfanbau von 1993 mit
dem Treppenhaus und den
Toilettenanlagen von 1964
1) Albertin, Peter. Baugeschichtliches Gutachten März 1996 für die
Gemeindeverwaltung Ruggell, mit Verzeichnis der genutzten Quellen.
171
schichte interpretieren und dokumentieren.2 Und
im Juni 1998 wurden aus wesentlichen Bauetap-
pen neun Bohrkerne zur dendrochronologischen
Untersuchung gefasst und ausgewertet.3
Die Ergebnisse lassen das Gebäude als ein Ge-
schichtszeugnis besonderer Art erkennen. Inner-
halb der bautechnischen Entwicklungen entstand
das Haus mit Baujahr 1804 just in jener Zeit, da
hierzulande helles Flachglas die Butzenscheiben
ablöste und damit Fassaden symmetrisch angeord-
nete Einzelfenster erhielten an Stelle der vorheri-
gen, für weniger lichtdurchlässige Butzenscheiben
konzipierten Reihenfenster. Dass das Dachgeschoss
1804 zum (Tanz-?)Saal ausgebaut wurde ist für
jene turbulente Zeit besonders aussergewöhnlich.
Und erst das französisch geprägte Architekturprä-
dikat Mansardendach - demonstrierte der Bauherr,
Zoller und Gastwirt Johann Büchel hiermit ein poli-
tisches Bekenntnis in den Kriegswirren im Über-
gang vom 18. zum 19. Jahrhundert?
DIE B E D E U T U N G DER Z O L L S T A T I O N
R U G G E L L
Ruggell liegt inmitten der hochwassergefährdeten
Rheinebene und nimmt damit als Siedlung eine be-
sondere Stellung ein. Der Siedlungsbeginn des heu-
tigen Dorfes mag ins ausgehende 15. und 16. Jahr-
hundert gedeutet werden. Die Wahl des Siedlungs-
platzes und damit der Ursprung der Siedlung Rug-
gell steht zweifellos im Zusammenhang mit einer
hier den Rhein querenden Fähre und den damit ver-
bundenen Einnahmeaussichten durch Zoll, Weg-
geld und den vielfältigen Dienstleistungen rund um
das Fuhrhandwerk. Die Rheinquerung nimmt Be-
zug auf die Verkehrsachse Feldkirch-Toggenburg-
Zürich. Sie nutzt dabei eine hier besonders bedäch-
tige Rhein-Fliessgeschwindigkeit, beträgt doch das
Geländegefälle der Gemeinde Ruggell von ihrer
südlichsten (435 m ü. M.) bis zu ihrer nördlichsten
Grenze (430 m ü. M.) lediglich etwa fünf Meter.
Der Zoller in Ruggell hatte den Strassenzoll zwi-
schen Bendern und Bangs, den rheinquerenden
Fährverkehr und den Flossverkehr auf dem Rhein
zu erfassen. Das heutige Zollhaus liegt am Mühleka-
172
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
nal, zweifellos einem einstigen Flussarm. Daraus
mag gedeutet werden, das Zollhaus wäre in der frü-
hen Neuzeit direkt an den Fluss gebaut worden, da-
mit der Zöllner den Flussverkehr ungehindert ein-
sehen konnte (Plan 1).
1613 wurde der Ruggeller Zoll samt Taverne an
Ulrich Büchel zu Lehen gegeben. Damit wird diese
Zollstation erstmals urkundlich genannt. Grund-
sätzlich wurden Zölle bis ins ausgehende 18. Jahr-
hundert nicht an den Grenzen, sondern zentral im
Landesinnern erhoben, konkret an der Zollstation
Vaduz (heute Landesmuseum).4 Trotzdem erlangte
der Ruggeller Zoll offenbar eine gewisse Bedeutung.
Sein Ertrag überstieg jenen der übrigen Nebenzölle
Balzers, Mals und Rofaberg um ein Mehrfaches.
Klaus Biedermann hat die durchschnittlichen
jährlichen Zolleinnahmen berechnet (in Gulden
Reichswährung): 5
Zollstation/Zeitraum 1750-1780 1781-1810
Balzers
Mals.
Rofaberg
Ruggell
Vaduz
11
57
474
6
5
13
170
1287
1394 verlieh Graf Albrecht der Ältere von Werden-
berg-Heiligenberg in Bludenz die Ruggeller Fähre
als Erblehen. Eine Fähre in Gamprin wurde aufge-
hoben. Die Fähre Bendern-Haag verliehen die Gra-
fen von Vaduz und die Herren von Sax gemeinsam.
Damit wird erstmals ein Ruggeller Fährbetrieb ak-
tenkundig. Es handelte sich dabei stets lediglich um
eine Personenfähre, wobei das Boot gerudert wur-
de. Erst in den 1890er-Jahren wurden Versuche mit
einer Seilrolle angestellt, ein Erfolg blieb jedoch aus.
1918 erlosch der Fährbetrieb. Fährbetrieb, Zollsta-
tion und Taverne waren herrschaftliche Lehen und
wurden über viele Generationen durch Angehörige
der Familien Büchel betrieben.
EINIGE D A T E N ZUR Z O L L S T A T I O N
UND R H E I N F Ä H R E
1394 Ersterwähnung der Ruggeller Fähre als
Lehen der Landesherren.
1488 Festlegung der Pfarreigrenze zwischen
Altenstadt und Bendern.
1497 wird zwischen Ruggell und Schellen-
berg eine Gemeindegrenze definiert;
wobei die Einwohner beider Gemein-
den bis in die Neuzeit nach Bendern
kirchgenössig bleiben.
Um 1500 zählt Ruggell 24 Familien, was etwa
100 Einwohnern in knapp 20 Hofstät-
ten entsprochen haben mag. Vom
13. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert
ist von etwa 70 Rheinüberschwemmun-
gen die Rede - also alle fünf Jahre eine
Überschwemmung!
1611 sterben in Sennwald dreiviertel der
Einwohnerschaft an der Pest.
1613 erste Erwähnung einer Ruggeller
Zollstation und Taverne als landesherr-
schaftliches Lehen.
1614 entsteht eine erste Kapelle. Sie wird
1617 dem Heiligen Fridolin geweiht
und 1668 im Schiff erweitert.
1650 reisst Hochwasser die Ruggeller
Schiffs-Mühle weg.
1668 wird der Fährmann Spiegier als Hexer
hingerichtet - daraufhin Vergabe des
Fährbetriebes Ruggell-Salez als Schupf-
lehen an Hans Büchel.
2) Albertin, Peter. Baugeschichtliche Abbruch-Dokumentation Mai
1998 für das Hochbauamt Vaduz, Abteilung Denkmalpflege und Ar-
chäologie.
3) Aus führung durch das Laboratoire Romand de Dendrochronologie
Moudon; Ergebnisse im Protokoll N.Ref.LRD98/R4804T vom 12. No-
vember 1998.
4) Albertin, 2004.
5) Biedermann, S. 52 f.
173
1687
1689
1692
1699
1789
1814
1852
1874
1918
1919
1923
1929
verkauft Graf Hannibal von Hohenems
den Fährbetrieb für 300 Gulden an
Andreas Büchel und dessen Stiefbrü-
der Christoph, Georg und Ferdinand,
empfängt Landammann Andreas
Büchel von den Grafen von Hohenems
den herrschaftlichen Rheinzoll samt
Schankrecht zu Erblehen. Das Gebäu-
de ist soeben 1685 d neu erbaut wor-
den, vgl. Befunde zur Baugeschichte,
erstehen die Ruggeller von den Grafen
von Hohenems die herrschaftliche
Mühle samt dem Mühlenregal,
erwirbt Fürst Hans Adam I. von Liech-
tenstein die Herrschaft Schellenberg
für 115 000 Gulden,
bestätigt Fürst Alois von Liechtenstein6
Johann Büchel und seinen Nachkom-
men das Erblehen des herrschaftlichen
Rheinzolles mit Schankrecht.
amten Johann Büchel und Pächter
Germann 7 als RheinzoUer mit Taver-
nenbetrieb.
Zollvertrag zwischen dem Fürstentum
Liechtenstein und dem Kaiserreich
Österreich; in Ruggell werden «Finan-
zer» stationiert.
wird Ruggell eine selbständige Pfarrei.
Einstellung des Fährbetriebes Rug-
gell-Salez.
wird Liechtenstein wieder selbständi-
ges Zollgebiet.
Zollvertrag mit der Schweiz.
Bau einer ersten Rheinbrücke Rug-
gell-Salez.
B E F U N D E ZUR B A U G E S C H I C H T E
Seit beinahe vierhundert Jahren ist für Ruggell eine
Zollstätte und Taverne nachgewiesen. 1613 erhielt
ein Ulrich Büchel die Taverne und den Zoll in Rug-
gell als Lehen. Baubefunde zu einem entsprechen-
den Objekt fehlen uns jedoch. Solche sind spärlich
für die Zeit um 1685 und umfangreich für das erste
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gefasst.
Im ebenerdig gelegenen Kellergeschoss weisen
eine aus Bruchsteinquadern gefügte Gebäudeecke,
eine teilweise ausgebrochene Mauerscheibe und
drei zweitverwendete Eichenbalken auf einen Bau
von 1685. Das Mauerwerk könnte durchaus auch äl-
ter sein und zu einem Objekt des 16. oder des frühen
17. Jahrhunderts gehört haben. Die drei behauenen
Balken entstammen einem Bohlenständerbau. Es
handelt sich um zwei Schwellbalkenabschnitte und
ein Stück eines Ständers mit der Nut zum Einschie-
ben von Wandbohlen. Alle drei Balken sind dendro-
chronologisch untersucht. Das eine Schwellbalken-
stück wurde im Herbst/Winter 1684/85 gefällt.
Beim zweiten Abschnitt sind die Jahrringe bis 1669
messbar, die Waldkante fehlt. Beim Ständerstück ist
eine Datierung erfolglos geblieben. Die Balken wur-
den 1804 als Auflager für ein Kellergewölbe ver-
wendet. Die harten Zementputze des 20. Jahrhun-
derts verhinderten bauarchäologische Freilegun-
gen, so dass uns weitere Baubefunde zum Kernbau
fehlen (Plan 2).
DAS ZOLL- UND GASTHAUS VON 1804
Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert entstand
ein neues Zoll- und Gasthaus auf oben erwähnten
Resten eines Vorgängerbaues. Im Februar 1803 er-
suchte Zoller Johann Büchel die herrschaftliche Zie-
gelei Nendeln um Anfertigung von Dachziegeln für
6) Ospelt. 1975.
7) Ebenda.
174
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
Plan 2: Grundriss Keller-
geschoss von 1804, im
Massstab 1:150
älteres Mauerwerk
Plan 3: Grundriss Erdge-
schoss von 1804, im Mass-
stab 1:150
Baustrukturen von 1804:
H Strickbau
EÜ1 Mauerwerk
O l Lehmflechtwerk
5 m
\
175
Bad-Anbau 1948
K a m m e r
I
G a n g K a m m e r j
\ Treppe vom O G . i
\ G a n g \
's Rauchfang
K a m m e r G a n g K a m m e r
Treppe vom O G .
G a n g
Lichtöffnung Kamin
Treppe zum D G .
spätere Tür
<D E
5 £
S a a l
I
2 E
Doppelfenster Doppelfenster Doppelfenster Reihenfenster, im Licht 5.25 / 0.90
5
£
Plan 4: Grundriss Oberge-
schoss von 1804, im Mass-
stab 1:150
Baustrukturen von 1804:
H Strickbau
ü l Mauerwerk
CZI Lehmflechtwerk
Plan 5: Grundriss Mansar-
dengeschoss von 1804, im
Massstab 1:150
Baustrukturen von 1804:
H Strickbau
CZI Lehmflechtwerk
176
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
sein neues Haus. 8 Im nachfolgenden Herbst/Winter
1803/04 wurde das Bauholz gefällt (dendrochrono-
logisch datiert). 1804 bezog Johann Büchel das be-
stellte Dachdeckmaterial. Laut Rentamtsrechnung
wurden ihm 11 225 Stück Dachziegel (Biberschwanz-
ziegel), 85 Hohlziegel (Firstziegel), 86 Ortsplatten
oder Drittelplatten (Biberschwanz-Kleinformate für
saubere Dachrandausführungen) und zudem 42Vz
Mass Kalk geliefert.9 Die dendrochronologische Bau-
holzdatierung 1803/04 und die Baumaterialliefe-
rungen 1804 belegen einerseits eine Bauaus-
führung im Jahre 1804 und andererseits, wie Jo-
hann Büchel als privater Bauherr zeichnete, ob-
schon Zollstation und Taverne von altersher als
herrschaftliche Erblehen galten.
Das Gebäude stand mit seiner Firstachse quer
zur Hauptstrasse und um Fuhrwerkslänge von die-
ser zurückgesetzt. Westseits stiess eine Stallscheune
unter einem Quergiebel an. Sie erhielt 1964 eine
Treppenhaus- und eine Toilettenanlage eingebaut.
Seit 1993 war die Stallscheune durch einen kleine-
ren Schopf ersetzt. Westseits gegenüber der Gies-
senstrasse stand im 19. Jahrhundert eine Zollscheu-
ne beziehungsweise eine Zuschg (Sust). Sie wurde
1891 abgebrochen. An ihrer Stelle entstand ein
Wohnhaus der k.u.k. Finanzwache.
Das Hauptgebäude bedeckte eine Grundfläche von
etwa 11,3 auf 14,5 Metern und reichte in der Höhe
über anfänglich drei, letztlich vier Vollgeschosse.
Ebenerdig lag das Kellergeschoss, erbaut in Bruch-
stein-Mauerwerk. Es barg tonnenüberwölbte Räume
zur Einlagerung von Wein. Für die Bauzeit ist nur ein
rückwärtiges Tor mit Schliessbalken nachgewiesen.
Der strassenseitige Zugang ist erst später durchge-
brochen worden. Die hohe Lage des Kellergeschosses
folgte dem hier hohen Grundwasserspiegel. Mit dem
Verzicht auf einen strassenseitigen Kellereingang
mochten die Bauherren der Fliessrichtung des Hoch-
wassers ausgewichen sein (Plan 2).
Das über eine Freitreppe erschlossene, hochlie-
gende Erdgeschoss entsprach in seiner Raumtei-
lung dem Typus des hierzulande vom ausgehenden
Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert tradierten
alpenländischen Drei-Raum-Hauses, strassenseits
mit der Gaststube und einer Nebenstube sowie
rückseits einer über die ganze Hausbreite reichen-
den Küche. Der Küchenbereich war wiederum in
Bruchstein-Mauerwerk errichtet, der Stuben- und
Nebenstubenbereich als Kantholz-Strickbau mit
vorstossenden Gwettköpfen gezimmert. Der Strick-
bauteil lag auf einem Schwellenkranz aus Nadelholz
auf. Die Schwellen waren mit doppelzüngigen Bal-
kenschlössern verbunden. Die ursprünglichen
Raumhöhen massen 200 Zentimeter. Strickwand-
und Dielendecken-Oberflächen waren stark rauch-
geschwärzt, standen also vorerst auf Sicht genutzt.
Eine Zeitung des Jahrgangs 1860 belegte eine erste
Tapezierung der Stuben- und Nebenstubenwände.
Entlang den Gaststuben- und Nebenstubenwände
hatten Sitzbänke gestanden (Plan 3). Die Türge-
reichte waren in Eichenholz gefertigt und zeigten
lichte Weiten von 92 auf 175 Zentimetern zur Stube
und von 88 auf 169 Zentimetern zur Nebenstube.
Eine interne Stiege führte ins Obergeschoss hin-
auf. Hier lagen strassenseits vorerst zwei, später
drei Kammern und rückseits neben zwei Erschlies-
sungsgängen zwei weitere Kammern. Analog dem
Erdgeschoss war die strassenseitige Haushälfte als
Strickbau gezimmert, zur Rückseite waren die Aus-
senmauern in Bruchstein-Mauerwerk erstellt. Die
Binnenwände über dem Küchenbereich waren in
Lehmflechtwerk gefertigt und mit Kalkputz verklei-
det (Abb. 7) - eine urtümliche, kaum mehr anzutref-
fende Bautechnik (Plan 4).
Das Mansardengeschoss, erschlossen wiederum
mit einer internen einläufigen Treppe, enthielt stras-
senseits einen Saal in Strickbauweise, rückseits zwei
Kammern in Lehmflechtwerk (Abb. 6). Die gehobel-
ten, naturbelassenen Oberflächen der Strickwände
trugen im Saal viele Rötelskizzen und -inschriften, so
«Johann Huckler von Tisis 1810». Nebst dem giebel-
seitigen Reihenfenster erhellten zwei traufseitige
Mansardenlukarnen den Saal (Abb. 5). Wohl im aus-
gehenden 19. Jahrhundert wurde das Mansarden-
dach äusserlich mittels Traufanhebung zum Vollge-
8) L L A S i g . 07/06/31.
9) LLA Sig. AS 8/47 Rentamtsrechnung für 1804; die Rentamtsbücher
der nachfolgenden Jahre 1805-1807 fehlen.
177
178
Plan 6: Rekonstruierte
Hauptfassade von 1804, im
Massstab 1:150
Halbwalm
Dachgeschoss mit Aufzug-
laden, beidseits je eine
Luzide
Viertelstab als Traufgesimse
Mansardgeschoss mit
Reihenfenster zu Saal
Obergeschoss mit Doppel-
fenstern zu Kammern
Erdgeschoss mit Doppelfens-
ter zur Nebenstube und
Reihenfenster zur Stube;
Profiliertes Gurtgesimse,
innenseits als profilierter
Brustriegel
Kellergeschoss
mit Luziden
schoss ausgebaut, im Innern war der ursprüngliche
Ausbau erhalten geblieben (Plan 5).
Das eigentliche Dachgeschoss diente als Lager-
raum und wies strassenseits entsprechend einen
Aufzugladen auf (Abb. 3).
DIE FASSADENGESTALTUNG VON 1804
Die der Strasse zugekehrte Hauptfassade mochte
sich zur Bauzeit mit seiner fremd anmutenden Ge-
staltung erheblich von den Ruggeller Bauernhäu-
sern abgesetzt haben. Über dem ebenerdigen, ge-
mauerten Kellergeschoss ruhten zwei Vollgeschosse
in Strickbauweise mit vorstossenden Gwettköpfen.
Nebst Zwillingsfenstern zur Nebenstube und den
Kammern fiel ein breites Stuben-Reihenfenster auf.
Auf dessen Brüstungshöhe zog ein profiliertes Gurt-
gesimse über die ganze Hausbreite. Das aufgesetzte
Mansardengeschoss liess an Hand seines breiten
Reihenfensters sogleich einen Saal erahnen. Der
Übergang vom Mansardendach zur Traufe des Sat-
teldaches schloss in einem Viertelstab-Traufgesim-
se (Abb. 2). Zum steilen, südseits zur Hälfte abge-
walmten Satteldach zeichneten sich ein Aufzugla-
den mit beidseitigem Fenster und je eine Luzide zu
den beiden traufseitigen Schlupfräumen ab. Auch
innerhalb der lokalen Entwicklung von Fassadenge-
staltungen hob sich das Zollhaus Ruggell ab. Stube
und Saal wiesen noch Reihenfenster auf. Solche wa-
ren für die Zeit der Butzenscheiben konzipiert. Mit
Aufkommen der neuen helleren Sprossengläser im
ausgehenden 18. Jahrhundert gelangten an Neu-
bauten nur noch Einzelfenster zur Anwendung. Das
Zollhaus erhielt wohl bereits von diesen neuen Glä-
sern - das eine lag 1998 noch im Dachgeschoss
(Abb. 4). Sie wurden aber in für 1804 antiquierten
Reihenfenster angeschlagen (Plan 6).
SPÄTERE U M B A U T E N
Im ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt die Haupt-
fassade eine neue Gestaltung. An Stelle des Mansar-
dendaches waren die Fassadenwände nun bis zur
Traufe des Satteldaches hochgezogen. Der Halbwalm
wurde durch einen Giebel und die Reihenfenster
durch Einzelfenster ersetzt. Die Strickbaufassaden
waren mit einem Rundschindelschirm eingekleidet.
In den 1960er-Jahren wurde das Gebäude letztmals
innen und aussen erneuert und modernisiert. Die
Strickbauwände waren seither verputzt (Abb. 1).
180
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
181
Abb. 8: Pfarrhaus Triesen-
berg, erbaut 1767/68 mit
Mansardendach, heute
Gemeindehaus
DAS M A N S A R D E N D A C H A L S A R C H I T E K -
TONISCHER A U S D R U C K UND W O H N R A U M -
GEWINN
Diese eigentümliche, hierzulande selten anzutref-
fende Dachform wird nach dem Pariser Architekten
Jules Hardouin-Mansart (1646-1708) benannt.
Hardouin-Mansart soll mit seinem Mansardenge-
schoss die Pariser Bauordnung umgangen haben,
die wohl die Geschosszahl bis zur Traufe, nicht aber
die Dachhöhe definiert hatte. Mit einem Mansar-
dendach gewannen Bauherren praktisch ein zusätz-
liches Vollgeschoss für Wohnbedarf. Die Verbrei-
tung des Mansardendaches kann in der Ostschweiz
und weiter ostwärts in drei wesentlichen Zeiträu-
men nachgezeichnet werden, wobei es hierzulande
nie über Einzelfälle hinaus trat. In der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts mögen Mansardendächer eine Art
Sympathie zur französischen Kultur und zur franzö-
sischen Krone verraten haben. So erhielt der Gasthof
zum Löwen in Vaduz 1786 anlässlich des Ausbaus
der Reichsstrasse Lindau-Chur-Mailand ein Man-
sardendach aufgesetzt10 (Abb. 9). Das 1767/68 er-
baute Triesenberger Pfarrhaus (heute Gemeinde-
haus) trägt ebenfalls einen dieser eigentümlichen
Hüte (Abb. 8). Im frühen 19. Jahrhundert tauchten,
inmitten der französischen Kriegswirren und hiesi-
gen Verwaltungsreformen, in der Ostschweiz verein-
zelt Mansardendächer auf, hierzulande am 1804 er-
bauten Zoll- und Gasthaus Ruggell. Zu weiterer Be-
liebtheit fand das Mansardendach im Zuge des
Französischen Neubarocks um 1870 bis 1890 an
Villen von Fabrikbesitzern und an städtischen Zei-
lenhäusern.
Abb. 9: Der Gasthof Löwen
in Vaduz mit dem 1786
aufgesetzten Mansarden-
dach (Aufnahme 1988)
182
DAS RUGGELLER ZOLL- UND GASTHAUS
«SCHWERT» / PETER ALBERTIN
EINE A R C H I T E K T O N I S C H E H O M M A G E
AN NAPOLEON?
Im ausgehenden 18. und dem ersten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts brach eine ungeahnte Kriegsnot
über Europa ein. Eingreifende Verwaltungsrefor-
men lösten die mittelalterlichen Rechte und Tradi-
tionen ab. Kaum ermessbar ist uns, welche materi-
ellen und psychischen Nöte die hiesige Bevölkerung
damals durchlitt. In dieser Zeit grösster Bedrängnis
von verschiedenen Seiten hat Johann Büchel 1804
in Ruggell ein neues Zoll- und Gasthaus erbaut. Als
wesentliches Gestaltungselement wählte der Bau-
herr ein hierzulande fremd anmutendes Mansar-
dendach. Damit bekundete er klar eine gewisse
Sympathie zur französischen Sache und stellte sich
wohl auch der Kritik der Habsburgfreundlichen.
Fragen wirft auch der Saal im Mansardengeschoss
auf. Handelt es sich hier um einen bewusst gebau-
ten Tanzsaal - die neue Rechtsordnung und «Frei-
heit» erlaubte ja nun auch dem «gemeinen Volk»
das Feiern von Festen und Tanzvergnügen. Oder
diente der Saal vor allem als Schlafsaal des Gastho-
fes und auch zur Einquartierung von Truppen? Aus
heutiger Sicht sind für uns weder das Umfeld noch
die Beweggründe Büchels nachvollziehbar, warum
er sich mit der Gestaltung seines Neubaues mögli-
chen Anfeindungen aussetzte. Hätte er doch für sei-
nen Neubau ohne weiteres ein hierzulande tradier-
tes Aussehen wählen können. Auch ist nicht ver-
ständlich, welche wirtschaftlichen Umstände und
Erwartungen ihn in dieser Zeit überhaupt zu einem
Neubau bewogen. Zwar lag der Ruggeller Zollertrag
im 18. Jahrhundert stets um ein Mehrfaches über
jenem der übrigen Nebenzollämter Balzers, Mäls
und Rofaberg zusammen. Und der Ausbau der
Reichsstrasse Lindau-Chur-Mailand und weiterer
Hauptstrassen in den 1780er-Jahren bewirkten ei-
nen starken Anstieg des Fuhrverkehrs und damit
höhere Zoll- und Tavernenerträge. Doch für die Zeit
der Bauplanung und -ausführung 1803/1804 kön-
nen hierzulande kaum wirtschaftliche Hoff-
nungsträger ausgemacht werden. Und die Grün-
dung des Rheinbundes 1806 mit momentan leichter
politischer Entspannung sowie die neue Zolltarif-
ordnung von 1808 mit markanten Ertragssteigerun-
gen lagen für Johann Büchel noch in ungewisser Zu-
kunft.
Mit dem Abbruch des Zoll- und Gasthauses zum
Schwert haben die Gemeinde Ruggell und das Fürs-
tentum Liechtenstein zu Gunsten eines anonymen
Privathauses ein prägnantes Geschichtszeugnis be-
sonderer Vielfalt verloren.
10) Albertin, 1999.
183
L I T E R A T U R
Albertin, Peter: Das neue
Bild einer alten Siedlung.
In: Liechtensteinisches
Landesmuseum. Geschich-
te, Sammlungen, Ausstel-
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tentums Liechenstein in
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beschreibung des Land-
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Jahrbuch des Historischen
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geschichte des Fürsten-
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des Historischen Vereins
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Poeschel, Erwin: Die
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Ruggell am Rhein. Lebens-
lauf und Lebensraum einer
liechtensteinischen Ge-
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Ruggell, 1994.
Stricker Hans; Banzer, To-
ni; Hübe Herbert: Die Orts-
und Flurnamen des Fürs-
tentums Liechtenstein.
6 Bände. Vaduz, 1999.
Vogt, Paul: Brücken zur
Vergangenheit. Ein Text-
und Arbeitsbuch zur liech-
tensteinischen Geschichte,
17. bis 19. Jahrhundert.
Vaduz, 1990.
Vogt, Paul: Furten, Fähren
und Brücken zwischen
Werdenberg und Liechten-
stein. In: Werdenberger
Jahrbuch 1990. Herausge-
berin: Historisch-Heimat-
kundliche Vereinigung des
Bezirkes Werdenberg.
Buchs, 1990, S. 154-164.
BILDNACHWEIS
Plan 1: Liechtensteini-
sches Landesmuseum,
Vaduz
Pläne 2-6 sowie Abb. 1-7
und 9: Peter Albertin, Win-
terthur
Abb. 8: Jahrbuch des His-
torischen Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein,
Band 68. Vaduz, 1968,
S. 199
ANSCHRIFT DES
A U T O R S
Peter Albertin-Eicher
Büro für Bau- und Sied-
lungsgeschichte
Zum Haldenhof
Etzbergstrasse 33
CH-8405 Winterthur
184
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
185
SOUVERTAN ODER
UNTERÄN?
EIN RÄSONNEMENT ZUR FEIER
«200 JAHRE SOUVERÄNITÄT FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 1806 BIS 2006»
STEFAN SPRENGER
SOUVERTAN ODER UNTERÄN?
STEFAN SPRENGER
Die Feier «200 Jahre Souveränität Fürstentum
Liechtenstein 1806-2006» scheint mir wie eine
breite Ölspur durch dieses Jahr: Man rutscht aus
und landet ohne sich zu versehen auf dem harten
Boden unserer derzeitigen innenpolitischen Tatsa-
chen. Und je genauer man hinschaut, desto schil-
lernder wird ihr Grund.
Ich erlaube mir in der Folge ein Räsonnement zu
den zweihundert Jahren, dem 12. Juli 1806 und
dem Begriff der Souveränität. Es soll kurz, sprung-
haft, ohne Hoffnung auf Anworten oder staatstra-
gende Absicht geschehen, mit dauerndem Sil-
berblick auf die Gegenwart und von der Literaturli-
ste des Historischen Vereins zum Thema Souverä-
nität geleitet. Historikerinnen und Staatsrechtler
sind zu exakten Definitionen und präzisen Abbil-
dungen verpflichtet; ich beanspruche nur ein Ah-
nen geschichtlicher Kontinuitäten und der Stoss-
richtung von Ideen.
Verblüfft bemerke ich, dass sich die von der Ge-
schichtsschreibung zur Verfügung gestellten Ein-
sichten in das Werden der liechtensteinischen Sou-
veränität unmittelbar auf Aktuelles übertragen las-
sen; so begleitet mich im Hintergrund auch die Fra-
ge, weshalb sich 1806 und 2006 so erschreckend
widerstandslos nahe sind.
189
ZWEIHUNDERT JAHRE
Sind meine Vorfahren - die Kleinbauern, Köhler,
Sennen, Schneiderinnen, Metzger, Fuhrmänner, Fa-
hrig gierinnen, Haushaltsmägde und Verdingbuben
- seit zweihundert Jahren souverän?
Je nach Definition der Souveränität setzt ihre
zumindest Halbsouveränität zum Beispiel erst
1921 mit einer Verfassung ein, die die von ihnen
gewählten Landtagsabgeordneten zum gesetzge-
benden Organ im Staat macht: Das sind achtund-
fünfzig Jahre einer halben Souveränität. Für die
Frauen unter ihnen beginnt das erst 1984. Das
sind nur zweiundzwanzig Jahre einer halben Sou-
veränität.
DER 12. JULI 1806
Der Tag, an dem der damalige Fürst von Liechten-
stein Johann I. die Rheinbundakte nicht unter-
zeichnete. Und auch später nie unterzeichnen
wird. 1 Obwohl er die dem Fürstentum von Napole-
on offerierte <souverainete> annimmt. Pardon,
nein: Er nimmt sie nur als Vormund seines von ihm
als Souveränitätsträger eingesetzten dritten und
dreijährigen Sohnes Karl an.
Also: Die vom Fürsten von Liechtenstein am
12. Juli 1806 nicht und niemals unterzeichnete
Rheinbundakte macht ein dreijähriges Kind zum
souveränen Herrscher eines winzigen Fürstentums
mit fünftausend mausarmen, nicht unbedingt <un-
terthänigen> Seelen.
Johann I. hat seine Gründe: Ihm, unter dem in
mehr als hundert Treffen dreiundzwanzig Pferde
ihre Leben lassen, ist die von Gegnerhand angebote-
ne <souverainete> der Pegasus, der seine Familie zur
Höhe eines regierenden Hauses aufschwingen lässt,
eine Höhe, die viele ähnliche Adelsgeschlechter, die
im Laufe der Mediatisierung und Nationenbildung
ihre landesherrliche Macht verlieren, unter sich
zurücklässt. Johann I. weiss, was ihm Napoleon an-
bietet; er weiss aber auch, dass er als Rheinbund-
fürst nicht mehr auf österreichischer Seite gegen
Frankreich in die Schlacht ziehen dürfte. Er will bei-
des und ersinnt die List, seinen jüngsten Sohn als
Machthaber des Fürstentums einzusetzen.
Auch Napoleon, der die liechtensteinische Ro-
chade des Fürsten mit dem unmündigen Prinzen
duldet, hat seine Gründe. Zum einen soll er langfris-
tig eine Allianz mit Österreich ins Auge gefasst und
den bewunderten, bei den Austerlitzer Waffenstill-
stands- und Friedensverhandlungen 1805 bereits
näher beschnupperten Schlachtengegner Johann I.
als diesbezüglichen Mittler geneigt und vielleicht
auch erpressbar gewünscht habend Zum anderen
mutmasst die Geschichtschreibung über ein napo-
leonisches Prinzip territorialer Manipulation: Jeder
grosse Rheinbundstaat wird mit der Existenz eines
benachbarten und sehr viel kleineren Staates be-
schäftigt und umgekehrt.3 Damit wäre die <souve-
rainete> des kleinen Fürstentums ein punktgenau
gesetztes Gegengewicht des als Rheinbundstaat um
Vorarlberg und Tirol vergrösserten Bayerns.
So sehr die Beweggründe für das Geben und
Nehmen dieser schon damals als wunderlich gel-
tenden Rheinbund-<souverainete> für das Fürsten-
tum Liechtenstein für die Geschichtsschreibung
eine Spur verschleiert bleiben, so sehr ist heute
noch etwas Hintergründiges, auch Hinterlistiges zu
spüren, ein fintenreiches und dennoch seltsam wohl-
wollendes Ködern, Locken und unverbindliches Kos-
ten, fast so, als wäre es ein Spiel gewesen. Tatsache
ist, dass Johann I. nach dem Pulverrauch und dem
Mediatisierungsgetümmel der napoleonischen Ära
die Souveränität für einen Staat in Händen hält und
behält, den es in dieser Form nach dem Wiener
Kongress 1815 überhaupt nicht mehr geben dürfte.
Kommt die <souverainete> für das Fürstentum
1806 fast vorläufig, fast thesenartig zustande, so
schlägt sie gültig und faktisch auf das Land und sei-
ne Bewohner durch. Denn die <souverainete>, das
heisst das Recht auf Gesetzgebung, Höchstgerichts-
barkeit, Hohe Polizeigewalt, Militärkonskription und
Steuerhoheit, ist vor allem eine Souveränität nach
innen und weniger nach aussen.
Schon 1808 - Jahre vor Napoleons politischem
Ende - verpasst Johann I. meinen Vorfahren eine
Dienstinstruktion, die sie sowohl entrechtet als
auch unter seinen absoluten Willen bringt, wäh-
190
SOUVERTAN ODER UNTERÄN?
STEFAN SPRENGER
rend er, der Fürst, sich über seine eigene Gesetzge-
bung erhebt. Die durch keine Abwahl zu beenden-
de Immunität des heutigen Fürsten und seines
Stellvertreters ist unmittelbare Folge dieser herr-
schaftlichen Selbsterhöhung.
Mit der massiven Verzerrung politischer Höhen-
linien endet 1808 eine frühe Form des Dualismus
zwischen <landsbräuchlichen> Rechten des Volkes
und Rechten des Fürsten.
Souveränität ab 1806 heisst vor allem die Sou-
veränität des Fürsten über ein Fürstentum als ab-
soluter Machtanspruch nach innen. Johann I. zerrt
das <Fürstenthum> in der Folge aus mehr oder we-
niger spätmittelalterlichen und durchaus arabes-
ken Rechts-, Besitz- und Bildungsverhältnissen in
eine staatliche Vormoderne mit Schulpflicht und
bürgerlichem Gesetzbuch. Aus dialektischer Per-
spektive bietet der souveräne Durchgriff erneut ein
Beispiel für die seltsam verwirbelten Fahrwasser
der <souverainete> von 1806: Johann I. legt die
Fundamente für die Legitimation des Fürstentums
als Staat im neunzehnten Jahrhundert. Ob und wie
das meinen Vorfahren gelungen wäre, bleibt ge-
schichtliche Mutmassung; zweifellos wäre es später
geschehen und möglicherweise nicht rechtzeitig,
um in heutiger Gestalt das Ende des Deutschen
Bundes zu überstehen.
Das Deutungs- und Strategiemonopol des Fürs-
ten und seines Stellvertreters über die zukünftige
Entwicklung des Staates Liechtenstein, das sich
nach der Verfassungsrevision von 2003 immer deut-
licher bemerkbar macht, knüpft an dieses <Staats-
bauen> Johanns I. an.
Es ist hingegen im frühen zwanzigsten Jahrhun-
dert eindeutig die bürgerliche Seite, die den Staat
sicher durch den Zusammenbruch der Donaumon-
archie bringt und mit der Verfassung von 1921,
dem Zoll- und Währungsvertrag mit der Schweiz
und dem PGR die liechtensteinische Souveränität
weiter schreibt.
Das Land meiner Vorfahren ist nach Eintritt in
die <souverainete> weniger ein Staat als wohl eine
der seltsamsten Kolonien im 19. Jahrhundert:
Straff und dauerdefizitär von Wien aus geführt, oft
am Rande der Auflehnung und mehrmals nur
durch militärische Drohungen des Fürsten zum
Stillhalten gebracht, liefert es seinem fernen Kolo-
nialherren den berauschendsten und teuersten
Aromastoff der damaligen Politik, die Souveränität,
die den Fürsten zur Stellung eines ausländischen
Regenten im österreichischen Kaiserreich erhebt,
obwohl er gleichzeitig seiner dortigen Besitzungen
wegen Grundherr unter der Souveränitätsfuchtel
eben dieses Kaisers bleibt.
Diese «prinzipielle Ambivalenz in der jeweiligen
Person der liechtensteinischen Fürsten» 4 findet ei-
ne verzerrte Spiegelung in der heutigen Politik, wenn
Fürst und Stellvertreter nach gusto und in einem
munteren Rollenspiel sowohl als Bürger als auch
als fürstliche Souveräne auftreten.
Der 1806 verlorene Dualismus steckt meinen
bockbeinigen Vorfahren in den Knochen: Er wird
zum Fluchtpunkt ihrer politischen Bemühungen für
mehr als hundert Jahre. In gewisser Weise kom-
men sie erst mit der Verfassung von 1921 dort wie-
der an, wo sie noch 1805 waren. Interessanterwei-
se ist der Dualismus 2006 nach der Verfassungsre-
vision 2003 ein Schritt hinter diese Errungenschaf-
ten zurück und ist in meinen Augen als Teil eines
fürstlichen Revisionsversuchs im Geiste des Abso-
lutismus von 1806 zu sehen.
Der 12. Juli 1806 ist also der Tag, an dem die
vom Fürsten von Liechtenstein nicht und niemals
unterzeichnete Rheinbundakte ein dreijähriges Kind
zum Herrscher eines Fürstentums macht, dessen
durch diesen Akt entrechtete und kolonialisierte
Bewohner hundertfünfzehn Jahre brauchen, um
sich in einem Staat, dessen Dasein ohne diese
Rheinbundakte fraglich wäre, einen wenigstens halb-
modernen Dualismus zu verschaffen, während der
Fürst über alle Gesetze entschwebt, zum ausländi-
schen Regenten in Österreich wird, dennoch Unter-
tan des dortigen Kaisers bleibt, und es seinen
1) Schmidt, S. 392.
2) Ebenda. S. 396.
3) Ebenda, S. 397 f.
4) Mazohl-Wallnig, S. 21.
191
Nachfahren hundertsiebenundneunzig Jahre spä-
ter gelingt, den halbmodernen Dualismus in Liech-
tenstein zu einem viertelmodernen zurückzu-
schrauben. Wer da nicht ins Rutschen kommt...
DIE SOUVERÄNITÄT
Im «Lexikon der Politik» wird Souveränität wie
folgt definiert: Sie ist «der den modernen Staat
nach innen und aussen konstituierende Herr-
schaftsanspruch». 5 Es wird ausgeführt, dass der
Begriff in internationalen Beziehungen «als ord-
nungs- und realpolitisch überholt» 6 gelte, weil In-
ternationalisierung und gegenseitige Abhängigkei-
ten die Souveränität der Nationalstaaten obsolet ge-
macht hätten. Allerdings bleibe Souveränität nach
aussen ein Begriff, der - unabhängig von den realen
Machtverhältnissen - die Gleichheit aller Staaten
postuliere und so de facto im internationalen Sys-
tem ein Minderheitenschutz für kleinere Staaten
sei.
Man höre hier also zweierlei: Wir feiern zum ei-
nen mit 200 Jahren Souveränität nicht nur einen
überholten, sondern auch ideellen, vielleicht auch
fiktiven Begriff, der mehr eine Behauptung oder
Forderung eines Kleinstaates als sein historisch ge-
sicherter und tatsächlicher Besitz ist. Zum anderen
zelebrieren wir einen Begriff, der heute - wie die
<souverainete> von 1806 - hauptsächlich einen In-
nenbezug hat.
Als Belege seien ein aussen- und ein innenpoliti-
sches Geschehen aus der jüngsten liechtensteini-
schen Politik angeführt.
EU- und EWR-Länder begegnen mit Groll dem
anlässlich der EU-Erweiterung 2003 von Liechten-
stein ins Feld geführten Argument, die vor 1991
von der Tschechoslowakei nicht anerkannte liech-
tensteinische Souveränität müsse Tschechien für
eine Mitgliedschaft in der EU im Wege stehen.
Auf den halluzinogenen und nach innen gerichte-
ten Charakter des liechtensteinischen Souveräni-
tätsbegriffs verweist Erzbischof Wolfgang vor der
Abstimmung über die Verfassungsinitiative <Für
das Lebern im Dezember 2005, indem er die liech-
tensteinische Souveränität als Möglichkeit erkennt,
zusammen mit dem Fürstenhaus die Grundlagen
für einen christlichen Gottesstaat zu legen.
Wo aber ist diese Souveränität in Liechtenstein
selbst zu finden? Offenbar sind es Gestein, Hang-
wälder und Schwemmland des Gebietes zwischen
Ellhorn, Bangser Riet, Sareiser Joch und den Wuhr-
steinen am rechten Rheinufer, die zur <souverai-
nete> befähigen. Allerdings ist es nicht Napoleon,
der diesen Boden damit anreichert; der Boden ist
bereits vor ihm mit einer Kostbarkeit durchmischt,
die einen früheren Fürsten von Liechtenstein tief in
die Prunkbörse hat greifen lassen, um in ihren Be-
sitz zu kommen: Johann Adam I. kaufte die Graf-
schaft Schellenberg und die Herrschaft Vaduz der
im späten vierzehnten Jahrhundert vom deutschen
Kaiser verliehenen Reichsunmittelbarkeit wegen.
Der 157 Quadratkilometer grosse Rest war dem
Fürsten Rüfegeröll und Ofenrauch. Napoleon, der
mit dem Rheinbund bewusst das Heilige Römische
Reich Deutscher Nation zu Fall bringen will und
das auch erreicht, verwandelt diesen bereits vorge-
fundenen und für sehr ferne Zwecke benötigten
Glimmer zur <souverainete> weiter, und zwar ge-
biets- und nicht personenbezogen. <Souverainete>
als Folgeprodukt der Reichsunmittelbarkeit be-
kommt zuallererst das Fürstentum. Es sind also
Rheinwacken und Streurieter dann die Botenstoffe,
die die <souverainete> weiterreichen, nicht an den
Besitzer dieser Gebiete, die Dorfgenossenschaften
oder Bauern, sondern an den Besitzer der Herr-
schaftsrechte über dieses Gebiet.
Der Fürst wird nur zum Träger der Souverä-
nität, er ist nicht ihr Grund. Deshalb bleibt er - will
er denn die Souveränität haben - an eben diesen
Grund gebunden. In der liechtensteinischen Verfas-
sungssprache ist das als «Verankerung» der Sou-
veränität im Fürsten (und im Volk) benannt. Das
scheint mir das eigentliche Abhängigkeitsverhält-
nis zumindest des Fürsten verkehrt abzubilden: Er
ist an die Souveränität der 160 Quadratkilometer
liechtensteinischen Staates gekettet. Springt diese
Kette, verliert nicht Liechtenstein, sondern der
Fürst die Souveränität.
192
SOUVERTAN ODER UNTERÄN?
STEFAN SPRENGER
Das kann für die dualistischen Binnenkämpfe,
die die liechtensteinische Innenpolitik in den letz-
ten fünfzehn Jahren geprägt haben und wohl wei-
ter prägen werden, nicht unwichtig sein: Das
<Grundkapital> der Souveränität befindet sich in
bürgerlicher Hand.
Was bin ich nun als Liechtensteiner Bürger 2006
in einem Land mit den beiden Souveränen Volk
und Fürst? Immerhin zur Hälfte souverän. Da geht
also diese souveräne Hälfte spazieren, wählt den
Landtag und zahlt Steuern. Das geht alles gut, nur,
was und wo ist meine andere Hälfte?
Der Fürst hat hier kein Problem: Mit der einen
Hälfte ist er Fürst, mit der anderen Bürger. Aber
sind wir, die Bürger, mit unserer anderen, noch un-
bestimmten Hälfte Fürsten? Nein, sind wir nicht.
Dennoch gehört diese Hälfte in die Sphäre der
Monarchie: Wir sind also Untertan.
Die eine Hälfte Souverän, die andere Untertan.
Das macht aus mir einen Souvertanen. Oder Un-
teränen. Nett, hier die Wahl zu haben.
schichtlichen Moments, den es eigentlich gar nicht
gegeben hat.
5) Seidelmann, S. 449.
6) Ebenda.
7) Geiger, Anschlussgefahren. S. 53.
200 JAHRE, DER 12. JULI 1806 UND
SOUVERÄNITÄT
Mir ist bewusst, dass dieses lückenhafte und durch-
aus voreingenommene Räsonnement über den Ti-
tel der diesjährigen Feier das Meiste und Zukunfts-
trächtige der liechtensteinischen Souveränität über-
geht.
Verblüfft stelle ich aber fest, dass bereits im
Werden der liechtensteinischen Souveränität die
Träume und Alpträume des jetzigen Fürstentums
verknäuelt liegen - das Wunderliche dieses Landes,
das Peter Geiger einmal als «merkwürdiges, der Ge-
schichte entwachsenes, ja entronnenes Naturspiel»
benannte;7 der Modellstaat; die plötzliche Massen-
verlagerung im Dualismus und der zeitlupenhafte
Aufbau eines Gegengewichts - , und es scheint als
bezögen sich viele grossen Ereignisse der liechten-
steinischen Innenpolitik der letzten zweihundert
Jahre auf diesen einen Julitag eines vorvergange-
nen Jahrhunderts, als seien sie nichts als Revisio-
nen oder Revisionen der Revisionen jenes ge-
193
L I T E R A T U R
Boich, Hans: Souveränität.
In: Geschichtliche Grund-
begriffe. Hrsg. von Otto
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und die Revolution 1848.
Umfeld - Ursachen - Ereig-
nisse - Folgen. Hrsg. von
Arthur Brunhart. Zürich,
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A N S C H R I F T DES
A U T O R S
Stefan Sprenger
Im Malars 9
FL-9494 Schaan
194
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
195
NATIONALE
IDENTITÄT
E I N E U M F R A G E A U S A N L A S S 200 J A H R E
SOUVERÄNITÄT D E S F Ü R S T E N T U M S
L I E C H T E N S T E I N
W I L F R I E D M A R X E R
Inhalt
199 Ident i tä t : Der Begriff
200 Studien zur liechtensteinischen Iden t i t ä t
203 Liechtenstein als Nation?
212 Datengrundlagen
213 Liechtensteinische Iden t i t ä t s a spek te
217 Internationalismus, Integration, Migra t ion
221 Besonderheiten nach soziodemographischen
Gruppen
222 Neue Variablen
225 Einstellungen der Bevö lke rung
229 Wo liegen die Trennlinien?
231 Zusammenfassung und Interpretation der
Ergebnisse
198
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
IDENTITÄT: DER BEGRIFF
Wenn man sich mit der Frage nach der nationalen
Ident i tä t auseinandersetzt, stellt man schnell fest,
dass der Begriff selbst nicht einfach zu fassen ist. 1
Was genau ist nationale Iden t i t ä t? Welche Elemente
fliessen ein? «Wie bildet sie sich heraus? Es sind
verschiedene Interpretationen des Begriffs mögl ich .
Al l en gemeinsam ist z u n ä c h s t , dass ein Bezug zu
den Teilbegriffen des Nationalen und der Iden t i t ä t
gegeben sein muss. Damit fangen aber bereits die
Probleme an. M i t dem Begriff des Nationalen kann
man die staatliche Dimension assoziieren, insbe-
sondere wenn Staat und Nation gleichgesetzt wer-
den. Neben territorialen, staatlichen Grenzen kann
aber auch eine andere F o r m von Nation gemeint
sein, also etwa eine ethnische Gemeinschaft. Keine
geringeren Probleme stellen sich be im Begriff der
Ident i tä t . Ident i tä t kann aus sich selbst heraus, aber
auch in Abgrenzung zu anderen definiert sein. Da
die nationale Ident i tä t offensichtlich eine F o r m kol-
lektiver Ident i tä t darstellt, ist auch die Frage aufge-
worfen, ob sich dies in der Summe der Einzelauffas-
sung der angesprochenen Individuen ergibt, oder
ob das Kollektiv selbst mit I den t i t ä t s a t t r i bu t en aus-
gestattet ist. Es deutet sich hier bereits eine mögl i -
che Polar i tä t an, die uns s p ä t e r in der Analyse wie-
der begegnen w i r d : E inem an der Gemeinschaft or i-
entierten Iden t i t ä t skonzep t , welches traditionali-
stisch, kollektivistisch und statisch wirkt , steht ein
eher dynamisches, am Individuum orientiertes
Iden t i t ä t skonzep t gegenüber . W i r wollen uns in die-
sem Beitrag auf eine Definition der nationalen Iden-
ti tät abs tü t zen , welche terr i torial gesehen die staat-
liche Dimension i m Auge hat, dabei aber sowohl i n -
dividuelle wie auch kollektive Aspekte der Iden t i t ä t
einbezieht.
Aus der I d e n t i t ä t s f o r s c h u n g weiss man, dass sich
nationale Iden t i t ä t i m Zuge der LIerausbildung der
Nationalstaaten mit Schwerpunkt i m 19. Jahrhun-
dert - aber nicht ohne weiteres - entwickelt hat.
Gstöhl schreibt zur Definitionsfrage: « Iden t i t ä t ist
nichts Naturgegebenes, sondern etwas Hergestell-
tes, ein soziales Konstrukt, welches eng mit Emotio-
nen verwoben und deshalb nur schwer objektivier-
bar i s t .» 2 Die Staaten setzten und setzen ein breites
Repertoire ein, u m so etwas wie ein nationales Be-
wusstsein zu f ö r d e r n . Dazu bedienten sie sich ver-
schiedener Symbole, Flaggen, Wappen, National-
hymnen, öf fen t l icher Feiern, Gedenk- und Staatsfei-
ertagen und vielem mehr. 3 Nationale Iden t i t ä t ist so-
mit weitgehend ein Konstrukt. Aber wie steht es mit
der liechtensteinischen Nationenbildung als Grund-
lage einer staatlichen Iden t i t ä t aus?
Amelunxen zweifelt an, dass sich i n Liechten-
stein eine <Nation> bi lden konnte, da die Bewohner
erst spä t zu politischer Wil lensbi ldung und soziokul-
tureller Se lbs tänd igke i t gelangten: «Das Volk von
Liechtenstein ist i n f r ü h e r e n Jahrhunderten kaum
gefragt worden, ob und wie es sein Zusammenleben
und seine Zukunft gestalten wollte. Die F ü r s t e n , die
das Gebiet aus der Konkursmasse verschuldeter
Grafen kauften, gaben dem Land ihren Namen,
nicht umgekehrt ... Die S o u v e r ä n i t ä t kam ebenso
ungefragt als Geschenk von aussen, gewissermas-
sen durch historischen Zufa l l .» 4
Mit Bezug auf Liechtenstein und dessen engen
staatlichen Grenzen kann gefragt werden, ob über -
haupt die Bedingungen f ü r die Herausbildung einer
nationalen Iden t i t ä t gegeben sind. 1719 wurden die
vereinigten Landschaften Schellenberg und Vaduz
zum R e i c h s f ü r s t e n t u m Liechtenstein erhoben. Seit
1806 ist Liechtenstein ein s o u v e r ä n e r Staat. Retro-
spektiv kann die Frage gestellt werden, ob übe r -
haupt und gegebenenfalls in welchen Etappen, in
welcher Kon t inu i t ä t oder mit welchen B r ü c h e n sich
so etwas wie eine liechtensteinische nationale Iden-
ti tät herausgebildet hat. Nachdem nun allerdings
der Zenit mög l i chs t autarker, u n a b h ä n g i g e r , souve-
r ä n e r Nationalstaaten ü b e r s c h r i t t e n scheint, ist noch
eine weitere Perspektive nationaler Iden t i t ä t ange-
sprochen: Fiat das Konstrukt einer nationalen Iden-
1) Ein Dank für die kritische Durchsicht des Manuskriptes geht an
Dr. Rupert Quaderer. Dr. Zoltän T. Pällingor und lic. phil. Alicia Längle.
2) Gstöhl 1999. S. 1.3
3) Vgl. Grcw 1986. S. 35 ff.
4) Amelunxen 1973. S. 57-58.
199
Gebiete und Herrschaften, Brandis Gebiete und Herrschaften, Hohenems
deren Formen und Zu- Souveräne Orte deren Formen und Zu- HHI Souveräne Orte
gehörigkeiten in der gehörigkeiten in der
Ostschweiz, in Liechten- Untertanenlande Ostschweiz, in Liechten- HHI Untertanenlande
stein sowie im Westen einzelner Orte stein sowie im Westen einzelner Orte
Österreichs um 1500 (Werdenberg zu Österreichs um 1650 (Werdenberg zu
Luzern, Sax zu Glarus, Sax zu
Zürich) Zürich)
HM Habsburg H E Habsburg
H l Gemeine Herr- HH1 Gemeine Herr-
schaften schaften
Zugewandte Orte H B Zugewandte Orte
202
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
LIECHTENSTEIN ALS NATION?
Es lässt sich aus heutiger Sicht nicht mit Sicherheit
feststellen, ab wann und in welchen Schritten sich
so etwas wie eine liechtensteinische nationale Iden-
ti tät herausgebildet hat. F ü r die Schweiz w i r d der
Beginn einer Nationalidee von Im Hof etwa auf das
Jahr 1500 datiert. Der Zeitraum vom 14. bis 16.
Jahrhundert ist die G r ü n d u n g s p h a s e und Phase der
Nationenwerdung, i m 16. /17. Jahrhundert folgte
die Krise der Konfessionalisierung und die Stabilisie-
rung des Nationalbewusstseins, im 18. Jahrhundert
wurde der Patriotismus erneuert, die erste Hälf te des
19. Jahrhunderts brachte die Demokratisierung des
helvetischen Patriotismus, die zweite Hälf te des
19. Jahrhunderts die Behauptung der Schweiz als
Kleinstaat im nationalistisch-imperialistischen Eu-
ropa, und i n der ersten Hälf te des 20. Jahrhunderts
folgte die «Geistige Landesve r t e id igung» in einem fa-
schistischen Europa . 8
Als was sahen sich die Bewohner innen und Be-
wohner von Schaan oder Mauren im 15. Jahrhun-
dert, i m 18., 19. oder 20. Jahrhundert? Wi r k ö n n e n
dazu nicht al l zu viel sagen. Es ist stark anzuneh-
men, dass zur Zeit der Grafenherrschaften bis zum
Kauf der Herrschaft Schellenberg und der Graf-
schaft Vaduz durch das Haus Liechtenstein der kol-
lektive I d e n t i t ä t s r a d i u s terri torial eher kle in war.
Die Bevölkerung dü r f t e sich weitgehend ü b e r die
Zugehör igke i t zu einer Famil ie oder Sippe, einen
Dorfteil , ein Dorf, eine Genossenschaft und viel-
leicht noch ü b e r die Landschaft definiert haben. A u f
Basis der Landammannverfassung war der Bevöl-
kerung immerh in ein Mitspracherecht bei der Wah l
des Landammanns und der Richter zugesichert,
welcher in erster Instanz richtete. Da eine solche
Wahl je fü r die Herrschaft Schellenberg (heutiges
Liechtensteiner Unterland) und die Grafschaft Va-
duz (heutiges Liechtensteiner Oberland) erfolgte,
war eine institutionelle K lammer f ü r diese r ä u m l i -
chen Bezugsg rös sen gegeben.
Weitere I d e n t i t ä t s m o m e n t e k ö n n t e n sich in A b -
grenzung zu Nachbarregionen ergeben haben, also
etwa g e g e n ü b e r den Bewohnern auf der anderen
Rheinseite, sowie g e g e n ü b e r den Bewohnern der
grenznahen Gebiete des heutigen Vorar lberg und
der B ü n d n e r Herrschaft . Schliesslich könn t e auch
der gemeinsame Untertanenstatus Iden t i t ä t gestiftet
haben. Dabei ist aber eher zu bezweifeln, dass sich
zwischen den gemeinsamen Untertanen der jeweil i -
gen Grafen auch eine gemeinsame Iden t i t ä t ent-
wickelt hat. So unterstanden die Bewohner des heu-
tigen Liechtenstein etwa in der Brandisischen Zeit
(1416-1510) der gleichen Obrigkeit wie die Maien-
felder i m heutigen G r a u b ü n d e n und die Blumeneg-
ger i m heutigen Vorarlberg, w ä h r e n d unter der Ho-
henemser Herrschaft (1613-1699/1712) die Luste-
nauer und Hohen emser Bevö lke rung der gleichen
Flerrschaft unterstellt war wie die <Schellenberger>
und <Vaduzer> (vgl. Abbi ldungen auf Seite 202).
Erst recht ist nicht anzunehmen, dass sich die da-
maligen Bewohner des Rheintals explizit als A n -
gehör ige des Al ten Reiches, also des H l . R ö m i s c h e n
Reiches Deutscher Nation, gefüh l t haben. Dazu
dü r f t e der b ä u e r l i c h e Al l tag zu weit vom Geschehen
des Hofes in Wien und der Weltpolitik entfernt ge-
wesen sein. Aber auch das entzieht sich unserer
derzeitigen Kenntnis . Dennoch war die Bevö lke rung
nicht gänz l ich abgeschottet von g r ö s s e r e n poli t i-
schen R ä u m e n . Jedenfalls belegt der am Ende des
17. Jahrhunderts pe r sön l i ch vorgetragene Protest
der Bevö lke rung am Hof in Wien gegen die Herr-
schaft der Hohenemser, dass das Wissen um die Zu-
gehör igke i t zum Alten Reich vorhanden war - we-
nigstens bei einer Elite.
Gerade kriegerische Auseinandersetzungen kön-
nen andererseits theoretisch sehr woh l dazu beige-
tragen haben, Zugehör igke i t sge füh le zu g r ö s s e r e n
territorialen und politischen R ä u m e n zu entwickeln.
Im Schwabenkrieg 1499 etwa fand eine bedeutende
Schlacht bei Triesen statt, sodass die Bevö lke rung
kaum ü b e r s e h e n konnte, dass sie in eine Auseinan-
dersetzung zwischen dem E i d g e n ö s s i s c h e n Bund
und dem S c h w ä b i s c h e n Bund als Tei l des traditio-
S) Im Hof, Ulrich (1991) zum «Mythos Schweiz» im Rahmen des Na-
tionalen Forschungsprogramms 21, zitiert nach Kreis 1993. S. 36.
203
nell-monarchischen Al ten Reiches geraten war. 9 In-
wiefern dies i d e n t i t ä t s p r ä g e n d gewirkt hat und in
welche Richtung die Herzen polit isch geschlagen
haben, wissen w i r nicht mit Sicherheit. Da die
Schlacht jedoch auf Triesner Boden stattfand, wel-
ches somit nicht geschont wurde, ist zu vermuten,
dass die Bevö lke rung des heutigen Liechtenstein
dem Alten Reich anhing. Sicher gilt dies f ü r die
Brandisische Obrigkeit, die sich i m Schwabenkrieg
auf die Seite des S c h w ä b i s c h e n Bundes und der K a i -
serlichen gestellt hatte. Schloss Vaduz wurde in den
Auseinandersetzungen abgebrannt und gep lünde r t ,
Ludwig von Brandis nach Luzern verschleppt und
s p ä t e r erst gegen Lösegeld wieder freigesetzt. Die
Untertanen von Schellenberg und Vaduz mussten
i m S c h w ä b i s c h e n Reichskreis des Alten Reiches ein
Truppenkontingent stel len, 1 0 und die Bevö lke rung
musste hinnehmen, dass ihre Dörfe r g e p l ü n d e r t
und ve rwüs t e t wurden. A u c h die Legende von Ul i
Mariss , der i m Schwabenkrieg den Eidgenossen den
Weg ü b e r Saroja nach Frastanz zeigte und damit als
Ver rä t e r gilt, weist auf eine kaiserliche Gesinnung in
der Bevö lke rung hin.
A u c h w ä h r e n d des Dre i ss ig jähr igen Krieges 1618
bis 1648 oder rund 150 Jahre s p ä t e r i n den Napo-
leonischen Wi r r en standen fremde Truppen auf
dem Boden des heutigen Liechtenstein. Als was
füh l t en sich die Einwohner damals, wenn schwedi-
sche oder f r anzös i sche Truppen marodierend durchs
Land zogen? Mit wem solidarisierten sich die dama-
ligen Bewohner? Wem lasteten sie die Schuld an?
Entwickelte sich eine neue Ident i tä t , und wenn ja, in
welche Richtung?
Mit dem Ende des Al ten Reiches erlangte 1806
das R e i c h s f ü r s t e n t u m Liechtenstein die nationale
Souverän i t ä t . Dies war das Ergebnis der i m Lande
als « F r a n z o s e n k r i e g e » erlebten Zeit des Siegeszu-
ges Napoleons durch Europa und der damit einher-
gehenden Z w a n g s g r ü n d u n g des Rheinbundes (1806-
1813). Die Erlangung der S o u v e r ä n i t ä t an sich dürf-
te die Bevö lke rung allerdings nicht stark bewegt ha-
ben. Staatsrechtlich war zwar die S o u v e r ä n i t ä t an
das Terr i tor ium des Staates Liechtenstein gebun-
den, 1 1 t a t säch l ich wurde jedoch die Aussenpolit ik
vom F ü r s t e n h a u s i m weit entfernten Wien be-
stimmt. Die Erlangung der Eigenstaatlichkeit war
denn auch kein Werk einer selbstbewussten l iech-
tensteinischen Bevölkerung , sondern Ergebnis na-
poleonischer Politik und glückl icher Diplomatie von
F ü r s t Johann I.
Der Ü b e r g a n g in eine spä t abso lu t i s t i s che Phase
der H e r r s c h a f t s a u s ü b u n g in der ersten Hälf te des
19. Jahrhunderts erscheint ebenso ungeeignet, eine
positive nationale liechtensteinische Iden t i t ä t in der
Bevö lke rung zu wecken. Gleichzeitig war mit der
Abschaf fung der h e r k ö m m l i c h e n Rechte (Lands-
brauch) ein I d e n t i t ä t s m o m e n t weggefallen. Ä n d e r t e
sich dadurch etwas? Wi r m ü s s e n spekulieren. Auf-
grund des Protestes gegen die Abschaf fung von an-
gestammten Volksrechten und auch dem nachfol-
genden Widerstand und Missfallen g e g e n ü b e r von
oben angeordneten Modernisierungen (Bodenre-
form, Bildungswesen u.a.) liegt die Vermutung nahe,
dass weder die Staatsbezeichnung «Liech tens te in»
noch der Staat und die staatliche Obrigkeit ein Iden-
tif ikationsmoment f ü r die Bevö lke rung darstellten.
Es ist kaum vorstellbar, dass sich die M ä n n e r und
Frauen damals als «L iech tens t e ine r» gefüh l t und
bezeichnet haben.
Im Deutschen Bund (1815-1866) wurde Liech-
tenstein ebenfalls Mitgl ied. Die Belastungen aus der
Mitgliedschaft - insbesondere Abgaben und Kriegs-
dienst - stiessen i n der Bevö lke rung allerdings auf
Missfa l len und Ablehnung, gelegentlich von A u f r u h r
begleitet. 1 2 1840 reiste sogar eine dre iköpf ige Dele-
gation unter der F ü h r u n g von Peter Kaiser « im Auf-
trag der Liechtensteiner Bevö lke rung» nach Wien ,
um verschiedene Anliegen, unter anderem eine bes-
sere Vertretung des Volkes und eine Verminderung
der Mi l i t ä rkon t ingen tkos ten , direkt dem F ü r s t e n
vorzutragen. 1 3 A u c h dies kann als Indiz d a f ü r ge-
nommen werden, dass keine starke Identifikation
mit dem liechtensteinischen Staatswesen bestand,
der Staat eher als Belastung und Fremdherrschaft
empfunden wurde.
Interessant ist hierbei die Entwicklung rund um
das Jahr 1848. Im V o r m ä r z und bei den i n ganz
Deutschland verbreiteten A u f s t ä n d e n 1848 war
auch die Bevö lke rung Liechtensteins involviert. Mi t
Peter Kaiser reiste ein vom Volk bzw. dem revolu-
204
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
t i o n ä r e n Ausschuss g e w ä h l t e r Abgeordneter als
Vertreter des Deutschen Bund-Mitglieds Liechten-
stein zur Deutschen Nationalversammlung nach
Frankfurt . Nach rund vier Monaten wurde er von
Kar l Schäd le r a b g e l ö s t . 1 4 Als was gingen sie? Als
Liechtensteiner? Oder als Vertreter eines Teilgebie-
tes des avisierten deutschen Nationalstaates, wel-
cher in der Frankfur ter Paulskirche geschaffen wer-
den sollte? Oder als Vertreter einer erst noch zu ent-
wickelnden neuen Staatsidee Liechtensteins?
Es ist durchaus mögl ich , dass bei der Abreise
nach Frankfur t auch die Option eines Anschlusses
Liechtensteins an einen künf t igen deutschen Staat
bestand. Nach Brunhar t war Kaiser « g r o s s d e u t s c h »
gesinnt. 1 5 Langewiesche ordnet Kaiser der Gruppe
des «ka tho l i schen F r ü h l i b e r a l i s m u s » 1 6 zu, der sich
d a f ü r einsetzte, « d e n Deutschen Bund, diese Verei-
nigung von Fü r s t en , in einen nationalen Verfas-
sungsstaat zu verwandeln, doch er wollte keinen
Zentralstaat, sondern die Gemeinden sollten ge-
s tä rk t werden, und vor al lem b e f ü r w o r t e t e er ent-
schieden die historisch gewachsene födera t ive Vie l -
f a l t . » 1 7 Bei der R ü c k k e h r aus Frankfur t ging Kaiser
deutlich auf Distanz zu einem deutschen National-
staat, wenn er i n seinem als politisches Testament 1 8
zu betrachtenden Brief vom 25. November 1848
schreibt: «Wir k ö n n e n unsern Zustand nicht we-
sentlich verbessern, wenn w i r uns an einen g rös -
sern Staat anschliessen, sobald uns das allgemeine
deutsche B ü r g e r r e c h t und der freie Verkehr gesi-
chert ist. W i r m ü s s e n trachten, unser Glück uns sel-
ber zu verdanken; der geht immer am sichersten,
der sich auf seine eigene Kraf t v e r l ä s s t . » 1 9
Wie dies auch gewesen sein mag, i m Ergebnis ha-
ben die Ereignisse der 1840er Jahre ein Erstarken,
wenn nicht den Beginn einer erwachenden nationa-
len Ident i tä t markiert . Press schreibt in diesem Zu-
sammenhang: « G e w i s s e r m a s s e n ein Erwecker und
Prophet war Peter Kaiser f ü r das kleine Volk von
Liechtenstein, das mit erstaunlicher Gelassenheit
den schwierigen I d e n t i t ä t s f m d u n g s p r o z e s s z w i -
schen Deutschland, Ös te r re i ch und der Schweiz, der
Habsburger Monarchie , der deutschen Nationalbe-
wegung und dem Schweizer Nachbarn bewäl t ig t
hat. Das entscheidende Verdienst von Peter Kaiser
ist also seine Rolle f ü r die Stiftung einer liechtenstei-
nischen Ident i tä t . Sie war nicht nur auf den F ü r s t e n ,
sondern auch auf das Volk b e g r ü n d e t , das er sich
selbst f inden h a l f . » 2 0 Der Beginn eines in breiteren
Schichten - Press spricht von der « d a m a l s im Lande
politisch massgeblichen Gruppe, n ä m l i c h fü r die
Liechtensteiner N o t a b l e n » 2 1 - verankerten nationa-
len Bewusstseins ist i n mehrfacher Hinsicht eng mit
der Person von Peter Kaiser v e r k n ü p f t . Erstens legte
er 1847 als Urvater der liechtensteinischen Ge-
schichtsschreibung mit seinem Buch ü b e r die Ge-
schichte des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein den Grund-
stein f ü r ein Nationalbewusstsein. 2 2 Nach Brunhar t
konnte er damit «g le i chsam das Bewusstsein einer
nationalen Iden t i t ä t projizieren, die auf einer ge-
meinsamen Geschichte beruhte und das selbstbe-
wusste Auftreten der Bevö lke rung g e g e n ü b e r der
Landesherrschaft e r m ö g l i c h t e . » 2 3 Zweitens for-
mierte sich das Volk in dieser Zeit zusehends. Die
Reise Peter Kaisers 1840 an den Hof nach Wien und
1848 in die Frankfur ter Paulskirche wurde er-
9) Zum Schwabenkrieg bei Kaiser 1847; Nioderstät ter 2000. Zu Uli
Mariss v. a. Frick 1962. Zusammenfassend zum Schwabenkrieg in
Liechtenstein und zu Uli iMariss Wanger 1999 (mit Verweis auf Kai-
ser und Frick).
10) Vogt 1990, S. 134. Das Kontingent betrug vorerst 55 Mann. 1855
wurde das Kontingent auf 64 und 1862 auf 82 Mann erhöht .
111 Schmie! 1978, S. 97 ff.
12) Quaderer 1969. Zur Militärgeschichtc von 1814-1849 ausführ-
lich Quaderer 1991.
13) Brunhan 1989, S. XV.
14) Ebenda, S. XV. Zur Biographie von Feter Kaiser vgl. generell
Brunhart 1989.
15) Brunhart 1989. S. XV.
16) Langewiesche 1993. S. 49.
17) Ebenda, S. 51.
18) Kind 1905, S. 32: Brunhart 1989, S. XV.
19) Zit. nach Kind 1905, S. 33 f.
20) Press 1993, S. 63.
21) Ebenda, S. 63.
22) Kaiser 1847,- 1989.
23) Brunhart 1989. S. X X I X .
205
Tabelle 1: Identitäts-
stiftende Momente im Be-
reich der Kultur und des
Sports
1847 Peter Kaisers «Geschichte des .Fürsterithums Liechtenstein»
1876 Regierungssekretär Rheinberger gibt eine Landeskunde heraus
(aus: 1699-1999)
1879 Zweite wissenschaftliche Arbeit über FL: «Die Alpwirtschaft im Fürs-
tenthum Liechtenstein» (Hippolyt von Klenzej
1879 Erstes Landessängerfest
1901 Gründung des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein
191.2 Erste liechtensteinische Briefmärke gedruckt
1924 Freilichtspiele auf Schloss Vaduz
1925 Freilichtspiele auf Burg Gutenberg
1936 Erste Olympia-Teilnahme Liechtensteins in Garmisch-Partenkirchen und
Berlin
1938 Liechtensteinisches Lesebuch für die Oberstufe
1951 Gründüng der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft
1954 Eröffnung einer AussteDung der Sammlungen des Landes und des Histori-
schen Vereins im Gebäude der Landesbank (Beginn des Liechtensteinischen
Landesmuseums)
1961 Gründung der Liechtensteinischen Landesbibliöthek
1963 Gründung der Liechtensteinischen Musikschule
1965 Liechtenstemisches Staatskundelehrmittel für die Schulen
1974 A n den Skiweltmeisterschaften in St. Moritz erringt Hanni Wenzel eine
Gold- und eine Silbermedaille, Willi Frommelt eine Bronzemedaille
1993 Staatskmidelehrmittel «Fürst und Volk» erscheint
208
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Tabelle 2: Identitäts-
stiftende Momente im Be- 1863
reich der öffentlichen
Kommunikation ° ' °
1878
1895
1914
1934
1950
1958
1969
1995
2000
2004
Tabelle 3: Identitäts-
stiftende Momente im
Bereich von landesweiten
Verbänden
1924
1926
1936
1945
1947
Tabelle 4: Identitäts-
stiftende Momente der 1920
staatlichen Souveränität
und Aussenpolitik 1950
1975
1978
1990
1997
1885
1919
1920
Liechtensteinische Landeszeitung erscheint (bis 1868)
Liechtensteinische Wöchehzeiiung (bis 1877)
Liechtensteiner'Voiksblatt erscheint (bis dato)
Liechtensteinische Landesausstellung vom 29. September bis ,21. Oktober
mit mehr als 10 000 Besuchern
Oberrheinische Nachrichten (später Liechtensteiner Nachrichten bzw.
Liechtensteiner Vaterland)
Zweite Liechtensteinische Landesausstellung
Liechtenstein beteiligt sich erstmals an einer ausländischen Ausstellungen
Luxemburg
Teilnahme Liechtensteins an der Weltausstellung in Brüssel
Internationaler Liechtensteiner Presseclub gegründet
Radio L geht auf Sendung
Erstmalige Teilnahme Liechtensteins an der Frankfurter Buchmesse
Radio Liechtenstein als öffentlich-rechtlicher Sender
Liechtensteinischer Landwirtschaftlicher Verein .gegründet (Bauernverband)
Fürstlich-Liechtensteinischer Sängerbund
Liechtensteiner Arbeitnehmerverband
Caritas Liechtenstein
Liechtensteinischer Musikverband (Blasmusikyerband)
Gewerbe- und Wirtschaftskammer für das Fürstentum Liechtenstein
Liechtensteinisches Rotes Kreuz
Liechtensteinische Industrie- und Handelskammer
Ablehnung der Aufnahme in den Völkerbund
Die Generalversammlung der Uno nimmt Liechtenstem in den Internationa-
len Gerichtshof auf, nachdem der Sicherheitsrat vorher abgeklärt und ent-
schieden hat, dass Liechtenstein ein souveräner Staat sei
Teilnahme an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KSZE
Liechtenstein wird Mitglied im Luroparat
Liechtenstein wird als 160. Mitglied in die Uno aufgenommen
Der Papst trennt Liechtenstein vom Bistum Chur und errichtet das Erzbis-
tum Vaduz (bisher ohne Identitätseffekt)
209
Tabelle 5: Identitäts-
stiftende Momente zu
Staat, Verfassung,
Monarchie
1818 Thronfolger Erbprinz'Alois besucht Liechtenstein
1842 Fürst Alois II. als erster regierender Fürst in Liechtenstein; Volksfest
1847 Zweite Reise Fürst Alois II. nach Liechtenstein
1862 Konstitutionelle Verfassung
1896 Fürst Johann ILitn Juli während sieben Tagen in Liechtenstein
18,9,9 Gedenkfeier i n Eschen betr. 200 Jahre Erwerb der Herrschaft Schellenberg
1901 Zweiter Besuch Fürst Johanns II. am 27. Oktober
1921 Neue Verfassung
1938 Fürst Franz-Josef IL nimmt als erster Fürst Wohnsitz in Liechtenstein
1940 Die Regierung erklärt den 15. August zum Staatsfeiertag
1942 Feier 60.0 Jahre Grafschaft Vaduz in Vaduz
1949 250-Jahrfeier der Huldigung von, 1699. Regierungschef Alexander Frick
stellt ein gütes Einvernehmen zwischen Volk, Fürst und Kirche fest
1988 Feier zum 50-jährigen Regierungsjubiläum von Fürst Franz Josef II.
1990 Der 15. August wird per Gesetz zum Staatsfeiertag erhoben
210
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Tabelle 6: Identitäts-
stiftende Momente zu 1840
bürgernaher Politik und
Demokratie
1848
1862
1900
1909
1912
1914
-1921
1918
1919
1921
1923
1921
1932
1939
1956
1962
1984
1998
Abordnung des Volkes unter Führung Peter Kaisers trägt Anliegen beim
Fürsten in Wien vor
Revolutionärer Landesausschuss, Peter Kaiser bzw. Karl Schädler als vom
Volk gewählte. Abgeordnete zur Deutschen Nationalversammlung in der
Frankfurter Paulskirche
Beginn regelmässiger Landtagswählen mit Inkrafttreten der konstitutionel-
len Verfassung
Der Landtag beschliesst die Erstellung eines Regierungsgebäudes. Der Fürst
stellt auf ein Bittgesuch hin 100 000 Kronen zur Verfügung
Liechtensteinisches Jugendfest in Vaduz als Nächfeier zum 50. Regierungs-
jubiläum von Fürst Johann II.
Feier am 14. Juli zur Erinnerung an den Kauf der Grafschaft Vaduz
Demokratiebewegung, Wilhelm Beck, Oberrheinische Nachrichten
(1919: «Los von Wien»), «Liechtenstein den Liechtensteinern», Verfassung
vom 5, Oktober 1921
Direktwahlrecht und Gründung der beiden ersten Parteien (Christlich-
soziale Volkspartei und Fortschrittliche Bürgerpartei)
Einrichtung der Gesandtschaften in Bern und Wien
Direktdemokratische Rechte in der liechtensteinischen Verfassung
Zollvertrag mit der Schweiz
Joseph Ospelt als erster Liechtensteiner mit Regierungsgeschäften beauf-
tragt, 1922 zum Regierungschef gewählt
Liechtensteinisches Polizeicorps gegründet
Nationale Bewegung zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Abwendung
des Nationalsozialismus
Feier 150 Jahre Souveränität an einem Festwochenende, neue Trachten
kreiert
Erste Jungbürgerfeier in Vaduz
Einführung des Frauenstimmrechts
Bau eines Lahdtagsgebäudes beschlossen
211
D A T E N G R U N D L A G E N
Nachdem a u s g e f ü h r t wurde, wie sich eine liechten-
steinische nationale Iden t i t ä t in der Vergangenheit
a l lmähl ich herausgebildet hat, so weit es aus den
v e r f ü g b a r e n Informationen eruierbar oder ab-
s c h ä t z b a r ist, w i r d im Folgenden die Situation der
Gegenwart dargestellt. Dabei dient eine r e p r ä s e n t a -
tive Meinungsumfrage als Datenbasis der Analyse
(Tabelle 7).
Die Analyse der umfrageerhobenen nationalen
Ident i tä t w i r d aussagekrä f t ige r , wenn ein Vergleich
mit Ergebnissen aus anderen L ä n d e r u m f r a g e n an-
gestellt werden kann. Daher wurde i m Fragebogen-
design darauf geachtet, verschiedene Fragen oder
Fragenkomplexe aus international koordinierten
Umfrageprojekten zu ü b e r n e h m e n . Aus verschiede-
nen solchen Projekten hat sich dabei das Internatio-
nal Social Survey Programme (ISSP) als besonders
z i e l füh rend erwiesen. Es erstreckt sich ü b e r den
ganzen Globus und w i r d seit 1985 j äh r l i ch mit
wechselnden Fragestellungen d u r c h g e f ü h r t . Heute
beteiligen sich rund 40 L ä n d e r an diesen Umfragen.
Einzelne Themenschwerpunkte werden periodisch
wiederholt. So beinhalteten die Umfragen 1995 und
2003 ein l ä n g e r e s Fragenmodul zur Frage der na-
tionalen Ident i tä t .
Die Vergleichbarkeit der Daten mit den Umfrage-
daten aus der hier analysierten liechtensteinischen
Befragung ist allerdings in mehrfacher Hinsicht
leicht e i n g e s c h r ä n k t . Erstens ist der Umfragezeit-
punkt bzw. das Umfragejahr nicht identisch. Zwei-
tens ist die Erhebungsmethode nicht identisch, da
be im ISSP eine Face-to-Face-Befragung durchge-
f ü h r t w i rd , also eine pe r sön l i che Befragung direkt
bei den Interviewten. Das v e r ä n d e r t nicht nur die
Umfragesi tuat ion (pe r sön l i che r Kontakt, Rückf ra -
gen, E r k l ä r u n g e n , A t m o s p h ä r e ) , sondern erlaubt
auch eine Befragung mit Vorzeigen von Unterlagen
u. a. Drittens wurden in der liechtensteinischen U m -
frage aus G r ü n d e n der Praktizierbarkeit bei telefo-
nischen Umfragen, aber auch aus K o s t e n g r ü n d e n
die Antwortkategorien teilweise vereinfacht oder
variiert.
In den nachfolgenden Auswertungen werden ge-
zielt - und unter Massgabe der e r w ä h n t e n methodi-
schen Vorbehalte - die Vergleichsdaten der ISSP-
Umfragen aus der Schweiz und aus Deutschland des
Jahres 2003 herangezogen." 3 Sofern die Fragen der
liechtensteinischen Umfrage mit den ISSP-Fragen
vergleichbar sind, werden i n den nachfolgenden
Kapi te ln entsprechende Vergleich angestellt.
Tabelle 7: Basisangaben Aspekt Information
zur Identitäts-Umfrage Methode Telefonische Befragung
Grundgesamtheit In Liechtenstein Wohnhafte ab 1-5 Jahren
Stichprobe 607 Interviews
Auswahlverfahreh Züfallsauswahl (Randorn-Qüöta)
Umfragezeitraum 27. September bis 4. Oktober 2005
Umfrageinstitut DemoScope
212
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
LIECHTENSTEINISCHE I D E N T I T Ä T S -
A S P E K T E
In der Umfrage wurde die folgende offene Frage ge-
stellt: «Können Sie die zwei, drei wichtigsten Aspek-
te nennen, die ihrer Meinung nach typisch sind für
Liechtenstein?». Es waren keine Antwor ten vorge-
geben. Die insgesamt 1354 Antwor ten (inkl. Mehr-
fachnennungen) ergeben ein eher unerwartetes
Bi ld . Staatsform, Sprache/Dialekt , Geschichte und
Landschaft spielen in der spontanen Nennung eine
untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen ein-
deutig soziale Faktoren. Dazu z ä h l e n die Eigen-
schaften der Menschen, sei dies negativ (arrogant,
engstirnig, neidisch), positiv (offen, tolerant, f reund-
lich) oder unbestimmt (fleissig, konservativ, heimat-
verbunden). Diese Aspekte bi lden mehr als 30 Pro-
zent aller Nennungen. Weitere 16,6 Prozent bezie-
hen sich auf die Kleinheit , Vertrautheit und N ä h e -
also ebenfalls Faktoren des gesellschaftlichen Zu-
sammenlebens. Materielle Faktoren (Wohlstand,
Banken u.a.) machten 13,9 Prozent der Nennungen
aus, Aspekte aus Staat und Politik ink l . F ü r s t und
F ü r s t e n h a u s 12,6 Prozent. Noch weniger h ä u f i g ge-
nannt wurden Landschaftsaspekte mit 5,9 Prozent
und kulturelle Aspekte ink l . Sprache und Religion
mit 4,5 Prozent (Tabelle 8).
Bei der folgenden Frage waren die Antworten
vorgegeben: «Was macht für Sie persönlich Liech-
tenstein aus? Sind die folgenden Aspekte für Sie
persönlich sehr wichtig, mehr oder weniger wichtig
oder eher unwichtig?» Im Vergleich zu den Spon-
tanantworten in der ersten Frage, welche stark per-
sön l ichen Charakter aufweisen, zeigen sich i n der
Frage mit vorgegebenen Antwortkategorien einige
Bedeutungsverschiebungen. Die Landschaft und die
Geschichte nehmen bei dieser Fragenformulierung
den g r ö s s t e n Stellenwert ein. Als eher unbedeutend
werden die S t a a t s b ü r g e r s c h a f t und insbesondere
die katholische Kirche angesehen. Der Monarchie
kommt in der Iden t i t ä t s s t i f tung ein ähn l i ch grosser
Stellenwert zu wie dem Brauchtum, der Kleinheit
des Landes und dem Dialekt: F ü r etwa zwei Drittel
der Befragten sind dies wichtige Aspekte in Bezug
auf das, was Liechtenstein f ü r sie pe r sön l i ch aus-
macht (Tabelle 9).
33] Die Schweizerischen ISSP-Daten stammen aus den Originalda-
ten, die beim Schweizerischer Informations- und Datenarchivdienst
für die Sozialwissenschaften SIDOS in Neuchätcl bezogen werden
können. In Deutschland wird das ISSP-Modul jeweils im Rahmen der
Allgemeinen Bevölkerungsumfrage A L L B U S erhoben. Die entspre-
chenden Daten können beim Zentralarchiv für Empirische Sozialfor-
schung an der Universität Köln bezogen werden.
Tabelle 8: Hauptmerkmale
der liechtensteinischen
Identität (Mehrfach nen-
nungen möglich)
Merkmal N %
Personeneigenschaften 430 31.8
- arrogant, eng, neidisch 220 16.2
- offen, tolerant, freundlich 83 6.1
- fleissig, konservativ, heimatverbunden 127 9.4
Kleinheit, Vertrautheit, Nähe 225 1.6,6
Wohlstand, Sicherheit, Banken, Arbeit 188 13.9
Staat, Politik, Demokratie, Monarchie 170 12.6
Landschaft, Berge, Föhn, Bauten 80 5.9
Kultur, Tradition, Sprache, Religion 61 4.5
Anderes, Ausländer, Weiss nicht 200 14.8
Total 1354 100.0
213
Tabelle 9: Bedeutung von
Identitätsaspekten (Nen-
nung: «sehr wichtig») (Q5)
Aspekt %
Landschaft 88,4
Geschichte 75.2
Finanzplatz 72.7
Brauchtum 66.6
Kleinheit 65,8'
Monarchie 65.4
Dialekt 62.3
Staatsbürgerschaft 43.7
Katholische Kirche 29,4
Tabelle 10: Verbundenheit
mit Bezugsräumen («eng
verbunden») (in Prozent)
Tabelle 11: Bedeutung von
Identitätsaspekten (Nennung
FL: «sehr bedeutend»)
(in Prozent)
Bezugsraum FL GH 3 4 D 3 5
Wohngemeinde (Wohnort) 66.9 76.1 82.0
Landesteil (Oberland, Unterland) (Kanton, Bundesland) 55.7 76.6 74,3
Land Liechtenstein (CH/D) 77.9 92.2 82.3
Europa 60.5 78,9 59.9
Aspekt FL CH 3 6 D37
Derzeitiger öder ehemaliger Beruf 66.4 53,7 49.4
Rolle in der Familie 66.1 60.7 59.6
Wohnort (Liechtenstein) (Region) 63.1 30.2 32.0
Staatsbürgerschaft 53.5 25.8 24,9
Geschlecht 42.8 26.5 38.4
Soziale Schicht 37.1 12.5 27.0
Nationale oder ethnische Herkunft 31.6 38,7 21.2
Partei, Politische Orientierung 30.5 5.7 5,2
Konfession ,28.9 8.5 11.9
Altersgruppe 28.0 37.6 30.3
214
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Fühlen sich die in Liechtenstein Wohnhaften nun
s t ä rke r ihrer jeweiligen Gemeinde, dem Landesteil
(Oberland, Unterland), dem Land Liechtenstein oder
Europa verbunden? Zur nationalen Ebene (dem
Land) besteht g e m ä s s Umfrage die gröss te Verbun-
denheit, gefolgt vom Wohnor t /von der Wohnge-
meinde. Das entspricht tendenziell der Einstellung in
der Schweiz und in Deutschland. A u c h dort besteht
zur nationalen Ebene die s t ä rks te Verbundenheit.
Allerdings gibt es i n der Abstufung gewisse Differen-
zen. In der Schweiz n immt die nationale Ebene eine
herausragende Stellung ein. Gemeinde, Kanton und
Europa liegen in der Gunst etwa gleich auf, aber
deutlich hinter der Landesebene. In Deutschland
rangieren die nationale und die lokale Ebene etwa
auf gleicher Höhe , w ä h r e n d das Bundesland und ins-
besondere Europa deutlich zurückl iegen . In Liech-
tenstein folgt in der Rangordnung auf die nationale
Ebene die Gemeinde, gefolgt von Europa und erst an
letzter Stelle Oberland oder Unterland. Bemerkens-
wert ist, dass Europa i m E U - L a n d Deutschland die
tiefste Verbundenheit verzeichnet (Tabelle 10).
Die folgende Frage wurde - allerdings leicht ab-
gewandelt und methodisch anders erhoben - eben-
falls vom International Social Survey ü b e r n o m -
men: 3 8 «Wir haben alle gewisse Merkmale gemein-
sam mit anderen. Welche der nachfolgenden Merk-
male beschreiben Sie als Person am ehesten, sind
also für Sie persönlich sehr, weniger oder gar nicht
bedeutend?» A n oberster Stelle der Iden t i t ä t s a spek -
te rangieren in Liechtenstein der Beruf, die Fami l i -
enposition, der liechtensteinische Wohnsitz und die
S t a a t s b ü r g e r s c h a f t . Al le anderen Aspekte werden
als deutlich weniger massgeblich eingestuft. Im Ver-
gleich zu den Werten aus der Schweiz und aus
Deutschland zeigt sich, dass in Liechtenstein insbe-
sondere die S t a a t s b ü r g e r s c h a f t und der geografi-
sche Raum als I den t i t ä t s f ak to r en bedeutender sind,
w ä h r e n d in der Schweiz und i n Deutschland auch
noch das Geschlecht und die Altersgruppe - also
sehr individuelle Aspekte - relativ weit oben auf der
Pr ior i tä tenl is te stehen. A u c h bei der Parteibindung
und der Konfession manifestieren sich in den liech-
tensteinischen Umfragen h ö h e r e Werte als in der
Schweiz und i n Deutschland (Tabelle 11).
A u c h bei der Frage nach den Voraussetzungen
f ü r eine «wirk l iche» S t a a t s b ü r g e r s c h a f t bietet sich
ein Vergleich mit ISSP-Datem «Einige meinen, dass
die folgenden Sachen wichtig sind, um wirklich ein
Liechtensteiner/eine Liechtensteinerin zu sein. An-
dere meinen, das sei nicht wichtig. Finden Sie die
folgenden Aspekte sehr wichtig, einigermassen
wichtig, nicht sehr wichtig oder überhaupt nicht
wichtig?»
Als sehr wicht ig werden in Liechtenstein vor al-
lem die Sprachkenntnisse und die Respektierung
der Institutionen und Gesetze Liechtensteins erach-
tet. Nur rund 40 Prozent der Befragten meinen, dass
die liechtensteinische S t a a t s b ü r g e r s c h a f t sehr wich-
tig ist, u m «wi rk l i cher L iech tens t e ine r» zu sein. A n -
dere Aspekte wie liechtensteinische Vorfahren oder
der katholische Glaube werden als noch weit weni-
ger bedeutend eingestuft.
A u c h i n der Schweiz und in Deutschland rangiert
das Beherrschen der Landessprache (n) ganz oben.
In beiden L ä n d e r n folgt dann als zweite Pr ior i tä t die
S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t des Landes. Die deutlichste Dif-
ferenz zeigt sich in der Respektierung der nationa-
len Institutionen und Gesetze, welche sowohl in der
Schweiz wie auch in Deutschland als weniger be-
34) Zusammenfassung der Nennungen «sehr nahe» und «nahe» aus
der vierteiligen Skala im ISSP-Modul Schweiz. Weitere Items: «nicht
sehr nahe» und «überhaup t nicht nahe» .
35) Zusammenfassung der Nennungen «sehr eng verbunden» und
«eng verbunden» aus der vierteiligen Skala im A L L B U S (in der FL-
Umfrage mit nur drei Skalawerten wurden die beiden Skalawerto zu
«eng ve rbunden» zusammen genommen).
36) ISSP Schweiz 2004. Addition der drei pr ior i tären Nennungen
aus einer Auswahl von 10 Möglichkeiten (erste, zweite und dritte
Wahl).
37) ISSP/ALLBUS Deutschland 2004. Addition der drei priori tären
Nennungen aus einer Auswahl von 10 Möglichkeiten (erste, zweite
und dritte Wahl).
38) Im ISSP wurde die hier ausgewiesene Frage erhoben, indem die
Befragten aufgefordert wurden, aus den vorhanden Antwortmöglich-
keiten die wichtigste, die zweitwichtigste und die drittwichtigste aus-
zuwählen . In der Rangierung der Tabelle sind die kumulierten Werte
für Deutschland «am wichtigsten / zweitwichtigsten / drittwichtigs-
ten» ausgewiesen. Bei der liechtensteinischen Identi täts-Umfrage
wurden die Ident i tä tsaspekte einzeln nach ihrer Bedeutung («sehr,
weniger oder gar nicht bedeutend») abgefragt. In der Tabelle sind
die Nennungen «sehr bedeu tend» aufgeführ t .
215
Tabelle 12: Prägende Aspek-
te für das Liechtensteiner-
Sein (Nennung: «sehr wich-
tig») (in Prozent)
Tabelle 13: Zustimmung
zu Aussagen (in Prozent)
Aspekt FL CH D
Deutschkenntnisse (Landessprache) 77.4 51.3 64.9
Institutionen und Gesetze rles T andes achten 69.1 35.1 38.7
Sich als Landesbürger;/in fühlen 45.6 29.9 3-2.4
Staatsangehörigkeit des Landes besitzen 40.8 40.1 39.4
Grossteils im Land gelebt zu haben 29,4 24.4 24.7
Vorfahren des Landes zü haben 20.1 12.9 21.5
Im Land.geboren sem 18,2 20.6 26.7
Katholischer (christlicher) Glauben 17.3 16.0 11.7
Aussäge FL CH 3 9 D40
Ich möchte lieber ein Bürger/eine Bürgerin von Liechtenstein
(.GH/D) als von jedem änderen Länd der Welt sein
39.2 52.9 58.9
Es gibt heute einige Sachen in Liechtenstein (GH/D) wegen
denen ich mich für Liechtenstein (CH/D) schäme
36,6 59.0 53,6
Die Welt wäre, besser, wenn die Menschen in anderen Ländern
eher so wären wie die Liechtensteiner (CH/D)
21.0 19.9 20,2
Im Grossen und Ganzen ist Liechtenstein (CH/D) einbesseres
Land als die meisten anderen Länder
30.9 24.7 38.0
Jeder/ Jede sollte sein/ihr Land unterstützen, selbst wenn sich
das Land im Unrecht befindet
24.0 58.4 25.9
Wenn mein Land Erfolge im internationalen Sport hat, macht
es mich stolz, dass ich Liechtensteiner/Liechtensteinerin
(Schweizer/Schweizerin bzw. Deutscher/Deutsche) bin
60.4 56,3 61.6
Ich bin öfters weniger stolz aüf Liechtenstein (CH/D) als 25.4 45.1 40.4
ich es gerne wäre
Tabelle 14: Stolz auf eigene
Nationalität («sehr stolz» in
Prozent/gültige Werte)
Nationalität N %
Liechtenstein 607 42.8:
- Liechtensteiner 400 43.3
- Deutsche 25 32.0
- Schweizer 125 34.4
- Österreicher 57 43.9
- Andere 32 46.9
Schweiz 4 1 1039 33.4
Deutschland4 2 1049 14,8
216
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
deutend angesehen werden als in Liechtenstein (Ta-
belle 12).
Im nachfolgenden Fragenkomplex wurden E i n -
stellungen der Einwohner innen und Einwohner
zum Land abgefragt (vgl. Aussagen in der Tabelle).
Neben einigen deutlichen Parallelen in den drei hier
dokumentierten L ä n d e r n zeigen sich auch markan-
te Unterschiede. Die Liechtensteiner ä u s s e r n sich
weniger nationalistisch als die Schweizer und die
Deutschen, welche zu ü b e r 50 Prozent lieber Bürge r
des eigenen Landes sind als jedes anderen Landes
(Liechtenstein: 39 Prozent), sich aber auch ö f t e r s f ü r
ihr Land s c h ä m e n und gerne öf te r stolz auf ihr Land
w ä r e n . D e m g e g e n ü b e r zeigen die Liechtensteiner
einen m ä s s i g e r e n Nationalismus, kaum bedingungs-
lose U n t e r s t ü t z u n g fü r den Staat, freuen sich aber
doch ähn l i ch h ä u f i g wie die Schweizer und Deut-
schen ü b e r Erfolge im internationalen Sport (Tabel-
le 13).
Bei der folgenden Frage ging es direkt u m den
Nationalstolz: «Wie stolz sind Sie, Liechtensteiner/
Liechtensteinerin (Deutscher, Schweizer ...) zu,
sein?» 43 Prozent der Liechtensteinerinnen und
Liechtensteiner gaben an, sehr stolz darauf zu sein.
Weniger Nationalstolz zeigten i n der Liechtenstei-
ner Umfrage die in Liechtenstein wohnhaften Schwei-
zer und Deutschen. Die anderen Nat iona l i t ä t en wer-
den nicht dargestellt, we i l sie weniger als 20 Fälle in
der Umfrage aufweisen. Zum Vergleich zeigte sich
i m deutschen ISSP ein markant tieferer Wert, n ä m -
lich 14,8 Prozent. A u c h der Stolzwert der Schweizer
liegt in der Schweizer ISSP-Umfrage mit 33,4 Pro-
zent an « s e h r Stolzen« tiefer als in Liechtenstein.
Die Liechtensteiner weisen somit einen a u s g e p r ä g -
ten Nationalstolz auf (Tabelle 14).
INTERNATIONALISMUS, INTEGRATION,
MIGRATION
Die Antwor ten z u m Aussagenkomplex ü b e r interna-
tionale Verbindungen und Verpfl ichtungen zeigen
eine sehr selbstbewusste Bevö lke rung i n Liechten-
stein. Weit deutlicher als in Deutschland - und auch
deutlicher als i n der Schweiz - w i r d die Durchset-
zung einer e i g e n s t ä n d i g e n Politik eingefordert,
ohne dabei aber die internationalen Verflechtungen
abzulehnen. Es bestehen sogar positivere Assozia-
tionen zu internationalen Verpfl ichtungen und Wirt-
schaftsbeziehungen als in den Umfragen der Nach-
b a r l ä n d e r . Die Vorteile internationaler Wirtschafts-
verflechtungen ü b e r w i e g e n in der Beurteilung der
Befragten aus Liechtenstein allfällige Nachteile. Er -
staunlicherweise f ä r b t diese Einstellung auch auf
sensible Fragen wie den G r u n d s t ü c k s h a n d e l ab, wo
trotz b e s c h r ä n k t e m Bodenangebot der Bodener-
werb von A u s l ä n d e r n kaum in Frage gestellt w i rd .
Ebenso werden f ü r das Gewerbe weit weniger Ge-
fahren durch internationale F i rmen gesehen als in
der Schweiz oder in Deutschland. Die Internationa-
l is ierung der Wirtschaft und die Internationalisie-
rung politischer Entscheidungen stossen i n Liech-
tenstein somit auf viel Wohlwol len (Tabelle 15).
Be i den folgenden Fragen werden verschiedene
Aspekte der Zuwanderung und der gesellschaftli-
chen Integration angesprochen. Bei der ersten Fra -
ge, ob sich Zuwanderer an die Kul tur des Gastlan-
des anpassen sollten oder die eigenen Sitten und Ge-
b r ä u c h e bewahren, ü b e r w i e g t die Forderung nach
einer Anpassung. Zwei Drittel p l ä d i e r e n f ü r diesen
39) Im Schweizer ISSP-Modul mit 5-teiliger Skala (Liechtenstein
3-teilige Skala). In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfra-
ge die Antworten «St imme zu» ausgewiesen, aus der Schweizer
Umfrage die Werte «sehr e invers tanden» und «einvers tanden».
40) In Deutschland im Rahmen des A L L B U S 2004 erhoben. Die
5-teilige Skala wurde in Liechtenstein auf eine 3-teilige Skala redu-
ziert. In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfrage die Ant-
worten «Stimme zu» ausgewiesen, aus der deutschen Umfrage die
Werte «Stimme voll und ganz zu» und «Stimme zu».
41) ISSP Schweiz. Nur Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaf t .
42) ISSP/ALLBUS. Nur Personen mit deutscher Staatsbürgerschaf t .
217
Tabelle 15: Zustimmung zu
Aussagen betreffend inter-
nationale Verbindungen (in
Prozent)
Tabelle 16: Zustimmung zu
Aussagen zur Assimilation
(in Prozent)
Aussage FL CH 4 3 D44
Liechtenstein (GM/D) sollte den Import von ausländischen
Produkten beschränken, um die einheimische Wirtschaft zu
schützen
24.7 36.3 44.3.
Bei be'stimmten.Pf oblemen wie etwa der Umweltverschmutzung
sollten internationale Institutionen das Recht haben, Lösungen
durchzusetzen
74.0 77.3 79.6
Liechtenstein (GH/D).sollte die eigenen Interessen verfolgen,
auch wenn das zu Konflikten mit anderen Landern führt
5.7.6 54.4 43.6
Ausländern sollte verboten sein, in.Liechtenstein (CH/D) Grund
und Boden zu erwerben
18.3 17.1 20.7
Grosse internationale Finnen, schaden dem lokalen Gewerbe
immer mehr
34.5 58.4 54,2
Freier Handel führt dazu, dass man in Liechtenstein (CH/D)
bessere Produkte erhält
64.7 61.2 52.1
Im Allgemeinen sollte Liechtenstein (CH/D) den Beschlüssen von
internationalen Gremien folgen, auch wenn die Regierung nicht
mit ihnen übereinstimmt.
28.4 45.1 35.2
Internationale Organisationen nehmen der liechtensteinischen
(schweiz./dt.) Regierung zu viel Macht weg
"l4.2 31.9 36.0
Wenn man immer mehr ausländischen Filmen, Musik und
Büchern.ausgesetzt ist, schadet.das der nationalen und lokalen
Kultur
18.3 1.7.0 28.3
Ein VorteU des Internet ist es, dass Informationen für immer
mehr Menschen-weltweit verfügbar «ind
86.9 87.6 8,6,4
Frage FL CH 4 5 D*
Die Einen sagen, dass es für ein Land besser ist, wenn ethni-
sche Gruppen ihre eigenen Sitten und Gebräuche beibehal-
ten. Andere finden es besser, wenn sie sich der GesamtgeselL
Schaft anpassen. Welche Meinung teilen Sie eher?
- Sitten und Gebräuche beibehalten
- Anpassungen die Gesamtgesellschaft
33.5
66.5
46.0
54.0
36.6
63.4
218
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Weg. In Deutschland sind es etwa gleich viele, in der
Schweiz etwas weniger (Tabelle 16).
Die folgenden Antwor ten auf Fragen zur gesell-
schaftlichen Integration von Zuwanderern zeigen
eine erstaunliche Offenheit der liechtensteinischen
Gesellschaft. Nicht nur w i r d weniger explizit eine
Kenntnis der liechtensteinischen Sitten und Ge-
b r ä u c h e vorausgesetzt als i n der Schweiz oder in
Deutschland, um wirk l icher S t a a t s b ü r g e r zu sein.
Es zeigt sich i n Liechtenstein auch eine g r ö s s e r e Be-
reitschaft zur U n t e r s t ü t z u n g der nationalen Minder -
heiten zur Pflege der eigenen Kul tur (Tabelle 17).
Der Eindruck der Zahlen aus der letzten Tabelle
w i r d auch bei den folgenden Fragen zu den Zuwan-
derern bes tä t ig t . In Liechtenstein ist die Skepsis und
die negative Beurteilung der Zuwanderung weit we-
niger verbreitet als in der Schweiz und i n Deutsch-
land. Eine deutliche Mehrhei t findet, dass die Zu-
wanderer gut fü r die Wirtschaft und eine Bereiche-
rung f ü r die Kul tur sind. Nur eine Minderhei t meint,
dass Zuwanderer die Kr imina l i t ä t s r a t e e r h ö h e n ,
den Einheimischen die Arbe i t sp l ä t ze wegnehmen,
und dass der Staat zu viel Geld f ü r die Zuwanderer
ausgibt. Dies ist s e lbs tve r s t änd l i ch auch vor dem
realen Hintergrund der Zuwanderung zu sehen. Die
liechtensteinische Wirtschaft ist auf a u s l ä n d i s c h e
Arbe i t sk rä f t e angewiesen, da die rund 30 000 A r -
be i t sp lä tze nicht durch die einheimische Bevölke-
rung von rund 35 000 E inwohnern abgedeckt wer-
den k ö n n e n . Liechtenstein weist eine relativ kleine
Arbeitslosenquote auf, und auch die Kr imina l i t ä t s -
rate ist vergleichsweise eher gering. Zu b e r ü c k s i c h -
tigen ist auch die Tatsache, dass ein Grossteil der
Zuwanderer aus den deutschsprachigen Nachbar-
l ä n d e r n stammt und gleichzeitig zu einem grossen
Teil der gehobenen Bildungsschicht a n g e h ö r t . Dies
erleichtert die gesellschaftliche Integration. Ende
2004 stammten 6845 der 11 852 A u s l ä n d e r oder
57,8 Prozent aus dem deutschsprachigen A u s l a n d . 4 7
Es bleibt aber immer noch eine Zah l von 5 007 Aus-
l ä n d e r n aus anderen L ä n d e r n , welche 42,2 Prozent
aller A u s l ä n d e r oder 14,5 Prozent der gesamten
W o h n b e v ö l k e r u n g ausmachen. Der A u s l ä n d e r a n t e i l
in Deutschland b e t r ä g t zum Vergleich rund 9 Pro-
zent, in der Schweiz rund 20 Prozent (Tabelle 18).
Die relativ positive Einstellung g e g e n ü b e r den
Migranten kommt konsequenterweise auch in der
Meinung zur Weiterentwicklung der Zuwanderung
zum Ausdruck. Obwohl Liechtenstein einen Aus län-
deranteil von etwa 34 Prozent aufweist - also einen
internationalen Spitzenwert - , gibt es nur wenige
St immen, die eine Reduktion der Zuwanderung for-
dern. 7,5 Prozent sind f ü r eine starke Verminderung
der Zuwanderung, verglichen mit e inem Ante i l von
17 Prozent in der Schweiz und mehr als 47 Prozent
in Deutschland. E t w a zwei Drittel der Befragten plä-
dieren f ü r die Beibehaltung des g e g e n w ä r t i g e n
Standes (Tabelle 19).
43) Im Schweizer ISSP-Modul mit 5-teiliger Skala erhoben (Liechten-
stein 3-teilig) In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfrage
die Antworten «St imme zu» ausgewiesen, aus der Schweizer Umfra-
ge die Werte «sehr e invers tanden» und «einvers tanden».
44) In Deutschland im Rahmen des A L L B U S 2004 erhoben. Die
5-teilige Skala wurde in Liechtenstein auf eine 3-teilige Skala redu-
ziert. In der Tabelle sind aus der deutschen Umfrage die Werte
«Stimme voll und ganz zu» und «Stimme zu» ausgewiesen.
45) ISSP-Modul Schweiz.
46) A L L B U S 2004.
47) Amt für Volkswirtschaft. Statistisches Jahrbuch 2005, S. 24 ff.
219
Tabelle 17: Zustimmung zu
Aussagen zur Integration Aussage ' FL GH 4 8 D 4 9
(in Prozent)
Menschen, die die liechtensteinischen (CH/D)Sitten und Gebräu- 38.6: 47.1 .58.3
che nicht kennen, können:nicHt wirklich Liechtensteiner (CH/D)
werden.
Der Staat sollte-nationalen Minderheiten helfen, damit sie ihre 47,1 41.4- 37.1
eigenen Sitte und Gebräuche bewahren können
Personen ohne liechtensteinische (CH/D) Staatsangehörigkeit, 40.7 ,35.7 42.-5
die legal nach Liechtenstein gekommen sind,, sollten die gleichen
Rechte haben wie liechtensteinische Staatsangehörige
Tabelle 18: Zustimmung
zu Aussagen zu Migranten
(in Prozent)
Tabelle 19: Zustimmung
zu Aussagen zur Zuwan-
derung (in Prozent/nur
gültige)
Aussage EL GH5? D 5 1
Zuwanderer erhohen die Kriminalitätsräte 38.4 56.5 64.3
Zuwanderer sind'im Allgemeinen gut für die liechtensteinische 63,0 17.1 26,3
(CH/D)'Wirtschaft
Zuwanderer nehmen den Einheimischen die Arbeitsplätze weg 20.9 5,2,0 45,'l
Zuwanderer machen Liechtenstein (CH/D) offen für neue Ideen 77.9 76,0 54.4
und ändere Kulturen
der Staat (Regierung) gibt zu viel Geld aus um Zuwanderer,zu 36.2 43 9 71.6
unterstützen
Frage EL CH D
Was meinen,Sie, sollte ,die Zahl-der Zuwanderer nach
Liechtenstein heutzutage 0.7 0.4 0,9
• stark erhöht werden 6,6 5=3 3.5
- leicht .erhöht werden, 66.1 19.7 22.4
- auf dem heutigen Stand bleiben 19,2 27.6 25.6
- leicht, verringert werden 7.5 17.0 47.5
- stark verringert werden
220
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
B E S O N D E R H E I T E N N A C H SOZIODEMO-
GRAPHISCHEN G R U P P E N
In einem zweiten Schritt wurden die gewonnenen
Daten hinsichtl ich besonderer A u s p r ä g u n g e n bei
verschiedenen soziodemografischen Gruppen aus-
gewertet. Teilweise wurden dabei die Variablenwer-
te neu kodiert und zusammengefasst. Relativ ein-
fach zu ü b e r n e h m e n oder zu ü b e r t r a g e n w a r die
Eintei lung nach Landesregion, nach Geschlecht,
nach Nat ional i tä t , nach Altersgruppen, nach B i l -
dung und nach Parteineigung. Die Verteilung liegt
relativ exakt bei der t a t s ä c h l i c h e n Verteilung der
liechtensteinischen W o h n b e v ö l k e r u n g , was die Va l i -
di tät der Daten unterstreicht.
Komplizier ter ist es bei den anderen drei Var ia -
blen, n ä m l i c h der Hauptsprache, der Herkunft der
Eltern und dem A u t o r i t ä t s w e r t A S K O . Mi t der
ASKO-Ska la w i r d die «Affini tä t zu einem stabilen
kognitiven O r i e n t i e r u n g s s y s t e m » gemessen, wel-
ches g e m ä s s Forschungsresultaten bei a u t o r i t ä r e n ,
dogmatischen, konservativen Menschen besonders
a u s g e p r ä g t is t . 5 2 Be i der Sprache wurde in der U m -
frage nach der h a u p t s ä c h l i c h i m Haushalt gespro-
chen Sprache gefragt. Die Eintei lung umfasste acht
Gruppen, wobei etwa neben dem Liechtensteiner
Dialekt weitere deutschsprachige Dialekte sowie
Hochdeutsch als je eigene Gruppe galten. H i n z u ka-
men noch Italienisch, Spanisch, Türk i sch , Serbo-
kroatisch, sowie eine Restkategorie. Teilweise wer-
den auch mehrere Sprachen in einem Haushalt ge-
sprochen. In der vorhegenden Auswer tung wurden
alle Haushalte, i n denen Liechtensteiner Dialekt ge-
sprochen w i r d (evtl. auch noch weitere Sprachen) in
48) Im Schweizer ISSP-Modul mit 5-teiliger Skala erhoben (Liechten-
stein 3-teilige Skala). In der Tabelle sind für die liechtensteinische
Umfrage die Antworten «St imme zu» ausgewiesen, aus der schwei-
zerischen Umfrage die Werte «St imme voll und ganz zu» und
«St imme zu».
49) In Deutschland im Rahmen des A L L B U S 2004 erhoben. Die
5-teilige Skala wurde in Liechtenstein auf eine 3-teilige Skala redu-
ziert. In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfrage die Ant-
worten «Stimme zu» ausgewiesen, aus der deutschen Umfrage die
Werte «St imme voll und ganz zu» und «St imme zu».
50) Im Schweizer ISSP auf 5-teiliger Skala erhoben (Liechtenstein
3-teilige Skala). In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfra-
ge die Antworten «St imme zu» ausgewiesen, aus der Schweizer
Umfrage die Werte «sehr e invers tanden» und «einvers tanden».
51) In Deutschland im Rahmen des A L L B U S 2004 erhoben. Die
5-teilige Skala wurde in Liechtenstein auf eine 3-teilige Skala redu-
ziert. In der Tabelle sind für die liechtensteinische Umfrage die Ant-
worten «Stimme zu» ausgewiesen, aus der deutschen Umfrage die
Werte «St imme voll und ganz zu» und «St imme zu».
52) Zur ASKO-Skala ausführ l ich bei Schumann 2001, S. 143 f f ;
Schumann 2005.
Tabelle 20: Soziodemo-
grafische Gruppen in der
Identitätsumfrage
(N = 607)
Merkmal %
Geschlecht Männer 48.4
Frauen 51.6
Aller 15-29 2-2.4
30-44 33.8
45-5'9 26.4
60+ 17.5
Nationalität Liechtenstein 66.4
Ausland 33.6
Haupt- FL Dialekt 7,3,8
spräche Anderes Deutsch 20.9
Andere Sprachen 5,3
Partei'orien- FBP 47.4
tierung VU 36,3
(gültige) FL 16.3
Merkmal
Landesteil Oberland
Unterland
Bildung
Eltern
ASKO-Wert
Obligatorische
Berufslehre
Höhere Bildung
FH/Universität
Beide F L
1 Teil F L
Beide Ausland
eher flexibel
teils-leils
eher autoritär
%
67.4
32.6
,9,7
45.2
23.4
21.7
42.0
17.5
40.5
32.9
37.1
,30.0
221
einer Gruppe zusammengefasst, ferner die Haus-
halte mit anderer deutscher Sprache (Dialekt oder
Hochsprache, ausser Liechtensteiner Dialekt), so-
wie alle restlichen Fäl le . Die Verteilung ist in der Ta-
belle dargestellt. Bei der Abs tammung wurde nach
der Nat iona l i tä t der El tern - Vater und Mutter - ge-
fragt. In der hier verwendeten Variable wurden drei
Gruppen gebildet, wobei die Zah l der Elternteile mit
liechtensteinischer S t a a t s b ü r g e r s c h a f t - 0 Elterntei-
le, 1 Elternteil, 2 Elternteile - die massgebliche
Grösse darstellt. Es w i r d nicht weiter nach landes-
spezifischer Herkunft unterschieden. Die Auto-
r i t ä t sva r i ab le schliesslich ergibt sich aus einem
Komplex von neun Fragen zu pe r sön l i chen P rä fe -
renzen, wobei zu beantworten war, ob man eher der
einen oder der anderen Richtung zuneige oder un-
entschieden se i . 5 3
Die Variablen wurden schliesslich so kodiert,
dass jeweils die Antwort mit a u t o r i t ä r e n Tendenz
den Wert 3 bekam, die eher <flexible> Antwor t den
Wert 1, die restlichen Nennungen den dazwischen
liegenden Wert 2. Anschliessend wurden die Werte
der neun Variablen addiert, sodass sich eine Skala
von 9 (sehr flexibel) bis 27 (sehr au to r i t ä r ) ergab.
Diese 18 Werte wurden i m letzten Schritt i n drei
Gruppen zusammengefasst . 5 4 Die Bezeichnungen
<flexibel> oder <autoritär> sind i m vorliegenden Fa l l
nicht streng definiert, sondern bezeichnen allge-
mein die Gruppen mit ä h n l i c h e n Antwort tendenzen
(Tabelle 20) . 5 5
N E U E V A R I A B L E N
U m die Übers i ch t i m Datenmeer zu verbessern, die
statistische Auswer tung zu erleichtern sowie die
Darstellung der Ergebnisse zu vereinfachen, wur-
den aUe a b h ä n g i g e n Variablen bearbeitet, teilweise
umkodiert , zusammengefasst und schliesslich auf
zwei M e r k m a l s a u s p r ä g u n g e n reduziert. A u f die ein-
zelnen Schritt kann an dieser Stelle nicht eingegan-
gen werden. Sie sind in einem Forschungsbericht
detailliert a u f g e f ü h r t . 5 6 In der Tabelle sind die Ant-
w o r t h ä u f i g k e i t e n dargestellt, die s ich nach der er-
w ä h n t e n Datenreduktion ergeben. Diese Daten wer-
den an dieser Stelle nicht weiter diskutiert, sondern
dienen als Grundlage f ü r eine eingehende Analyse
der Unterschiede in den Einstellungen der Bevölke-
rung je nach G r u p p e n z u g e h ö r i g k e i t und Autor i t ä t s -
merkmalen der Befragten (Tabelle 21).
53) Folgende Präferenzen werden mit der ASKO-Skala abgefragt:
Stetiger Wandel oder festgefügte Verhältnisse; Ruhe und Ordnung
oder Bewegung und Neuerung; Veränderungsfreudigkei t oder Tra-
ditionsverbundenheit; Neue Ideen oder a l tbewähr te Anschauungen;
Feste Regeln oder Improvisation; Erhaltung des Althergebrachten
oder Reform; Über raschende Situationen oder klare, eindeutige
Verhältnisse: Einordnung und Unterordnung oder Aufbegehren;
Neue, bisher unbekannte Dinge oder bekannte Dinge. Vgl. Schu-
mann 2001, S. 135; 2005, S. 43.
54) Werte 9-15 (eher flexibel), Werte 16-20 (teils-teils), Werte 21-27
(eher autori tär) .
55) Ein grober Vergleich mit westdeutschen Werten zeigt eine etwas
autor i tä rere Einstellung bei den Deutschen. In verschiedenen Um-
fragen Ende 1980er/Anfang 1990er Jahre wurde auf einer Skala
von 0 (symptomatisch nicht autori tär) bis 9 (symptomatisch autori-
tär) ein Mittelwert von 4,77 bis 4,99 festgestellt. In der liechtenstei-
nischen Ident i tä tsumfrage von 2005 betrug der nach dem gleichen
Verfahren berechete Mittelwert 4,10. Die Skalenwerte ergaben sich
aus der Addition der 9 Autori tätsvariablen, wobei jeweils die «auto-
r i täre» Antwort den Wert 1 erhielt, die anderen Antworten den
WertO. Vgl. Schumann 2001, S. 134 ff.
56) Marxer 2006. Beim Autor oder beim Liechtenstein-Institut zu
beziehen.
222
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Tabelle 21: Kumulierte
und gruppierte neue
Variablen (N = 607)
Aspekt /o
Q l Differenzierung (Beruf, Herkunft, Geschlecht,
Alter, Konfession, Partei, Staatsbürgerschaft,
Familie, Schicht, Wohnort)
Ql_ i Differenzierimg (individuelle) (Beruf,.
Geschlecht, Familie)
Ql_s Differenzierung (soziale) (Herkunft, Konfessi-
on, Staatsbürgerschaft),
Q3 Prägende Aspektefm Liechtenstein geboren,
Staatsängehörigkeit, grossteils in Liechtenstein
leben, deutsche Sprache, Katholizismus,Institutio-
nen und Gesetze ächten, sich als Liechtensteiner/in
fühlen, liechtensteinische Vorfahren haben)
Q.5 Wichtige Aspekte (Dialekt, Landschaft; Monar-
chie, Staatsbürgerschaft, Brauchtum, Katholische
Kirche, l'inanzplai.z, Kleinheit des Landes, Ge-
schichte des Landes)
Q6 Nationalismus (lieber Bürger/ in Liechtensteins,
störende Aspekte, Welt wäre besser wenn alle
wären,wie Liechtenstein, Liechtenstein ist besseres
Land, Land unterstützen, Freude über Erfolge,
wäre gerne öfter stolz)
'Q7 Internationalistisch (Import von Gütern,
intefnationäle Regelungen, eigene Interessen,
Bodenkauf von Ausländern, Internationale Firmen
und lokales Gewerbe, freier Handel, internationale
Beschlüsse befolgen, Macht internationaler Organi-
sationen, kultureller Einflüss, Vorteil des Internet)
eher bedeutend
eher unbedeutend
eher bedeutend
eher unbedeutend
eher bedeutend
eher unbedeutend
eher wichtig
eher unwichtig
eher wichtig
eher unwichtig
Q16 EU-Beitritt (Abstämmlings verhalten bei Frage
zu EU-Beitritt) (ohne weiss nicht/k.A.; N = 526)
46.5
53.5
61.3
38.7
34.9
65.1
63.4
36.6
56.0
44,0
eher nationalistisch 42.3
eher nicht nationalistisch 57.7
eher isolationistisch 41,0
eher internationalistisch 59.0
Q8 Assimilation (Sitten und Gebräuche beibehalten
oder Anpassung an die Gesämtgesellschäft)
multikulturell
unikulturell
33.5
66.5
Q9 Kulturelle Offenheit (Kenntnis liechtensteini-
scher Sitten und.Gebräuche,.Hilfe für Minderhei-
ten, Gleichstellung von Ausländern)
eher ablehnend
eher offen
36.7
63.3
Q10 Zuwanderung (Kriminalitätsrate, Einflüss auf
Wirtschaft, Arbeitsplätze, neue Ideen und Kultu-
ren, Geldausgabe für Zuwanderer)
ehernegativ
eher positiv
32.9
67.1
Q l l Immigration Zukunft (Zuwanderung stark
erhöhen, leicht erhöhen, auf heutigem Stand
lassen, leicht reduzieren, stark reduzieren)
erhöhen /stablisieren
reduzieren
73.3
26.6
Q14 Nationalstolz
(Stolz auf eigene Staatsbürgerschaft)
sehr stolz
anderes
42.8
57.2
dafür
dagegen
36.1
63.9
223
Tabelle 22: Bedeutung von
sozialen Differenzierungs-
aspekten für persönliche
Identität (Ql_s)
• eher eher Antwortende
Merkmal wichtig unwichtig Personen
Alter 15-29 Jahre 31,6 68.4 607
30-44 26.3 73.7
45-59 33.1 66.9
60+- 58,5 . 41.5
Bildung Obligatorische 51.7 48,3; 599
Berufslehre 37.3 62.7
Höhere, Bildung 31.4 68.6
FH/Universität 27.7 72.3
Aütöritäfismus Flexibel 18.0 82.0 607
Teils-teils 34.2 65.8
Autoritär ,54.4 45.6
Eltern Beide PL 43.5 56.5 607
1 Teil FL 29.2 70,8
Beide Ausland 29.0 71.0
Partei FBP 47.4 52.6 289
VU 37.1 62.9
FL 21.3 78.7
Alle 34.9 65.1 607
224
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
E I N S T E L L U N G E N DER BEVÖLKERUNG
Die statistische Datenanalyse mittels logistischer
Regressionsrechnungen, die in diesem Beitrag nicht
nachgezeichnet werden, ergibt ein weiter differen-
ziertes Bi ld . Be i der Berechnung von Zusammen-
h ä n g e n wurden alle oben e r w ä h n t e n soziodemo-
grafischen Variablen mit den Einstellungsvariablen
kombiniert . Dabei wurden sowohl Z u s a m m e n h ä n g e
in der Kombinat ion zweier Variablen - also einer
Kreuztabellenanalyse - wie auch multivariate A n a -
lysen mittels logistischer Regressionsrechnungen
d u r c h g e f ü h r t , u m die t a t säch l i ch wi rksamen Be-
stimmungsfaktoren zu eruieren.
Wenden w i r uns z u n ä c h s t der Frage zu, bei wel -
chen Einstellungen Gruppenunterschiede festzu-
stellen sind, und bei welchen nicht oder k a u m . 5 7 Zu -
erst die Variablen, bei denen kaum Gruppenunter-
schiede festzustellen sind. Es sind dies die Variablen
«Di f fe renz ie rung» (Ql) , «Di f f e r enz i e rung Ego»
(Ql_i) , «Wicht ige Aspek te» (Q5), « N a t i o n a l i s m u s »
(Q6), «Ass imi la t ion» (Q8), «Zukunf t I m m i g r a t i o n »
( Q U ) , «Stolz» (Q14) und «EU-Beitr i t t» (Q16). Das
heisst nicht, dass es bei diesen Variablen nicht gele-
gentliche Gruppenunterschiede gibt. So sind etwa
die liechtensteinischen S t a a t s a n g e h ö r i g e n nationa-
listischer als die a u s l ä n d i s c h e n , Personen mit zwei
liechtensteinischen Elternteilen sprechen sich ü b e r -
durchschnitt l ich fü r eine Reduktion des A u s l ä n d e r -
anteils aus, A n h ä n g e r der Freien Liste sind deutlich
weniger stolz auf die eigene Nat iona l i t ä t als die an-
deren, sie sind ferner gemeinsam mit Frauen übe r -
durchschnitt l ich fü r einen Beitritt zur E u r o p ä i s c h e n
Union. Insgesamt aber e r k l ä r e n die Gruppenunter-
schiede nur einen geringen Teil der Einstellungen zu
diesen Themenbereichen.
S t ä rke r auf Gruppenunterschiede z u r ü c k f ü h r e n
lassen sich die Einstellungen zu den folgenden Va-
riablen: «Di f f e r enz i e rung sozial« (Ql_s), « P r ä g e n d e
Aspekte» (Q3), «Internat ionali tät» (Q7), «Kulturelle Of-
fenhe i t» (Q9) und «Mig ran t en» (QIO). Diese sollen
daher noch genauer betrachtet werden. In den nach-
folgenden Tabellen werden jeweils nur diejenigen
Gruppen a u f g e f ü h r t , die hochsignifikante Gruppen-
unterschiede zeigen. Dabei w i r d z u n ä c h s t noch
nicht be rücks ich t ig t , inwieweit die Gruppenmerk-
male selbst miteinander korreliert sind. So weiss
man, dass Ältere ein tieferes Bildungsniveau auf-
weisen, und es ist anzunehmen, dass sie weniger
flexibel, das heisst a u t o r i t ä r e r sind. Welches dieser
Merkmale dabei t a t säch l i ch eine kausale Wi rkung
auf die Einstellung a u s ü b t , kann den nachfolgenden
Einzeltabellen noch nicht entnommen werden. Es
werden lediglich statistische Z u s a m m e n h ä n g e auf-
gezeigt. A u f die kausalen Z u s a m m e n h ä n g e w i r d
dann i m nachfolgenden Kapi te l eingegangen.
Die sozialen Differenzierungsaspekte (Ql_s: Her-
kunft, Konfession, S t a a t s b ü r g e r s c h a f t ) werden eher
von Äl teren , weniger Gebildeten, A u t o r i t ä r e r e n , mit
liechtensteinischen Eltern und A n h ä n g e r n der gros-
sen Volksparteien als bedeutend f ü r ihre pe r sön l i -
che Ident i tä t angesehen. F ü r diese Gruppen ist also
beispielsweise die liechtensteinische S t a a t s b ü r g e r -
schaft relativ bedeutend f ü r die Best immung ihrer
eigenen Ident i tä t , w ä h r e n d die anderen dies als re-
lativ unbedeutend betrachten. Etwas abstrakter for-
muliert kann m a n auch festhalten, dass die e r w ä h n -
ten Gruppen ü b e r h a u p t ihre G r u p p e n z u g e h ö r i g k e i t
als wichtige Bestimmungsfaktoren ihrer eigenen
Iden t i t ä t betrachten, w ä h r e n d fü r die anderen viel
s t ä r k e r individuelle Merkmale (Alter, Geschlecht
u. a.) i den t i t ä t s s t i f t end wi rken (Tabelle 22) . 5 8
Als eventuell « p r ä g e n d e Aspek te» (Q3) f ü r eine
liechtensteinische Iden t i t ä t wurden i n der Umfrage
die folgenden abgefragt: In Liechtenstein geboren
zu sein, die S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t zu besitzen, gross-
teils in Liechtenstein gelebt zu haben, die deutsche
Sprache zu beherrschen, katholisch zu sein, die In-
stitutionen und Gesetze zu achten, sich als Liechten-
57) Als Limite wurde dabei Nagelkerkes H-Quadrat von gerundet
0.20 oder höher festgelegt. Das heisst, dass bei diesen Einstellungs-
variablen mindestens 20 Prozent der Varianz durch Gruppenzugehö-
rigkeiten beeinfiusst ist,
58) Ein Beispiel kann dies illustrieren: In der Gruppe der «Autoritä-
ren» halten 64,7 Prozent individuelle Aspekte als prägend für ihre
eigene Identität. 50,0 Prozent halten auch Gruppenzugehörigkei teu
für prägend. Bei den «Flexiblen» halten 58,1 Prozent individuelle
Aspekte als prägend, aber nur 21,0 Prozent finden, dass Gruppen-
merkmale ihre eigene Identität prägen.
225
Tabelle 23: Bedeutung von
Prägenden Aspekten für
liechtensteinische Identität
(Q3)
Tabelle 24: Einstellung zu
Internationalität (Q+)
eher be- eher unbe- Antwortende
\/f o !• K m a 1 fianf an/1 11(7111(31111
Alter 15-29 Jahre 65.4 34.6 607
30-44 5,7.1 42.9
4:0— Dy A n f .
GU.u
O U t 77 ä. 9 9 A
Bildung Obligatorische. 82.8 17.2 599
Berufslehre: 66.4 33.6
HöhereBildung 60.7 39,3
F H / Universität 53.1 46.9
Autoritarismus Flexibel 44.5 • 55.5 607
T o i 1 c_ t o i 1 c 1Ulla-Lc Llo 31 1
Autoritär 77.5 22.5
\T a t i r \ n p 1 i t Ü t 1N et LlUIlcLil leL l 1,1 U U l i Lt;.l l a LtJ II 1 71 ^ l 1.0 DU /
Ausland 47.5 52,5
Eltern Beide FL 7,6,0 24.0 607
1 Teil FL 6.7.0 33.0
'!< üirl ü 'A' 11 o 1 o /~l
Dbltlfc} / \ U b l c l I l U .
Sprache FL-Dialekt 69.6 30.4 607
Deutsch 44.1 55.9
/\IlUt!I fc)b. Do. 1 AA Q
Partei FBP 78.1 21,9 289
VU 81.0 19.0
r Li o i . y AQ 1 P.O, L
Alle 63.4 36.6 607
eher isola- eher internar Antwortende
Merkmal tionistisch tionalistisch Personen
Geschlecht Mann 35.4 64.6 607
Frau 46,3 53.7
Bildung Obligatorische 55.2 44.8 599
Berufslehre 47.2 52.8
Höhere Bildung 30.0 70.0
FH/Universität 32.3 6,7.7
Autoritarismus Flexibel .24.5 75:5 607
Teils-teils 40.0 60. Ö
Autoritär 60.4 39.6
Partei FBP 48.9 51.1 289
VU 41.0 59.1)
FL 10.6 89.4
Alle 41.0 59,0 607
226
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
steiner/Liechtensteinerin zu füh len , sowie liechten-
steinische Vorfahren zu haben.
Insgesamt erachten die folgenden Gruppenseg-
mente diese Aspekte als eher wichtig f ü r eine l iech-
tensteinische Ident i tä t : Alte, weniger Gebildete,
Au to r i t ä r e r e , liechtensteinische S t a a t s a n g e h ö r i g e ,
Personen mit liechtensteinischen Eltern und l iech-
tensteinischem Dialekt als Hauptsprache, sowie A n -
h ä n g e r der beiden grossen Volksparteien (Tabel-
le 23).
Die Dimension der In t e rna t i ona l i t ä t bzw. der iso-
lationistischen Haltung der Befragten wurde mit
Fragen erfasst, die sich auf den Import von Produk-
ten beziehen, den Stellenwert internationaler Rege-
lungen, die Verfolgung nationaler Interessen, den
Bodenkauf von A u s l ä n d e r n , die Konkurrenz inter-
nationaler F i rmen fü r das lokale Gewerbe, den f re i -
en Handel, die Akzeptanz internationaler Besch lüs -
se, die Macht internationaler Organisationen, den
kulturellen Einf lüss a u s l ä n d i s c h e r Medien, sowie
den Vorteil des Internet.
In der Zusammenschau aller Antworten zeigt
sich, dass die folgenden Gruppensegmente eher i n -
ternationalistisch orientiert sind: Männer , besser
Gebildete, Flexible, A n h ä n g e r der Fre ien Liste. Ins-
gesamt zeigt sich die liechtensteinische Gesellschaft
eher internationalist isch als isolationist isch (Tabel-
le 24).
Die Dimension der kulturellen Offenheit wurde
mit drei Fragen erfasst. Und zwar wurde gefragt, ob
man die liechtensteinischen Sitten und G e b r ä u c h e
kennen m ü s s e , u m wi rk l i ch Liechtensteiner zu sein,
ob der Staat nationalen Minderhei ten helfen sollte,
damit sie ihre Sitten und G e b r ä u c h e bewahren kön-
nen, und ob Personen, die legal nach Liechtenstein
gekommen sind, die gleichen Rechte haben sollten
wie liechtensteinische S t a a t s a n g e h ö r i g e .
Als besonders offen haben sich dabei die folgen-
den Untergruppen herausgestellt: J ü n g e r e , Flexible,
Aus länder , Personen mit a u s l ä n d i s c h e n Eltern,
Fremdsprachige, A n h ä n g e r der Freien Liste (Tabel-
le 25).
Schliesslich manifestieren sich noch bei der E i n -
stellung zur Zuwanderung signifikante Gruppenun-
terschiede. Diese Dimension wurde mit fünf Fragen
erfasst, n ä m l i c h ob die Zuwanderer einen Einf lüss
auf die Kr imina l i t ä t s r a t e h ä t t e n , ob sie gut f ü r die
Wirtschaft seien, ob sie den Einheimischen Arbei ts-
p lä tze w e g n ä h m e n , ob sie Liechtenstein offen f ü r
neue Ideen und andere Kul turen machten und ob
der Staat zu viel Geld f ü r die U n t e r s t ü t z u n g der Zu-
wanderer ausgebe.
Eine ü b e r d u r c h s c h n i t t l i c h positive Haltung ge-
g e n ü b e r Migranten w i r d in den folgenden Gruppen-
segmenten eingenommen: H ö h e r Gebildete, Fle-
xible, Aus länder , Deutschsprachige (ohne Liechten-
steiner Dialekt), A n h ä n g e r der Fre ien Liste (Ta-
belle 26).
Alle Kreuztabellenanalysen zeigen ein mehr oder
weniger einheitliches und plausibles B i ld von den
Gruppenunterschieden der E inwohner innen und
Einwohner Liechtensteins. Vereinfacht kann zwei-
erlei festgestellt werden. Erstes gibt es vor al lem U n -
terschiede in der Betonung und Charakterisierung
einer eigenen Ident i tä t , sowie - k o m p l e m e n t ä r - i n
der Abschottung gegen aussen bzw. der Geschlos-
senheit der Gesellschaft. Noch weiter zugespitzt
kann m a n d iesbezügl ich das Konzept einer Iden t i t ä t
als « l i ech tens te in i sches Volk» dem Konzept einer
Iden t i t ä t als «of fene Gese l l schaf t» gegenübe r s t e l l en .
Zweitens kann festgehalten werden, dass sich die
Einstellungsunterschiede in der Iden t i t ä t s f r age re-
lativ einheitl ich p r ä s e n t i e r e n , indem A u t o r i t ä r e r e ,
Äl tere , weniger Gebildete, A n h ä n g e r der grossen
Volksparteien fast durchgehend Unterschiede zum
jeweiligen Gegenpol aufweisen, und zwar i n einheit-
l icher Richtung. Die e r w ä h n t e n Gruppen pflegen ex-
klusivere Vorstellungen von einer liechtensteini-
schen Ident i tä t , haben weniger internationalisti-
sche Tendenzen, weisen weniger kulturelle Offen-
heit und mehr Vorbehalte g e g e n ü b e r Migranten auf.
227
Tabelle 25: Kulturelle
Offenheit (Q9)
Tabelle 26: Einstellung zu
Migranten (QIO)
cncr an- eher Äiiiworieiiue
Merkmal lehnend offen rersonen
Alter 15-29 Jahre 25.0 7.5,0 607
30-44 34.1 65,9
45-59 4,1.2 58,8
60+ 50.0 50.0
ÄutöritarisiTius Flexibel 23.5 '76.5 607
Teils-teils 38.2 61.8
Autoritär 49.0 oO-5
Nationalität Liechtenstein 41.2 58.8 607
Ausland 27.9 72.1
Eltern Beide FL 42.3 57.7 607
1 Teil FL 42.5 57.5
Beide Ausland 2-9.0 71.0
Sprache FL-Dialekt 37.9 62.1 607
Deutsch 37.8 62.2
Anderes 15.6 84.4
Partei' FBP 43.8 56.2 289
V U 53.3 46.7
F L 12,8 87,2
Alle 36.7 63.3 607
eher eher Antwortende
Merkmal negativ positiv Personen
Bildung Obligatorische 53.4 46.6 599
Berufslehr.e 38.7 61,3
Höhere Bildung 25.0 75.0
FH/Universität 19.2 80.8
Autoritarismus Flexibel 16.5 83.5 607
Teils-teils 33.3 66.7
Autoritär 50.5 49.5
Nationalität Liechtenstein 36.7 63.3 607
Ausland 25.5 74.5
Sprache FL-Dialekt ' 35.9 64.1 607
Deutsch 21:3 7.8.7
Anderes 37.5 62.5
Partei FBP 35.8 ' 64.2 289
V U 35.2 64.8
FL 8.5 91.5
228
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
WO LIEGEN DIE TRENNLINIEN?
Bei verschiedenen Einstellungsfragen wurden also
signifikante Gruppendifferenzen festgestellt. Dabei
ist allerdings wie bereits a u s g e f ü h r t zu be rücks ich t i -
gen, dass nicht notgedrungen die Zugehör igke i t zu
einer Gruppe die Ursache f ü r eine bestimmte E i n -
stellung oder Haltung darstellen muss. Beispiels-
weise ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass
die Sympathie f ü r eine bestimmte Partei die Einstel-
lung zu einem Sachthema p räg t . Theoretisch plausi-
bler ist es, dass aufgrund einer bestimmten p e r s ö n -
lichen Einstellung eine P r ä f e r e n z f ü r eine Partei ent-
wickelt w i rd , die der eigenen Haltung am ehesten
entspricht. 5 9 Bei anderen Variablen wiederum w i r d
teilweise a n n ä h e r n d die gleiche Dimension gemes-
sen. Dies betrifft etwa die liechtensteinische Staats-
b ü r g e r s c h a f t , welche eng mit der Herkunft der E l -
tern und der Hauptsprache zu Hause korreliert ist.
Es bleibt also die Frage, welches Gruppenmerkmal
ta t säch l ich Einf lüss a u s ü b t , und welches M e r k m a l
nur korreliert ist.
Eine multivariate, d. h. mehrere mögl iche Ursa-
chenvariablen einschliessende, logistische Regres-
sionsrechnung deckt auf, welche Strukturmerkmale
t a t säch l i ch einen Einf lüss auf die Einstellungen ha-
ben. Dabei werden die relevanten u n a b h ä n g i g e n
Variablen - Alter, Geschlecht, Na t iona l i t ä t usw. - je-
weils gleichzeitig hinsichtl ich ihrer W i r k u n g auf
eine einzelne, dichotom (zweiteilig) kodierte E i n -
stellungsvariable gerechnet. Dies w i r d f ü r jede E i n -
stellungsvariable - Nationalismus, In te rna t iona l i t ä t ,
Kulturelle Offenheit usw. - einzeln d u r c h g e f ü h r t .
Das Ergebnis ist erstaunlich. Die meisten der in
den letzten Tabellen dargestellten gruppenspezif i-
schen Z u s a m m e n h ä n g e erweisen sich in der Analy-
se der Kreuztabellen zwar als signifikant, aber doch
eher schwach. In allen Fäl len mit nachweisl ich mar-
kanten Gruppenunterschieden spielt dagegen der
Au to r i t ä t swer t A S K O eine Rolle. E r stellt in der Re-
gel den s t ä r k s t e n Einflussfaktor dar. Andere Merk-
male wie die Zugehör igke i t zu einem bestimmten
Wahlkreis, die Nat iona l i tä t , die Herkunft , die Spra-
che, das politische Interesse oder das Engagement
in Vereinen spielen dagegen eine weit untergeord-
nete Rolle (Tabelle 27).
Wenn also Trennl inien in der Gesellschaft aufge-
s p ü r t werden sollen, so laufen diese in der Frage der
p e r s ö n l i c h e n und der nationalen Iden t i t ä t u r s ä c h -
l ich kaum entlang des Alters, des Geschlechts, der
Na t iona l i t ä t oder der meisten anderen hier analy-
sierten Gruppenmerkmale . Die deutlichste und
durchgehende Kluf t in den Wahrnehmungen und
Einstellungen in der Bevö lke rung zeigt sich entlang
der A u t o r i t ä t s a c h s e . Die hechtensteinische Gesell-
schaft ist nicht in I n l ä n d e r und Aus länder , i n Alte
und Junge, i n O b e r l ä n d e r und U n t e r l ä n d e r usw. ge-
spalten, sondern - falls man ü b e r h a u p t von Spal-
tung sprechen w i l l - in A u t o r i t ä r e und Flexible. Die-
se beiden Gruppen k ö n n t e m a n auch beschreiben
als konservative Tradit ionalisten und progressive
Modernisten.
59) Auf die Besonderheiten des liechtensteinischen Parteiensystems
mit den sehr stark familial geprägten Partoibindungcn im Falle der
beiden Volksparteien FBP und V U kann an dieser Stelle nicht nähe r
eingegangen werden. Tatsächlich hat die Parteineigung auch eine
teilweise p rägende Wirkung auf die individuelle Einstellung. Im Falle
der Freien Liste hat sich dagegen eher die sachfragenorientierte
Parteibindung durchgesetzt.
229
Tabelle 27: Variablen mit
signifikantem Einflüss auf Diff. Präg. Wicht. Intern. Kult. Migrat.
Identitätsaspekte 6 0 sozial Aspekt Aspekt offen
Wahlkreis
Altersgruppen 12.06
Geschlecht 9.90
Bildung 14.23
Autoritarismus 26.29 1.7.12 10.7.0 11.99 19 :53 14.05..
Nationalität
Eltern
Sprache
Partei 12.65 12.83
Interesse
Verein.
Nagelkerkes .249 .317 •424 .198 .258 .242
R-Quadrat61
230
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
Z U S A M M E N F A S S U N G UND I N T E R P R E T A T I O N
DER ERGEBNISSE
Als zentrale Erkenntnisse aus der im Herbst 2005
d u r c h g e f ü h r t e n Umfrage zur nationalen Iden t i t ä t
Liechtensteins k ö n n e n die folgenden Punkte festge-
halten werden:
1. Nach historisch gesehen eher schwerem Start bei
der Herausbildung einer liechtensteinischen natio-
nalen Ident i tä t kann heute festgestellt werden, dass
in der Bevö lke rung eine liechtensteinische Iden t i t ä t
wahrgenommen und vertreten w i rd .
2. Eine liechtensteinische Iden t i t ä t w i r d dabei in der
spontanen Nennung weniger ü b e r staatliche Sym-
bole, sondern s t ä r k e r ü b e r soziale Aspekte und E i -
genschaften der Menschen - positive wie negative -
erkannt. Eigenschaften der Menschen, Vertrautheit,
Geborgenheit, N ä h e s ind zentrale Faktoren einer
ü e c h t e n s t e i n i s c h e n Ident i tä t .
3. Die Befragten erachten unter neun vorgegebenen
Aspekten am h ä u f i g s t e n die Landschaft als sehr
wichtig f ü r das, was Liechtenstein f ü r sie pe r sön l i ch
ausmacht. Es folgen i n absteigender Reihenfolge die
Geschichte, der Finanzplatz, das Brauchtum, die
Kleinheit, die Monarchie, der Dialekt, die S t a a t s b ü r -
gerschaft und die katholische Kirche.
4. Die Bewohner innen und Bewohner Liechten-
steins füh len sich dem Land Liechtenstein enger
verbunden als der Wohngemeinde, Europa oder -
als s c h w ä c h s t e r Identif ikationsraum - dem Landes-
teil (Oberland, Unterland).
5. Fü r die pe r sön l i che Iden t i t ä t werden wie in der
Schweiz und in Deutschland auch in Liechtenstein
der Beruf und die Stellung in der Famil ie als wich-
tigste Aspekte bezeichnet. Im Unterschied zu den
anderen L ä n d e r n w i r d in Liechtenstein aber auch
der S t a a t s b ü r g e r s c h a f t und dem Wohnort ein hoher
Stellenwert f ü r die p e r s ö n l i c h e Iden t i t ä t einge-
r ä u m t .
6. Dabei ist aber ke in bedingungsloser Nationalis-
mus erkennbar. Der i m Vergleich mit anderen Staa-
ten a u s g e p r ä g t e Stolz auf das eigene Land ist ge-
paart mit Eigenkrit ik und Z u r ü c k h a l t u n g . Nur knapp
ein Drittel der Befragten meint, dass Liechtenstein
ein besseres Land sei als die meisten anderen Län-
der, und nur rund ein Fünf te l meint, die Welt w ä r e
besser, wenn die Menschen übe ra l l so w ä r e n wie in
Liechtenstein.
7. Wenn es u m Fragen der gesellschaftlichen Inte-
gration sowie der kulturellen und wirtschaft l ichen
Offenheit geht, s ind Unterschiede zur Schweiz und
zu Deutschland besonders markant. Die Zuwande-
rung w i r d i n Liechtenstein trotz vergleichsweise ho-
hem A u s l ä n d e r a n t e i l weit weniger negativ beurteilt
als in den Vergleichsstaaten. Die Leistung der M i -
granten fü r die liechtensteinische Wirtschaft und
die kulturelle Belebung durch deren Anwesenheit
w i r d a u s d r ü c k l i c h gewürd ig t . So w i r d auch nur von
einer kleinen Minderhei t eine Reduktion der Zu-
wanderung gefordert. A u c h ist i n Liechtenstein die
Angst vor grossen internationalen F i rmen , vor frei-
em Handel und Warenimport weit weniger verbrei-
tet als in der Schweiz oder in Deutschland.
8. Dabei ist aber durchaus auch ein hohes Mass an
Selbstbewusstsein und Streben nach U n a b h ä n g i g -
keit erkennbar. M e h r als die Hälf te f inden, dass
Liechtenstein die eigenen Interessen verfolgen soll-
te, auch wenn das zu Konf l ik ten mit anderen Län-
dern füh r t .
9. Schliesslich ist auch festzustellen, dass i n Liech-
tenstein gesellschaftliche Trennl inien nur in weni-
gen I d e n t i t ä t s f r a g e n entlang von Altersgruppen,
dem Geschlecht, dem Status als In- oder A u s l ä n d e r
oder anderen Gruppensegmenten verlaufen. Die
s t ä r k s t e Kluft , welche quer durch Altersklassen, Ge-
schlechter, In- und Aus länder , Sprachgruppen usw.
60) Darstellung aller hochsignifikanten Wald-Werte (Assoziations-
mass) aufgrund b inär logistischer Regressionsrechnungen.
61) Nagelkerkes R-Quadrat bezeichnet den Anteil der erklärten Vari-
anz. Ein Wert von .249 bedeutet, dass 24.9 Prozent der Varianz durch
die unabhäng igen Variablen erkär t wird.
231
ver läuf t , zeigt sich in der Umfrage als Kluf t zwischen
au to r i t ä r - t r ad i t i onahs t i s chen Pe r sön l i chke i t en und
modern-l iberalen Persön l ichke i t en .
Al le diese Befunde zusammen genommen, scheint
das weiter oben e r w ä h n t e politische Testament Pe-
ter Kaisers i n doppelter Hinsicht aufgegangen zu
sein. E r schrieb i m Jahr 1848: «Wenn w i r unsern
Vortheil recht verstehen, k ö n n e n w i r ein Völklein
vorstellen, das Niemandem gefähr l i ch ist, aber doch
Al len Achtung a b n ö t h i g t . » 6 2 Dass das « l iechtens te i -
nische Völklein» n iemandem mi l i t ä r i sch gefähr l i ch
ist, dü r f t e ohne weiteres einsichtig sein. Formel l
w i r d die Achtung durch die Anerkennung der Sou-
v e r ä n i t ä t a u s g e d r ü c k t , wobei insbesondere die Mit -
gliedschaft i m Europarat (seit 1978) und der UNO
(seit 1990) hervorzuheben sind. Der Finanzplatz
Liechtenstein ist hingegen manch anderem Staat
ein Dorn i m Auge. Trotzdem d ü r f t e der wir tschaft l i -
che Boom der vergangenen Jahrzehnte im Aus land
insgesamt eher Bewunderung denn Neid und A b -
lehnung ausge lös t haben, nicht zuletzt wegen der
Kleinheit des Landes. Die I d e n t i t ä t s u m f r a g e belegt
nun, dass die Worte Peter Kaisers sich nicht nur i m
Verhä l tn is Liechtensteins zu anderen Staaten ten-
denziell bewahrheitet hat, sondern auch der aktuel-
len Selbstwahrnehmung der liechtensteinischen Be-
vö lke rung entspricht: Selbstbewusst, mögl ichs t un-
a b h ä n g i g , Stolz auf Land, Leute und Leistungen -
aber auch offen, integrierend, kooperationsbereit,
flexibel und ohne ü b e r t r i e b e n e nationale Dünkel . So
zeigt sich - jedenfa l l s im Mittelwert aller Befragten -
eine Bevölkerung , deren Einstellung gut in die heu-
tige Zeit der wirtschaft l ichen Globalisierung, der zu-
nehmenden Migrat ion, der technischen U m w ä l z u n -
gen und der Wissensexpansion passt. In dieser H i n -
sicht scheint Liechtenstein manchen g r ö s s e r e n
Staaten einen Schritt voraus zu sein.
62) Zit. nach Kind 1905, S. 34 f.
232
NATIONALE IDENTITÄT
WILFRIED MARXER
QUELLEN
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BILDNACHWEIS
Paul Vogt: Brücken zur
Vergangenheit. Vaduz,
1990, S. 14 und S. 18
ANSCHRIFT DES
AUTORS
Dr. Wilfried Marxer
Weiherstrasse 7
FL-9495 Triesen
235
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
237
R E Z E N S I O N E N
Inhalt
241 Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und
i m Zweiten Weltkrieg
Alois Ospelt
248 Liechtenstein und die Flücht l inge zur Zeit
des Nationalsozialismus
Wolfgang Weber
251 Liechtensteinische Industriebetriebe und die
Frage nach der Produktion f ü r den deut-
schen Kriegsbedarf 1939-1945
Rupert Quaderer
254 Liechtensteinische Finanzbeziehungen zur
Zeit des Nationalsozialismus
Petra Barthelmess
258 Liechtenstein und der internationale Kunst-
markt 1933-1945 - Sammlungen und ihre
Provenienzen i m Spannungsfeld von Flucht,
Raub und Restitution
Gabriele A n d e r l
240
REZENSIONEN / FRAGEN ZU LIECHTENSTEIN IN DER
NS-ZEIT UND IM ZWEITEN WELTKRIEG
Fragen zu Liechtenstein in der
NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg
A L O I S O S P E L T
EINZIGARTIGES Z E I T G E S C H I C H T L I C H E S
F O R S C H U N G S P R O J E K T
Der i m Oktober 2005 zusammen mit sechs Spezial-
Studien zu Einzel themen veröf fen t l i ch te Schluss-
bericht der U n a b h ä n g i g e n His tor ikerkommiss ion
Liechtenstein Zweiter Weltkrieg ist das Ergebnis ei-
nes i n Umfang, Komplex i tä t und In tens i t ä t bis anhin
einzigartigen Forschungsprojekts zur Geschichte
Liechtensteins. In gut v i e r j ä h r i g e r Arbei t hat eine
international besetzte His tor ikerkommiss ion i m
Auf t rag der Regierung Fragen zur Rolle Liechten-
steins i m Zweiten Weltkrieg vertieft abgek lä r t .
Insgesamt 3,537 Mi l l ionen Franken bewilligte
der Landtag f ü r diese zeitgeschichtlichen Forschun-
gen. In diesen Kosten sind die erbrachten erhebli-
chen eigenen Arbeitsleistungen der verschiedenen
Amtsstellen, Archive und besonders der liechten-
steinischen Banken und T r e u h ä n d e r nicht mitge-
rechnet.
Durch ein eigenes Gesetz vom 17. Oktober 2001
(LGB1. 2001, Nr. 181) erhielten die His tor ikerkom-
mission und die von ih r betrauten Forscher innen
und Forscher in Liechtenstein f ü r ihre Untersu-
chung ein umfassendes Archivpr iv i leg und damit
Zugang zu allen Unterlagen bei B e h ö r d e n und
Amtsstellen sowie bei privaten Unternehmen, jur is-
tischen und n a t ü r l i c h e n Personen, welche der histo-
rischen Untersuchung z u den V e r m ö g e n s w e r t e n
g e m ä s s Mandat dienten. Die G e w ä h r u n g der E i n -
sichtnahme ging jeder gesetzlichen und vertragli-
chen Geheimhaltungspflicht vor. Damit standen der
Forschung auch sonst nicht zugäng l i che Archive zur
Ver fügung .
Insgesamt waren f ü r Forschungs- und Organisa-
tionsaufgaben i m Rahmen des weit verzweigten
Projekts 28 Personen tä t ig . Der s echsköp f igen Histo-
r ikerkommiss ion g e h ö r t e n zwei liechtensteinische
und vier internationale Zeitgeschichtsforscher an:
Privatdozent Peter Geiger (P räs iden t , Liechtenstein-
Institut, P ä d a g o g i s c h e Hochschule St. Gallen, U n i -
vers i tä t Fribourg), Ar thur Brunhar t (Vizepräs ident ,
Liechtensteinisches Landesmuseum, Historisches
Lexikon f ü r das F ü r s t e n t u m Liechtenstein), Profes-
sor David Bankier (Hebrä i s che Univers i tä t und Yad
Fragen zu Liechtenstein
in der NS-Zeit und
im Zweiten Weltkrieg
Schlusibeficht
riei Uiwbhangigen H
Peter Geiger, Arthur
Brunhart, David Bankier,
Dan Michman, Carlo Moos,
Erika Weinzierl: Flüchtlin-
ge, Vermögenswerte,
Kunst, Rüstungsproduk-
tion: Schlussbericht der
Unabhängigen Historiker-
kommission Liechtenstein
Zweiter Weltkrieg.
Historischer Verein für das
Fürstentum Liechtenstein,
Vaduz, und Chronos Ver-
lag, Zürich, 2005. 302 S.
Geb. CHF 40.-.
ISBN 3-906393-39-2
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0806-6
(Chronos Verlag)
241
Weitere Veröffentlichungen
der Unabhängigen Histori-
kerkommission Liechten-
stein Zweiter Weltkrieg:
Studie 1: Ursina Jud:
Liechtenstein und die
Flüchtlinge zur Zeit des
Nationalsozialismus. Va-
duz, Zürich 2005. 310 S.
CHF 38.-.
ISBN 3-906393-34-8
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-8001-5
(Chronos Verlag)
Studie 2: Veronika Marxer,
Christian Ruch: Liechten-
steinische Industriebetrie-
be und die Frage nach der
Produktion für den deut-
schen Kriegsbedarf 1939-
1945. Vaduz, Zürich 2005.
153 S. CHF 32.-.
ISBN 3-906393-39-2
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-8006-6
(Chronos Verlag)
Studie 3: Hanspeter Lussy,
Rodrigo Lopez: Liechten-
steinische Finanzbezie-
hungen zur Zeit des
Nationalsozialismus
Vaduz, Zürich 2005. 2 Bde.
819 S. CHF 78.-.
ISBN 3-906393-36-4
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0803-1
(Chronos Verlag)
Studie 4: Esther Tisa
Francini: Liechtenstein
und der internationale
Kunstmarkt 1933-1945.
Sammlungen und ihre
Provenienzen im Span-
nungsfeld von Flucht, Raub
und Restitution. Vaduz,
Zürich 2005. 296 S.
CHF 38.-.
ISBN 3-906393-37-2
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0804-3
(Chronos Verlag)
Studien 5 und 6: Untersu-
chung zu nachrichtenlosen
Vermögenswerten bei
liechtensteinischen
Banken in der NS-Zeit.
Bericht der Ernst & Young
AG gemäss Mandatsverträ-
gen vom 9. Juli 2002 und
5. Mai 2003 zwischen der
Unabhängigen Historiker-
kommission Liechtenstein
Zweiter Weltkrieg und der
Ernst & Young AG.
Stefan Karlen: Versiche-
rungen in Liechtenstein
zur Zeit des Nationalsozia-
lismus. Vaduz, Zürich
2005. 141 S. CHF 32.-.
ISBN 3-906393-38-0
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0805-8
(Chronos Verlag)
242
REZENSIONEN / FRAGEN ZU LIECHTENSTEIN IN DER
NS-ZEIT UND IM ZWEITEN WELTKRIEG
Vaschem, Jerusalem), Professor Dan M i c h m a n (Bar-
I lan-Univers i tä t , Ramat-Gan, und Yad Vaschem, Je-
rusalem), Professor Carlo Moos (Univers i tä t Zür ich)
und Professorin E r i k a Weinzier l (Univers i tä t Wien).
Im Auf t rag der Fl is torikerkommission waren sieben
wissenschaftliche Mitarbei ter innen und Mitarbeiter
mit Untersuchungen beschäf t ig t : zur F lüch t l ingspo-
litik Urs ina Jud (Fribourg), zu V e r m ö g e n s w e r t e n
Hanspeter Lussy (Zürich) und Rodrigo Lopez (Lau-
sanne), zu Versicherungen Stefan Kar len (Zumikon
ZH) sowie zur Industrieproduktion f ü r Deutschland
Christian Ruch (Zürich) und Veronika Marxer
(Schaan). Weitere fünf Personen f ü h r t e n gezielte A r -
chivrecherchen und Personenbefragungen auch an
entfernten Standorten durch, so in den Nat ional A r -
chives in Washington und London sowie in Yad Va-
schem in Jerusalem und in anderen israelischen A r -
chiven. Die Revisionsgesellschaft Erns t&Young wur-
de speziell mit der A b k l ä r u n g der Frage allfäll iger
nachrichtenloser Konten oder V e r m ö g e n s w e r t e von
NS-Opfern betraut.
Der His tor ikerkommiss ion leisteten zudem zwei
weitere von der Regierung bestellte Gremien, ein
« B e r a t u n g s - und K o o r d i n i e r u n g s a u s c h u s s » unter
dem Vorsitz von Altregierungschef Hans Brunhar t
und ein « G r e m i u m der i n l änd i schen Institutionen
und O r g a n i s a t i o n e n » , wertvolle Hilfestellung b e z ü g -
l ich Koordinat ion, Kommunika t ion und Kontakt-
nahmen i m In- und Aus land .
A U S L Ö S E N D E E L E M E N T E FÜR DIE U N T E R -
SUCHUNGEN
Seit Mitte der 1990er Jahre haben viele L ä n d e r Ex-
pertenkommissionen eingesetzt und mit der Klä-
rung offener Fragen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs
beauftragt. Die Wende in Osteuropa 1989 und die
Öf fnung der dortigen Archive , sowie neue Erkennt-
nisse der Zeitgeschichtsforschung und darauf basie-
rende Medienberichte hatten zu einem empfindsa-
meren allgemeinen Bewusstsein fü r geschichtliche
Verantwortung ge füh r t . Dies und vor allem polit i-
scher und wirtschaft l icher Druck aus den USA und
seitens j ü d i s c h e r Organisationen veranlassten eu-
r o p ä i s c h e Staaten, historische Rechenschaft abzule-
gen, Gerechtigkeit soweit mögl ich wiederherzustel-
len und Opfer der NS-Verfolgung zu e n t s c h ä d i g e n .
Im Inland und Aus land wurden in dieser Zeit ver-
mehrt auch Fragen zur Rolle Liechtensteins i m
Zweiten Weltkrieg gestellt, begüns t ig t durch gleich-
zeitige G e l d w ä s c h e r e i - und S t e u e r f l u c h t v o r w ü r f e .
Eigentlicher Aus löse r f ü r die Einsetzung einer un-
a b h ä n g i g e n Exper tenkommission in Liechtenstein
war ein i m deutschen Magazin «Der Spiegel» am 24.
Jul i 2000 veröf fen t l i ch tes Interview mit E lan Stein-
berg vom Generalsekretariat des Wor ld Jewish Con-
gress (WJC). Dar in wurde a u s g e f ü h r t , «F inanz ins t i -
tute aus L iech tens te in» h ä t t e n « g e m e i n s a m mit den
Nazis» geraubte j ü d i s c h e B es i t z t ü mer versteckt. Es
handle sich dabei um «Geld, Gold und gestohlene
Kuns t» . Der W J C besitze «e indeu t ige D o k u m e n t e »
aus dem Nationalarchiv in Washington, und i m Sep-
tember 2000 werde m a n «die Beweise der Regie-
rung p r ä s e n t i e r e n » . M a n verlange Kompensation;
Liechtenstein sei nicht in den Vergleich mit den
Schweizer Banken eingeschlossen; wenn die Regie-
rung nicht reagiere, w ü r d e n «rech t l i che Schr i t te»
eingeleitet; als letztes Mittel k ö n n t e n « S a n k t i o n e n
gegen den Finanzplatz L iech tens te in» nöt ig werden.
Die Regierung handelte unverzüg l i ch . Nach Kon-
taktnahme mit dem W J C und entsprechenden Vor-
a b k l ä r u n g e n setzte sie am 22. M a i 2001 die « U n a b -
h ä n g i g e His tor ikerkommiss ion Liechtenstein Zwei-
ter Wel tkr ieg» (UHK) ein.
U N T E R S U C H U N G S R E R E I C H E UND F R A G E N
DES M A N D A T S
Das umfangreiche Mandat der His tor ikerkommiss i -
on orientierte sich stark an dem von der Schweiz ge-
w ä h l t e n Vorgehen («Volcker-Komitee»; «Bergier-
Kommiss ion» ) und g e w ä h r l e i s t e t e die völlige Unab-
häng igke i t der Untersuchungen. Die Kommiss ion
hatte die aktuell aufgeworfenen spezifischen Fragen
und Vors tösse zur Rolle Liechtensteins i m Zweiten
Weltkrieg wissenschaft l ich a b z u k l ä r e n . Fragen zu
Finanzbeziehungen, V e r m ö g e n s w e r t e n und «Ari-
s i e ru n g » , zur liechtensteinischen Flüchtl ingspoli t ik,
243
zur Produktion fü r den deutschen Kriegsbedarf und
zu Raubkunst und deutscher Zwangsarbeit bildeten
die Hauptkomplexe der Untersuchungen. Im Vor-
dergrund standen V e r m ö g e n s f r a g e n i m Zusammen-
hang mit der NS-Herrschaft , insbesondere die F ra -
ge, ob Liechtenstein geholfen habe, geraubte Ver-
m ö g e n s w e r t e i n F o r m von Geld, Gold, Wertschrif ten
oder Kunstwerten zu verstecken und zu verschieben
oder V e r m ö g e n s w e r t e von NS-Opfern in Sicherheit
zu bringen. Zu k l ä r en waren auch der Bestand
nachrichtenloser Konten von Holocaust-Opfern auf
liechtensteinischen Banken, die Einhal tung der Be-
stimmungen betreffend die Sperrung deutscher Ver-
m ö g e n s w e r t e und die Rückgabe von geraubtem Gut.
DER SCHLUSSRERICHT
Der Schlussbericht (der auch in englischer Sprache
erscheint) ist von den Mitgliedern der Kommiss ion
gemeinsam verfasst und i m Konsens verabschiedet
worden. E r ist die gült ige Stellungnahme der Histo-
r ikerkommission. E r e n t h ä l t die Synthese der Er-
gebnisse zu den Untersuchungsfragen. Dieser vor-
angestellt sind zwei Kapitel : eine einleitende Dar-
stellung von Vorgeschichte, Rahmenbedingungen,
Organisation, Verlauf und Voraussetzungen der K o m -
missionsarbeit (S. 11-28) sowie eine verdichtete Be-
schreibung des Gesamtgeschehens, i n das die ein-
zelnen Untersuchungsergebnisse einzubetten sind
(S. 29-75). Die Ergebnisse ihrerseits basieren so-
wohl auf den von den einzelnen beauftragten For-
scherinnen und Forschern erarbeiteten Einzelstudi-
en als auch auf den breiten Kenntnissen der K o m -
missionsmitglieder aus ihrer eigenen Forschung.
Die sechs Einzelstudien enthalten die gesondert er-
arbeiteten detaillierten Teilergebnisse.
Besonders aufschlussreich ist die Beschreibung
des Forschungsstandes und der Archive und Quel-
len (S. 21-25). Diese Beschreibung sowie das Quel-
len- und Literaturverzeichnis (S. 272-293) lassen
die neue und weite Dimension der liechtensteini-
schen Zeitgeschichtsforschung erkennen, die durch
die His tor ikerkommission selbst und in ih rem Auf-
trag beschritten wurde. Die wissenschaftl ichen U n -
tersuchungen erfolgten auf einer sehr breiten Quel-
lenbasis. Im Vergleich zu ä h n l i c h e n Untersuchun-
gen in anderen L ä n d e r n konnten die A b k l ä r u n g e n
nirgends so detailliert erfolgen wie in Liechtenstein.
Es ist dies neben den i m Schlussbericht gezeichne-
ten besonderen liechtensteinischen Dimensionen
(vgl. S. 29-35) eine weitere Spezia l i tä t des Kle in -
staates und eine eigene Qual i tä t der Arbei t der His-
tor ikerkommission.
Es war nicht Auf t rag der His tor ikerkommission,
die allgemeine liechtensteinische Geschichte in der
Zeit des Nationalsozial ismus und des Zweiten Welt-
kriegs zu beschreiben. Sie hatte bestimmte aktuell
aufgeworfene zentrale Fragen zu k l ä ren . Dennoch
en thä l t der Schlussbericht richtigerweise ein eige-
nes wichtiges Kapitel , das den geschichtlichen Kon-
text sorgfäl t ig zusammenfassend darstellt. Es fusst
einerseits auf dem in der Einlei tung umschriebenen
Forschungsstand, andererseits vornehmlich auf
den Ergebnissen der jahrelangen Forschungen von
Peter Geiger. Dass Liechtenstein in der NS-Zeit das
Hauptgebiet der Fo r schungs t ä t i gke i t des P r ä s i d e n -
ten der His tor ikerkommiss ion bildet und dieser sein
umfassendes Wissen und insbesondere seine Er-
kenntnisse aus einer vor dem Abschluss stehenden
Gesamtdarstellung zu Liechtenstein i m Zweiten
Weltkrieg einbringt, verleiht diesem Kapitel , aber
auch dem gesamten Schlussbericht eine besondere
Quali tät . Die i n den Quellen aufgelisteten zahlrei-
chen Zeitzeugeninterviews sind denn auch zum
g rös s t en Teil von Peter Geiger seit 1988 i m Rahmen
seines Forschungsprojekts am Liechtenstein-Insti-
tut g e f ü h r t worden, und 29 Bei t räge der unter der
Liechtenstein-Literatur verzeichneten Bei t räge stam-
men ebenfalls aus seiner Feder.
WICHTIGSTE ERGERNISSE
Es ist hier nicht mögl ich , auf die einzelnen Ergeb-
nisse n ä h e r einzugehen. Sie seien lediglich kurz an-
gesprochen und b r u c h s t ü c k h a f t skizziert:
Liechtenstein war kein bedeutender Finanzplatz .
Es diente nicht als Hort f ü r geraubte V e r m ö g e n , als
Devisendrehscheibe oder als Verschiebeplatz fü r
244
REZENSIONEN / FRAGEN ZU LIECHTENSTEIN IN DER
NS-ZEIT UND IM ZWEITEN WELTKRIEG
NS-F luch tve rmögen . Liechtenstein war aber auch
nicht eine u n b e r ü h r t e Insel. Es gab Geschä f t sbez i e -
hungen in den nationalsozialistischen Machtbereich
und in den der Alliierten, insbesondere in die Schweiz.
Nicht wenige Kunden waren bedrohte Juden. Es ha-
ben sich Hinweise auf problematische Gesellschaf-
ten und Geschä f t e gefunden, jedoch keine stichfes-
ten Belege f ü r die Verschiebung von Raub- oder
T ä t e r v e r m ö g e n . Was verschiedene Gesellschaften
seinerzeit faktisch unternahmen und wer hinter i h -
nen stand, bleibt i n vielen Fäl len unbekannt. Es ha-
ben sich keine nachrichtenlosen Bankkonten gefun-
den, die nachweisl ich Holocaust-Opfern g e h ö r t e n .
1945 und danach wurde mit deutschen V e r m ö g e n s -
werten in Liechtenstein gleich wie i n der Schweiz
verfahren, n ä m l i c h Sperrung und Unterstellung un-
ter das Washingtoner Abkommen . Die Schweizer i -
sche Verrechnungsstelle fand keine NS-Vermögens -
verschiebungen. Es gab in Liechtenstein keine Re-
stitutionsforderungen oder -prozesse.
Das V e r s i c h e r u n g s g e s c h ä f t in Liechtenstein war
unbedeutend. Es gibt keine Hinweise, dass Vers i -
cherungspolicen von in Liechtenstein lebenden Per-
sonen oder von hier Versicherten an das NS-Regime
ausgeliefert worden w ä r e n .
In liechtensteinischen Sammlungen sind keine
geraubten Kunstwerte festgestellt worden. Es gibt
auch keine Hinweise, dass ü b e r Liechtenstein Raub-
kunst verschoben wurde. Einzelne j ü d i s c h e Flücht-
linge und N e u b ü r g e r konnten Kunstwerte retten.
Die seinerzeit in Wien lagernden Für s t l i chen Samm-
lungen kauften in der Zeit von 1938 bis zum Kriegs-
ende rund 270 Kunstobjekte, darunter eine Reihe
von Objekten mit problematischer Provenienz, er-
worben von Institutionen oder H ä n d l e r n , die auch
mit Raubgut handelten.
Drei liechtensteinische Industriebetriebe, alle i m
S p ä t h e r b s t 1941 g e g r ü n d e t , lieferten der deutschen
Seite R ü s t u n g s g ü t e r oder kriegswichtige Güter-. Die
Press- und Stanzwerke A G produzierte 20 m m - H ü l -
sen f ü r die Oerl ikon B ü h r l e - F l a b k a n o n e , die M a -
schinenbau Hi l t i oHG lieferte Teile f ü r Motoren und
Fahrzeuge, die P r ä z i s i o n s - A p p a r a t e b a u A G stellte
Messinstrumente her. Die genannten Exporte ver-
letzten keine Neu t ra l i t ä t s rege ln .
Die Flücht l ingspol i t ik Liechtensteins wurde weit-
gehend durch jene der Schweiz bestimmt und mit
dieser koordiniert . Zwischen 1933 und 1945 (die
Flücht l ingswel le i n den letzten Kriegstagen nicht
eingerechnet) fanden etwa 400 Flücht l inge , die
grosse Mehrzah l Juden, Zuflucht i n Liechtenstein.
Rund 250 Personen erhielten Aufenthalt f ü r eine
unterschiedlich begrenzte Zeit. E twa 150 Flücht l in-
ge wurden von Grenzbeamten angehalten und in die
Schweiz weitergeleitet. Ausserdem wurden in die-
sem Zei t raum 139 j ü d i s c h e Personen e ingebürge r t ,
gegen hohe G e b ü h r e n . Insbesondere 1938/39 wur-
de aber auch eine unbekannte A n z a h l von Flücht l in-
gen an der Grenze z u r ü c k g e w i e s e n , teils auch aus
Liechtenstein ü b e r die Grenze zu rückgescha f f t . In
den letzten Wochen und Tagen des Krieges i m A p r i l
und M a i 1945 konnten rund 8000 F l ü c h t e n d e durch
Liechtenstein i n die Schweiz gelangen. A m 3. M a i
1945 wurde eine ü b e r t r e t e n d e russische Wehr-
machttruppe mit knapp 500 Personen interniert.
Es gab in Liechtenstein keine Enteignung jüd i -
schen Besitzes («Aris ierung») und keine Zwangsar-
beit durch liechtensteinische Unternehmen. Hinge-
gen waren auf drei f ü r s t l i c h e n L a n d w i r t s c h a f t s g ü -
tern in M ä h r e n deportierte ungarische KZ-Juden
eingesetzt. Sie wurden nicht unter KZ-Bedingungen
gehalten, mussten jedoch Zwangsarbeit verrichten.
Insgesamt haben die Ergebnisse, wie der Schluss-
bericht und die Einzelstudien zeigen, die Erwar tun-
gen all derer nicht erfül l t , die auf die Aufdeckung
von grossen und schl immen Sensationen gehofft
hatten. Es sind keine s p e k t a k u l ä r e n Fälle zu Tage
b e f ö r d e r t , w o h l aber viele bis anhin unbekannte
Fakten, Z u s a m m e n h ä n g e und H i n t e r g r ü n d e aufge-
zeigt worden. Bedeutsam ist vor allem, dass die un-
tersuchten Bereiche nunmehr beliebiger Spekulati-
on oder losen Behauptungen entzogen sind. Wer
sich ein B i ld machen w i l l , kann sich auf differenzier-
te wissenschaftl iche Untersuchungen a b s t ü t z e n . Es
sei auch herausgestellt, dass der Wor ld Jewish Con-
gress, der mit seinen i m Sommer 2000 erhobenen
öf fen t l i chen R a u b v o r w ü r f e n die historische Unter-
suchung angestossen hatte, die a n g e k ü n d i g t e n do-
kumentarischen Beweise trotz mehrfachen Ersu-
chens schuldig blieb.
245
S C H L U S S F O L G E R U N G E N
Mit der Abgabe des Schlussberichts an die Regie-
rung und mit der Publikation des Berichts und der
Studien hat die His tor ikerkommiss ion ihr Mandat
abgeschlossen. Der Umfang und die wissenschaft l i-
che Quali tät der A b k l ä r u n g e n e r fü l len den seitens
der staatlichen Organe und der Wirtschaft mit dem
Forschungsauftrag angestrebten Hauptzweck, die
vom Land geforderte historische Rechenschaft ab-
zulegen und verschiedene, gerade i m Verhä l tn i s zur
Zeitgeschichte wirksame politisch-gesellschaftliche
Tabus, Denkhemmungen und Frageverbote aufzu-
heben.
Die His tor ikerkommission e rk lä r t abschliessend
zwar, dass ihre Untersuchungen keine Vollständig-
keit beanspruchen und nicht alle Fragen beantwor-
tet und alle Themen bearbeitet werden konnten
(S. 256). Und dennoch ist durch ihre Tät igkei t f ü r
Liechtenstein ein charakteristisches Defizit der Zeit-
geschichte weitgehend beseitigt worden: die Er for -
schung und Darstellung der der Gegenwart am
n ä c h s t e n liegenden Zeit steht nicht mehr in den A n -
f ä n g e n . Eine Vie lzahl von Publikationen zu Einze l -
themen und eine grosse Masse an vielfach neuem
zeitgeschichtlichem Quellenmaterial s ind i m Rah-
men eines einzigen Forschungsprojekts zusammen-
h ä n g e n d ausgewertet worden. Mit dem Schlussbe-
richt und den begleitenden Studien existiert eine
Gesamtdarstellung zur j ü n g s t e n Geschichte Liech-
tensteins mit dem Anspruch , auch s p ä t e r e n Genera-
tionen als Wegweiser der Deutung zu dienen.
Die His tor ikerkommission verstand sich nicht als
U n t e r s u c h u n g s b e h ö r d e , die richtet und Empfehlun-
gen abgibt. Denn der Flistoriker ist nicht beauftragt
zu moralisieren. E r darf jedoch die G r u n d s ä t z e der
Mora l nicht ausser Acht lassen. U n d so setzt die
Kommiss ion in ih rem Bericht gelegentlich auch
Wertungen. Die Schlüsse aus den vorliegenden Er -
gebnissen hingegen haben die auftraggebenden
staatlichen B e h ö r d e n und die liechtensteinische Ge-
sellschaft selbst zu ziehen (S. 28).
Dazu seien an den Schluss dieser Buchbespre-
chung wenige allgemein gehaltene Bemerkungen
und Gedanken gestellt.
Im Umgang mit der Zeitgeschichte, insbesondere
mit den Berichten nationaler His tor ikerkommissio-
nen, ist viel die Rede von V e r g a n g e n h e i t s b e w ä l t i -
gung. Dieser Begriff w i r d gerne mit der Vorstellung
verbunden, dass eine unaufgearbeitete Vergangen-
heit aufgearbeitet und in einen abgeschlossenen
Endzustand gebracht werden k ö n n e . Eine so ver-
standene V e r g a n g e n h e i t s b e w ä l t i g u n g wirk t nicht
als kritisches Instrument des Erkennens und t r äg t
nicht zur S c h ä r f u n g des sittlichen Gewissens bei. Sie
verkommt vielmehr z u m Ritual und dient als eine
Ar t « M e h r z w e c k w a f f e » in der polit ischen Auseinan-
dersetzung der Gegenwart.
Al le Standpunkte, die der Mensch einnehmen
kann, sind begrenzt und ze i t abhäng ig . Der Blick auf
die Vergangenheit ist nichts Statisches, ein f ü r alle-
ma l Feststehendes. Die Vergangenheit zeigt jeder
(Historiker)generation ein anderes Gesicht. Die
wechselnden Fragen der wechselnden Gegenwar-
ten rufen wechselnde Antwor ten hervor. Es gibt in
der Geschichte keine wirkl iche « S t u n d e Null». Jede
Generation und jede Einzelperson ist i n den meisten
ihrer Motive, Absichten und Zukunftserwartungen
von M a s s s t ä b e n und Vorstellungen mitbestimmt,
die Menschen schufen, die vorher gelebt haben. Ge-
schichte fordert s t ä n d i g neu zum Urteilen und Wer-
ten auf.
Die Geschichtsforschung kann einen wichtigen
Beitrag zum A u f b a u einer kollektiven Er innerung
leisten, ohne die politische Sol idar i tä t nur schwer
entstehen kann. <Geschichte als Wissenschaft) und
<Geschichte als Erinnerung) klaffen jedoch gegen-
w ä r t i g weit auseinander. Wissenschaftl iche Eins ich-
ten werden n ä m l i c h von der Allgemeinheit zuse-
hends nicht mehr aufgenommen und nachvollzo-
gen. Die politische Wertung und die Schlussfolge-
rungen der liechtensteinischen Regierung tragen
diesem Umstand Rechnung. Die Regierung e rk lä r t
in ih rem Bericht vom 29. März 2005 zu den Ergeb-
nissen der Untersuchungen der His tor ikerkommis-
sion, sie erachte es als une r l ä s s l i ch , die Bevölke-
rung, insbesondere die Jugend zu informieren ü b e r
das, was geschehen sei. Durch verschiedene Mass-
nahmen, vornehmlich durch fortgesetzte öffent l iche
Bewusstseinsbildung soll das A u f k o m m e n men-
246
REZENSIONEN / FRAGEN ZU LIECHTENSTEIN IN DER
NS-ZEIT UND IM ZWEITEN WELTKRIEG
schenverachtender, rassistischer und antisemiti-
scher Einstellungen und Akt ivi tä ten verhindert wer-
den. Jeder und jede Einzelne, die vielen privaten In-
stitutionen und Vereine des Landes seien aufgeru-
fen, dazu ihren Beitrag zu leisten. Das beginnt mit
der Aneignung der entsprechenden Kenntnisse
ü b e r die Vergangenheit, also mit einer Eigenleis-
tung zur Entstehung einer kollektiven Er innerung.
Die Untersuchungen der Historikerkommission Liech-
tenstein Zweiter Weltkrieg hefern die Grundlagen
dazu.
247
Liechtenstein und die Flüchtlinge
zur Zeit des Nationalsozialismus
W O L F G A N G W E B E R
Ursina Jud: Liechtenstein
und die Flüchtlinge zur
Zeit des Nationalsozialis-
mus. UHK-Studie 1.
Vaduz, Zürich, 2005.
310 S. CHF 38.-.
ISBN 3-906393-34-8
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-8001-5
(Chronos Verlag)
248
Manche B ü c h e r machen betroffen. Andere bewe-
gen. Urs ina Juds 2005 erschienene Studie ü b e r
«Liech tens te in und die Flücht l inge zur Zeit des Na-
t iona l soz ia l i smus» tut beides. Im Auf t rag der Unab-
h ä n g i g e n Histor ikerkommission Liechtenstein Zwei -
ter Weltkrieg recherchierte die Autor in zwischen
2001 und 2004 die staatliche Flücht l ingspol i t ik des
F ü r s t e n t u m s i n den 1930er und 1940er Jahren, die
angesichts der wirtschaftspoli t ischen Sonderrolle
Liechtensteins durch den Zollvertrag von 1924 mit
der Schweiz nicht nur eine nationalstaatliche, son-
dern eine supranationale Geschichte darstellt. Denn
die enge ö k o n o m i s c h e Verflechtung dieses Kle in -
staates i m Herzen Europas mit der helvetischen
Nachbarin determinierte den staatspolitischen Hand-
lungsspielraum des fo rmal s o u v e r ä n e n und neutra-
len F ü r s t e n t u m s gerade i m Hinbl ick auf eine eigen-
s t änd ige Position in der Frage nach dem Umgang
mit jenen E u r o p ä e r i n n e n und E u r o p ä e r n , die ab Ja-
nuar 1933 das nationalsozialistische Deutschland,
seit dem F r ü h j a h r 1938 und besonders nach Kriegs-
beginn i m S p ä t s o m m e r 1939 ihre von NS-Deutsch-
land Überfal lenen Heimatstaaten verlassen tnussten
- u m zumindest ihr Leben zu retten. Liechtensteins
Flücht l ingspol i t ik war aber keineswegs ausschliess-
l ich heteronom determiniert und dem ö k o n o m i -
schen Imperativ unterworfen, sondern das F ü r s t e n -
tum entwickelte sehr klare e igens t änd ige auf den ei-
genen Vortei l bedachte o r i g i n ä r e Standpunkte und
setzte diese i n bilateralen Verhandlungen mit NS-
Deutschland und der Schweiz um. Das macht Urs i -
na Jud in ihrer ausgezeichneten Untersuchung sehr
deutlich.
Eine wesentliche Erkenntnis leitende Frage f ü r
Juds Studie war jene nach den politics der liechten-
steinischen B e h ö r d e n , nach den inhalt l ichen D i -
mensionen der staatlichen Flücht l ingspol i t ik in den
1930er und 1940er Jahren. A n diese anschliessend
w a r nach den prozessualen und strukturellen Rah-
menbedingungen zu fragen, innerhalb derer die
B e h ö r d e n ihre polity und policyx gestalten konnten.
Politics, polity und policy werden jedoch erst durch
Menschen als handelnde Subjekte der Politik (und
i m vorliegenden Fa l l der Geschichte) wirkungs-
m ä c h t i g , weswegen die Auto r in in ihrer bemerkens-
REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DIE FLÜCHT-
LINGE ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS
werten Arbei t diese Akteur innen und Aktuere i n ih -
rer personalen Dimension vorstellt und sie in den
inhaltl ichen, prozessualen und strukturellen Rah-
men der Liechtensteiner Flücht l ingspol i t ik der Z w i -
schenkriegs- und Kriegszeit stellt. Diese Vorgangs-
weise ist deswegen bemerkenswert, wei l die Quel-
lenlage zum Untersuchungsgegenstand desperat ist.
In keinem der von Jud konsultierten privaten, staat-
lichen oder kommunalen Archive in Liechtenstein,
in Öster re ich , der Schweiz, der B R D , den U S A und in
Israel fand sich ein geschlossener Bestand zum The-
ma, die Antworten auf die formulierten Forschungs-
fragen waren in der Regel aus S e k u n d ä r ü b e r l i e f e -
rungen abzuleiten und in einen gemeinsamen Kon-
text zu stellen. Insbesondere die Rekonstruktion der
Lebensgeschichten einzelner Flücht l inge , die etwa
die policy der Liechtensteiner Rückweisungspol i t ik
ab 1938 fü r den Leser bzw. f ü r die Leserin am kon-
kreten Einzel fa l l anschaulicher machen w ü r d e , war
durch die desperate Quellenlage schwer zu verwirk-
lichen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Jud dies
bei den zentralen Kapiteln i m durch die desperate
Quellenlage e i n g e s c h r ä n k t e n Rahmen doch gelun-
gen ist. So schildert sie etwa i m Kapitel 3 ihrer Stu-
die, das den diversen Fluchtbewegungen nach
Liechtenstein zwischen 1933 und 1945 gewidmet
ist, das Schicksal des ö s t e r r e i ch i s chen Juden Felix
G r ü n b a u m , der am 22. M a i 1938 ü b e r Fe ldk i rch
nach Liechtenstein f lüchte te , dort von der schweize-
rischen Grenzwacht aufgegriffen und an die st. gall i-
sche Kantonspolizei in Sennwald ü b e r g e b e n wurde.
Diese anerkannte ihn nicht als politischen Flücht -
l ing als der er nach schweizerischen Gesetzen asyl-
w ü r d i g gewesen w ä r e , sondern stellte ihn an die
Feldkircher Aussensteile der Gestapo Innsbruck am
reichsdeutschen Feldkircher Grenzbahnhof zu rück .
G r ü n b a u m wurde in der Justizanstalt Fe ldki rch in -
haftiert. 1944 k a m er i m Vernichtungslager Ausch-
witz ums Leben.
Das Beispiel G r ü n b a u m zeigt, dass im Bereich
der Liechtensteiner polity der 1930er und 1940er
Jahre zumindest zwei wesentliche Akteure invol-
viert waren: Näml ich das F ü r s t e n t u m als Flücht -
lingszielland und die Helvetische Republik als Exe-
kutive dieses Ziellandes. Mit dem 1924 in Kraf t
getretenen Zollvertrag hatte Liechtenstein eine Ver-
einbarung unterschrieben, in der es sich verpfl ich-
tete, die e i d g e n ö s s i s c h e n fremdenpolizei l ichen Be-
st immungen zu nationalem Recht werden zu lassen.
Aufenthaltsbewilligungen, E i n b ü r g e r u n g e n und Aus-
weisungen konnte das F ü r s t e n t u m jedoch autonom
entscheiden, sie durften aber den e insch läg igen
schweizerischen Vorgaben nicht entgegen laufen.
Die Kontrolle der liechtensteinischen Staatsgrenze
wurde bereits 1924 dem schweizerischen Grenz-
wachtkorps ü b e r l a s s e n . 1933 sicherte Liechtenstein
der Schweiz weiters zu, s ämt l i che e i d g e n ö s s i s c h e n
f lüch t l ingspol i t i schen Er läs se i m F ü r s t e n t u m anzu-
wenden, 1941 übe r l i e s s es der helvetischen Nach-
bar in die Entscheidungsbefugnis bei Aufenthaltsbe-
wil l igungen und g e w ä h r t e ih r nicht nur Einsicht in
E i n b ü r g e r u n g s a n s u c h e n , sondern gestand ihr dort
auch ein Einspruchsrecht zu. Zumindest seit diesem
Zeitpunkt war die liechtensteinische Fremdenpol i -
tik also schweizerische Innenpolitik. Die Schweiz
ve r füg te seit 1931 mit dem « B u n d e s g e s e t z ü b e r Auf-
enthalt und Niederlassung der A u s l ä n d e r » ü b e r
eine eindeutige rechtliche Grundlage i m Bereich der
Fremden- und Flücht l ingspol i t ik . W ä h r e n d Militär-
f lücht l inge aufgrund internationaler Vereinbarun-
gen nach den Best immungen der Haager Land-
kriegsordnung behandelt wurden , e r ö f f n e t e sich bei
Zivilf lüchtl ingen wegen damals noch fehlender in -
ternationaler Vorgaben die Möglichkeit , nationale
Sonderbestimmungen umzusetzen. Diese sahen i m
Falle der Schweiz (und damit Liechtensteins ab
1941) so aus, dass die Zivilf lüchtl inge in drei Kate-
gorien, n ä m l i c h Emigranten, F lücht l inge und polit i-
sche Flücht l inge eingeteilt wurden . Emigranten wa-
ren Personen, die u m den Beginn eines Krieges legal
in die Schweiz eingereist waren. Sie erhielten eine
befristete Aufenthalts-, aber keine Arbei tsbewil l i -
gung. Flücht l inge waren Personen, die w ä h r e n d ei-
nes Krieges illegal in die Schweiz einreisten. Sie soll-
ten nach Möglichkei t ausgewiesen werden. Politi-
1) Policy steht für politische Inhalte, polity steht für politische
Strukturen, politics steht für politische Prozesse.
249
sehe Flücht l inge schliesslich waren jene Personen,
die in ihren Heimatstaaten wegen ihrer politischen
Gesinnung oder politischen Tät igkei t verfolgt wur-
den. Z u ihnen zäh l t en weder Menschen j ü d i s c h e n
Glaubens noch Angehör ige sogenannter linksextre-
mer Organisationen. Die J ü d i n n e n und Juden, die i n
Liechtenstein vor 1941 bereits a n s ä s s i g waren,
wurden bis Kriegsende als Emigrant innen respekti-
ve als Emigranten behandelt.
Die liechtensteinische Flücht l ingspol i t ik ver-
s c h ä r f t e sich i m Verlauf der rund eineinhalb Jahr-
zehnte des Untersuchungszeitraums von Urs ina
Juds Studie. A u f Grundlage ihres akribischen Quel-
lenstudiums kommt sie zum Schluss, dass die l iech-
tensteinische Flücht l ingspol i t ik dieser Jahre in vier
Phasen einzuteilen ist: Die Jahre 1933 bis zum «An-
schluss» Ös te r re ichs i m M ä r z 1938; die Monate vom
März 1938 bis zum September 1939; die Jahre 1940
bis 1944; sowie die Monate u m das Kriegsende
1945. Diese Phasen unterscheiden sich i m Hinbl ick
auf die bereits geschilderte policy ebenso wie i m
Hinbl ick auf das soziologische Prof i l jener Men-
schen, um die sich die Politik drehte: Waren es i n
der ersten Phase vor allem so genannte Wirtschafts-
f lücht l inge und vereinzelte politische Flücht l inge ,
die nach Liechtenstein kamen und es zumeist als
Transit land nü tz t en , waren es i n der zweiten Phase
en Gros j ü d i s c h e Menschen aus Öster re ich , die das
F ü r s t e n t u m als Transit land in die vermeintl ich si-
chere Schweiz nutzten. Im Unterschied zu den
Flücht l ingen der ersten Phase reisten sie i n der
Mehrhei t legal mit der Bahn ins F ü r s t e n t u m ein und
i n die Schweiz aus. In der dritten Phase, die re in
quantitativ die s c h w ä c h s t e Phase war, f lüch te ten
insbesondere Kriegsgefangene nach Liechtenstein,
die nach Möglichkei t ebenfalls in die Schweiz wei -
tergereicht wurden. Die vierte und letzte Phase
schliesslich war, obwohl sie den k ü r z e s t e n Zei t raum
umfasste, sowohl qualitativ als auch quantitativ von
den ersten drei vol lkommen unterschiedlich: Alleine
in den letzten Kriegstagen i m A p r i l und M a i 1945
versuchten rund 7000 Menschen eine Einreise in
das F ü r s t e n t u m , das diesmal nicht zum Transit-,
sondern zum Zielland einer bis dahin unvergleichli-
chen F lüch t l i ngsbewegung aus ganz Europa wurde.
Hinsicht l ich der policy in diesen vier Phasen
liechtensteinischer Flücht l ingspol i t ik kommt Jud zu
einem eindeutigen Befund: Das Bestreben der Be-
h ö r d e n in den Jahren 1933 bis 1945 war nicht, von
durch das NS-Regime in ganz Europa bedrohte
Menschen zu retten und das F ü r s t e n t u m Liechten-
stein als menschenrechtl ichen Fels i n der faschisti-
schen Brandung Europas zu positionieren, sondern
aussenpolitische Konflikte mit den grossen Nach-
barn Schweiz und NS-Deutschland zu vermeiden
und innenpolitische Ruhe zu erhalten. Das bedeute-
te realpolit isch die Umsetzung einer r igiden Rück-
weisungs- und Abschiebepoli t ik sowie Niederlas-
sungsbewilligungen nur f ü r a u s g e w ä h l t e ökono -
misch potente Emigrant innen und Emigranten bzw.
(politische) F lücht l inge . In konkreten Zahlen ge-
sprochen hiess das: 210 j ü d i s c h e Flücht l inge fanden
zwischen 1933 und 1945 i m F ü r s t e n t u m Liechten-
stein dauernde Aufnahme. Ü b e r die Aufnahme
n i ch t - j üd i sche r Flücht l inge hegen in den von Jud
konsultierten Arch iven keine verbindl ichen Anga-
ben vor. Aus demselben Grund unklar ist die Ge-
samtzahl ü b e r z u r ü c k g e w i e s e n e j ü d i s c h e und nicht-
j ü d i s c h e Flücht l inge i m gesamten Untersuchungs-
zeitraum, die Zahl d ü r f t e aber in die hunderte ge-
hen; denn alleine zwischen 1938 und 1940 suchten
270 Personen bei den liechtensteinischen Vertre-
t u n g s b e h ö r d e n i m Aus land u m eine Aufenthaltsbe-
wil l igung an, die sie jedoch nicht erhielten. Die Le-
bensbedingungen jener a u s e r w ä h l t e n Flücht l inge ,
die i m F ü r s t e n t u m Liechtenstein die NS-Herrschaft
in Europa ü b e r l e b t e n , schildert die Auto r in in einem
eigenen Kapitel , das auf b e h ö r d l i c h e n und lebens-
biographischen Quellen beruht. Damit erweitert sie
ihre Studie u m jene personale Dimension, die f ü r
den g e g e n w ä r t i g e n Rezipienten bzw. die g e g e n w ä r -
tige Rezipientin historischer P h ä n o m e n e so grund-
legend f ü r deren V e r s t ä n d n i s ist - und eine histori-
sche Monographie nicht nur bewegend, sondern
ebenso betroffen macht.
250
REZENSIONEN / INDUSTRIEBETRIEBE UND DIE
PRODUKTION FÜR DEN DEUTSCHEN KRIEGSBEDARF
Liechtensteinische Industrie-
betriebe und die Frage nach der
Produktion für den deutschen
Kriegsbedarf 1939-1945
R U P E R T Q U A D E R E R
Die Regierung des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein be-
auftragte i m Jahr 2001 eine U n a b h ä n g i g e Histor i -
kerkommission (UHK) mit der Untersuchung der
Rolle Liechtensteins i m Zweiten Weltkrieg. Das
Mandat bezog sich auf die drei Untersuchungsberei-
che V e r m ö g e n s w e r t e , Flücht l ingspol i t ik und Indus-
trieproduktion. Die U H K setzte f ü r die Untersu-
chung dieser Themen Forscher innen und Forscher
ein, welche fünf Einzelstudien verfassten. Bisher
gab es zu diesem Themenbereich keine umfassen-
den wissenschaftl ichen Studien.
Die Arbei t von M a r x e r / R u c h ist als UKH-Studie 2
erschienen. Das Autorenteam hatte zwei Fragen-
komplexe zu untersuchen, erstens: Produzierten
liechtensteinische Industriebetriebe w ä h r e n d des
Zweiten Weltkrieges f ü r den deutschen Kriegsbe-
dar foder f ü r denjenigen anderer Staaten? zweitens:
Waren liechtensteinische Industrie- und Handels-
unternehmen in irgendeiner F o r m an «Ar i s i e rungs -
m a s s n a h m e n » und Zwangsarbeit beteiligt bezie-
hungsweise d a f ü r verantwortl ich?
Die Untersuchung konzentrierte sich auf drei In-
dustriebetriebe der Metallbranche. Die anderen In-
dustriebetriebe Liechtensteins wurden in die Unter-
suchung nicht einbezogen, we i l die zwei Texti lfabri-
ken und eine Zahnfabr ik keine Kriegsprodukte her-
gestellt hatten.
Die drei a u s g e w ä h l t e n Betriebe sind die Masch i -
nenbau Hil t i OHG, Schaan; die Press- und Stanz-
werke A G , Eschen und die P r ä z i s i o n s - A p p a r a t e b a u
A G , Vaduz. Nach einer kurzen Darstellung des For-
schungsstandes e r l äu t e r t das Autorenteam die vier
Ebenen der Fragestellung zu den untersuchten Be-
trieben: Die Ebene der Betriebe geht der Frage der
Kapitalgeber, der Produktionsprogramme, der A b -
s a t z m ä r k t e etc. nach. Die Ebene der B e h ö r d e n be-
fasst sich vorwiegend mit der Haltung der liechten-
steinischen Regierung. Die dritte Ebene bezieht sich
auf die aussenwirtschaftl ichen Beziehungen und die
vierte Ebene widmet sich der Frage der Druckversu-
che der All i ier ten. Nach der Darstellung der Quel-
lenlage werden die Rahmenbedingungen f ü r die
liechtensteinische Industrie aufgezeigt. Be i der
Quellenlage ist das fast völlige Fehlen firmeneigener
Dokumente kennzeichnend. F ü r die Rahmenbedin-
Liechtensteinische Industriebetriebe
und die Frage nach der Produktion
für den deutschen Kriegsbedarf
1939-1945
Veronika Marxer; Christi-
an Ruch: Liechtensteini-
sche Industriebetriebe und
die Frage nach der Pro-
duktion für den deutschen
Kriegsbedarf 1939-1945.
UHK-Studie 2.
Vaduz, Zürich 2005, 153 S.
CHF 32.-.
ISBN 3-906393-39-2
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-8006-6
(Chronos Verlag)
251
gungen sind zwei wesentliche Bedingungen wichtig,
n ä m l i c h der Einbezug Liechtensteins in die deutsch-
schweizerischen Wirtschaftsabkommen und die
Standortvorteile g e g e n ü b e r der Schweiz.
Der Hauptteil der Untersuchung widmet sich i n
den Kapiteln 3 bis 5 der Darstellung der drei ausge-
w ä h l t e n Betriebe: Eine Gemeinsamkeit ist, dass alle
drei Betriebe kurz nacheinander in der zweiten
Hälfte des Jahres 1941 - nach dem Überfal l Deutsch-
lands auf die Sowjetunion - g e g r ü n d e t wurden. F ü r
jeden der drei Betriebe werden die besonderen U m -
s t ä n d e der G r ü n d u n g , die Ar t der G ü t e r p r o d u k t i o n ,
vor al lem diejenige der Kriegsgüter , die Geschä f t s -
entwicklung, die G e s c h ä f t s b e z i e h u n g e n usw. unter-
sucht. Dabei ist bereits bei der G r ü n d u n g ein wicht i -
ger Umstand zu beachten: zwei der Betriebe (Presta
und PAV) waren von der Schweiz aus g e g r ü n d e t
worden, die Hil t i Maschinenbau OHG hingegen hat-
ten die zwei Liechtensteiner Unternehmer Eugen
und Mar t in Hi l t i g e g r ü n d e t . Dies hatte auch ver-
schiedene Aussenbeziehungen der Betriebe zur Fo l -
ge. Die schweizerischen Betriebe hatten ihre Bezie-
hungen zu schweizerischen Unternehmern (die
Presta zu der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon
Bühr le & Co., die PAV zu den G e b r ü d e r n Mäger le) ,
w ä h r e n d die Hi l t i Maschinenbau OHG ein eigenes
Geschä f t sne t z nach Deutschland aufbauen musste.
Es gab mehrere Motive f ü r die schweizerischen
B e t r i e b s g r ü n d u n g e n in Liechtenstein: Liechtenstein
war dem schweizerischen Wirtschaf tsraum ange-
gliedert, es profitierte somit von den Clearingskredi-
ten, welche die Schweiz Deutschland g e w ä h r t e .
Standortvorteile f ü r schweizerische Betriebe in
Liechtenstein waren die g e w ä h r t e n Steuerpauscha-
len. Ferner kannte Liechtenstein keine Kriegsge-
winnsteuer, hatte aber das Steuer- und Bankge-
heimnis. Dazu kam, dass der Arbei tsmarkt in Liech-
tenstein Vorteile bot, da ein niedrigeres Lohnniveau
als in der Schweiz bestand und die Lohnnebenkos-
ten tiefer lagen. Zudem mussten die liechtensteini-
schen Arbei ter keinen Mil i tä rd iens t leisten.
Ein wichtiger Aspekt der Untersuchung ist auch
die Frage nach der Reaktion der Al l i ier ten. Diese
versuchten verschiedentlich Druck a u s z u ü b e n . Die-
se Druckversuche gingen von der Androhung von
Sanktionen bis zur Aufnahme auf die britische
« S c h w a r z e Liste», auf welcher etwa die Presta und
Namen von Personen, die mit ihr in Beziehung stan-
den, verzeichnet waren.
In Kapi te l 6 w i r d die Frage der Beteiligung an
Aris ierungsmassnahmen und Zwangsarbeit unter-
sucht. Die Erkenntnisse sind, dass die liechtenstei-
nischen Betriebe keine Beteiligung an «Ar i s i e rungs -
m a s s n a h m e n » hatten und auch keine direkte Betei-
l igung an Z w a n g s a r b e i t e r e i n s ä t z e n .
Im 7. Kapi te l werden Ü b e r l e g u n g e n zur Wirt-
schafts- und Aussenwirtschaftspoli t ik der liechten-
steinischen Regierung angestellt. Hier zeigte sich,
dass die Regierung die B e t r i e b s g r ü n d u n g e n grund-
sätz l ich b e g r ü s s t e und f ö r d e r t e . Sie setzte sich auch
mit Nachdruck f ü r deren Interessen ein. Dies galt
vor al lem fü r den Wirtschaftsminister Alois Vogt.
Die Arbei t f ü r die R ü s t u n g s i n d u s t r i e w a r woh l be-
kannt. Dieser Umstand gab jedoch weder der Regie-
rung noch dem Landtag Anlass zur Beunruhigung.
Die Untersuchung nennt als wesentliche Faktoren
des liechtensteinischen Regierungskurses die schwie-
rigen wirtschaft l ichen Verhä l tn i s se , namentl ich die
Massenarbeitslosigkeit. Deshalb wurde der Schaf-
fung von A r b e i t s p l ä t z e n h ö c h s t e Pr ior i tä t zugemes-
sen. Dazu kamen noch gesellschaftspolitische A r g u -
mente. M a n hoffte, durch das Angebot von Arbei ts-
p l ä t z e n i m Lande selbst die ü b e r 700 G r e n z g ä n g e r
und G r e n z g ä n g e r i n n e n nach Vorar lberg besser der
NS-Ideologie entziehen zu k ö n n e n .
Eine weitere Frage stellte sich i n Bezug auf die
aussenpolitische Bedeutung der Haltung Liechten-
steins. Diese war dadurch bestimmt, dass die Schweiz
aufgrund des Zollanschlussvertrages die aussenwirt-
schaftlichen Beziehungen Liechtensteins zu Deutsch-
land wahrnahm. Gleichzeitig richtete die liechten-
steinische Regierung ihre Politik darauf aus, eigene
Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland aufzubau-
en. Vor al lem Wirtschaftsminister Alois Vogt verfolg-
te eine E inb indung Liechtensteins in den NS-Wir t -
schaftsraum.
Die Frage, ob Liechtenstein die bei Kriegsaus-
bruch e rk l ä r t e Neut ra l i t ä t verletzt habe, war eben-
falls Untersuchungsgegenstand. Das Autorenteam
kommt zur Auffassung, dass die liechtensteinische
252
REZENSIONEN / INDUSTRIEBETRIEBE UND DIE
PRODUKTION FÜR DEN DEUTSCHEN KRIEGSBEDARF
Regierung mit ihrer Politik nicht gegen die Neutra-
lität Verstössen habe. Eine andere Frage ist, ob
Liechtenstein indirekt an den Neu t ra l i t ä t sve r l e t zun-
gen, die der Schweiz zur Last gelegt werden, Ante i l
hatte. Nach Auffassung von M a r x e r / R u c h hatte
Liechtenstein in dieser Haltung eine Zwitterstellung
inne.
Im Kapitel 8 ziehen Marxer und Ruch eine Schluss-
bilanz. Die wesentlichen Aussagen sind, dass alle
drei untersuchten Betriebe fü r den deutschen
Kriegsbedarf produzierten, w ä h r e n d an die West-
m ä c h t e keine Lieferungen erfolgten. Regierung und
Landtag Liechtensteins nahmen keinen Anstoss
daran. Die Rechtfertigung sahen sie i n der volks-
wirtschaftl ichen Bedeutung dieser Betriebe. Poli-
tisch hingegen konnte diese Haltung durchaus als
Signal f ü r die U n t e r s t ü t z u n g der Nationalsozialisten
gewertet werden. Nach Meinung von Marxer und
Ruch p r ä g t e der wirtschaftl iche Kurs der Gesamtre-
gierung «letztlich das Bi ld L iech tens te ins» . Insge-
samt erschien das Vorgehen der Regierung « e i n e m
von materiellen Interessen g e p r ä g t e n Pragmatis-
mus verpf l ich te t» . Abschliessend halten die Au to r in
und der Autor fest, dass «Liech tens te in von den da-
maligen B e t r i e b s g r ü n d u n g e n sowohl kurz- wie
langfristig profitierte und letztlich als Gewinner aus
dem Kr ieg he rvo rg ing» .
Die im Anhang a n g e f ü g t e n Dokumente enthalten
für den interessierten Leser zusä tz l i che wertvolle
Informationen: 1. F i rmen und Personen mit Bezie-
hungen zur liechtensteinischen Industrie auf der
britischen schwarzen Liste; 2. Kurzbiographien
wichtiger Akteure; 3. A u s g e w ä h l t e Quellen. E inem
A b k ü r z u n g s - und Tabellenverzeichnis folgt ein um-
fangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis. E i n
Namenregister schliesst die Darstellung ab.
Die Studie von Marxer und Ruch gibt auf die ein-
leitend gestellten Fragen umfassend Antwort , so-
weit es die Quellenlage zuläss t . Die Untersuchung ist
nach wissenschaftl ichen Kri ter ien d u r c h g e f ü h r t .
Das heisst, sie zeigt die notwendige Transparenz bei
der Darstellung der Ergebnisse und - was in diesem
Fal l besonders wicht ig ist - die nöt ige U n a b h ä n g i g -
keit in der Darstellung eines Themas, das gerade fü r
den Kleinstaat Liechtenstein besonders heikel ist.
Letzteres dü r f t e mit ein Grund d a f ü r sein, warum
die Bearbeitung und damit Aufarbei tung dieser
schwierigen Phase in Liechtenstein nur zöger l ich
und ve rzöge r t erfolgt ist. Die Studie - in einer klaren
und sachlichen Sprache abgefasst - erfül l t die A n -
forderungen einer nüch te rn -wi s senscha f t l i chen A n a -
lyse. Sie nennen «Ross und Rei ter» , wo es fü r das
V e r s t ä n d n i s der Z u s a m m e n h ä n g e und U m s t ä n d e
notwendig ist, ohne der Versuchung der Sensations-
e n t h ü l l u n g zu erliegen. Die Problembereiche wer-
den in einer differenzierten A r t untersucht. Die Zeit-
u m s t ä n d e werden ebenso einbezogen wie die ver-
schiedenen Akteure innerhalb und ausserhalb der
Betriebe. So w i r d auch auf die wirtschaftsfreundli-
che Haltung der Regierung verwiesen. Vielleicht
w ä r e es noch informativ gewesen, die Haltung der
Bevö lke rung zu dieser Frage zu kennen. Marxer
und Ruch scheuen vor Beurteilungen von Haltungen
nicht zu rück , meiden es jedoch, Urteile zu fäl len
oder Verurteilungen auszusprechen. Die Autor in
und der Autor haben - wie auch das ganze Unter-
nehmen der U H K - eine schwierige und wichtige
Aufgabe mit grossem Engagement, n ü c h t e r n e m Sach-
verstand und wissenschaft l ichem K ö n n e n b e w ä l -
tigt. Insgesamt ist diese Publikation, wie auch die
anderen Untersuchungen der U H K , all jenen, die
sich ü b e r die Rolle Liechtensteins i m Zweiten Welt-
kr ieg informieren wollen, als Lek tü re zu empfehlen.
253
Liechtensteinische Finanz-
beziehungen zur Zeit des
Nationalsozialismus
P E T R A B A R T E L M E S S
Hanspeter Lussy, Rodrigo
Lopez: Liechtensteinische
Finanzbeziehungen zur Zeit
des Nationalsozialismus
Vaduz, Zürich 2005.
2 Bände. UHK-Studie 3.
Vaduz, Zürich 2005. 819 S.
CHF 78.-.
ISBN 3-906393-36-4
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0803-1
(Chronos Verlag)
Hanipetef Lussy • Rodrigo Lopei
Liechtensteinische Finanzbeziehungei
zur Zeit des Nationalsozialismus
Hanspeler Lussy Rodrigo Lopez
Liechtensteinische Finanzbeziehungen
zur Zeit des Nationalsozialismus
W ä h r e n d eines Spiegel-Interviews i m Jul i 2000 in -
formierte Elan Steinberg, damaliger Generalse-
k r e t ä r des World Jewish Congress, dass liechten-
steinische Banken « g e m e i n s a m mit den Nazis» ge-
raubtes Geld, Gold und Kunst versteckt h ä t t e n . 1
« F l u c h t b u r g L iech tens te in» - so benannte auch der
Schweizer Journalist Beat Ba lz l i eines der Kapitel in
seinem 1997 erschienen Buch « T r e u h ä n d e r des
Re ichs» . 2 Die G e r ü c h t e k ü c h e ü b e r klandestine F i -
n a n z g e s c h ä f t e der Nazis i m F ü r s t e n t u m begann in
den letzten Monaten des Krieges zu schwelen. Das
öffent l iche Interesse an dieser Angelegenheit dauer-
te, mit U n t e r b r ü c h e n , bis in die j ü n g s t e Vergangen-
heit an. Ende der 1990er Jahre, i m Kontext des wie-
dererwachten Interesses an den noch u n g e k l ä r t ge-
bliebenen Fragen und Hinterlassenschaften des
Zweiten Weltkriegs, d r ä n g t e sich eine Ü b e r p r ü f u n g
dieses umstrittenen Kapitels in der Geschichte des
liechtensteinischen Finanzplatzes auf. Ana log zum
schweizerischen Model l berief die liechtensteini-
sche Regierung i m M a i 2001 die Unabhängige His-
torikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg
(UHK), die der Sache nachgehen sollte.
Im Auf t rag dieser His tor ikerkommiss ion unter-
suchte das Autorenteam Hanspeter Lussy und Ro-
drigo Lopez, beide ehemalige Mitarbeiter der Unab-
hängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter
Weltkrieg (UEK), die liechtensteinischen Finanzbe-
ziehungen zu Zeiten des Nationalsozial ismus. Der
von ihnen verfasste UHK-Studienband Nr. 3 widmet
sich der Frage der F i n a n z g e s c h ä f t e mit Kunden aus
dem «Dri t ten Reich»; dies sowohl aus der Perspekti-
ve der vom Nationalsozial ismus verfolgten Opfer als
auch aus der Sicht der T ä t e r und Nutzniesser des
NS-Regimes. Ihre rund 800 Seiten umfassende Dar-
stellung e n t h ä l t eine Fülle an Informationen ü b e r
System, Akteure, Methoden und Prozeduren, die
w ä h r e n d des Zweiten Weltkrieges auf dem liechten-
steinischen Finanzplatz in diesem Kontext zum Zug
kamen.
A u f welcher Quellenbasis baut die Untersuchung
auf? Wie aus dem Quellenverzeichnis hervorgeht,
reichte die Recherche vom Liechtensteinischen Lan-
desarchiv ü b e r die ö f fen t l i chen Archive in der
Schweiz, in Ös te r re ich , in Deutschland, in den USA,
254
REZENSIONEN / LIECHTENSTEINISCHE FINANZBE-
ZIEHUNGEN ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS
in Grossbri tannien bis h in zu den öf fen t l ichen A r -
chiven in Russland. Was die Arbei t von Hanspeter
Lussy und Rodrigo Lopez besonders auszeichnet ist
die Tatsache, dass die Autoren aufgrund ihres be-
sonderen Archivprivi legs auch Zugang zu verschie-
denen liechtensteinischen Privatarchiven hatten.
Die Arbei t s tü tz t sich zu einem Grossteil auf Quellen-
b e s t ä n d e n aus dem Arch iv der Liechtensteinischen
Landesbank, dem Arch iv der Bank i n Liechtenstein
und den Privatakten des Wirtschaftsanwalts Ludwig
Marxer und des T r e u h ä n d e r s Guido Feger. Gröss -
tenteils nicht mehr einsehbar waren die Akten der
Präs id ia l -Ans ta l t und der N a c h f o l g e b ü r o s der bei-
den R e c h t s a n w ä l t e W i l h e l m Beck und Alois Ritter,
da diese nach Ablau f der Aulbewahrungsfr is ten zu
einem grossen Teil entsorgt worden waren. Wie die
Autoren i n ih rem Vorwort festhalten, stiess die Be-
antwortung der Frage, ob und in welchem Ausmass
V e r m ö g e n s w e r t e von Opfern der nationalsozialisti-
schen Herrschaft ü b e r Liechtenstein in Sicherheit
gebracht oder geraubte V e r m ö g e n s w e r t e im Besitz
von NS-Tä te rn vor der Konfiskat ion durch die A l l i -
ierten verschoben oder versteckt wurden, auf meh-
rere, teilweise kaum zu ü b e r w i n d e n d e Hindernis-
se. 3 Neben der soeben dargelegten l ü c k e n h a f t e n
Über l i e f e rung kommt die g r u n d s ä t z l i c h e Schwierig-
keit einer empirischen Verif izierbarkei t von Vorgän-
gen hinzu, die aufgrund ihrer strafrechtlichen Im-
plikation von Beginn an einen klandestinen Grund-
charakter aufwiesen. Die Ve rmögens f l uch t sowohl
der Verfolgten als auch ihrer Verfolger durfte keine
papierenen Spuren hinterlassen. Die Natur dieser
g rundsä tz l i ch verbotenen Geschä f t e erforderte es,
bereits zu Beginn der Operation mögl ichs t kein A k -
tenmaterial zu generieren.
Zum A u f b a u des Studienbands: Die sehr a u s f ü h r -
liche Abhandlung ist übe r s i ch t l i ch aufgebaut und
gut strukturiert. Der erste Teil untersucht die Ge-
schä f t e jenes Personenkreises, welcher der Gruppe
der Opfer zuzuordnen ist. Der zweite Tei l befasst
sich mit den Finanzoperat ionen der T ä t e r und Nutz-
niesser des Dritten Reichs. Bei letzterem handelt es
sich p r i m ä r u m eine Ü b e r p r ü f u n g der von alliierter
Behö rdense i t e erhobenen Vorwür fe , Liechtenstein
habe deutschen F i r m e n und Privatpersonen gehol-
fen, ihre g röss ten te i l s geraubten V e r m ö g e n s w e r t e
vor dem alliierten Zugri f f zu s c h ü t z e n . Diese Zwei-
teilung des Untersuchungsfeldes in Opfer- und Tä-
t e r v e r m ö g e n ist besonders raffiniert . Indem die Stu-
die das System des liechtensteinischen Bank- und
Gesellschaftswesens und seine Dienstbarkeit ge-
g e n ü b e r beiden Klientengruppen aufzeichnet, schafft
sie die Voraussetzung f ü r einen Vergleich. Der ab-
schliessende Teil untersucht die Nachkriegsregelun-
gen dieser in verschiedener Hinsicht umstrittenen
Finanzdienstleistungen der Kriegsjahre.
Verschiedene von der schweizerischen Untersu-
chungskommission aufgegriffene Fälle weisen eine
Verbindung z u m liechtensteinischen Finanzplatz
auf. Ihr Aktenzugang und ihre Recherchen reichten
jedoch nicht ü b e r die schweizerische Landesgrenze
hinaus. Die Autoren Lussy und Lopez nehmen diese
von der U E K bereits verfolgten, jedoch nicht zu
Ende g e f ü h r t e n liechtensteinischen Spuren auf. In
diesem Sinne ist ihre Studie als « E r g ä n z u n g » 4 zu
den beiden Forschungsberichten der schweizeri-
schen Untersuchungskommission ü b e r die nach-
richtenlosen V e r m ö g e n 5 und ü b e r die verdeckten
V e r m ö g e n s o p e r a t i o n e n von Exponenten der deut-
schen Wirtschaft und des nationalsozialistischen
Unrechtsregimes 6 zu verstehen.
1) Judith Raupp: «Vorwürfe gegen Liechtensteins Fürs tenhaus» . In:
Süddeutsche Zeitung. 14. Apr i l 2005, S. 8.
2) Beat Balzli: T reuhände r des Reichs. Die Schweiz und die Vermö-
gen der Naziopfer. Eine Spurensuche. Zürich, 1997.
3) Hanspoter Lussy, Rodrigo Lopez: Liechtensteinische Finanzbezie-
hungen zur Zeit des Nationalsozialismus. (Veröffentlichungen der
Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg, Band 3.) Vaduz, Zürich, 2005. Teilband I, S. 29.
4) Ebenda, Teilband II, S. 723.
5) Barbara Bonhage et al.: Nachrichtenlose Vermögen bei Schweizer
Banken. Depots. Konten und Safes von Opfern dos nationalsozialisti-
schen Regimes und Restitutionsprobleme in der Nachkriegszeit
(Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission
Schweiz - Zweiter Weltkrieg, Band 15.) Zürich, 2001.
6) Christiane Uhlig et a l : Tarnung, Transfer, Transit. Die Schweiz als
Drehscheibe verdeckter deutscher Operationen (1939 bis 1952).
(Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission
Schweiz - Zweiter Weltkrieg, Band 9.) Zürich, 2001.
255
Zu welchen Resultaten kommt die Studie? Die
Schlussthese der Autoren Lussy und Lopez lautet,
dass der liechtensteinische Finanzplatz aufgrund
seiner damals noch geringen Grösse nicht die Funk-
tion einer Devisendrehscheibe innehatte und kein
bedeutender Hort f ü r j ü d i s c h e s F l u c h t v e r m ö g e n
und NS-Raubgut gewesen sei. Eine Quantif izierung
der als O p f e r v e r m ö g e n zu klassifizierenden Vermö-
gensmasse findet jedoch aufgrund der oben er-
w ä h n t e n quellentechnischen Schwierigkeiten nicht
statt. Die Autoren attestieren den liechtensteini-
schen B e h ö r d e n und F i n a n z i n t e r m e d i ä r e n eine
g rundsä t z l i ch wohlwollende Behandlung jenes K u n -
denkreises, welcher der Gruppe der Opfer zuzu-
rechnen ist. Als Beispiel f ü r diese Haltung w i r d die
g rosszügige Stundung von G e b ü h r e n durch die
liechtensteinischen F i n a n z i n t e r m e d i ä r e oder der
Verkauf der liechtensteinischen S t a a t s b ü r g e r s c h a f t
durch den Staat genannt. Letzterem b e i z u f ü g e n w ä -
re, dass von diesen sogenannten « F i n a n z e i n b ü r g e -
r u n g e n » nicht nur eine Reihe wohlhabender Juden,
sondern auch der ü e c h t e n s t e i n i s c h e Staat und die
dort domizil ierten F i n a n z i n t e r m e d i ä r e profit ieren
konnten. Die hohen G e b ü h r e n und Kautionsleistun-
gen, die i n diesem Zusammenhang vom Antragstel-
ler zu leisten waren, wurden in den 1930er Jahren
zu einer wichtigen Stütze des Staatshaushalts; die
hierdurch gewonnenen V e r m ö g e n s e i n l a g e n ver-
sorgten zudem das liechtensteinische Bankensy-
stem mit dringend benö t ig t e r Liquid i tä t . 7 A u c h i m
Bereich des Gese l l schaf t sgeschäf t s , dem eigentli-
chen K e r n g e s c h ä f t s des liechtensteinischen Finanz-
dienstleistungssektors, h ä t t e n die liechtensteini-
schen F i n a n z i n t e r m e d i ä r e und B e h ö r d e n v e r t r e t e r
versucht, nach Kenntnis und Möglichkei t die Ausl ie-
ferung von V e r m ö g e n s w e r t e n , die Zwangsschlies-
sung von Gesellschaften oder die «Ar i s i e rung» von
F i rmen zu verhindern.
In ihren B e m ü h u n g e n zum Schutz von Tä te rve r -
m ö g e n gingen die betroffenen liechtensteinischen
Akteure sehr weit. Wie der i m zweiten Teil der
Studie dargestellte Fal l des S S - S t u r m b a n n f ü h r e r s
Fr iedr ich Schwend und seiner ü b e r das F ü r s t e n t u m
Liechtenstein d u r c h g e f ü h r t e n Falschgeldoperation
verdeutlicht, verpassten die B e h ö r d e n die Beschlag-
nahme von Geldern der F ä l s c h e r bei der involvier-
ten Bank i n Liechtenstein und unterliessen die Auf-
nahme einer strafrechtlichen Verfolgung. A n h a n d
anderer Beispiele w i r d gezeigt, wie liechtensteini-
sche Sitzunternehmen am Hande l wichtiger Güter
mit dem «Dri t ten Reich», an der Absetzung von Ge-
winnen aus diesem Handel , an der F inanzierung
von NSDAP-Aktivi tä ten in Ös te r re ich , an der Ver-
schleierung problematischer Geschä f t e gelisteter
F i rmen und Personen, an der Tarnung von Feindbe-
sitz oder gegen Ende des Krieges a m Versand ge-
raubter Wertpapiere beteiligt waren. Die All i ier ten
krit isierten diese Geschä f t e . In Reaktion hierauf
setzten sie die Direktoren der beiden liechtensteini-
schen Banken, die bedeutendsten Finanzinterme-
d i ä r e , einige N e u b ü r g e r und eine beachtliche Zahl
von Sitzunternehmen auf die schwarze Liste.
A u c h i m Bereich Raubgut und T ä t e r v e r m ö g e n
musste das Forscherteam auf eine f l ä c h e n d e c k e n d e
und quantifizierende A b k l ä r u n g der Vorwür fe ver-
zichten. Lussy und Lopez stellen i n ihrer Studie f ü r
1941 bis 1944 einen beachtlichen Anstieg der K u n -
dengelder bei der Liechtensteinischen Landesbank
fest (von 14 auf 28 Mi l l ionen Franken). E i n Teil der
Gelder s t r ö m t e der Landesbank zwecks Umgehung
der schweizerischen Kriegsgewinnsteuer zu und
stammte aus den lukrativen R ü s t u n g s e x p o r t e n der
Schweizer Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon Bühr-
le & Co. Es k ö n n e nicht ausgeschlossen werden, so
der Kommentar der Autoren, dass es sich bei einem
Teil der Neugelder u m getarntes deutsches Kapi ta l
handelte. 8 Eine derartig vage Formul ie rung ist nicht
sehr befriedigend; sie kann dem Autorenteam je-
doch aufgrund der unvo l l s t änd igen Aktenlage kaum
z u m Vorwur f gemacht werden.
Im Gegensatz zur quantitativen Untersuchung
bringen die i n der Studie dargestellten Einzelfäl le
Neuerkenntnisse, aufgrund derer, wenn nicht quan-
titative, so doch qualitative Urteile gefäll t werden
k ö n n e n . Besonders interessant und spannend sind
die i m Kapitel 7 dargelegten liechtensteinischen
Nachkriegskarr ieren der Herren Joseph Steeg-
mann 9 , Kur t H e r r m a n n 1 0 und Rudolf Ruscheweyh 1 1 .
Diese setzten sich in den letzten Monaten des Kr ie -
ges nach Liechtenstein ab. Sie wurden vom F ü r s t e n
256
REZENSIONEN / LIECHTENSTEINISCHE FINANZBE-
ZIEHUNGEN ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS
vor dem langen A r m der alliierten Strafverfolgung
protegiert und konnten dort die turbulente Nach-
kriegszeit ü b e r w i n t e r n . Der i n diesem Zusammen-
hang erhobene Vorwurf der All i ier ten, Liechtenstein
habe durch die Aufnahme und E i n b ü r g e r u n g von
Profiteuren und Kollaborateuren des NS-Regimes
die Kapitalverschiebung von Exponenten des NS-
Regimes begüns t ig t , konnte vom Forscherteam je-
doch nicht bes tä t ig t werden. Es wurden keine Be-
weise gefunden, welche das Gerüch t b e s t ä t i g e n
w ü r d e n , dass die oben genannten Pe r sön l i chke i t en
in Liechtenstein V e r m ö g e n s w e r t e von Vertretern
des NS-Regimes deponiert hielten. Gleichzeitig
schliessen die Autoren die Möglichkeit einer solchen
Funktion nicht aus. Die Abwesenhei t von Belegen
k ö n n e nicht als eindeutiges Indiz f ü r die Inexistenz
solcher Geheimkonten bewertet werden . 1 2
In ihrer Schlussbetrachtung vertreten die Auto-
ren Lussy und Lopez jedoch die oben bereits zitierte
These, dass g r u n d s ä t z l i c h nicht davon gesprochen
werden k ö n n e , dass Liechtenstein als Hort f ü r deut-
sches Fluchtkapital oder f ü r die Kapitalf lucht von
NS-Grössen diente. 1 3 Die von den Autoren selber ge-
machten Vorbehalte aufgrund der l ü c k e n h a f t e n
Über l i e fe rung , die Darstellung der zahlreichen Ver-
s ä u m n i s s e der Aufsichts- und Strafverfolgungs-
b e h ö r d e n , die nach Kriegsende ih rem Auf t rag zur
Sperre deutschen Kapitals in Liechtenstein nachgin-
gen, wie auch die, wenn auch nicht immensen, so
doch relevanten Steigerungen der Kundeneinlagen
scheinen eine solche Schlussfolgerung auf den ers-
ten Blick nicht zuzulassen. Im Vergleich mit dem
schweizerischen Bankenplatz werden jedoch die
Relationen deutlich. So war der Umfang aller Ge-
schä f t e der beiden einzigen in Liechtenstein domiz i -
lierten Banken, der Liechtensteinischen Landes-
bank und der Bank in Liechtenstein, w ä h r e n d des
Zweiten Weltkriegs z u s a m m e n g e z ä h l t etwa so gross
wie der Umfang der Geschä f t e , welche die damals
dr i t tg röss te Schweizer G e s c h ä f t s b a n k , die Schwei-
zerische Bankgesellschaft Zür ich , mit den deut-
schen G e s c h ä f t s b a n k e n und der Deutschen Reichs-
bank in der gleichen Zeitspanne t ä t i g t e . 1 4 Von einer
Hochburg deutschen Fluchtkapitals kann schon an-
gesichts dieser G r ö s s e n o r d n u n g nicht die Rede sein.
Das Autorenteam p r ä s e n t i e r t dem interessierten
Leser eine breite Faktenlage, die von den allgemei-
nen Rahmenbedingungen, ü b e r die Geschäf t s tä t ig -
keit der Banken von den 1930er und 1940er Jahren
bis h in zu den v e r m ö g e n s r e c h t l i c h e n Fragen der
Nachkriegszeit reicht. Im Vergleich hierzu ist die
Diskussion ü b e r die gewonnen Erkenntnisse und
deren Beurteilung leider etwas kurz geraten. Die im
Schlusswort a n g e f ü h r t e Gesamtbeurteilung ü b e r
die H i n t e r g r ü n d e der dargestellten Abläufe fällt sehr
knapp aus. Es ist lediglich die Rede von einer
« schwie r i gen Gratwanderung zwischen Anpassung
und W i d e r s t a n d » . 1 5 Der Leser kann und muss aus
der umfangreichen Faktenlage seine eigenen Schlüs-
se ziehen.
7) Hanspeter Lussy. Rodrigo Lopez: Liechtensteinische Finanzbezie-
hungen zur Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der
Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg, Band 3). Vaduz. Zürich, 2005, Teilband II, S. 740.
8) Ebenda, S. 735.
9) Prominenter Berliner Anwalt, der in zahlreiche «Arisierungsmass-
n a h m e n » verwickelt war und nach Kriegsende wegen Vorschubleis-
tung fremder Nachrichtendienste in der Schweiz angeklagt wurde.
10) Leipziger Millionär, Verleger und nähe re r Bekannter Hermann
Görings.
11) Rüstungsindustr iel ler und Wirtschaftsberater im Dienste des
Deutschen Heereswaffenamtes.
12) Hanspeter Lussy, Rodrigo Lopez: Liechtensteinische Finanzbe-
ziehungen zur Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der
Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg. Band 3). Vaduz, Zürich, 2005, Teilband II, S. 653-654.
1 3) Ebenda, S. 740.
14) Ebenda, Teilband I, S. 359.
15) Ebenda, Teilband II, S. 739.
257
Liechtenstein und der inter-
nationale Kunstmarkt 1933-1945
S A M M L U N G E N U N D I H R E P R O V E N I E N Z E N I M
S P A N N U N G S F E L D V O N F L U C H T , R A U B U N D
R E S T I T U T I O N
G A B R I E L E A N D E R L
Esther Tisa Francini:
Liechtenstein und der
internationale Kunstmarkt
1933-1945. Sammlungen
und ihre Provenienzen im
Spannungsfeld von Flucht,
Raub und Restitution.
UHK-Studie 4.
Vaduz, Zürich 2005.
296 S. CHF 38.-.
ISBN 3-906393-37-2
(Historischer Verein)
ISBN 3-0340-0804-3
(Chronos Verlag)
Liechtenstein und der internationale
Kunstmarkt 1933-1945
ammlungen und ihre Provonier
n Spannungsfeld von Flucht. R,
Die Arbei t der U n a b h ä n g i g e n Exper tenkommission
Schweiz - Zweiter Weltkrieg sowie die zahlreichen,
seit Kriegsende kursierenden G e r ü c h t e ü b e r die
Verschiebung von Raubgut nach und ü b e r Liechten-
stein haben 2001 - s p ä t aber doch - die liechtenstei-
nische Regierung dazu bewogen, eine U n a b h ä n g i g e
His tor ikerkommiss ion Liechtenstein Zweiter Welt-
krieg (UHK) mit der wissenschaftl ichen Aufarbe i -
tung der Vergangenheit zu beauftragen. Wie etwa
auch in Ös te r re i ch ist diese Auseinandersetzung mit
der eigenen Geschichte nicht ganz aus freien
S tücken erfolgt, wie Esther Tisa Franc in i in ihrer
kürz l ich publizierten Studie anmerkt, sondern «auf
a u s l ä n d i s c h e n Druck - vor al lem des Wor ld Jewish
Congress» .
Tisa erhielt von der U n a b h ä n g i g e n Historiker-
kommiss ion Liechtenstein Zweiter Weltkrieg den
konkreten Auf t rag , den Transfer von Ku l tu rgü t e rn -
Bi ldern , kunsthandwerkl ichen Objekten, Porzellan,
Teppichen, Briefmarken, S c h m u c k s t ü c k e n und Mö-
beln - w ä h r e n d der NS-Zeit nach Liechtenstein oder
ü b e r Liechtenstein i n ein Drit t land zu untersuchen
und dabei speziell nach geraubten oder «a r i s i e r t en»
Objekten und Sammlungen zu fahnden. Die Schwei-
zer His tor iker in hatte sich bereits i m Rahmen der
U n a b h ä n g i g e n Exper tenkommiss ion Schweiz -
Zweiter Weltkrieg eingehend mit dem Thema Raub-
kunst befasst. In dem gemeinsam mit A n j a Heuss
und Georg Kreis 2001 publizierten Bericht ü b e r den
Transfer von K u l t u r g ü t e r n in und ü b e r die Schweiz
w ä h r e n d der Jahre 1933 bis 1945 hat sie die in der
Kunstraubforschung inzwischen unabdingbaren
Begriffe «Fluch tgu t» und « R a u b g u t » m i t g e p r ä g t .
Unter Fluchtgut werden Ku l tu rgü te r verstanden, die
von Verfolgten des NS-Regimes beziehungsweise in
deren Auf t rag ins Aus land verbracht worden sind,
w ä h r e n d unter Raubgut widerrecht l ich und ent-
s c h ä d i g u n g s l o s entzogene Kul tu rgü te r subsumiert
werden. Die Identifizierung von Objekten als Flucht-
und Raubgut erfolgt mittels Provenienzrecherche -
die mögl ichs t lücken lose Erforschung der Herkunft
von B e s t ä n d e n und Objekten. Im Zusammenhang
mit der NS-Zeit ist die Herkunf t aller nach 1933 er-
worbenen Objekte a b z u k l ä r e n , was auch Erwer-
bungen in der Zeit nach 1945 einschliessen kann.
258
REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER-
NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945
Wer von Tisas Bericht sensationelle En thü l lun -
gen i m Hinbl ick auf die Verschiebung von Raubgut
nach oder ü b e r Liechtenstein w ä h r e n d des Zweiten
Weltkriegs erwartet, w i r d en t t äusch t . Die diesbe-
zügl ichen G e r ü c h t e gehen, so eine These von Tisas
Arbeit , «auf die Evakuierung der Sammlung des
Fü r s t en aus Wien und ihren abenteuerlichen A b -
transport nach Vaduz z u r ü c k » , vor a l lem auch auf
die Beteiligung zweier NS-naher Akteure in dieses
Unternehmen und deren G r e n z ü b e r t r i t t im M ä r z
1945.
Tisa betont, dass es sich bei diesem oft als spekta-
ku lä r beschriebenen Transfer eindeutig nicht u m
die Verschiebung von Raubkunst, sondern im Ge-
genteil, um Fluchtgut gehandelt hat. Das F ü r s t e n -
haus zähl te nicht zum Kreis der Verfolgten, doch
war w ä h r e n d des NS-Regimes der Abtransport der
fü r s t l i chen Sammlungen z u n ä c h s t durch eine Verfü-
gung der Wiener D e n k m a l b e h ö r d e i m Jahr 1938
und durch die Verzeichnung der 2 700 wichtigsten
Objekte auf der «Reichsl is te» national wertvoller
Kul turgüte r Mitte 1944 untersagt worden. Erst als
die Sammlungen aus strategischen G r ü n d e n zwei -
geteilt wurden, konnte gegen Ende 1944 eine Aus-
fuhrgenehmigung f ü r den weniger wertvollen Teil
erwirkt werden. Im März 1945 wurde dann die Be-
wil l igung zur Evakuierung der kunsthistorisch und
materiell wertvollsten Stücke auf die Bodenseeinsel
Reichenau erteilt, von wo aus sie illegal nach Liech-
tenstein gelangten. Erst seit den 1970er Jahren sind
die fü r s t l i chen Sammlungen wieder i m Wachsen be-
griffen. Ihr Sitz befindet zwar nach wie vor auf
Schloss Vaduz, wo ein Grossteil der Objekte i m De-
pot gelagert ist. Die Spitzenwerke sind heute jedoch
wieder in Wien der Öffent l ichkei t zugängl ich - i m
2004 e r ö f f n e t e n «Liech tens te in M u s e u m » .
A u c h wenn Tisas Studie ü b e r z o g e n e Vorstellun-
gen von einer gross angelegten Verschiebung von
NS-Raubkunst nach Liechtenstein korrigiert, ge-
winnt man in keiner Weise den Eindruck, dies resul-
tiere aus einem B e m ü h e n um Beschön igung oder
Exkulpierung. Die Sprengkraft liegt n ä m l i c h in den
zahlreichen Details, die die Autor in akr ib isch zu-
sammengetragen hat. Ihre Recherchen ü b e r die
fürs t l iche Sammlungspolit ik w ä h r e n d der Kriegs-
jahre sowie ü b e r eine Reihe von N e u b ü r g e r n ma-
chen klar, dass das F ü r s t e n t u m den Umgang mit NS-
nahen Akteuren weder w ä h r e n d des Krieges noch
danach gescheut und dass es sich vielfach auch op-
portunistisch verhalten hat.
Im Gegensatz zur Schweiz war Liechtenstein in
den 1930er und 1940er Jahren ein wir tschaft l ich
wenig entwickeltes, agrarisch g e p r ä g t e s Land mit
geringer Kaufkraf t und ohne p r ä g e n d e internatio-
nale Bindungen. Zwischen 1930 und 1945 wurden
394 Personen e ingebü rge r t , unter ihnen sowohl jü-
dische Verfolgte als auch Kapi ta l - und Steuer f lücht -
linge. Wegen der hohen Kosten der E i n b ü r g e r u n g
hatten mittellose Flücht l inge kaum Chancen, in
Liechtenstein Aufnahme zu f inden. Liechtenstein
eignete sich - auch aufgrund der latent vorhande-
nen « A n s c h l u s s » - G e f a h r - nicht als Fluchtort oder
als Absatzmarkt f ü r Fluchtgut kultureller Natur.
Kunstsammlungen, Hausrat und Umzugsgut jegli-
cher Ar t fanden hier k a u m Absatz. Den N e u b ü r g e r n
sollte die liechtensteinische S t a a t s b ü r g e r s c h a f t in
erster Linie als Sicherheit dienen, in der Regel Les-
sen sie sich nicht i m Land nieder. Der neue Pass er-
mögl ich te zwar einzelnen von ihnen die Ausreise in
ein sicheres Drittland, bot jedoch keinen effektiven
Schutz fü r ihre i m NS-Bereich verbliebenen Vermö-
genswerte.
Liechtenstein, das unter der Wirtschaftskrise litt,
begann ab den 1920er und vers tä rk t in den 1930er
Jahren seinen Staatshaushalt durch eine volkswirt-
schaftliche Nischenpolitik - unter anderem durch F i -
n a n z e i n b ü r g e r u n g e n und die Einnahmen von Domi-
zilgesellschaften - zu sanieren. Von der Existenz ei-
nes Kunstmarkts kann im Hinblick auf diesen Zeit-
raum dagegen nicht die Rede sein. W ä h r e n d in der
benachbarten Deutschschweiz private wie öffentl iche
Sammlungen internationalen Ausmasses existierten,
gab es i m F ü r s t e n t u m - mit Ausnahme des Postmu-
seums - nur einige wenige, ausschliesslich auf liech-
tensteinisches Kulturgut ausgerichtete Sammlungen,
keine Galerien und kaum Kunsthändler .
Erst durch die E i n b ü r g e r u n g kunstinteressierter
A u s l ä n d e r in der Nachkriegszeit sowie die Über-
f ü h r u n g der fü r s t l i chen Sammlungen nach Liech-
tenstein 1944 /45 war der Grundstein fü r die Aus-
259
bildung einer Sammelkultur und eines heimischen
Kunstmarktes gelegt. 1954 wurde das Landesmuse-
um geg ründe t , 1968 die Liechtensteinische Staatli-
che Kunstsammlung (seit 2000 Kunstmuseum
Liechtenstein) e röf fne t .
Im LIinblick auf die beiden letztgenannten Samm-
lungen ü b e r p r ü f t e Tisa, ob durch Schenkungen oder
die Integration bereits f r ü h e r zusammengetragener
B e s t ä n d e Flucht- oder Raubgut in diese Sammlun-
gen gelangt ist. Das ä u s s e r s t bescheidene Budget
des Historischen Vereins, der damals die meisten
Sammlungen des stark lokal ausgerichteten Landes-
museums stellte, liess kaum A n k ä u f e zu; es konnte
daher allein aus f inanziel len G r ü n d e n nicht auf dem
internationalen Kunstmarkt agieren.
Den unmittelbaren Anstoss zur G r ü n d u n g der
Staatlichen Kunstsammlung gab eine Schenkung
des 1932 e i n g e b ü r g e r t e n Grafen Maurice A r n o l d
von Bendern an das F ü r s t e n t u m i m Jahr 1967. Laut
Tisa gibt es keine Anhaltspunkte dafür , dass sich un-
ter den zehn wertvollen alten Ölgemälden Flucht-
oder Raubgut befindet.
Das Postmuseum wurde 1930 b e g r ü n d e t , nach-
dem der Deutsche Hermann E. Sieger, Inhaber einer
renommierten Br ie fmarkenf i rma, dem F ü r s t e n t u m
seine Sammlung liechtensteinischer M a r k e n ge-
schenkt hatte. Sieger wurde zum Kurator auf Le-
benszeit bestellt. F ü r Liechtenstein, das ab 1912 die
ersten eigenen Br ie fmarken herausgegeben hatte,
zäh l t en die Einnahmen aus dem Markenverkauf
bald zu den tragenden Säu len des Staatshaushalts.
Sieger hatte seit 1928 die fü rs t l i che Regierung in al-
len postalischen Fragen beraten und ein völlig neu-
es System des Briefmarkenhandels und eine lukrati-
ve Ausgabepolitik e inge führ t , wobei er vor allem auf
den Handel mit ungebrauchten, postfrischen Mar -
ken setzte. Im Gegensatz zum Kunsthandel b lüh te
der Briefhandel i n Liechtenstein bereits i n der Zeit
vor 1945.
Sieger, der zugleich als Vertrauensmann der
fü r s t l i chen Regierung in Deutschlandfragen fun-
gierte, besass ab 1936 einen liechtensteinischen D i -
plomatenpass. Im NS-Staat wurde er, seit 1932
NSDAP-Mitg l ied , Leiter der Reichsorganisation des
deutschen Briefmarkenhandels sowie Experte bei
S c h ä t z u n g e n und Verwertungen. K u r z vor Kriegs-
ende floh Sieger aus Deutschland nach Liechten-
stein, wurde aber bald nach Vorar lberg abgescho-
ben und dort von der f r a n z ö s i s c h e n Besatzungs-
macht verhaftet. Die liechtensteinische Regierung
u n t e r s t ü t z t e ihn jedoch in Anerkennung seiner Ver-
dienste u m das Land i n seinem Entnazif izierungs-
verfahren. Sieger e rk l ä r t e nach dem Krieg , sein E i n -
tritt in die N S D A P sei aus widerstandsstrategischen
G r ü n d e n und auf Veranlassung des Liechtensteini-
schen Regierungschefs erfolgt - wobei er die «Ret-
tung» Liechtensteins vor dem «Dri t ten Reich» mass-
geblich sich selbst zuschrieb.
Da das Postmuseum i n der Regel nur Neuheiten
gesammelt hat, s ind laut Tisa E i n g ä n g e aus «Arisie-
r u n g e n » und Beschlagnahmungen mit grosser Si -
cherheit auszuschliessen. Gleichzeit ig betont sie
aber, dass «Siegers Funkt ion innerhalb der deut-
schen Devisenbeschaffung als Berater bei der Schät-
zung und Verwertung von beschlagnahmten Samm-
lungen ... als sehr belastend e i n z u s t u f e n » ist. Offen
bleibe auch die Frage, w a r u m die fürs t l i che Regie-
rung die Briefmarkenpol i t ik und das Postmuseum
weiter in den H ä n d e n Siegers belassen hat, als des-
sen N a h v e r h ä l t n i s z u m Nationalsozial ismus bereits
offenkundig war.
Obwohl Tisa bei allen drei ö f fen t l ichen Sammlun-
gen keine systematische A b k l ä r u n g der Provenien-
zen vornehmen konnte, stellt sie zusammenfassend
fest, dass «die d u r c h g e f ü h r t e n Recherchen in der
Regel den R a u b g u t v o r w ü r f e n den Boden» entzie-
hen. In Einzel fä l len hä l t sie zusä tz l i che A b k l ä r u n -
gen zum restlosen Nachweis der Herkunf t f ü r not-
wendig, diese m ü s s t e n durch die jeweilige Instituti-
on selbst in Angr i f f genommen werden.
F ü r die E inb indung des F ü r s t e n t u m s i n den in -
ternationalen Kunstmarkt seit Kriegsende spielte
der Zuzug einiger schillernder Pe r sön l i chke i t en , die
zuvor dem NS-Regime nahegestanden waren, eine
wichtige Rolle.
Einer von ihnen, Adol f Ratjen, war 1937 Teilha-
ber des deutschen Bankhauses Delbrück, Schickler
& Co. in Ber l in geworden und ve r füg t e ü b e r beste
Beziehungen zum Reichsf inanzminis ter ium. Ratjen
g e h ö r t e von 1940 bis Kriegsende dem A m t Aus land
260
REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER-
NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945
/ A b w e h r des Oberkommandos der Wehrmacht
(OKW) an. Im Zusammenhang mit der Evakuierung
der fü r s t l i chen Sammlungen i m Herbst 1944 wurde
er vom Reichswirtschaftsminister ium zum «Reichs-
t r e u h ä n d e r fü r die fü r s t l i chen S a m m l u n g e n » be-
stimmt. Im März 1945 liess er sich in Liechtenstein
nieder; 1947 ernannte ihn F ü r s t Franz Josef II. zu
seinem Berater in Fragen der F ü r s t e n b a n k (Bank i n
Liechtenstein, BiL) und bei I n d u s t r i e g r ü n d u n g e n .
Von 1951 bis 1981 war Ratjen V e r w a l t u n g s r a t s p r ä -
sident der BiL .
Ab den 1970er Jahren baute er eine Sammlung
vor allem alter italienischer Graphik und deutscher
Kunst des 16. bis 19. Jahrhunderts auf, die heute
Weltrang besitzt und 2001 auf rund 17 Mi l l ionen
Schweizer Franken geschä t z t wurde. Tisas Nachfor-
schungen ergaben, dass die Sammlung keine Raub-
kunst en thä l t und Ratjen, der die Grundlage d a f ü r
erst i n den 1970er Jahren gelegt hat, nachweislich
weder Raubkunst nach Liechtenstein verbracht noch
ü b e r Liechtenstein reingewaschen hat.
«Erheb l i che Zweifel» ergaben sich hingegen bei
den Sammlungen von Ruscheweyh und Herrmann,
deren A u f b a u bereits w ä h r e n d der NS-Zeit begon-
nen hatte, bei Steegmann, der seit den 1950er Jah-
ren gesammelt hatte, sowie bei den fü r s t l i chen
Sammlungen. Nur bei Letztgenannten konnte tat-
sächl ich Raubgut identifiziert werden, bei den ande-
ren «sind die V e r d a c h t s m o m e n t e » laut Tisa «al ler-
dings sehr subs tan t ie l l» . Die Sammlungen von Ru-
scheweyh und Her rmann s ind in der Zwischenzeit
wieder aufge lös t worden, jene von Ratjen und Steeg-
mann befinden sich i m Aus land .
A u c h der in Er fur t geborene G e s c h ä f t s m a n n Ru-
dolf Ruscheweyh war w ä h r e n d der NS-Zeit f ü r die
deutsche Abwehr tät ig. Bis 1940 lebte er in Deutsch-
land, nach der Besetzung Frankreichs i m Auf t rag
des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) in Pa-
ris. Seit Mitte der 1920er Jahre war er mit dem
Schweizer Industriellen E m i l G. Bühr le bekannt.
Von 1939 bis 1945 wickelte Bühr les Werkzeugma-
schinenfabrik Oerlikon Bühr le & Co. alle Lieferun-
gen nach Deutschland ü b e r Ruscheweyh ab, der
enorme Provisionen kassierte. Zugleich stand Ru-
scheweyh dem Chef des deutschen Nachrichten-
dienstes, A d m i r a l Canaris, nahe und un t e r s t ü t z t e
diesen f inanziel l . A n f a n g 1944 übe r s i ede l t e Rusche-
weyh nach Liechtenstein; kurz nach seiner E inbür -
gerung i m Jahr 1948 setzte er sich in die U S A ab.
Der von den All i ier ten g e ä u s s e r t e Verdachte, Ru-
scheweyh habe fü r Bühr l e in Frankre ich Kunstwer-
ke erworben, läss t sich laut Tisa nach bisherigem
Wissensstand nicht e r h ä r t e n . Dasselbe gilt f ü r den
vielfach erhobenen Vorwurf , Ruscheweyh habe
Raubgut verwertet und i n die Schweiz sowie nach
Liechtenstein geschmuggelt. Die zahlreichen Ge-
r ü c h t e wurden unter anderem von Ruscheweyhs
Wohlstand und aufwendigem Lebensstil sowie sei-
nen Kontakten zu Personen, die mit Raubkunst
gehandelt hatten, g e n ä h r t . Trotz l ü c k e n h a f t e r Anga-
ben ü b e r die Flerkunft seiner V e r m ö g e n s w e r t e ge-
lang es ihm, sein gesamtes Vermögen in die Nach-
kriegszeit h i n ü b e r z u r e t t e n und sich einer straf-
rechtlichen Verfolgung zu entziehen.
Dem Wirtschaftsanwalt und Kunstsammler Dr.
Josef Steegmann wurde aufgrund seines wichtigen
Beitrags zur Evakuierung der fü r s t l i chen Sammlun-
gen 1946 das liechtensteinische E h r e n b ü r g e r r e c h t
verliehen. Steegmann, 1903 in S a a r b r ü c k e n gebo-
ren, war w ä h r e n d der NS-Zeit juristischer Berater
der schweizerischen Gesandtschaft i n Ber l in . E r
vertrat als Anwa l t auch die Galerie Fischer in L u -
zern, den bedeutendsten Umschlagplatz f ü r Raub-
kunst in der Schweiz, und pflegte Kontakte zu
K u n s t h ä n d l e r n und Kunstexperten, die nachweis-
lich in den Handel mit Raubgut involviert waren.
Seit 1937 Mitgl ied der NSDAP, wurde er 1941 ins
A m t A u s l a n d / A b w e h r des O K W berufen. Seine
Kontakte zu Walter Schellenberg, der nach dem At-
tentat vom 20. Ju l i 1944 die Leitung des Amtes
ü b e r n a h m , erwiesen sich f ü r Steegmann vor al lem
i m Zusammenhang mit der von i h m geleiteten Über-
f ü h r u n g der fü r s t l i chen Sammlungen von Wien
nach Liechtenstein 1 9 4 4 / 4 5 als nütz l ich . Steeg-
mann lebte von 1945 bis 1954 und dann wieder von
1968 bis zu seinem Tod 1988 in Liechtenstein.
Tisas Nachforschungen haben ergeben, dass
Steegmann w ä h r e n d der Jahre der NS-Herrschaft
mit grosser Wahrscheinl ichkeit keine Kunstwerke
erworben hat, da erste A n k ä u f e erst ab 1950 doku-
261
mentiert sind. Die in den folgenden Jahren aufge-
baute Kunstsammlung von Weltrang (sie umfasst
unter anderem Werke von Cezanne, Matisse, Picas-
so, Braque, Leger, Mondr ian , Klee, Monet und Du-
buffet) wurde erst 1998, zehn Jahre nach Steeg-
manns Tod, von der Staatsgalerie Stuttgart der Öf-
fentlichkeit p r ä s e n t i e r t . Die Ü b e r p r ü f u n g einzelner
Provenienzen wie die 1941 «ar i s i e r t e» Galerie
Bernheim-Jeune und die vom Einsatzstab Reichslei-
ter Rosenberg in Paris beschlagnahmte Sammlung
von Alphonse Kann , erbrachte keinen konkreten
Beleg fü r Raub- oder Fluchtgut, doch empfiehlt Tisa
weitere A b k l ä r u n g e n .
Der deutsche Architekt, Bauingenieur und Unter-
nehmer Kurt Her rmann liess sich 1931 aus Finanz-
g r ü n d e n i n Liechtenstein e i n b ü r g e r n , ohne sich
z u n ä c h s t dort niederzulassen. Her rmann, der nie
der N S D A P beitrat, «a r i s i e r t e» 1938 den Leipziger
Musikal ienverlag C. F. Peters sowie die Berl iner Ju-
wel ier f i rma Gebr. Fr ied länder , die unter der neuen
Bezeichnung «Deu t sche Goldschmiedekunst-Werk-
s t ä t t en» bei der Verwertung enteigneter Juwelen
eine massgebliche Rolle spielte. Her rmann zäh l te
zum weiteren Kreis u m Göring, ging mit diesem auf
die Jagd und bedachte ihn wiederholt mit Spenden
und Geschenken.
Dank seiner liechtensteinischen S t a a t s b ü r g e r -
schaft konnte sich Her rmann Ende A p r i l 1945 ins
F ü r s t e n t u m retten. Sowohl die Niederlande als auch
Belgien stellten Untersuchungen zu seinen Erwer-
bungen w ä h r e n d der Kriegsjahre an. Her rmann
baute seine Kunstsammlung indes weiter aus, unter
anderem durch Käufe bei den ehemaligen NS-
K u n s t h ä n d l e r n Walter Andreas Hofer und Josef A n -
gerer in M ü n c h e n .
Der Verdacht, Her rmann habe sich in den besetz-
ten Niederlanden widerrechtl ich Diamanten ange-
eignet und f ü r Göring in die Schweiz verbracht, liess
sich nach dem Kr ieg nicht eindeutig e r h ä r t e n . E r
wurde ferner beschuldigt, in Frankre ich die Roth-
schild-Juwelen aus dem Besitz von Noemi Halphen,
der geschiedenen Ehef rau von Maurice de Roth-
schild, erworben und Gör ing ü b e r g e b e n zu haben.
1950 erging ein f r a n z ö s i s c h e r Haftbefehl gegen
Herrmann, doch g e m ä s s liechtensteinischem Recht
wurde er nicht ausgeliefert. In einem in der Schweiz
gegen ihn angestrengten Prozess wurde er freige-
sprochen. Tisa geht jedoch davon aus, dass Herr-
mann «mi t g r o ß e r Wahrscheinl ichkei t ... die Roth-
schild-Juwelen t a t s äch l i ch gekauft und danach bis
zur Unkenntl ichkeit a b g e ä n d e r t und weiterver-
kau f t» hat.
Her rmann , der durch seine in Liechtenstein und
i n der Schweiz angesiedelten Gesellschaften seit
den 1920er Jahren umfangreiche V e r m ö g e n s w e r t e
ausserhalb Deutschlands angelegt hatte, leistete die
1931 erworbene liechtensteinische S t a a t s b ü r g e r -
schaft unbezahlbare Dienste, um seine Haut zu ret-
ten und die Beschlagnahme seiner V e r m ö g e n s w e r t e
zu verhindern. Im M a i 1945 soll sich sein V e r m ö g e n
i n Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, in
Liechtenstein und Italien, wo er eine Vi l l a an der l i -
gurischen Küste besass, auf ü b e r 80 Mi l l ionen
Reichsmark belaufen haben.
Tisa ist es in den meisten Fäl len nicht gelungen,
die Provenienzen der relativ umfangreichen und
gröss ten te i l s vor Kriegsende aufgebauten Samm-
lung, bestehend aus Bi ldern, Teppichen, Möbels tü-
cken und kunstgewerblichen G e g e n s t ä n d e n , zu er-
mitteln, da praktisch keine Ankaufsbelege und Da-
ten zu den Werken selbst vorliegen. Gewisse Prove-
nienzen hä l t sie f ü r zweifelhaft und r ä t zu einer
weiteren A b k l ä r u n g . Konkrete Beweise f ü r die Ver-
schiebung von Raubkunst durch Her rmann nach
Liechtenstein konnte sie nicht erbringen.
Tisa hat erstmals auch die Ankaufspol i t ik von
F ü r s t Franz Josef II. und dessen Sammlungsdirek-
tor Dr. Gustav Wi lhe lm w ä h r e n d der NS-Zeit im De-
tail untersucht, und zwar auf Grundlage des um-
fangreichen, wenn auch l ü c k e n h a f t e n Bestandes
« K u n s t r e f e r a t » i m Hausarchiv der Regierenden
F ü r s t e n von Liechtenstein in Wien .
Die i m Laufe von rund vier Jahrhunderten ent-
standenen fü r s t l i chen Sammlungen umfassen heute
rund 40 000 Objekte: G e m ä l d e (mit Schwerpunkt
auf Werken der barocken Kunst des 17. Jahrhun-
derts), Porzellan, Waffen, Graphiken, Silber und
Skulpturen.
Sammlungsdirektor Gustav Wi lhe lm, 1908 in
Wien geboren, ö s t e r r e i c h i s c h e r S t a a t s b ü r g e r und
262
REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER-
NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945
promovierter Jurist, war ab 1934 innerhalb der
fü r s t l i ch - l i ech tens te in i schen Verwaltung mit den
Kunstsammlungen sowie dem Arch iv - und Bibl io-
thekswesen befasst gewesen. 1940 wurde er zum
Direktor der fü r s t l i chen Sammlungen b e f ö r d e r t .
1946, nach der Ü b e r s i e d l u n g nach Vaduz, übe r -
nahm er auch die Funktion des Für s t l i chen K a b i -
nettsdirektors. Als sich Franz Josef II. nach dem
«Anschluss» Ös te r re i chs entschieden hatte, seinen
s t änd igen Wohnsitz nach Vaduz zu verlegen, blieb
Wilhe lm, offenbar kein NSDAP-Mi tg l i ed , als Samm-
lungsdirektor i n Wien .
Wie zahlreiche Sammler, Galerien, A u k t i o n s h ä u -
ser und H ä n d l e r profitierten auch die fü r s t l i chen
Sammlungen in den Jahren des Nationalsozialis-
mus von der Situation auf dem Kunstmarkt . In
sammlungspolit ischer Hinsicht markierte die Per i -
ode zwischen 1933 und 1945 dennoch keinen her-
ausragenden Abschnitt . Mit dem Tod des F ü r s t e n
Johannes II. war 1929 eine bedeutende Epoche in
der Geschichte der fü r s t l i chen Sammlungen zu
Ende gegangen.
W ä h r e n d der folgenden Jahre wurde der Schwer-
punkt weniger auf den Ausbau der G e m ä l d e s a m m -
lung gelegt als auf den - f inanziel l weitaus weniger
aufwendigen - Erwerb von Einrichtungsobjekten
fü r die fü rs t l i chen Schlösser und Burgen, was das
F ü r s t e n h a u s allerdings nicht vor A n k ä u f e n von
Werken mit problematischer Provenienz bewahrte.
In der Regel betrieb es bei A n k ä u f e n einen relativ
grossen A u f w a n d zur K l ä r u n g der Herkunft . Nur be-
grenzt gilt dies allerdings f ü r jene Erwerbungen, die
ü b e r befreundete Fachkollegen wie August Mader
oder Oskar Hamel sowie bei den grossen Verwer-
t u n g s h ä u s e r n - dem Wiener Dorotheum und der
Galerie LI. W. Lange - erfolgt sind und bei denen es
sich um ausgesprochene Ge legenhe i t skäu fe gehan-
delt hat.
Franz Josef II. erwarb zwischen 1938 und 1945
rund 270 Objekte i m Wert von ü b e r 1,5 Mi l l ionen
Reichsmark - Teppiche, Porzellane, Möbel , Silber
und kunsthandwerkliche Objekte sowie etwa ein
Dutzend Gemälde , Zeichnungen oder Aquarel le . Die
Ankäu fe erfolgten in der Regel durch Wi lhe lm, mit
dem der F ü r s t in regem Austausch stand. Grob ge-
schä tz t wurden zwei Drittel des Ankaufsetats f ü r
problematische Objekte verwendet, was nicht be-
deutet, dass es sich hierbei durchwegs u m Raubgut
gehandelt hat.
E inen Teil der Neuerwerbungen finanzierte der
F ü r s t durch Verkäufe . Bei der V e r ä u s s e r u n g des
Schlosses Seebenstein 1944 an die Wiener Kunst-
h ä n d l e r Oskar Hamel und Karoline Nehammer han-
delte es sich i m Wesentlichen um ein Tauschge-
schäf t : Den g rös s t en Teil des Kaufpreises bezahlte
Hamel in F o r m von K u n s t g e g e n s t ä n d e n .
Rund die Hälf te aller Objekte, die Franz Josef II.
in der Zeit nach dem «Ansch luss» erwarb, bezog er
bei oder ü b e r Oskar Hamel , und zwar u m einen Ge-
samtbetrag von 420 000 Reichsmark. Hamel war
bereits 1933 Mitglied der N S D A P geworden und
hatte ihr auch in der «Verbotsze i t» a n g e h ö r t . Neben
seiner Tät igkei t als H ä n d l e r fungierte er als Gutach-
ter sowie als S c h ä t z m e i s t e r des Dorotheums und
unterhielt G e s c h ä f t s k o n t a k t e zu Hitlers « S o n d e r b e -
a u f t r a g t e n » f ü r das geplante « F ü h r e r m u s e u m » in
L inz . LIamel kaufte nachweisl ich selbst im Dorothe-
um, auch wenn es sich um Einl ieferungen durch die
«Verwal tungss te l le f ü r j ü d i s c h e s Umzugsgut der Ge-
heimen Staa tspol ize i» (Vugesta) handelte, sowie di -
rekt von j ü d i s c h e n Verfolgten.
1940 erwarb der Fü r s t ü b e r Hamel einen Speise-
tisch aus der Zeit u m 1700, der aus dem Besitz des
Zuckerindustr iel len Oskar Bondy stammte, um
2 500 Reichsmark. Die Provenienz ist auf der Rech-
nung angegeben, war dem F ü r s t e n h a u s also be-
kannt. Vier Objekte wurden 1942 vom M ü n c h n e r
Ant iquar und K u n s t h ä n d l e r Walter Bornhe im um
188 000 Reichsmark angekauft. Bornhe im hatte
1936 die j ü d i s c h e Kunsthandlung A . S. Drey in Mün-
chen «ar i s i e r t» und stand seit 1938 mit Gör ing in
engem Kontakt.
Ende der 1940er Jahre war ein i n Frankre ich
hergestellter Bureauplat, den der F ü r s t ü b e r Born-
heim erworben hatte, Gegenstand eines ausserge-
richtl ichen R ü c k f o r d e r u n g s a n t r a g s seitens der Vor-
besitzerin, Lucie Mayer-Fuld . Diese w a r vor Kriegs-
beginn mit ih rem Ehemann aus Deutschland nach
Paris und s p ä t e r nach New York gef lüchte t . 1940
war der besagte Tisch direkt in der Vi l l a Mayer-
263
Fulds i n Ber l in-Grunewald versteigert worden.
Mehr als zwei Jahre s p ä t e r verkaufte Bornhe im den
Tisch an den F ü r s t e n von Liechtenstein, wissend,
dass es sich u m entzogenes j ü d i s c h e s Gut handelte.
Die Frage, ob der F ü r s t von der Provenienz Mayer-
Fuld gewusst hat, ist anhand der Quellen nicht defi-
nitiv zu k lä ren .
1949 wurde der Tisch von der u r s p r ü n g l i c h e n
Besitzerin z u r ü c k g e f o r d e r t . Obwohl dem F ü r s t e n
durch einen Berater klar gemacht wurde, dass es
sich eindeutig u m eine «Ar i s ie rung» gehandelt hat-
te, verweigerte er die Rückgabe mit der Begrün -
dung, er habe das Stück «gu ten G laubens» erwor-
ben. Ende der 1990er Jahre publizierten die fürs t l i -
chen Sammlungen i n der « N e u e n Z ü r c h e r Zei tung»
und der liechtensteinischen Presse eine Stellung-
nahme zu dem Fal l , in der - unrichtigerweise - be-
hauptet wurde, Mayer-Fuld sei keine Verfolgte ge-
wesen.
Zwischen 1940 und 1943 erwarben die fürs t l i -
chen Sammlungen 31 Objekte f ü r insgesamt mehr
als 318 000 Reichsmark aus dem Wiener Dorothe-
um. Grundsä t z l i ch sind die Erwerbungen im Doro-
theum als potentiell bedenklich einzustufen, i m Fa l l
des Wiener Industriellen Ernst Egger, der s p ä t e r in
Theresienstadt ermordet wurde, ist der Raubgutbe-
fund laut Tisa als gesichert anzusehen. Sowohl dem
F ü r s t e n als auch Sammlungsdirektor Wi lhe lm war
bekannt, dass die 17 i m Jahr 1940 ü b e r das Doro-
theum erworbenen S i l b e r g e g e n s t ä n d e aus Eggers
Sammlung stammten.
Auch bei den Ende 1943 i m Dorotheum erworbe-
nen drei Gobelins und neun Fauteuils, die das Auk-
tionshaus in Frankreich angekauft hatte, war das
F ü r s t e n h a u s ü b e r diese Flerkunft informiert . Im
Berl iner Auktionshaus Hans W. Lange erwarb es
1943 drei F a y e n c e n - i n einer Versteigerung, bei der
i m Auf t rag des O b e r f i n a n z p r ä s i d e n t e n Ber l in -Bran-
denburg h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h j ü d i s c h e s Eigentum
unter den Hammer kam.
A u c h mit Dr. August Mader, dem Direktor der
Wiener Gobelinmanufaktur, unterhielt Wi lhe lm
enge geschäf t l i che Verbindungen. Wi lhe lm liess bei
Mader Tapisserien aus den fü r s t l i chen Sammlungen
restaurieren, gleichzeitig fungierte Mader als Fach-
mann und Berater bei A n k ä u f e n . A u c h Mader war
in den NS-Kunstraub verstrickt: A l s Spezialist f ü r
Tapisserien wurde er auch zur Sichtung und Schät-
zung von i n Polen beschlagnahmten Gobelins h inzu-
gezogen.
Zwe i Gobelins kaufte das F ü r s t e n h a u s 1943 ü b e r
die «Diensts te l le M ü h l m a n n » in den besetzten Nie-
derlanden f ü r insgesamt 187 000 Reichsmark. Es
blieb dabei unklar, wer die wertvollen Textilien zu-
vor besessen hatte und ob es sich t a t säch l i ch u m
Raubgut handelte. Der Ankau f beweist jedoch, dass
sich das F ü r s t e n h a u s nicht von der Londoner Dekla-
ration der All i ier ten vom 5. Januar 1943 beein-
drucken liess, die den Ankau f von K u n s t g e g e n s t ä n -
den aus den besetzten Gebieten untersagt und die
A h n d u n g wider rech t l icher Transakt ionen nach
Kriegsende ins Aussicht gestellt hatte. Die genaue
Flerkunft der Gobelins konnte von Tisa nicht gek lä r t
werden. Es m ü s s e sich nicht zwingend u m Raubgut
handeln, urteilt sie, die Wahrscheinl ichkeit sei auf-
grund der Faktenlage jedoch gross.
Die Lektüre von Tisas fundierter und spannend
zu lesender Studie ist zu empfehlen: f ü r Zeit- und
Kunstgeschichtler sowie Provenienzerforscher, we i l
sie viele interessante Einzelheiten zu bislang wenig
bearbeiteten Forschungsfeldern en thä l t , nament-
lich zum e u r o p ä i s c h e n Kunsthandel und Kunst-
markt w ä h r e n d der NS-Zeit . Fachfremden bietet die
Arbei t , die auf Archivquel len aus Deutschland,
Ös ter re ich , der Schweiz, sowie aus anderen west-
und o s t e u r o p ä i s c h e n L ä n d e r n und den U S A basiert,
einen guten Einbl ick i n die aktuellen Forschungen
zum NS-Kunstraub sowie die Aufgaben und Proble-
me der Provenienzforschung. Trotz des Detailreich-
tums und der wissenschaft l ichen Präz i s ion liest sich
das Buch nicht trocken und akademisch. Kurze Z w i -
s c h e n r e s ü m e e s und eine a u s f ü h r l i c h e abschliessen-
de Zusammenfassung erleichtern die Orientierung.
264
REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER-
NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945
BILDNACHWEIS
Seite 242: Heinz Preute,
Vaduz
ANSCHRIFT
DER A U T O R E N UND
AUTORINNEN
Dr. phil. Alois Ospelt
Meierhofstrasse 45
FL-9490 Vaduz
Dr. Wolfgang Weber
Vorarlberger Landesarchiv
Kirchstrasse 28
A-6900 Bregenz
Dr. phil. Rupert Quaderer
Fürst-Johannes-Strasse 26
FL-9494 Schaan
Dr. phil. Petra Barthelmess
Frey-Herose-Strasse 15
CH-5000 Aarau
Dr. Gabriele Anderl
Erdbrustgasse 5/8
A-1160 Wien
265
LIECHTENSTEINISCHE SOUVENIRS -
200 JAHRE LIECHTENSTEINISCHE SOUVERÄNITÄT
267
JAHRESBERICHT
DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS
FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Inhalt
271 Tä t igke i t sbe r ich t des Vereins pro 2005
280 Jahresrechnung des Vereins pro 2005
285 Liechtensteiner Namenbuch, Tät igkei t s -
bericht 2005
287 Liechtensteinisches Urkundenbuch,
Tä t igke i t sbe r ich t 2005
290 K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s Liechten-
stein, Tä t igke i t sbe r ich t 2005
293 Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss
des F ü r s t e n t u m s Liechtenstein, Tät igkei t s -
bericht 2005
270
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Tätigkeitsbericht des Vereins
pro 2005
J A H R E S V E R S A M M L U N G 2005
Die 104. ordentliche Jahresversammlung fand a m
16. A p r i l 2005 i m Peter Kaiser-Saal der Musikschu-
le in Eschen statt. Der Vereinsvorsitzende Rupert
Quaderer b e g r ü s s t e u m 16 Uhr rund 50 Anwesen-
de, darunter Vertreter des Landtags, Mitglieder
und weitere Gäs te . Daraufh in verlas Vorstandsmit-
glied Veronika Marxer das Protokoll der 103. Jah-
resversammlung vom 3. A p r i l 2004 in Schaan. Das
Protokoll wurde einst immig genehmigt. Der Jah-
resbericht 2004 war den Mitgl iedern bereits vor-
gängig zugestellt worden, so dass der Vereinsvor-
sitzende Rupert Quaderer lediglich einzelne wicht i -
ge Punkte hervorhob. Anschl iessend wurden der
Jahresbericht 2004 wie auch die von Georg Kieber
revidierte Rechnung einst immig genehmigt.
S T A T U T E N R E V I S I O N
Der Vorstand des Historischen Vereins legte die be-
reits f ü r die Jahresversammlung 2004 vorbereite-
ten neuen Statuten nochmals vor. Dem Auf t rag
durch die Mi tg l iederversammlung entsprechend
wurde den Statuten eine P r ä a m b e l vorangestellt, in
welcher auf die kulturelle Bedeutung des Vereins
explizit hingewiesen w i rd . Die vom Vorstand vorge-
schlagenen Statuten wurden nun diskussionslos
zur Kenntnis genommen und einst immig verab-
schiedet. Die Frage, ob den Statuten eine P r ä a m b e l
vorangestellt werden soll, wurde mit 41 zu acht
Stimmen bei zwei Enthaltungen verneint. Die ge-
nehmigten neuen Statuten wurden i m Berichtsjahr
gedruckt und allen Mitgl iedern zugestellt.
N E U W A H L D E S V E R E I N S V O R S T A N D S
Der Vereinsvorsitzende Rupert Quaderer gab sei-
nen Rücktr i t t bekannt und dankte seinen Kollegin-
nen und Kollegen i m Vorstand, dem G e s c h ä f t s f ü h -
rer Klaus Biedermann, den Verantwortl ichen der
wissenschaftl ichen Projekte, den Vereinsmitglie-
dern sowie Sponsoren und B e h ö r d e n fü r ihre U n -
t e r s t ü t z u n g . Die bisherigen Vorstandsmitglieder
Marie-Theres Frick, A l f r ed Goop und Volker Rhein-
berger gaben ebenfalls ih ren Rücktr i t t bekannt.
Vorstandsmitglied Veronika Marxer w ü r d i g t e die
vier z u r ü c k t r e t e n d e n Vorstandsmitglieder mit einer
kurzen Laudatio. Dabei r ief sie die wichtigsten Sta-
tionen und Weichenstellungen der n e u n j ä h r i g e n
Amtszei t von Rupert Quaderer in Er innerung.
Anschl iessend folgten die Wahlen fü r den neuen
Vereinsvorstand. Die W a h l g e s c h ä f t e wurden von
Claudia Heeb-Fleck geleitet, die zur Er fü l lung die-
ser Aufgabe von der Versammlung zur Tagesp rä s i -
dentin g e w ä h l t worden war. Die verbleibenden bis-
herigen drei Vorstandsmitglieder Eva Pepic, Fabi -
an Frommel t und Veronika Marxer wurden be-
s tä t ig t und die neu vorgeschlagenen Kandidat innen
und Kandidaten einst immig bzw. mit grossem
M e h r i n den Vorstand gewäh l t . Dies sind Brigitte
Flaas, Irene Lingg-Beck, Hugo Quaderer und Ru-
pert Tiefenthaler. Anschl iessend wurden Eva Pepic
zur Vorsitzenden, Irene Lingg-Beck zur Kassier in
und Veronika Marxer zur Ak tua r in gewäh l t .
N E U W A H L FÜR D A S A M T D E S R E V I S O R S
A u c h das A m t des Rechnungsrevisors f ü r die M a n -
datsperiode 2005 bis 2008 war neu zu bestellen.
Der bisherige Rechnungsrevisor Georg Kieber wur-
de wieder gewäh l t .
F E S T L E G U N G D E R MITGLIEDERBEITRÄGE
Die neu g e w ä h l t e Vereinsvorsitzende Eva Pepic
f ü h r t e durch den abschliessenden Teil der Jahres-
versammlung. A u f Ant rag des neuen Vereinsvor-
stands beschloss die Versammlung einst immig, die
J a h r e s b e i t r ä g e in der bisherigen H ö h e zu belassen:
75 Franken f ü r Einzelmitglieder, 100 Franken fü r
Partnermitglieder, 150 Franken f ü r juristische Per-
sonen und Kollektivmitgliedschaften sowie 40 Fran-
ken f ü r Studierende, Lehrlinge und weitere Perso-
nen in Ausbi ldung.
271
F R E I E A U S S P R A C H E
Aus der Vereinsversammlung kam die Anregung,
die i m Herbst 2005 erscheinenden Publikationen
der U n a b h ä n g i g e n His tor ikerkommission Liechten-
stein Zweiter Weltkrieg mit einer Vortragsreihe zu
begleiten und so noch mehr publik zu machen. Die
Der neu gewählte Vereins-
vorstand. Von links: Irene
Lingg-Beck, Veronika
Marxer, Rupert Tiefentha-
ler, Brigitte Haas, Eva
Pepic, Fabian Frommelt
und Hugo Quaderer
Publikationen wurden i m Verlag des Historischen
Vereins f ü r das F ü r s t e n t u m Liechtenstein, Vaduz,
und i m Chronos Verlag, Zür ich , veröf fent l ich t . A u f
diese Veröf fen t l i chung w i r d an anderer Stelle die-
ses Berichts a u s f ü h r l i c h e r eingegangen.
Professor Hans Stricker, der Leiter des Liechten-
steiner Namenbuchs, dankte abschliessend dem
scheidenden Vereinsvorsitzenden Rupert Quaderer
fü r seinen l a n g j ä h r i g e n und u n e r m ü d l i c h e n Einsatz
f ü r das Namenbuch. Bekanntl ich konnte der Werk-
teil II des Namenbuchs - Personennamen - i m Jahr
2002 durch einen vom Landtag genehmigten Er -
g ä n z u n g s k r e d i t auf eine neue Basis gestellt wer-
den, die eine wissenschaft l ich fundierte Forschung
und deren Abschluss i m Jahr 2007 gewähr l e i s t e t .
Das Personen-Namenbuch w i r d zu je 50 Prozent
vom Land Liechtenstein und von den elf liechten-
steinischen Gemeinden finanziert .
272
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
ÖFFENTLICHER V O R T R A G V O R S T A N D UND GESCHÄFTSSTELLE
Nach einem von der Gemeinde Eschen offerierten
Aperi t i f wurde die Versammlung mit einem öffent-
lichen Vortrag fortgesetzt. Bernd Marquardt , P r i -
vatdozent in St. Gallen, referierte ü b e r «Das Ver-
hä l tn is zwischen Liechtenstein und dem Römisch-
Deutschen Reich - Vom R e i c h s f ü r s t e n t u m in die
staatliche Souverän i t ä t» . Bernd Marquardt beleuch-
tete in seinem Vortrag einerseits die Stellung Liech-
tensteins i m Alten Reich und zeigte andererseits
auf, wie Liechtenstein sich aus dem Reichsverband
lösen und 1806 zu einem formel l u n a b h ä n g i g e n
Staat werden konnte. Eine ü b e r a r b e i t e t e Fassung
dieses Vortrags ist in diesem Jahrbuch ab Seite 5
nachzulesen.
Der Vereinsvorstand erledigte i m Berichtsjahr
2005 die statutarischen Geschä f t e in fünf ordentli-
chen Sitzungen. Zusä tz l ich traf sich der Vereinsvor-
stand i m November 2005 zu einer vertiefenden
Klausurtagung. Die Person des Vereinsvorsitzen-
den - bis 16. A p r i l 2005 Rupert Quaderer, seither
Eva Pepic - vertrat den Historischen Verein in di -
versen Arbei tsgruppen sowie bei mehreren öffentli-
chen An lä s sen . Speziell e r w ä h n t sei zudem die ak-
tive Beteiligung des Vereinsvorstands a m E u r o p ä i -
schen Tag des Denkmals, der am 17. September
2005 auf der Burg Gutenberg in Balzers stattfand.
Zusammen mit weiteren Vereinsmitgliedern sowie
anderen Helfer innen und Helfern u n t e r s t ü t z t e der
Der neue Werbeflyer des
Historischen Vereins
wurde am Europäischen
Tag dos Denkmals in
Balzers präsentiert
Am Europäischen Tag des
Denkmals in Balzers:
Hansjörg Frommelt und
Eva Pepic, aus Anlass des
an diesem Tag stattfinden-
den Mittelalter-Festivals in
historische Kostüme ge-
kleidet
273
274
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Vereinsvorstand die Abteilung Denkmalpflege und
Archäologie des Hochbauamts bei der D u r c h f ü h r u n g
des Mittelalter-Festivals, das diesen besonderen Tag
p räg te und zahlreiche Besucherinnen und Besucher
nach Balzers lockte. A m d ies jähr igen Europatag des
Denkmals konnten wi r auch einen neuen Werbeflyer
p räsen t i e ren , in welchem der Historische Verein und
seine Aktivitäten vorgestellt werden.
Die Vereinsadministrat ion und Jahrbuch-Redak-
tion wurde auch i m Berichtsjahr 2005 von Ge-
s c h ä f t s f ü h r e r Klaus Biedermann wahrgenommen,
im Rahmen eines 50-Prozent-Pensums. A l s Ferien-
vertretung fungierte, f ü r die Dauer eines Monats,
Rita Vogt aus Balzers. Rita Vogt f ü h r t e i m Berichts-
jahr auch die Bibliotheksrevision weiter. Zahlreiche
Büche r aus der Vereinsbibliothek wurden neu er-
fasst beziehungsweise umsigniert. Diese Tät igkei t ,
die i m Jahr 2006 einen vor läuf igen Abschluss f i n -
den w i r d , erfolgte in Zusammenarbei t mit der
Liechtensteinischen Landesbibliothek in Vaduz. Die
B e s t ä n d e der Vereinsbibliothek sollten ab Herbst
2006 vol ls tändig ü b e r das Katalogsprogramm der
Landesbibliothek abrufbar sein.
J A H R B U C H BAND 104
Das Jahrbuch Band 104 wurde a m 23. Jun i 2005
der Öffent l ichkei t vorgestellt. Die P r ä s e n t a t i o n fand
i n der Musikschule i n Triesen statt. Hauptbeitrag
i m neuen Jahrbuch ist die Studie von Josef F rom-
melt ü b e r Entstehung, E i n f ü h r u n g und V e r ä n d e -
rungen der Liechtensteinischen Landeshymne. A n
dieser B u c h p r ä s e n t a t i o n nahmen nebst den Presse-
vertretern ein Grossteil der Autor innen und Auto-
ren sowie die f ü r die Buchprodukt ion verantwortl i-
chen Personen teil. Eine besondere Note erhielt der
Anlass durch die musikalische Gestaltung. Ausge-
hend von Motiven der Landeshymne improvisierte
Markus Gsell (Saxophone und Kontrabassklarinet-
te), u n t e r s t ü t z t von Veronika Marxer (Kontrabass),
zu verschiedenen Themen des Jahrbuchs. Mehr als
40 Personen folgten der Ein ladung zur Jahrbuch-
P r ä s e n t a t i o n .
Anlässlich der Präsenta-
tion des Jahrbuchs Band
104: Autorinnen und Au-
toren sowie an der Buch-
produktion Beteiligte. Von
links: Lorenz Hilty, Hannes
Mannhart, Silvia Ruppen,
Wilfried Marxer, Eva Pe-
pic, Klaus Biedermann,
Marianne Lörcher, Man-
fred Tschaikner und Josef
Frommelt
275
VERÖFFENTLICHUNGEN DER U H K
Die U n a b h ä n g i g e His to r ike rkommiss ion Liechten-
stein Zweiter Weltkrieg (UHK) konnte am 18. Okto-
ber 2005 die Ergebnisse ihrer v i e r j äh r igen For-
schungsarbeit p r ä s e n t i e r e n . Diese Buchp rä sen t a t i -
on fand i m Foyer des Vaduzer Saales in Vaduz statt.
Im Jahr 2001 hatte die liechtensteinische Regie-
rung die international besetzte U H K eingesetzt.
Diese Kommiss ion hatte aktuell aufgeworfene, spe-
zifische Fragen zur Rolle Liechtensteins i m Zweiten
Weltkrieg wissenschaftl ich a b z u k l ä r e n . Das M a n -
dat betraf vorab V e r m ö g e n s w e r t e i m Zusammen-
hang mit der NS-Herrschaft , insbesondere die Ver-
schiebung von Raubgut und NS-Vermögen i n F o r m
An der Präsentation von Ansprache von Kulturminis-
Schlussbericht und Einzel- terin Rita Kieber-Beck
Studien der UHK: (oben), die anwesenden
UHK-Mitglieder Carlo Moos,
David Bankier, Arthur Brun-
hart und Peter Geiger (unten
links), zusammen mit Kul-
turministerin Rita Kieber-
Beck
von Geld, Gold, Wertschrif ten oder Kunstwerken,
ebenso nachrichtenlose Konten. Sodann w a r die
Flücht l ingspol i t ik zu untersuchen, ebenso die Pro-
duktion f ü r den deutschen Kriegsbedarf sowie die
Frage, ob es Z u s a m m e n h ä n g e zwischen liechten-
steinischen Unternehmen mit deutscher Ar i s ie rung
und Zwangsarbeit gab. Die His tor ikerkommiss ion
beauftragte Forscher innen und Forscher mit der
Untersuchung von Teilthemen.
Die Synthese dieser Forschungen wurde in ei-
nem gebundenen Schlussbericht dargestellt. Die
verschiedenen Einzelstudien, welche den Schluss-
bericht vertiefen, s ind als broschierte Einzelpubl i -
kationen erhä l t l ich . Schlussbericht und Einzelstu-
dien wurden i m Verlag des Historischen Vereins f ü r
das F ü r s t e n t u m Liechtenstein, Vaduz , sowie i m
Chronos Verlag, Zür ich , veröf fen t l ich t . Aus führ l i -
che Besprechungen dieser Verö f fen t l i chungen sind
i n diesem Jahrbuch ab Seite 239 nachzulesen.
Aufg rund seiner Beanspruchung als P r ä s i d e n t
der U K H konnte Peter Geiger i m Berichtsjahr nur
e i n g e s c h r ä n k t weiterarbeiten an der Fertigstellung
seines Manuskr ipts f ü r die geplante Publikat ion
«Kriegszei t i n L iech tens te in» , doch die Fertigstel-
lung des Manuskripts schreitet voran.
V E R A N S T A L T U N G E N
E X K U R S I O N E N
A m 4. Juni 2005 fuhren 30 Mitglieder und Freunde
des Historischen Vereins auf die Insel Reichenau.
Unter der fachkundigen F ü h r u n g von Gudrun
Schnekenburger wurden die wichtigsten Sehens-
w ü r d i g k e i t e n dieser Klosterinsel i m Bodensee be-
sichtigt. Nach einer Kaffeepause in Oberzell begann
das P rogramm mit einem Besuch der Kirche St. Ge-
org in Oberzell . In Mittelzell wurden das Münster ,
der dazu g e h ö r e n d e M ü n s t e r s c h a t z sowie der
K r ä u t e r g a r t e n besichtigt. Nach der Mittagspause
ging es zu Fuss nach Niederzel l , wo abschliessend
die Stiftskirche SS. Peter und Paul besucht wurde.
Die Vielfalt des i m Laufe der Jahrhunderte gewach-
276
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Forschten im Auftrag der
UHK: Hanspeter Lussy, Ve-
ronika Marxer, Christian
Ruch, Esther Tisa Franci-
ni, Rodrigo Lopez, Ursina
Jud und Stefan Karlen
(von links)
senen kulturellen Erbes auf Reichenau sowie die
friedliche A t m o s p h ä r e der Insel beeindruckten.
Vom 3. Dezember 2005 bis zum 7. M a i 2006 ist
i m Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz
die Sonderausstellung «Im Schutze m ä c h t i g e r M a u -
ern. S p ä t r ö m i s c h e Kastelle i m B o d e n s e e r a u m » zu
sehen. Als E r g ä n z u n g dazu bot der Historische Ver-
ein f ü r das F ü r s t e n t u m Liechtenstein eine Exkurs i -
on nach Stuttgart an. Dort wurde im K u n s t g e b ä u d e
die Ausstellung « I m p e r i u m Romanum. Roms Pro-
vinzen an Neckar, Rhein und D o n a u » gezeigt. K u l -
tur und Gesellschaft der Römerze i t wurden hier i n
einem g r ö s s e r e n geographischen Zusammenhang
dargestellt. A m 8. Dezember 2005 fuhren 20 Mi t -
glieder und Freunde des Historischen Vereins nach
Stuttgart, u m sich unter fachkundiger F ü h r u n g die-
se Ausstellung anzuschauen.
V E R A N S T A L T U N G E N M I T D E R
E R W A C H S E N E N B I L D U N G S T E I N - E G E R T A
Wie schon i m Vorjahr f ü h r t e der Historische Verein
auch i m Berichtsjahr 2005 gemeinsame Veranstal-
tungen mit der Erwachsenenbi ldung Stein-Egerta
durch. Diese Veranstaltungen fanden alle i m B i l -
dungshaus Stein-Egerta i n Schaan statt. Eine Auto-
r in sowie zwei Autoren stellten ihre in den j ü n g s t e n
zwei J a h r b ü c h e r n des Historischen Vereins erschie-
nenen Bei t räge vor: A m 20. A p r i l 2005 referierte
Matthias Weishaupt ü b e r «Das Bi ld des F ü r s t e n » ,
am 21. A p r i l 2005 stellte Annette Lingg «Das Kino
i m Wirtshaus Rössle in S c h a a n » vor, und am 10.
November 2005 berichtete Wi l f r i ed Marxer ü b e r
« Z e n s u r i m Gebiet des heutigen F ü r s t e n t u m s
L iech tens te in» .
F O R S C H U N G S E R G E B N I S S E D E R U H K -
V O R T R A G S R E I H E I M L A N D E S M U S E U M
Das Liechtensteinische Landesmuseum f ü h r t e i m
S p ä t h e r b s t 2005 - in Zusammenarbei t mit dem
Historischen Verein - eine Vortragsreihe durch, an
welcher Autor innen und Autoren der UHK-Stud ien
ihre Forschungsergebnisse p r ä s e n t i e r t e n . A m 27.
Oktober 2005 e r ö f f n e t e Esther Tisa Franc in i den
Vortragsreigen mit ih ren A u s f ü h r u n g e n zum The-
m a «Liech tens te in und der internationale Kunst-
markt 1 9 3 3 - 1 9 4 5 » . Es folgte am 3. November 2005
Urs ina Jud mit ih rem Referat ü b e r «Liech tens te in
und die Flücht l inge zur Zeit des Nationalsozialis-
m u s » und am 10. November 2005 Hanspeter Lus-
sy, der ü b e r die « F i n a n z b e z i e h u n g e n Liechten-
steins zur Zeit des Na t iona l soz i a l i smus» berichtete.
Veronika Marxer referierte am 17. November 2005
277
ü b e r «Liech tens te in i sche Industriebetriebe und die
Frage nach der Produktion f ü r den deutschen
Kriegsbedarf 1 9 3 9 - 1 9 4 5 » . Schliesslich bot U H K -
P r ä s i d e n t Peter Geiger am 1. Dezember 2005 einen
Ausbl ick mit den Stichworten « U n a b h ä n g i g e Histo-
rikerkommission: Gesamtfazit, ze i tgenössischer K o n -
text, internationaler Vergleich».
A B G A B E VON B Ü C H E R N AUS D E M V E R L A G
DES HISTORISCHEN VEREINS
Da der Historische Verein f ü r das F ü r s t e n t u m
Liechtenstein i m Jahr 2006 i n den Gamanderhof
nach Schaan umziehen und dort ü b e r weniger
Platz als in Triesen v e r f ü g e n w i r d , hat der Vereins-
vorstand i m Berichtsjahr mehrere Akt ionen lan-
ciert, u m den grossen Buchbestand zu verringern.
Den Vereinsmitgliedern wurde das Angebot ge-
macht, die J a h r b ü c h e r Band 63 bis Band 99 sowie
einzelne andere Vereinspublikationen kostenlos zu
beziehen. Dieses Angebot gilt noch bis Ende M a i
2006.
In einer zeitlich begrenzen Weihnachtsaktion f ü r
Vereinsmitglieder wurden zudem Reprints von äl-
teren J a h r b ü c h e r n , soweit noch vor rä t ig , zu einem
stark ve rgüns t i g t en Preis angeboten.
Besonderer Aufmerksamkei t erfreuten sich zwei
öffentliche Bücher t i sche: Sowohl anläss l ich des Tags
des offenen Denkmals am 17. September 2005 auf
der Burg Gutenberg wie auch vom 26. November
bis Weihnachten 2005 i m Landesmuseum konnten
einzelne Publikationen und zahlreiche Sonder-
drucke aus den J a h r b ü c h e r n stark ve rgüns t ig t oder
sogar kostenlos angeboten werden. Besonders rege
wurde dieses Angebot am Tag der offenen T ü r i m
Regierungsviertel und Landesmuseum genutzt: A n
diesem Tag, dem 26. November 2005, waren Ver-
einsvorstand und G e s c h ä f t s f ü h r e r vor Ort i m Lan-
desmuseum. Dank einer Gratisabgabe von Publ ika-
tionen und Sonderdrucken an interessierte Besu-
cherinnen und Besucher musste der sich rasch
leerende Büchert isch mehrmals mit Nachschub be-
liefert werden.
M I T G L I E D E R
Seit der letzten Jahresversammlung am 3. A p r i l
2005 sind nachfolgende 23 Personen und Institu-
tionen Mitglieder des Historischen Vereins gewor-
den:
- Mar ianne und Walter Bumbacher, Churerstras-
se 72, 9485 Nendeln
- Petra Büchel , Neudorfstrasse 13, 9493 Mauren
- Ulr ike Drewitz, Platanenstrasse 16a,
D-81377 M ü n c h e n
- Stephanie Fuchs, Dorfstrasse 7, 9495 Triesen
- J ü r g Hanselmann, Rheinstrasse 3, 9496 Balzers
- Gabrie la Hasler, Egertastrasse 17, 9490 Vaduz
- Samuel Hoop, Giessenstrasse 137, 9491 Ruggell
- Renate und Gilbert Kaiser, Bergstrasse,
9490 Vaduz
- Gebhard Kindle , Oberfeld 50, 9495 Triesen
- Cornel ia und Peter Marxer, Kesse 14,
9488 Schellenberg
- Rita Meier, Unterberg 9, 9493 Mauren
- Naturwissenschaftl iches Forum, M a r i a n u m -
strasse 45, 9490 Vaduz
- Gaby und Donath Oehri, O b e r b ü h l 35,
9487 Gampr in-Bendern
- E r n a Ospelt, Herrengasse 25, 9490 Vaduz
- Sieglinde Quaderer, Im Äsche r l e 58,
9494 Schaan
- E r i k a und Hans Risch, Kasernastrasse 15,
9498 Planken
- Barbara Gräf in Strachwitz, Bachzeile 3,
A-3851 Kautzen
- Susanne Tilg, Oberfeld 55, 9495 Triesen
- Gregor Vogt, H a m p f l ä n d e r 1, 9496 Balzers
Seit der letzten Jahresversammlung 2005 mussten
w i r den Tod der folgenden drei Vereinsmitglieder
zur Kenntnis nehmen:
- Cyr i l l Büchel , Fallsbretscha 23, 9487 Gampr in-
Bendern
- Richard Elkuch , Feld 28, 9488 Schellenberg
- Bruno Ospelt, A m S c h r ä g e n Weg 36, 9490 Vaduz
El f Mitglieder sind aus dem Verein ausgetreten.
278
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Infolge einer g r ü n d l i c h e n Revision der Adresslisten
musste der Mitgliederbestand etwas nach unten
korrigiert werden. In Zukunft werden die Mitgl ie-
derbewegungen nicht mehr f ü r den Zei t raum von
der letzten Jahresversammlung bis z u m Abschluss
des Jahrberichts i m Februar des darauf folgenden
Jahres angegeben, sondern strikt nach Kalender-
jahr. Deshalb sind V e r ä n d e r u n g e n im Mitgliederbe-
stand hier nur bis zum 31. Dezember 2005 b e r ü c k -
sichtigt. Spä t e r e V e r ä n d e r u n g e n werden erst in
den Jahresbericht pro 2006 einfliessen.
Per Ende 2005 zäh l te der Historische Verein 815
Mitglieder. Von diesen 815 Mitgliedern sind 585
Einzelmitglieder, 150 Partnermitglieder, 51 Kollek-
tivmitglieder, 22 Studentinnen und Studenten so-
wie sieben Ehrenmitglieder.
BILDNACHWEIS
Seite 272, 275, 276: Paul
Trümmer, Mauren
Seite 273 rechts: Karin
Hassler, Vaduz
Seite 274: Sven Beham,
Triesen, Homepage:
www.beham.li
Seite 277: Mischa Chris-
ten, Ebikon
ANSCHRIFT
Historischer Verein
für das Fürstentum
Liechtenstein
Messinastrasse 5
Postfach 626
FL-9495 Triesen
Telefon 00423 / 392 17 47
Telefax 00423 / 392 17 05
E-Mail hvfl@hvfl.li
Homepage www.hvfl.li
S C H R I F T E N T A U S C H
Der Historische Verein fü r das F ü r s t e n t u m Liech-
tenstein unterhielt per 31. Dezember 2005 mit 135
anderen historischen Vereinen und verwandten In-
stitutionen einen Schriftentausch-Verkehr.
P R O J E K T E
Über die Tät igkei t der einzelnen Projekte i m Be-
richtsjahr 2005 orientieren separate Berichte im
Anschluss an die Jahresrechnung und an den Prü-
fungsbericht der Revisionsstelle.
Triesen, 20. Februar 2006
lic. phi l . Eva Pepic
Vorsitzende des Historischen Vereins
lic. phil . Klaus Biedermann
G e s c h ä f t s f ü h r e r des Historischen Vereins
279
Jahresrechnung des Vereins
pro 2005
ÜBER DIE E I N N A H M E N U N D A U S G A B E N
V O M 1. J A N U A R 2005 BIS 31 . D E Z E M B E R 2005
EINNAHMEN
BEITRÄGE UND SPENDEN in CHF in CHF
Mitgliederbeiträge 47.697.50
Landesb.eitrag 180 000—
Gönnerbeiträge
- s S-D. Fürst Hans-Adam II.
- Gemeinde Balzers
- Gemeinde Eschen
- Gemeinde Mauren
- Gemeinde Planken
- Gemeinde Triesen'
- Liechtensteinische Landesbank, Vaduz
- Private Einzelspenden
5 000.—
1.100.—
1 000:—
1 000:—
300,—
1 2.00.—
3 000.—
2 710.— 15 310.
V E R K A U F DIVERSER PUBLIKATIONEN
- Jahrbücher; Sonderdrucke und DVDs
- Schlussberichte und.Einzelstudien der UHK
- Alexander Erick, Eugen Gabriel: Mundarten
- Diverse Verkäufe
- Abschreibung offener Rechnungen
7 971 —
16 906.40
2 146:—
52,4.80
./. 556.— 26 992,20
ZINSEN
Bank- und Postscheck-Zinsen 710.95
TOTAL EINNAHMEN 2005 270 710.65
280
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
AUSGABEN
JAHRBÜCHER in CHF" in CHF
Band 104
- Jahresbericht 2004 (Vorabdruck) 1 878.—
- Satz, Lithos, Druck, Buchbinder, Gestaltung und Produktionsleitung 96 367.60
- Redaktion ' 9 080.—
- Versand (Material, Aufwand, Spesen) 9 688.90
- Diverse Spesen 160.— 117 174.50
GESCHÄFTSSTELLE
- Personalkosten 63 739.8.5
- Papeterie/allgemeiner Bürobedärf 1127'.—
- Kopiergerät-/Kopien 1 530.90
- Drücksachen /Briefpapier /Couverts 1 688,30
- Briefmarken/Versandspesen 6 242.20
- Telefon und Telefax- 2 629.—
- Internet/EDV 5 825.80 82 783.05
HONORARE
- Entschädigung für den Vereinsvorsitzenden/die Vereinsvorsitzende 27 386.55
- Diverse Honorare 1 250.— 28 636.55
ÜBRIGE AUFWENDUNGEN
-- Abonnemente und Mitgliedschaften 2 477.36
- Ankäufe Vereinsbibliothek 1 030.35
- Revision V'oreinsbiblio.thek 9 326,20
-Werbungfür-UHK-Studien 5 759.15
- Banksp.esen 600.60
- Versicherungen 655 .40
- Diverse Spesen' 9 168.37 29 017.43
TOTAL AUSGABEN 2005 257 611.53
281
ÜBERSICHT in CHF
VEREINS VERMÖGEN per 31. Dezember 200,5 ,525 237,30
Liechtensteinische' Landesbank, D-Konto . 247 520.40
Liechtensteinische Landesbank,. Sparkonto 250 811.50
Postscheck-Konto 31 114.70
Kassa 278.40
Debitoren 5 258.60
Transitorische Aktiven 323 —
Kreditoren 7 863.30
Transitorische Passiven 2 206:—
EINNAHMEN- UND AUSGABENRECHNUNG in CHF
Total Einnahmen 2005 270 710.65
Total Ausgaben 2005 257 611.53
Vermögensvermehrung 2005 13 099.12
+ Vereinsvermögen per 1. Januar 2005 512 138.18
VEREINSVERMÖGEN per 31..Dezember 2005 525 237.30
282
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
FONDS «FORSCHUNG UND PUBLIKATIONEN» in CHF in CHE
VERMÖGENSSTAND per 31. Dezember 2005 291 640.80
Banksaldo 31. Dezember 2005 291 314.80
Vermögensstand per 1, Januar 2005 340 549.80
Banksaldo 1, Januar 2005 342 399.80
EINNAHMEN, - ' • '
- Diverse Verkaufserlöse
- Weitere Verkaufserlöse (Überweisung 2006)
- Zinsen
272.04
2 206.—
1 142.36
Total Einnahmen 3 620.40
AUSGABEN
- Beiträg für das Projekt «Kunstdenkmäler»
- Beitrag für das Liechtensteinische. Namenbuch; 1. Zahlung
- Beitrag für das Liechtensteinische Namenbuch; 2. Zählung
(Überweisung 2006)
- Honorare
- Weitere Spesen
22 000.—
2 120.—
1 880.—
26 526.40
3.—
Total Ausgaben 52 529.40
EINNAHMEN- UND AUSGABENREGHNÜNG
Total Einnahmen ,2005 3 620.40
Total.Ausgabeir20.05 52 529.40
Vermögensabnahme ../. 48 909.—
+ Fdndsvermögen 1. Januar 2005 340 549.80
FONDSVERMÖGEN per 31. Dezember 2005 291 640.80
283
BERICHT DES REVISORS A N DIE M I T G L I E -
D E R V E R S A M M L U N G DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS F Ü R S T E N T U M L I E C H -
T E N S T E I N
Als Revisor habe ich die B u c h f ü h r u n g und die Jah-
resrechnung ( V e r m ö g e n s r e c h n u n g , Rechnung ü b e r
die E innahmen und Ausgaben sowie die Fondsrech-
nung) des Historischen Vereins f ü r das F ü r s t e n t u m
Liechtenstein f ü r das am 31. Dezember 2005 abge-
schlossene Vereinsjahr g e p r ü f t (Artikel 14 der Sta-
tuten).
F ü r die Jahresrechnung ist der Vorstand verant-
wort l ich, w ä h r e n d meine Aufgabe dar in besteht,
diese zu p r ü f e n und zu beurteilen.
Meine P r ü f u n g erfolgte nach den G r u n d s ä t z e n
des liechtensteinischen Berufsstandes, wonach eine
P r ü f u n g so zu planen und d u r c h z u f ü h r e n ist, dass
wesentliche Fehlaussagen in der Jahresrechnung
mit angemessener Sicherheit erkannt werden. Ich
p r ü f t e die Posten und Angaben der Jahresrechnung
auf der Basis von Stichproben. Ferner beurteilte ich
die Anwendung der massgebenden Rechnungsle-
g u n g s g r u n d s ä t z e , die wesentlichen Bewertungsent-
scheide sowie die Darstellung der Jahresrechnung
als Ganzes. Ich bin der Auffassung, dass meine Prü-
fung eine ausreichende Grundlage f ü r mein Urtei l
bildet.
Gemäss meiner Beurteilung entsprechen die Buch-
f ü h r u n g und die Jahresrechnung dem liechtenstei-
nischen Gesetz und den Statuten.
Ich empfehle, die vorliegende Jahresrechnung zu
genehmigen.
Vaduz, 4. M ä r z 2006
gez. Georg Kieber, Revisor
284
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Liechtensteiner Namenbuch
TÄTIGKEITSBERICHT 2005
P E R S O N E L L E S
Die Mitarbeiter Anton Banzer (mit 40 Prozent) und
Herbert Hübe (mit 27 Prozent) leisten zusammen
zwei Drittel einer vollen Stelle. Der Namenbuchlei -
ter Plans Stricker steht teilzeitlich zur Ver fügung .
W E R K T E I L FAMILIENNAMEN
Die Datenbank mit den Fami l iennamen umfasst
nun 2081 Da tensä t ze , d. h. unterschiedliche F a m i -
l iennamen. In erster Linie interessieren uns aus
landeskundlicher Sicht na tü r l i ch die al teinheimi-
schen Namen, die Allgäuer, Banzer, Barbier, Bar-
getze, Beck, Biedermann, Brunhart, Büchel, Bürz-
le, Eberle, Elkuch, Falk, Feger, Fehn Foser, Frick,
Fritsch, Frommelt, usw. Sie sind in den Quellen
auch am reichsten bezeugt. Viele a l t v e r b ü r g e r t e
Namen sind vo r l ängs t ausgestorben und i m Be-
wusstsein der heutigen Landesbewohner meist
nicht mehr vorhanden (etwa fBäder, fBallasser,
fBerger, fBiet, fGahaini, fGalan, fGantenbem,
fTischhauser, fVaistli). In der Umgebung Liechten-
steins, wo sie ebenfalls von alters her heimisch wa-
ren, leben allerdings manche dieser Namen bis
heute weiter - so etwa die Berger, Gantenbein,
Tischhauser. Diese gar nicht so seltenen Fälle be-
zeugen augenfäl l ig , wie sehr die Liechtensteiner
Personennamen als E r b s t ü c k e einer gemeinsamen
ä l t e ren Geschichte und Kulturgeschichte i n die Na-
menlandschaft der Region eingebettet sind: auch
namenkundl ich ist eben Liechtenstein ein na tü r l i ch
und historisch gewachsener Teil der das L a n d um-
gebenden Gebiete.
Neben den B ü r g e r g e s c h l e c h t e r n haben w i r auch
der unzäh l i gen Personen zu gedenken, die zu allen
Zeiten bei uns in die historischen Quellen eingin-
gen, ohne selber zur geschlossenen Gesellschaft
der Gemeinde- und L a n d e s b ü r g e r zu g e h ö r e n : die
Hintersassen, die durchziehenden Fremden, die
Vaganten, dann Dienstpersonen, a u s l ä n d i s c h e Be-
amte und ihr Anhang.
Natür l ich sind von den f remden Geschlechtern
und ihren Namen keine Informationen zur altein-
heimischen Bevö lke rung und damit zur regionalen
Sprach- und Namenlandschaft in deren Grundstock
zu erwarten - sie sind j a s p ä t e r dazugekommen;
ihr Ursprung liegt anderswo. Oft stammen sie aus
der Nachbarschaft , dann und w a n n aber auch aus
weiterer Ferne, aus anderen L ä n d e r n und Sprach-
r ä u m e n .
Dennoch w ä r e es unklug, sie zu ü b e r g e h e n : Ihre
Spuren liefern ein A b b i l d f r ü h e r e r Migrat ionen, sie
haben mit ih rem Erscheinen bei uns - und oft auch
mit ihrer dauernden Niederlassung - der Sozial-
struktur des Landes und damit indirekt auch der
Landesgeschichte ihre F ä r b u n g mitgeteilt, sicher
oft nur blass und marginal , oft aber auch durchaus
nachhaltig, k rä f t ig und bleibend. Sie sind und wa-
ren stets ein Teil der L a n d e s b e v ö l k e r u n g und p r ä g -
ten diese mit; sozialgeschichtlich s ind auch sie von
hohem Interesse. Aus g r u n d s ä t z l i c h e n Über l egun-
gen k ö n n e n sie in einem wissenschaft l ich b e g r ü n -
deten und damit auf umfassende Darstellung zie-
lenden Namenbuch nicht fehlen.
Umgekehrt haben w i r es dann und wann auch
mit eigentlichen isolierten F r e m d k ö r p e r n zu tun,
deren Be rücks i ch t igung viele Probleme aufwerfen
und wenige lösen w ü r d e . Eine Grenzziehung ist da-
her nötig, und w i r haben nach eingehender Diskus-
sion eine Reihe von Aufnahmekr i te r ien festgelegt.
Was die S e k u n d ä r l i t e r a t u r angeht, haben w i r
nicht nur das ganze landeskundliche Schrif t tum
durchzuarbeiten - es m ü s s e n auch schweizerische
und ö s t e r r e i ch i s che (vorab vorarlbergische) namen-
kundliche Quellen ausgebeutet werden. Dies zum ei-
nen wegen der ü b e r a u s häu f ig vorkommenden
Migra t ionen , z u m andern auch angesichts der er-
w ä h n t e n gelegentlichen Namengleichheiten in Liech-
tenstein und in den umgebenden Regionen.
Die in den Datenbanken bisher noch fehlenden
Zusatzinformationen zu den einzelnen Famil ienna-
men (haup t säch l i ch i m Bereich der S e k u n d ä r l i t e r a -
tur) s ind i m Laufe der Berichtszeit arbeitsteilig von
allen Mitarbei tenden fertig zusammengetragen
worden. Seit l ä n g e r e m befasst sich der Leiter mit
der Schlussredaktion der Deutungen.
285
W E R K T E I L V O R N A M E N
Ebenfalls in Bearbeitung ist der Werktei l Vornamen
(einschliesslich der Patrozinien); die Datenbank ist
eingerichtet, die Mitarbeiter s ind daran, die Daten-
s t ä n d e g e m ä s s unseren Kri ter ien aufzubereiten
und zu vervo l l s tänd igen , damit der Leiter nachfol-
gend an die Schlussbearbeitung gehen kann. Eine
wesentliche Bereicherung e r f ä h r t die Vornamenda-
tei durch geeignete Auswertung unserer ü b r i g e n
Sammlungen:
a) Im Ruf- und Sippschaftsnamenmaterial war-
ten zahllose ä l te re Vornamenformen in phoneti-
scher Notierung (Vollformen, Kurzformen , Kosefor-
men, Distanzformen) darauf, nun auch unter dem
Bl ickwinke l des Vornamens systematisch erfasst zu
werden.
b) In den von uns f r ü h e r (in der Projektphase
Ortsnamenbuch) sorgfäl t ig erfassten historischen
Belegen zu den Fami l iennamen (in den urkundl i -
chen Belegkontexten), sowie auch in der entspre-
chenden S e k u n d ä r l i t e r a t u r liegen viele Vornamen-
Material ien (rund 10 000 Belege) vor, die nun der
Vornamen-Datenbank z u g e f ü h r t werden.
ARREITSSTAND UND - F O R T S C H R I T T
Unser Vorankommen bewegt sich i m Rahmen un-
serer Gesamtplanung; das weit gesteckte Pro-
gramm macht stets einen straffen Rhythmus not-
wendig, der uns wenig Spielraum lässt . Dass nicht
vorhersehbare V e r z ö g e r u n g e n aufgrund schwieri-
ger Einzelfäl le dann und w a n n vorkommen, liegt i n
der Natur der Sache.
H O M E P A G E DES N A M E N B U C H E S
Der Historische Verein fü r das F ü r s t e n t u m Liech-
tenstein hat bekanntlich bei der F i r m a G M G in
Buchs /Schaan fü r sich eine Homepage gestalten
lassen. In diesem Rahmen üess er auch die von i h m
getragenen Projekte p r ä s e n t i e r e n , darunter das Na-
menbuch. Da das erste Ergebnis dieses Auftrit ts un-
seren Vorstellungen noch nicht optimal entsprach,
ersuchten w i r be im Flistorischen Verein um die Be-
wil l igung, den Auftr i t t des Namenbuches g e m ä s s
unseren Vorsch lägen weiterentwickeln zu d ü r f e n :
er sollte e igens tänd iger , inhalt l ich vo l l s tänd iger und
einfacher zugäng l i ch gestaltet werden.
W i r unterbreiteten detaillierte Vorschläge zu
Aufbau , Struktur und Kostenrahmen, und der His-
torische Verein gab uns darauf die Einwi l l igung,
die nöt ige Nachbearbeitung d u r c h z u f ü h r e n , dies-
ma l i n enger Zusammenarbei t zwischen der beauf-
tragten F i r m a und dem Namenbuch.
Im Dezember 2005 konnten w i r die verbesserte
Auflage (www.hvfl . l i /namenbuch) der Öffent l ichkei t
bekannt geben, i n der Presse des Landes und der
Region sowie durch zahlreiche pe r sön l i che Mit tei-
lungen an die interessierten Univers i tä tskol legin-
nen und -kollegen des Leiters (Germanisten, Roma-
nisten, Namenkundler, Historiker, Volkskundler) in
der Schweiz, in Deutschland und Ös te r re ich .
Das Interesse der Fachwelt war lebhaft, es gab
anerkennende Reaktionen. A u c h wi r freuen uns
ü b e r das hier Entstandene. Die Homepage stellt in
ihrer Ar t wieder ein Stück Pionierarbeit dar - eine
Realisierung, die weit herum beachtet w i r d und
Liechtenstein auch in den Kreisen der Namen- ,
Sprach- und Geschichtsforscher, die unser Werk
bisher nicht kannten, i n ein gutes Licht rückt .
Tr iesen/Grabs , 13. Februar 2006
L I E C H T E N S T E I N E R N A M E N B U C H
Professor Dr. Hans Stricker / lic. phil . Anton Banzer /
Herbert H ü b e
ANSCHRIFT
Liechtensteiner
Namenbuch
Messinastrasse 5
Postfach 415
FL-9495 Triesen
Telefon 00423/236 75 70
Telefax 00423/236 75 58
286
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Liechtensteinisches Urkundenbuch
TÄTIGKEITSBERICHT 2005
A L L G E M E I N E S
Mit dem vom Landtag auf Ant rag der Regierung am
27. November 2003 genehmigten Verpflichtungs-
kredit zur F o r t f ü h r u n g des Liechtensteinischen Ur-
kundenbuchs (LUB) wurde eine kontinuierliche Wei-
terarbeit an diesem Grundlagenwerk f ü r die Ge-
schichtsforschung bis zum Juni 2010 gesichert und
der Einbezug der in a u s l ä n d i s c h e n Arch iven liegen-
den Liechtenstein relevanten Schriftzeugnisse in
das L U B ermögl ich t .
Die Arbei ten an diesem f ü r die Erforschung der
mittelalterlichen Landesgeschichte grundlegenden
Quellenwerk wurden mit einem 50-Prozent-Pensum
fo r tge führ t . Der in Bearbeitung stehende erste Band
des zweiten Teils des Liechtensteinischen Ur-
kundenbuchs [LUB 11/1] wi rd die Schriftzeugnisse
fü r die Herrschaftszeit der Fre iherren von Brandis
(1417-1510) umfassen. Im Berichtsjahr konnten die
Arbei ten am L U B auf breiter Front w e i t e r g e f ü h r t
werden. Nebst Transkript ions- und Edit ionsarbei-
ten wurde auch die systematische Sammel t ä t i gke i t
der Schriftquellen f ü r dieses knappe Jahrhundert
brandisischer M a c h t a u s ü b u n g i n der Grafschaft Va-
duz und in den Herrschaften Schellenberg, Blumen-
egg und Maienfeld in a u s l ä n d i s c h e n Arch iven fort-
gesetzt. E i n Flauptaugenmerk lag zudem in der Pla-
nung und Ausarbei tung einer digitalen Version des
L U B I I / l . Die d i e sbezüg l i chen Arbei ten stehen kurz
vor ihrem Abschluss, sodass der Bearbeiter hofft,
das L U B II digital i m Laufe des F rüh l ings 2006 ü b e r
das Internet einem interessierten Publ ikum zur Ver-
f ü g u n g stellen zu k ö n n e n .
ARBEITSSTAND
Die F o r t f ü h r u n g der systematischen S a m m e l t ä t i g -
keit der Schriftquellen brachte einen Zuwachs von
rund 70 neuen urkundl ichen Schriftquellen, sodass
die Quellen-Datenbank zur Zeit einen Bestand von
1209 Schriftzeugnissen zur Herrschaftszeit der Frei-
herren von Brandis aufweist. Die aus diesen Da-
t e n s ä t z e n aufbereitete und aktualisierte Regesten-
sammlung w i r d als Bestandteil des L U B II digital
Interessierten ebenfalls i m Internet zur Ver fügung
gestellt werden, vorerst ist sie, leider nicht aktuali-
siert, noch ü b e r die Homepage des Liechtensteini-
schen Landesarchivs (http://www.la.llv.li) zugäng -
l ich.
In der zweiten J a h r e s h ä l f t e konzentrierten sich
die Arbei ten auf die Planung, Ausarbei tung und
Umsetzung einer In te rne t - fäh igen Version des L U B II.
Dabei galt es, ein digitales Urkundenbuch zu ent-
wickeln , das sowohl wissenschaft l ichen A n s p r ü -
chen g e n ü g t wie auch Rücks ich t auf die Interessen
einer breiteren geschichtsinteressierten Öffentl ich-
keit nimmt. Die Realisierung des ehrgeizigen Vor-
habens verlangte die technologische Anpassung der
mittlerweile veralteten Computer Hard- und Soft-
ware. Die Programmierung des L U B II digital wur-
de der F i r m a G M G in Buchs /Schaan anvertraut,
welche die detaillierten Vorgaben des Bearbeiters
in verdankenswerter Weise und in u n e r m ü d l i c h e r
Bereitschaft, V e r b e s s e r u n g s v o r s c h l ä g e in der lau-
fenden Entwicklungsarbei t zu be rücks i ch t igen , in
die Tat umsetzte. So entstand ein digitales Urkun-
denbuch, das - so die Hoffnung des Bearbeiters -
den unterschiedlichen B e d ü r f n i s s e n eines interes-
sierten Publ ikums entgegenkommen w i r d . So kann
mit Hilfe einer Zeitleiste nicht nur die Textedition
jeder fertig bearbeiteten Urkunde sondern auch die
betreffende Urkundenabbi ldung eingesehen wer-
den. Zusätz l ich werden Edi t ion und Abbi ldung zu-
sammen abrufbar sein, was eine genaue Ü b e r p r ü -
fung der Textedition a m originalen Urkundentext
e rmögl ich t . Orts-, Personen- und Sachwortregister
erschliessen das Korpus der edierten Urkunden.
Schliesslich kann sich der L U B II digital Benutzer
anhand einer ä jour gehaltenen Regestensammlung
jederzeit ü b e r den aktuellen Stand der fü r die Auf-
nahme in das L U B I I / l vorgesehenen Schriftzeug-
nisse orientieren. E i n Archivverzeichnis mit Anga-
be der b e n ü t z e n Arch iva l ien sowie A b k ü r z u n g s - ,
Quellen- und Literaturverzeichnisse werden eben-
falls zur Ve r fügung stehen.
Der Arbe i t saufwand f ü r die Schaffung des L U B II
digital ist zweifellos erheblich und läss t sich da-
durch rechtfertigen, dass damit die Möglichkeit ge-
schaffen wi rd , die Ergebnisse der l ang jäh r igen , auf-
287
wendigen Arbei ten am L U B der wissenschaftl ichen
Forschung und einer interessierten Öffent l ichkei t
künf t ig so schnell als mögl ich zur Ve r fügung stellen
zu k ö n n e n . Gleichzeitig kann damit aber auch die
an sich berechtigte Forderung nach einer m ö g -
lichst schnellen Drucklegung des L U B I I / l insofern
erfül l t werden, dass mit dem LUB II digital eine
gleichsam digitale Version eines gedruckten L U B
I I / l zur allgemeinen Benutzung vorgelegt werden
kann.
Trotz des bedeutenden Mehraufwandes f ü r die
Erarbei tung des L U B II digital darf generell festge-
halten werden, dass die Arbei ten am L U B I I / l - so-
weit ü b e r b l i c k b a r - p l a n m ä s s i g vorangehen. Es ist
allerdings an dieser Stelle erneut an die i m Jahres-
bericht 2000 gemachten g r u n d s ä t z l i c h e n Über le -
gungen zu erinnern, wonach eine exakte Termin-
planung bei der Erarbei tung eines Urkundenbuchs
auf erhebliche Schwierigkeiten s töss t - insbesonde-
re i m Fa l l des L U B II, wo der schliesslich zu edie-
rende Quellenbestand erst nach Abschluss der
Quellensammlung endgül t ig feststehen wi rd .
SONSTIGE TÄTIGKEITEN
Im Umfang eines 50-Prozent betragenden Arbei ts-
pensums steht neben der « K e r n a u f g a b e » v e r s t ä n d -
licherweise wenig Zeit f ü r andere Tä t igke i ten zur
Ver fügung . In der zweiten Hälf te des Berichtsjahrs
konzentrierten sich die Arbei ten zudem wie er-
w ä h n t auf die Schaffung des L U B II digital, was
eine intensive Kommunika t ion zwischen dem Bear-
beiter und der mit der Programmierung beauftrag-
ten F i r m a G M G in Buchs /Schaan erforderte. Mi t
der notwendig gewordenen Erneuerung der Com-
puter Hard- und Software und einem damit einher-
gehenden Computerbetriebs-Systemwechsel (Mac
OS X) war eine erhebliche Zeit beanspruchende
Einarbei tung verbunden. Zudem musste sich der
Bearbeiter mit neuen Computerprogrammen f ü r
Bildbearbeitung und webbasierte Publikationen
vertraut machen. Schliesslich konnte der Bearbei-
ter i m Rahmen seiner U r k u n d e n b u c h t ä t i g k e i t ver-
schiedene an das L U B gestellte Fragen beantwor-
ten und manche Arbei ten mit Quellen- und Litera-
turhinweisen u n t e r s t ü t z e n .
A U S B L I C K
Im kommenden Jahr werden die Arbei ten a m L U B
auf verschiedenen Ebenen f o r t g e f ü h r t werden. Zu
Beginn des Jahres sollten die technischen Arbei ten
a m L U B II digital abgeschlossen werden k ö n n e n .
Anschl iessend w i r d die Eingabe der Daten der fer-
tig bearbeiteten Urkunden erfolgen, wobei die Er-
stellung und V e r k n ü p f u n g der Orts-, Personen- und
Sachwortverzeichnisse mit den betreffenden Ur-
kunden mit erheblichem Zei taufwand verbunden
sein w i rd . Im Laufe des F r ü h j a h r s hofft der Bear-
beiter aber trotzdem, mit dem L U B II digital def ini-
tiv online gehen zu k ö n n e n , auch wenn noch nicht
von Beginn an alle bisher bearbeiteten Urkunden
zur Ver fügung gestellt werden k ö n n e n . Die zweite
J a h r e s h ä l f t e sollte dann wiederum der eigentlichen
Urkundenbucharbei t vorbehalten sein. Nebst der
W e i t e r f ü h r u n g der systematischen Suche nach ur-
kundl ichen Quellen in a u s l ä n d i s c h e n Archiven ,
werden die Transkript ions- und Edit ionsarbeiten
des aufgefundenen und zur Ve r fügung stehenden
Urkundenmaterials fortgesetzt.
D A N K
Als Bearbeiter des L U B II m ö c h t e ich der Träger -
schaft des Urkundenbuch-Projektes, dem Histori-
schen Verein und seinem Vorstand, insbesondere
der neu amtierenden Vorsitzenden Eva Pepic und
dem G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus Biedermann f ü r das
entgegengebrachte Vertrauen und die Unters tü t -
zung danken. A n dieser Stelle m ö c h t e ich mich
aber insbesondere auch beim z u r ü c k g e t r e t e n e n
P r ä s i d e n t e n des Historischen Vereins, Rupert Qua-
derer, f ü r die l a n g j ä h r i g e , fruchtbare Zusammenar-
beit recht herz l ich bedanken. E r hat sich immer
wieder i n u n e r m ü d l i c h e r Weise f ü r die Belange des
L U B eingesetzt, und wenn sich das an fäng l i ch sor-
genvolle «LUB-Kind» inzwischen zum hoffnungs-
288
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
vollen « L U B - E r w a c h s e n e n » entwickelt hat, so ist es
vor allem auch sein Verdienst. Dank g e b ü h r t auch
dem Liechtensteinischen Landesarchiv, wo das
L U B eine He ims tä t t e gefunden hat, namentl ich
dem Staatsarchivar Paul Vogt, dem wissenschaft-
lichen Mitarbeiter Rupert Tiefenthaler und den A r -
chivbetreuerinnen Olga A n r i g , Nicole Lianselmann,
Edith Hil t i , Marianne K a u f m a n n und Rita Tobler,
von denen ich stets die bes tmögl iche Hilfe erfahren
durfte. Schliesslich m ö c h t e ich mich bei allen Kolle-
ginnen und Kollegen bedanken, die durch ihre
Quellen- und Literaturhinweise zur Mater ia l fü l le
des L U B II beigetragen haben.
ANSCHRIFT
Liechtensteinisches
Urkundenbuch
c/o Liechtensteinisches
Landesarchiv
Städtle 51
FL-9490 Vaduz
Vaduz, i m Januar 2006
L I E C H T E N S T E I N I S C H E S U R K U N D E N B U C H
Claudius Gurt
289
Kunstdenkmäler des Fürstentums
Liechtenstein
TÄTIGKEITSBERICHT 2005
P R O J E K T UND FACHKOMMISSION
Das Projekt zur Neubearbeitung der « K u n s t d e n k -
m ä l e r des F ü r s t e n t u m s Liech tens te in» wurde i m
Berichtsjahr weiterhin von der Kunsthis tor ikerin
Cornelia Her rmann, Triesen, betreut. Ziel des bis
2009 ausgelegten Projektes ist die Herausgabe von
insgesamt zwei B ä n d e n in der Reihe « K u n s t d e n k -
m ä l e r der Schweiz» , redaktionell betreut und pu-
bliziert von der Gesellschaft f ü r Schweizerische
Kunstgeschichte (GSK) i n Bern . Der Band «Ober-
l and» wi rd in die Edi t ion 2007 der GSK aufgenom-
men werden.
Die personelle Zusammensetzung der zur wis-
senschaftlichen Begleitung der K u n s t d e n k m ä l e r -
b ä n d e und zur Beratung der Autor in i m Jahr 2000
eingesetzten Fachkommiss ion blieb u n v e r ä n d e r t .
Begleitet wurden die Sitzungen der Fachkommiss i -
on bisher auch vom Vorsitzenden des Historischen
Vereins Rupert Quaderer. Mi t Ü b e r g a b e des Amtes
an seine Nachfolgerin Eva Pepic n immt er seit
2005 nicht mehr an den Z u s a m m e n k ü n f t e n teil.
Ihm g e b ü h r t grosser Dank f ü r seine fachliche Bera-
tung und sein Engagement fü r die Erwei terung des
Buchprojektes auf zwei B ä n d e in den Jahren 2001
und 2002. Die Fachkommission kam unter dem
Vorsitz von Eva Pepic zu zwei Sitzungen zusam-
men. Zu den Teilnehmern der Sitzungen g e h ö r t e n
auch Klaus Biedermann, G e s c h ä f t s f ü h r e r des His-
torischen Vereins, Franz iska Kaiser, Direktorin der
GSK, und die Autor in Cornelia Her rmann .
A R B E I T S S T A N D
Schwerpunkte das Jahres 2005 waren Bearbeitung
und Besprechung des Manuskriptes « G e m e i n d e
Vaduz», dem eine grosse Objekt- und Quellenfül le
zugrunde liegt. Evangelische Sakralbauten, Regie-
r u n g s g e b ä u d e , Schloss Vaduz, alte W i n z e r h ä u s e r
u .a . bilden neue Aspekte. Gutachter Alfons Rai -
mann, A m t f ü r Denkmalpflege und Inventarisation
i n Frauenfeld, genehmigte das Manuskript . E r w ü r -
digte die griffigen, klar und didaktisch klug ange-
legten Texte. Die Kapitel zur Siedlungsentwicklung
und zu den Profanbauten werden i m Kanton Thur-
gau f ü r den Band Kreuzl ingen als Muster dienen.
In den Sitzungen der Fachkommiss ion a m 30. Sep-
tember und 16. Dezember 2005 wurden wissen-
schaftliche Einzelf ragen diskutiert, konstruktive
R ü c k f r a g e n und Anmerkungen angebracht.
Pfarrer Markus Kellenberger e rmög l i ch t e dan-
kenswerterweise den Zugang zu den Akten des i m
Pfarrhaus untergebrachten Pfarrarchivs von Va-
duz. A u c h dem historisch interessierten Mesmer
E r i c h Ospelt gilt ein besonderer Dank f ü r die kom-
petente Begleitung durch die Pfarrkirche St. F lor in
und f ü r seine wertvollen Hinweise auf Depots u.a.
Pfarrer Franz N ä s c h e r hatte 2001 gemeinsam mit
Er ich Ospelt ein wohlgeordnetes «Inventar von Pfarr-
kirche und Kapel len i n Vaduz» verfasst. Die Auto-
r in dankt Pfarrer N ä s c h e r f ü r die hi l f reichen Vorar-
beiten und seine wichtigen, das Pfarrarchiv Vaduz
betreffenden Hinweise.
A u f offene T ü r e n bzw. auf offene Ohren traf die
Autor in bei den Verantwort l ichen der beiden evan-
gelischen Ki r chen : von der Evangel i sch-Luther i -
schen Kirche Pfarrer in Catharina Janusch und Pfar-
rer Har twig Janusch sowie der P rä s iden t des K i r -
chenvorstandes Friedrich Gappisch, Pfar rer in K a r i n
Ritter und Pfarrer Andre Ritter von der Evangeli-
schen Kirche Vaduz-Ebenholz .
E r g ä n z t wurde die Arbei t der Autor in durch das
Quellenstudium i m Liechtensteinischen Landesar-
chiv in Vaduz. E i n besonderer Dank gilt hier Mag.
phi l . Rupert Tiefenthaler, der stets f reundl ich und
u n e r m ü d l i c h bei den Recherchen behilf l ich war.
Wichtige Ansprechperson bei der Gemeinde Vaduz
war G e m e i n d e s e k r e t ä r Gebhard Ospelt, der das
Gemeindearchiv betreut und eine unverzichtbare
Informationsquelle f ü r die Autor in darstellte. Hilf-
reich waren ebenso die Hinweise des Bearbeiters
des Liechtensteinischen Urkundenbuches Claudius
Gurt, der den Altbestand des Gemeindearchivs Va-
duz in einer Datenbank erschlossen hat und die
Materie bestens kennt. Hara ld Wanger, Schaan,
wurde der Autor in als Vertrauensperson der Fürs t -
l ichen Famil ie bei ih rem Rundgang i m Schloss zur
Seite gestellt. Kur t Vedana, Hauswart i m Vaduzer
R e g i e r u n g s g e b ä u d e , ö f fne te letzte Winke l zwischen
290
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Keller und Dachgeschoss. Im Liechtensteinischen
Landesmuseum standen eine umfangreiche Inven-
tar-Kartei, Fotoarchiv und Restaurierungsberichte
zur Ver fügung . E in D a n k e s c h ö n geht an den Leiter
Norbert W. Hasler und seinen Mitarbeiter Thomas
Müssner .
Ebenso g e w ä h r t e n das Hochbauamt mit A r c h ä o -
logie und Denkmalpflege Einsicht in die betreffen-
den Akten. E i n grosser Dank geht an H a n s j ö r g
Frommelt, Ulr ike Mayr und Patrik Bir rer f ü r ihre
Geduld trotz des eigenen umfangreichen Arbei tsa l l -
tags. Eine enge Zusammenarbei t mit den genann-
ten Institutionen ist nicht zuletzt auch i m Rahmen
der Planerstellung unabdingbar. F ü r die Planpro-
duktion k ö n n e n ausserdem Daten aus der Geoda-
teninfrastruktur des Landes Liechtenstein Verwen-
dung finden. Diese Arbei t w i r d künf t ig vom Tief-
bauamt (Peter Jehle und Heinz Ritter) u n t e r s t ü t z t
werden.
Einbl ick in ihre Kunst- und K u l t u r g ü t e r s a m m -
lungen g e w ä h r t e n A d u l f Peter Goop, E r i c h Goop,
Hanspeter Rheinberger, Rudolf Rheinberger und
Volker Rheinberger. Peter Rheinberger ö f fne te das
«Rote Haus» f ü r die Autor in und stand bei einem
Rundgang Rede und Antwort . Ihnen allen sei eben-
so gedankt wie zahlreichen weiteren Einzelperso-
nen, die bei den Recherchen behi l f l ich waren und
wertvolle Hinweise lieferten.
Eine weitere Aufgabe der Auto r in war i m Be-
richtsjahr 2005 die N a c h f ü h r u n g und Korrektur
der bisher verfassten Manuskripte des Bandes
Oberland. E i n besonderer Dank gilt in diesem Zu-
sammenhang dem ehemaligen Leiter des Plankner
Gemeindearchivs Manf red Wanger, ausserdem Jo-
sef Eberle, dem Leiter des Walser Heimatmuseums
und Triesenberger Gemeindearchivar, f ü r die wis-
senschaftliche Begutachtung der betreffenden Ge-
meindeartikel und ihre kooperative Zusammenar-
beit. Eine gekürz t e Endfassung aller sechs Gemein-
den des Oberlandes soll 2006 von der Fachkom-
mission einer abschliessenden Lektüre unterzogen
werden. E i n weiteres Lektorat und Korrektorat
wi rd durch die Redakt ions-Kommission und die
Redakteure der GSK in Bern erfolgen.
A U T O R E N T A G U N G DER GSK
Nachdem sich der P r ä s i d e n t der GSK-Redaktions-
kommiss ion Benno Schubiger i m Jul i 2005 p e r s ö n -
lich ein Bi ld vom K u n s t d e n k m ä l e r p r o j e k t in Liech-
tenstein und den Arbeitsbedingungen i m Büro der
Auto r in in Triesen gemachte hatte, bot auch die
Autorentagung am 4. und 5. Oktober 2005 Gele-
genheit zu einem Austausch mit dem Redakti-
onsteam und den Kuns tdenkmäle r -Ko l l egen .
In diesem Jahr kamen die Autoren auf Ein la-
dung des K u n s t d e n k m ä l e r - A u t o r s Josef Grünenfe l -
der in Cham, Kanton Zug, zusammen. Die Nest-
le A G hatte dort ihr A k t i e n b ü r o f ü r die Sitzung zur
V e r f ü g u n g gestellt. Das r e p r ä s e n t a t i v e ehemalige
V e r w a l t u n g s g e b ä u d e der Milchsiederei i m Stil der
Neurenaissance stellt ein Relikt der 1866 zum Zweck
der Kommerzia l i s ierung von Kondensmilch geg rün -
deten F i r m a dar. Die w u n d e r s c h ö n e Originaltoilette
des endenden 19. Jahrhundert war w ä h r e n d der
Pause aus wissenschaft l ichen und auch anderen
B e w e g g r ü n d e n stark frequentiert.
Im Zentrum der Sitzung standen Mitteilungen
aus der Geschäf t ss te l le der GSK, ein Bericht der A r -
beitsgruppe « Z u k u n f t der K u n s t d e n k m ä l e r der
Schweiz» und Benno Schubigers Bericht ü b e r die
Informationsveranstaltung fü r die K u n s t d e n k m ä -
ler-Verantwortl ichen a m 20. Oktober 2005. Beson-
ders betont wurde, dass die K u n s t d e n k m ä l e r b ä n d e
kein Schutz-Inventar, kein Haus-zu-Haus-Inventar,
damit kein Spezialorgan der Denkmalpflege, son-
dern vielmehr ein wissenschaftliches Mittel f ü r die
Öffen t l i chke i t sa rbe i t sein sollen. A u c h beim Nacht-
essen in der V i l l a «Villet te» von 1864/66 bzw.
1901/03, ehemals Sommersitz des Z ü r c h e r Ban-
kiers Heinr ich Schulthess-von Meiss, ergaben sich
vielfache Gelegenheiten zum kunsthistorischen In-
formationsaustausch.
A m zweiten Tagungstag erfolgte ein Besuch der
Zisterzienserinnenabtei Frauenthal. Bei einem Rund-
gang durch Cham konnte der Vortrag ü b e r « C h a m
- Entstehen und Verschwinden eines Ensembles
und was machen w i r damit in den <Kunstdenk-
mälern> » vertieft werden. Im Jahr 2006 d ü r f e n der
Historische Verein und die Autor in die Schweizer
291
Kuns tdenkmäle r -Auto r innen und Vertreterinnen der gengebrachte Vertrauen und die gute Zusammen-
GSK in Liechtenstein b e g r ü s s e n . arbeit. E i n besonderer Dank fü r die zuver läss ige
Teamarbeit sei auch an den G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus
Biedermann gerichtet.
SONSTIGE TÄTIGKEITEN DER A U T O R I N
U m Datenmaterial wurde die K u n s t d e n k m ä l e r - A u -
torin von der SIKART-Redakt ion gebeten. S IKART
ist ein vom Schweizerischen Institut f ü r Kunstwis-
senschaft in Zür ich betreutes Online-Informations-
system zur Kunst i n der Schweiz und i m F ü r s t e n -
tum Liechtenstein. Es informiert ü b e r historische
und ze i tgenöss i sche Kunst und Künstler . A m 14.
Februar 2006 wurde die f inanziel l auch vom K u l -
turbeirat der Für s t l i chen Regierung u n t e r s t ü t z t e
SIKART Datenbank offiziel l aufgeschaltet unter
www.sikart .ch.
Im Berichtsjahr erfolgte zudem eine fruchtbare
Zusammenarbeit zwischen der Autor in und Leza
Dosch, Chur, der einen Ar t ike l ü b e r den F lüge la l ta r
aus der Kapelle St. Mamerten, Triesen, verfasste.
D a r ü b e r hinaus beriet die Autor in die Verfasserin-
nen und Verfasser von Art ike ln des Historischen
Lexikons FL, die in den Bereich der bisher bearbeite-
ten K u n s t d e n k m ä l e r des Oberlandes fielen.
Anläss l ich des Europa-Tags des Denkmals a m
17. September 2005 f ü h r t e K a r i n Hassler vom
Liechtensteiner Volksblatt, Ressort Inland, ein Ge-
s p r ä c h mit der Auto r in ü b e r die Neubearbeitung
der « K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s Liechten-
s te in» . Der Ar t ike l erschien unter dem Titel «In der
Schwarzen Reihe» und verzeichnete eine erfreuli-
che Resonanz aus der Bevö lke rung mit Hinweisen
und Anregungen fü r die Zukunft .
Triesen, 18. Februar 2006
KUNSTDENKMÄLER DES F Ü R S T E N T U M S
L I E C H T E N S T E I N
Dr. Cornel ia LIerrmann
ANSCHRIFT
Kunstdenkmäler des
Fürstentums Liechtenstein
c/o HVFL
Messinastrasse 5
Postfach 626
FL-9495 Triesen
Telefon 00423/236 75 38
Telefax 00423/236 75 48
E-Mail cherrmann@hvfl.li
DANK
Mein Dank gilt all denen, die mich im Berichtsjahr
in meiner Arbei t als Autor in u n t e r s t ü t z t haben. Ne-
ben den bereits oben genannten Institutionen und
Personen danke ich der T r ä g e r s c h a f t des Projektes,
dem Historischen Verein und seinem Vorstand, be-
sonders der Vorsitzenden des Historischen Vereins
und der Fachkommiss ion Eva Pepic f ü r das entge-
292
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2005
Vorarlberger Sprachatlas
mit Einschluss des Fürstentums
Liechtenstein
TÄTIGKEITSBERICHT 2005
Gleich nach Abschluss der Arbei t f ü r die i m März
2005 erschienene vierte Lieferung von Band V
(Wortgeographie II) begann ich mit dem Exzerpie-
ren der Originalmaterial ien und einer Nacherhe-
bung fü r die sechste und letzte Lieferung von Band
III. Hier mussten f ü r das umfangreiche Kapi te l
«Verben» die restlichen Karten angefertigt werden,
ebenso waren f ü r das Kapitel «Subs tan t iv» die mei-
sten Karten noch aufzuarbeiten.
Bei den behandelten Verben gibt es ebenfalls
Unterschiede in den liechtensteinischen Mundar -
ten, zum Beispiel kaascht i m Unter land und kascht
(mit Vokalkürze) i m Oberland f ü r «(du) k a n n s t » .
W ä h r e n d d e m es i m Unterland darf und messt
heisst fü r «(ich) darf, w ü s s t e » , lauten die entspre-
chenden Formen i m Oberland darf, wösst. Interes-
sant ist in Liechtenstein die F o r m moogend f ü r
«(wir, ihr, sie) m ö g e n » . In Triesenberg hielten sich
die umlautlosen Plural formen muassa f ü r « m ü s -
sen» , turfa f ü r « d ü r f e n » und chunna f ü r « k ö n n e n » .
W ä h r e n d m a n in ganz Liechtenstein (miar, iar, sie)
wend f ü r «(wir, ihr, sie) wol len» sagt, ist in Triesen-
berg die alte F o r m weld f ü r «(ihr) woll t», wand
«(wir, sie) wol len» beibehalten worden.
Beim Substantiv sind die Mundar ten des F ü r s -
tentums Liechtenstein hinsichtl ich der Morphologie
relativ einheitlich. Einige Unterschiede gibt es den-
noch: so lautet bei den Wochentagsnamen die E n -
dung -ta i m Unter land (Määnta «Montag» , Ziischta
«Dienstag») , w ä h r e n d d e m sie im Oberlauf auf -tig
lautet. Die Verkleinerungsendung -lein lautet i m
Unterland, in Vaduz, in Triesenberg und in Triesen
-Ii, i n den anderen Orten -le, w ä h r e n d d e m i n Trie-
senberg das romanische -elti (zum Beispiel Öpfelti
fü r «Äpfe lchen» , Vogelti f ü r «Vögelchen» , Negelti
fü r «Nägelchen») bewahrt geblieben ist, so wie dies
auch bei den Waisern in G r a u b ü n d e n der Fa l l ist.
Der Plural von « M a n n » heisst i m Unterland, in
Schaan und in Vaduz Meener, in Triesenberg Män-
ner sowie in Triesen und Balzers Menner.
Nach Erscheinen der sechsten Lieferung von
Band III wurde die f ü n f t e Lieferung von Band V be-
arbeitet. Grundlage h i e r f ü r war das Manuskr ipt
von Dr. Hubert Klausmann. Etliche Unklarheiten
konnten durch briefliche und telefonische Nachfra-
gen gek lä r t werden. In dieser Lieferung, die Ende
Januar 2006 erscheinen wi rd , konnte wieder in
grossem Umfang althergebrachter Wortschatz pu-
bliziert werden. Die grundlegenden Erhebungen
f ü r diesen Wortschatz machte ich vor 41 Jahren,
i m Jahr 1964. Dargestellt in dieser Lieferung ist
das Wortfeld buttern-Butter-Buttermilch-Butterkü-
bel-Butterbrot, in welchem die alten alemanni-
schen Bezeichnungen f ü r die Butter, Schmalz und
Anke, noch erhoben werden konnten. So ist f ü r das
Oberland das Verb angga f ü r « b u t t e r n » belegt,
w ä h r e n d d e m es im Unterland schmaalza hiess.
Angga und Schmalz s ind auch in den Komposi ta
Anggkübel und Schmalzkübel bewahrt. Unterschie-
de gibt es auch bei der Bezeichnung der «Kurbe l»
a m Butterfass: W ä h r e n d d e m sie Schwüarbel heisst
i m Unterland, sagt m a n Wörbel i m Oberland. Wei-
tere dargestellte Unterschiede zwischen Ober- und
Unterland sind zum Beispiel: Keefel f ü r «Kinn» i m
Unterland, w ä h r e n d d e m es i m Oberland Kimpaa
heisst; die «Weidenho lzpfe i fe» heisst im Unterland
Schalmeija, w ä h r e n d sie i m Oberland als Maja-
p f i i f f a bezeichnet w i r d , mit den Ausnahmen von
Triesenberg und Planken, wo m a n sie Sallapfiiffa
nennt. Der « W e b e r k n e c h t » heisst i m Unterland
Zimmermaa, w ä h r e n d d e m er im Oberland Wald-
schritter genannt wi rd . Abschl iessend wurden in
der 6. Lieferung noch einige Aust r iaz ismen karto-
graphisch dargestellt, wie zum Beispiel Kutza be-
ziehungsweise Kutzi f ü r die «Wolldecke». In diese
Kategorie fallen auch: Schräpfa (Unterland) und
Schräpfi (Oberland) f ü r die « B r e m s e am Leiterwa-
gen» sowie Klamperer beziehungsweise Klampen
f ü r den «Speng le r» . Heute noch verwendete W ö r t e r
wie Pföö f ü r den « F ö h n » , Tschoopa f ü r die «Män-
n e r j a c k e » , Pelz f ü r die « R a h m s c h i c h t auf der ge-
kochten Milch» oder kiiba f ü r « s c h i m p f e n » sind
ebenfalls kartographisch dargestellt worden.
293
A m 9. Dezember 2005 konnten die Korrekturen
der 5. Lieferung von Band V abgeschlossen und
nach Zür ich zur weiteren Bearbeitung (und Druck-
vorbereitung) gebracht werden. In der Zwischen-
zeit habe ich mit der Bearbeitung der 6. und letzten
Lieferung von Band V begonnen.
Wangen, 4. Januar 2006
V O R A R L B E R G E R S P R A C H A T L A S MIT E I N -
S C H L U S S D E S F Ü R S T E N T U M S L I E C H T E N S T E I N
Professor Dr. Eugen Gabriel
ANSCHRIFT
Vorarlberger Sprachatlas
mit Einschluss des Fürsten-
tums Liechtenstein
Flandernstrasse 13/1
D-88239 Wangen im Allgäu
Tel. 0049/7522/809 11
Fax 0049/7522/293 01
294
LIECHTEN-
STEINISCHES
L A N D E S M U S E U M
2005
296
Blick in die Sonderaus-
stellung «Die Welt der Iii
Kronstein»
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Jahresbericht 2005
«Zukunft ist Herkunft. Wenn wir uns unserer Her-
kunft nicht mehr erinnern, werden wir keine Zu-
kunft haben»
Hans-Georg Gadamer
STIFTUNGSRAT UND M U S E U M S -
KOMMISSION
Der Stiftungsrat, dessen Mandatsdauer im März
2006 zu Ende geht, hat an insgesamt fünf Sitzungen
getagt und dabei seine statutarischen Aufgaben
wahrgenommen. Neben grundlegenden museologi-
schen Sachfragen waren es in erster Linie personel-
le, finanzielle und innerbetriebliche Probleme, mit
denen sich der Stiftungsrat eingehend auseinander-
gesetzt hat. Ein besonderes Anliegen des Stiftungs-
rates war es, Gesetz und Statuten der Stiftung Liech-
tensteinisches Landesmuseum aus dem Jahre 1972
einer längst fälligen Neufassung zuzuführen. Dieser
Prozess wurde durch den in Aussicht gestellten Ein-
bezug des Postmuseums - bisher unter administra-
tiver Leitung des Amtes für Briefmarkengestaltung -
unter die Leitung des Liechtensteinischen Landes-
museums (ab 1. Januar 2006) vorerst eingestellt.
Die Museumskommission hat sich an zwei Sit-
zungen mit allgemeinen Museumsfragen und na-
mentlich mit Sammlungsankäufen und Themen
zukünftiger Sonderausstellungen und Aktivitäten
auseinandergesetzt. Die Mandatsdauer der bisheri-
gen Museumskommission endet ebenfalls im März
2006. Einer der massgebenden Diskussionspunkte
war der Ankauf der umfangreichen, nahezu tau-
send Objekte umfassenden Wachssammlung nach
Hubert Bühler, Eschen. Die gesamte Sammlung
wurde vom 4. bis 6. April 2005 zur konservatori-
schen, restauratorischen und wissenschaftlichen
Begutachtung in die Depots- und Werkstatträume
des Landesmuseums nach Triesen überführt. Die
Sammlung konnte mit Beiträgen aus dem laufenden
Budget des Landesmuseums und dank massiver fi-
nanzieller Unterstützung seitens des Kulturbeirates
der Fürstlichen Regierung und der International
Lottery in Liechtenstein Foundation angekauft wer-
den, wofür das Landesmuseum zu grossem Dank
verpflichtet ist.
Die Mandatsperiode des
bisherigen Stiftungsrats
geht 2006 zu Ende. Dem
Stiftungsrat gehörten für
die Jahre 2002 bis 2006
an: Edmund Banzer, Luise
Walser, Roland Hilti, Eva
Pepic (Präsidentin), Chris-
tel Hassler, Thomas Wil-
helm und Maria Marxer
(von links)
297
V E R W A L T U N G
Der administrative Aufwand wächst auch im Lan-
desmuseum von Jahr zu Jahr kontinuierlich. Dank
dem unermüdlichen Einsatz von Frau Nadja Burt-
scher, Verwaltungsassistentin des Liechtensteini-
schen Landesmuseums, war es möglich, auch im
Berichtsjahr die administrativen Abläufe ordnungs-
gemäss unter Kontrolle zu halten.
Mit grosser Umsicht wurden auch im Berichts-
jahr 2005 laufend infrastrukturelle und innerbe-
triebliche Optimierungen durchgeführt. Projekt und
Sonderkredit «Ausstellungen Liechtensteinisches
Landesmuseum» konnten auf Ende 2005 definitiv
abgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang
sei namentlich Michael Pattyn vom Hochbauamt für
die stets kollegiale, fachlich fundierte und ziel-
führende Zusammenarbeit gedankt.
Eine neue Herausforderung für die Museumslei-
tung liegt in der eingangs erwähnten Eingliederung
des Postmuseums in die Stiftung Liechtensteini-
sches Landesmuseum. Durch die Aufhebung des
Amtes für Briefmarkengestaltung, dem das Postmu-
seum bisher eingeliedert war, und die Überführung
Liechtensteinisches Aussenstelle
LandesMuseum Postmuseum
Die Signets des Liechten-
steinischen Landesmuse-
ums und des Postmuse-
ums, welches ab 1. Januar
2006 als Aussenstelle dem
Landesmuseum angeglie-
dert ist
der bisherigen Amtsgeschäfte in die Post AG, erfolg-
te die Neuzuteilung des Postmuseums und seiner
Sammlungen durch Entscheid von Regierung und
Landtag in die Verwaltung des Liechtensteinischen
Landesmuseums. Das Postmuseum wird inskünftig
als Aussenstelle des Liechtensteinischen Landes-
museums geführt, das Personal des Postmuseums
in den Personalbestand des Landesmuseums über-
nommen. Die administrative Leitung und Verwal-
tung erfolgt ab 1. Januar 2006 durch das Landes-
museum, die fachliche Betreuung des Postmuseums
liegt weiterhin bei Frau Erika Babare.
Wie so oft in den vergangenen Jahren, stand das
Landesmuseum für zahlreiche Anfragen mit Rat
und Tat hilfreich zur Seite, was wiederum in mehre-
ren Publikationen und Produktionen (Filme, Videos
etc.) seinen bleibenden Niederschlag gefunden hat.
Insbesondere das zwischenzeitlich sehr reichhalti-
ge Bildarchiv des Landesmuseums erfreut sich einer
stets steigenden Nachfrage, vor allem für Wissen-
schaft und Forschung.
Museumsleitung und Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter nahmen an zahlreichen Fachtagungen,
Weiterbildungskursen und Seminarien teil und
wirkten in vielfältigen kulturellen Kommissionen
und Projekten auch ausserhalb des Museums mit.
Im August 2005 wurde ein dreitägiges Seminar
für das Führungsteam mit dem Vertiefungsthema
«Schulklassen» unter der Leitung der Museums-
pädagoginnen Flavia Krogh, St. Gallen, und Regula
Frei, Zürich, durchgeführt.
Neben mehreren Publikationen in Fachzeit-
schriften versuchte die Museumsleitung in zahlrei-
chen Radiointerviews sowie mit Beiträgen und Inse-
raten in den Tageszeitungen die Öffentlichkeit zu in-
formieren und damit die Öffentlichkeitsarbeit effizi-
enter umzusetzen.
Mit Leihgaben aus seinen Sammlungsbeständen
war das Liechtensteinische Landesmuseum an der
Ferdinand-Nigg-Ausstellung unter dem Titel «Über
Kreuz mit der Welt. Ferdinand Nigg und Schüler.
Magdeburger Jahre 1903-1912», die vom 1. Juli bis
19. August 2005 im Forum Gestaltung in Magde-
burg zu sehen war, beteiligt. Die Magdeburger Aus-
stellung wird 2006 im Kunstmuseum Liechtenstein
298
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
gezeigt werden. Mehrere Sammlungsobjekte des
Landesmuseums bereicherten auch die Sonderaus-
stellung «Göttin, Hexe, Heilerin» im Küefer-Martis-
Huus in Ruggell vom 26. August 2005 bis 27. No-
vember 2005.
M U S E U M S P E R S O N A L
Das Landesmuseum arbeitete auch im Berichtsjahr
im Wesentlichen mit dem seit der Neueröffnung
2003 bestehenden Mitarbeiterstab. Einzig im Kas-
sa- und Aufsichtsdienst sind drei Aus- und ebenso
viele Neueintritte zu verzeichnen; näheres dazu ist
in der Personalübersicht im Anhang dieses Jahres-
berichtes zu finden. Den Aufsichtsdienst im Wohn-
museum Haus Nr. 12 in Schellenberg, einer Aus-
senstelle des Liechtensteinischen Landesmuseums,
verliess Frau Elisabeth Fischli auf 30. Juni 2005.
Ihren Dienst übernahm in der Folge Frau Hedy Bie-
dermann aus Schellenberg.
Fabienne Delarue, Balzers, und Walter Walser,
Vaduz, konnten im Berichtsjahr während jeweils
zwei Monaten als Ferialpraktikanten Einblick in die
vielseitige Museumsarbeit nehmen.
CHRONOLOGIE VON B E S U C H E N UND
V E R A N S T A L T U N G E N
Trotz zahlreicher Anlässe, Veranstaltungen und
Events verschiedenster Art hält sich der Besucher-
andrang in relativ bescheidenen Grenzen. Die Besu-
cherzahl bewegt sich im Rahmen des Vorjahres, sie
beläuft sich auf knapp 15 000. Es ist hier vielleicht
tröstend, sich an Roman Herzog zu erinnern, der
einmal sagte: «Je banaler, desto mehr Quote». Es
kann festgestellt werden, dass die speziellen Anläs-
se in der Regel sehr gut besucht sind, dass sich die
Besucherinnen und Besucher demzufolge auf
Events festlegen und dies dann mit einem Mu-
seumsrundgang verbinden. Überdies wurden im
Berichtsjahr mehr als hundertzwanzig geführte
Rundgänge durch die Dauerausstellungen wie
durch die Wechselausstellungen durchgeführt. Das
Echo vieler Besucherinnen und Besucher im Gäste-
buch ist nach wie vor sehr positiv und ermunternd,
wenn es etwa heisst: «We didn't expect that such a
small country has such a huge museum - worth to
see», oder ein Besucher aus Mexiko stellt fest: «Es
un pais pequero enterritorio, pero grande en cultu-
ra». «Beeindruckend, mit wie viel Sorgfalt und Liebe
Blick in das Postmuseum,
seit anfangs 2006 Aus-
senstelle des Liechtenstei-
nischen Landesmuseums
299
dieses Museum eingerichtet wurde», ist an anderer
Stelle zu lesen. Auch Meinungen von jugendlichen
Besuchern sind zu finden, zum Beispiel schreibt
Carla: «Also ich bin Carla und komme aus Ülzen
nahe an Hamburg. Mich entresieren [sie!] solche Sa-
chen. Heute war es Cooooool. Carla». An anderer
Stelle: «Das war ein supertoller Tag - voll cool. - Hey
do is voll cool!!!».
Über die bedeutendsten Ereignisse und Besuche
im Liechtensteinischen Landesmuseum gibt die von
Sven Beham, Leiter der Fachstelle Fotografie und
Dokumentation, betreute Homepage des Landes-
museums in Rückschau und Fotogalerie laufend ei-
nen aktuellen Einblick.
Bis zum 6. Februar 2005 zeigte das Liechtenstei-
nische Landesmuseum neben den Dauerausstel-
lungsbereichen zur Kultur- und Naturgeschichte
Liechtensteins und der Region die Sonderausstel-
lung «Über die Alpen. Menschen, Wege, Waren».
Im Rahmen dieser Ausstellung hielt Dr. Gudrun
Schnekenburger aus Konstanz, Archäologin und
massgebend am Konzept dieser ARGE-Alp-Ausstel-
lung beteiligt, am 28. Januar den Vortrag «Steinige
Äcker und Transitwege - Alpines Leben in alter
Zeit».
A m 30. Januar 2005 fand im Medienraum des
Landesmuseums ein ganz spezieller Anlass im Bei-
sein von Erbprinz Alois und Erbprinzessin Sophie
von und zu Liechtenstein mit Prinzessin Marie Caro-
line statt: «Thuro - Eine literarisch-musikalische
Aufführung». «Thuro» basiert auf dem prähistori-
schen Abenteuerroman «Die Jäger vom Thursee»
von Franz Heinrich Achermann, bearbeitet von Eva
Tobler und Martin Huber; dazu kam komponierte,
improvisierte und elektronische Musik von und mit
Ulrich Gasser, Jürg Lanfranconi und Gaudenz Ba-
drutt zur Aufführung. Der musikalisch-literarische
Abend war ein ganz besonderes Erlebnis für alle Be-
sucherinnen und Besucher.
A m 28. Februar 2005 statteten Vorstand und Mit-
glieder des Verbandes Museen der Schweiz (VMS /
AMS) dem Liechtensteinischen Landesmuseum ei-
nen Besuch ab. Auch hier rundeten kollegiale und
fachspezifische Gespräche den Rundgang durch die
Ausstellungen ab.
Vom 14. bis 16. April 2005 fand im Landesmuse-
um die Fachtagung «Schädlinge an Sammlungsgut.
Tierische Schädlinge, Pilze, Schimmel. Erkennen,
Bekämpfen» für Konservatoren und Restauratoren
statt. Bestens organisiert von Thomas Müssner, Re-
staurator des Liechtensteinischen Landesmuseums,
und Peter Niederklopfer, Präparator der Naturkund-
lichen Sammlung, wurde die Tagung mit zwanzig
Teilnehmerinnen und Teilnehmern vom Fachexper-
ten Dozent Dr. MH Bernd Hering vom Institut für Re-
staurierung und Archäometrie in Fürth (Deutsch-
land), gehalten.
300
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Am 2. Mai 2005 fand ein Besuch des luxemburgi-
schen Justiz- und Schatzministers Luc Frieden mit
Begleitung im Liechtensteinischen Landesmuseum
statt. Die Führung durch unser Haus übernahm Ar-
thur Brunhart.
Der Museumsleiter Norbert W. Hasler führte am
3. Mai 2005 Barbara Hendricks, Parlamentarische
Staatssekretärin beim Bundesminister der Finan-
zen der Bundesrepublik Deutschland, mit Vertre-
tern der Regierung und des Protokolls durch die
Ausstellungen.
Im Rahmen einer Exkursion des Fachkolloqui-
ums «Geschichte im Museum» vom 3. Mai 2005
führte Professor Roger Sablonier, Zürich, der in den
Jahren 1999 bis 2002 massgeblich an der Konzept-
entwicklung der Dauerausstellungen des Liechten-
steinischen Landesmuseums mitgewirkt hat, zahl-
reiche Studentinnen und Studenten der Universität
Zürich nach Vaduz. Nach einem Rundgang fand
eine sehr lebhafte Diskussion mit der Museumslei-
tung über museale und museologische Fragen und
Zusammenhänge statt.
Am 24. Mai 2005 tagten rund hundert Personen
von Rotary International Italien, Schweiz, Liechten-
stein, San Marino und Albanien im Landesmuseum,
verbunden mit Führungen durch sämtliche Ausstel-
lungen.
Vom 23. bis 27. Mai 2006 fand der Aufbau der
Sonderausstellung «Die Welt der Iii Kronstein» in
den Wechselausstellungsräumen des Landesmu-
seums statt. Die von Arthur Brunhart, wissenschaft-
licher Mitarbeiter des Landesmuseums, kuratierte
Ausstellung fand in enger Zusammenarbeit mit dem
Jüdischen Museum Wien und den Töchtern von Iii
Kronstein, Professorin Gerda Lerner, Wisconsin-
Madison, USA, und Nora Kronstein-Rosen, aus Kir i -
at Ono bei Tel Aviv, Israel, statt. Die Ausstellung war
der Beitrag des Landesmuseums zum Gedenkjahr
2005 «60 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs». Die
Ausstellungsgestaltung leitete Architekt Christian
Prasser aus Wien.
In Anwesenheit von Fürst Hans-Adam II. von und
zu Liechtenstein, Landtagspräsident Klaus Wanger,
Regierungschef Otmar Hasler, Professorin Gerda
Lerner, USA, Nora und Alex Kronstein-Rosen aus Is-
Arthur Brunhart (rechts),
der stellvertretende Leiter
des Liechtensteinischen
Landesmuseums, führte
den luxemburgischen Jus-
tiz- und Schatzminister Luc
Frieden und dessen Beglei-
tung durch das Landesmu-
seum
Anlässlich der Eröffnung
der Sonderausstellung
«Die Welt der Iii Kron-
stein»: Norbert W. Hasler,
Fürst Hans-Adam IL,
Gerda Lerner, Ausstel-
lungsgestalter Christian
Prasser, Nora Kronstein-
Rosen und Arthur Brun-
hart (von links)
301
rael sowie zahlreicher in- und ausländischer Gäste
wurde die Ausstellung am 31. Mai 2005 feierlich
eröffnet. Sie dauerte bis 6. November 2005. Viele
Gäste des Landesmuseums waren nach dem Besuch
dieser tiefgründigen und anspruchsvollen Ausstel-
lung von Leben und künstlerischem Werk der Iii
Kronstein und ihrer beiden Töchter berührt und be-
troffen. Die Welt der Iii Kronstein umfasst viele Fa-
cetten. Die Ausstellung zeigte Werke, Persönlichkeit
und Biographie dieser jüdischen Künstlerin aus
Wien. Zusammen mit ihren Töchtern Gerda und
Nora floh sie nach dem «Anschluss» Österreichs an
das Deutsche Reich 1938 vor den Nationalsozialis-
ten in das Fürstentum Liechtenstein. Dort führte ihr
Mann Robert Kronstein seit 1932 die «Franziskus-
Apotheke». In Vaduz blieb Iii Kronstein nur einige
Einblicke in die Sonderaus-
stellung «Die Welt der Iii
Kronstein», die im Landes-
museum vom 31. Mai bis
6. November 2005 zu
sehen war
Monate. Dann fing sie ohne ihre Familie in Süd-
frankreich ein neues Leben an, in dem sie sich nur
noch mit ihrer Kunst auseinandersetzen wollte. Die
Ausstellung zeigte Werke aus den spannungsgela-
denen Jahren 1938 bis 1943. Die Bilder Kronsteins
demonstrieren die rasante künstlerische Entwick-
lung, welche die Schülerin von Johannes Itten in
diesen wenigen Jahren genommen hat. 1941 er-
krankte Iii Kronstein, 1943 zeichnete sie ihre letzten
Werke, 1948 starb sie in Zürich. Immer wieder war
sie nach Vaduz zurückgekehrt. Die Tochter Gerda
wanderte von Vaduz nach Amerika aus. Sie lebt seit
1939 in den USA und gilt heute als Pionierin und Be-
gründerin der Frauengeschichtsschreibung. Nora
blieb längere Zeit bei ihrem Vater in Liechtenstein.
Seit den 1960er Jahren lebt sie in Israel und ist eine
renommierte Textildesignerin und bildende Künst-
lerin. Auch von Nora Kronstein waren einige Arbei-
ten in der Ausstellung im Landesmuseum zu sehen.
Die Museumskommission des Naturhistorischen
Museums der Burgergemeinde Bern besuchte am
10. Juni 2005 das Liechtensteinische Landesmuse-
um, organisiert von Michael Fasel und Peter Nieder-
klopfer vom Amt für Wald, Natur und Landschaft.
Neben einer Einführung in das Museums- und Aus-
stellungskonzept durch den Museumsleiter, der Vor-
stellung der konzeptionellen Grundlagen des natur-
kundlichen Bereiches und der Naturkundlichen
Sammlung, dem Präparatorium und der Natur-
kundlichen Forschung in Liechtenstein durch M i -
chael Fasel, standen ein Rundgang durch die Aus-
stellungen sowie ein reger Gedankenaustausch im
Zentrum des Programms.
A m 15. und 16. Juni 2005 weilte eine hochrangi-
ge Kulturdelegation aus der Volksrepublik China,
angeführt von Frau Jiao Zhanglan, Generaldirekto-
rin des Kultur-Departements des staatlichen Post-
büros in Peking, anlässlich der Präsentation der Ge-
meinschaftsbriefrnarken zwischen China und Liech-
tenstein im Fürstentum und stattete bei dieser Gele-
genheit dem Landesmuseum einen Besuch ab. Der
Museumsleiter war zu Gesprächen und Begegnun-
gen mit den Gästen aus China eingeladen.
Das Organisationskomitee «200 Jahre Souverä-
nitiät Liechtenstein 1806 - 2006», dem Arthur Brun-
302
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
hart als Vertreter des Landesmuseums angehört,
hielt am 24. Juni 2005 seine erste Pressekonferenz
im Liechtensteinischen Landesmuseum ab und
stellte die für 2006 geplanten Projekte vor.
Am 26. Juni 2005 wurde im Rahmen einer Ma-
tinee-Feier in einem zum Bersten gefüllten Medien-
raum des Liechtensteinischen Landesmuseums des
Bildhauers Engelbert Ospelt (1917-2002) aus Vaduz
gedacht. Bei diesem Anlass wurden die Publikation
«Der Stein formt auch den Menschen. Engelbert Os-
pelt, Bildhauer» - u.a. mit einem Beitrag des Mu-
seumsleiters Norbert W. Hasler - sowie ein Filmpor-
trät über Engelbert Ospelt von Sebastian Frommelt
einem interessierten Publikum vorgestellt.
Am 29. Juni 2005 präsentierte Aniko Risch ihre
interessante und neuartige Darstellung des Liech-
tensteinischen Landesmuseums im Internet, eine
Diplomarbeit zum Abschluss ihres Studiums an der
Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern,
welche die virtuelle Kulturvermittlung im Landes-
museum zum Thema hat. Die Museumsleitung hofft
auf einen Sponsor, um diese hervorragende Arbeit
in die Tat umsetzen und die Inhalte in die Homepage
des Landesmuseums www.llm.li einbringen und
laufend betreuen zu können.
Am 15. August, dem Staatsfeiertag in Liechten-
stein, war das Liechtensteinische Landesmuseum bei
freiem Eintritt zu besuchen, wovon mehr als 500
Besucherinnen und Besucher Gebrauch machten.
Das Museum bot Führungen durch die Ausstellun-
gen und ein durchgehend betreutes museumspä-
dagogisches Kinderprogramm an.
Die Regierungen des Fürstentums Liechtenstein
und des Kantons Appenzell-Ausserrhoden statteten
am 23. August 2005 dem Liechtensteinischen Lan-
desmuseum einen Besuch ab. Die Führung durch
die Ausstellungen leitete Norbert W. Hasler.
Am 5. September 2005 wurde in einer Medien-
orientierung im Landesmuseum die breite Palette
des Führungsangebotes des Landesmuseums vor-
gestellt. Ein eigens edierter, von Sven Beham gestal-
teter Flyer «Zu Gast im Liechtensteinischen Landes-
Museum» gibt allen Interessierten Einblick in
Führungen, Angebote und Anlässe, die im Museum
möglich sind.
Am 14. September 2005 fand die rege besuchte
Mitgliederversammlung der Gesellschaft Schweiz-
Liechtenstein im Medienraum des Landesmuseums
statt. Unter anderem gab der Museumsleiter eine
Einführung in die Ausstellungen und das Museums-
konzept, das für die Neueröffnung des Landesmu-
seums 2003 umgesetzt wurde. Ein freier Rundgang
durch die Ausstellungen mit anschliessendem Apero
beschloss diesen Anlass.
Im Medienraum und Foyer des Landesmuseums
wurde am 15. September 2005 die bemerkenswerte
und viel beachtete Sonderausstellung «Gletscher im
Treibhaus. Eine fotografische Zeitreise in die alpine
Eiswelt», ein Projekt des Liechtensteinischen Lan-
desmuseums und der CIPRA Liechtenstein sowie
zahlreicher weiterer liechtensteinischer Umweltor-
ganisationen eröffnet. Das Bildmaterial wurde von
der Gesellschaft für ökologische Forschung e.V.
München zur Verfügung gestellt. Im Rahmen der
Ausstellungseröffnung konnte der Dokumentarfilm
«Das Ende der Gletscher» in Anwesenheit des re-
nommierten Filmemachers Uwe Müller aus Bre-
men erstmals aufgeführt werden. Die Ausstellung
Der neue, von Museums-
fotograf Sven Beham
gestaltete Museumsflyer
303
Anlässlich der Eröffnung
der Ausstellung «Gletscher
im Treibhaus»: Filmema-
cher Uwe Müller, LGU-
Geschäftsführerin Regula
Mosberger und Museums-
leiter Norbert W. Hasler
Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter von Landesmuse-
um, Archäologie und Amt
für Wald, Natur und Land-
schaft am Wandertag in
den Liechtensteiner Alpen
mit einem interessanten Rahmenprogramm von
Vorträgen und Exkursionen dauerte bis zum 9. Ok-
tober 2005.
Überdies wurde ein breites museumspädagogi-
sches Angebot entwickelt, das von den Schulen des
Landes erfreulicherweise rege genutzt wurde.
Am 16. September 2005 wurde im Landesmuse-
um der Europa-Tag des Denkmals mit einer Anspra-
che von Frau Regierungsrat Rita Kieber-Beck und
dem viel beachteten Vortrag des Burgenforschers
Dr. Heinrich Boxler «Von Burg zu Burg im Fürsten-
tum ...» eröffnet. Der folgende Tag war der Burg
Gutenberg in Balzers gewidmet, verbunden mit ei-
nem aufwendigen und stark frequentierten Mittelal-
ter-Spektakel «Minnesang und Wanzentanz», an
dem u. a. auch Arthur Brunhart und Sven Beham
vom Liechtensteinischen Landesmuseum aktiv mit-
wirkten.
Eine von Michael Fasel vorbereitete und geführte
Wanderung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Landesmuseums, der Fachstelle Archäologie
und des Amtes für Wald, Natur und Landschaft
diente nicht nur der Kollegialität und Freundschaft,
der Festigung der seit Jahren bestehenden Zusam-
menarbeit zwischen diesen sich ergänzenden Insti-
tutionen, sie zeigte auch landschaftliche, natur-
kundliche, geologische, geographische und histori-
sche Zusammenhänge, die in dieser Art und Weise
in keinem Museum gezeigt werden können. Die
Wanderung führte am 23. September 2005 von Steg-
Sücka über den Dürraboda zum Krüppelhüttie, weiter
auf den Heubühl, aufs Kulmi, aufs Gapfahler Obersäss
nach Gapfahl, weiter über den Schwarzen Sand auf
das Triesenberger Alple und zurück zur Sücka.
Erstmals beteiligte sich das Landesmuseum am
8. Oktober 2005 an der vom ORF organisierten
«Langen Nacht der Museen». Ein eigens erarbeite-
tes, vielfältiges Rahmenprogramm wurde angebo-
ten und mit rund fünfhundert Besuchen - vielen aus
Vorarlberg und der Schweiz - reichlich genutzt.
Auf dem Programm standen Führungen durch
die Dauerausstellungen wie durch die Sonderaus-
stellungen «Die Welt der Iii Kronstein» und «Glet-
scher im Treibhaus». Im Foyer des Landesmuseums
begegneten die Besucher «heimlichen Eulen und
304
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
komischen Käuzen». Peter Niederklopfer und M i -
chael Fasel zeigten Präparate aller einheimischen
Eulen und Käuze, verbunden mit Informationen
über Lebensart und Lebensraum dieser beein-
druckenden Vogelwelt.
Im Verlaufe der «Langen Nacht der Museen» wa-
ren zwei Konzerte mit klassischer Musik des Gitar-
renquartetts «Quattro Stagioni» zu hören. In unge-
wöhnlichem Rahmen, im offenen Loggiaraum des
Landesmuseums, erzählte Katja Langenbahn Kin-
dern und Erwachsenen «Sagen aus Liechtenstein».
Im Medienraum wurde der Dokumentarfilm «Das
Ende der Gletscher» von Uwe Müller vorgeführt. Ein
Wettbewerb sowie ein Imbiss-Büffet in der Cafeteria
erwiesen sich als willkommene Ergänzungen zum
reichhaltigen Programm.
Ebenso war das Landesmuseum erstmals Part-
ner mit dem Kunstmuseum Liechtenstein, dem
Kunstraum Engländerbau und dem Theater am
Kirchplatz in Schaan im Projekt «Liechtensteiner
Familientag», der am 23. Oktober 2005 durchge-
führt wurde. Über beide Anlässe wurde am 18. Ok-
tober 2005 in einer gemeinsamen Pressekonferenz
im Kunstmuseum Liechtenstein orientiert.
Der Schwerpunkt der Aktivitäten des Liechten-
steinischen Landesmuseums zu diesem Familientag
lag im Bereich der Archäologie. Begleitet von Ar-
chäologinnen und Archäologen konnten sich die Be-
sucherinnen und Besucher an einer nachgestellten
Grabung aktiv auf Spurensuche begeben, wurden in
die archäologischen und anthropologischen For-
schungsarbeiten eingeführt und lernten die akribi-
sche Arbeit der archäologischen Restauration näher
kennen. Es war beeindruckend zu erleben, mit wel-
chem Eifer und Elan die vorwiegend «jungen Ar-
chäologen und Forscher» zu Werke gingen. Eine
Ausstellung der bearbeiteten Fundstücke in Vitri-
nen im Foyer bildete den krönenden Abschluss der
Tätigkeit der künftigen Wissenschaftler. Ein herzli-
cher Dank gebührt dem gesamten archäologischen
Team für die Vorbereitung und Durchführung dieses
Familientages, der für viele Besucherinnen und Be-
sucher von nachhaltiger Wirkung war.
Am 27. Oktober 2005 begann mit dem Vortrag
von lic. phil. Esther Tisa Francini über «Liechten-
Impressionen von der
«langen Nacht der Mu-
seen» sowie vom Familien-
tag
305
Peter Geiger (rechts), hier Das Landesmuseum
im Gespräch mit Arthur beteiligte sich am Tag der
Brunhart, referierte am offenen Tür, an dem das
1. Dezember 2005 im Regierungsviertel am 26.
Landesmuseum zu den November 2005 für
Forschungsergebnissen Besucherinnen und
der Unabhängigen Histori- Besucher offen stand. Hier
kerkommission Liechten- im Bild führt Walter Walch
stein Zweiter Weltkrieg durch die Sonderausstel-
lung «100 Jahre Regie-
rungsgebäude», welche
Pläne und Modelle ver-
schiedener Bauprojekte im
Regierungsviertel zeigte.
stein und der internationale Kunstmarkt 1933-
1945» eine fünfteilige Vortragsreihe über die Ergeb-
nisse der Tätigkeit der Unabhängigen Historiker-
kommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg (UHK),
deren Mitglied und Vizepräsident Arthur Brunhart
vom Liechtensteinischen Landesmuseum war. Es
folgten am 3. November 2005 die Vorträge von lic.
phil. Ursina Jud, «Liechtenstein und die Flüchtlinge
zur Zeit des Nationalsozialismus», am 10. Novem-
ber 2005 von Dr. Hanspeter Lussy, «Finanzbezie-
hungen Liechtensteins zur Zeit des Nationalsozialis-
mus», am 17. November 2005 von lic. phil. Veronika
Marxer, «Liechtensteinische Industriebetriebe und
die Frage nach der Produktion für den deutschen
Kriegsbedarf 1939-1945». Den Abschluss dieser
Vortragsreihe, die teilweise mit vorangehenden
Führungen durch die Ausstellung «Die Welt der Iii
Kronstein» verbunden war, bildete der bemerkens-
werte Vortrag von PD Dr. Peter Geiger, Präsident der
UHK, am 1. Dezember 2005 zum Thema «Unabhän-
gige Historikerkommission: Gesamtfazit, zeitgenös-
sischer Kontext, internationaler Vergleich».
Ein Besuch der Museumskommissionen des Kan-
tonsmuseums Aarau im Liechtensteinischen Lan-
desmuseum fand am 29. Oktober 2005 statt. Nach
einem Rundgang durch die Ausstellungen erläuterte
der Museumsleiter das seinerzeitige Bau- und Aus-
stellungskonzept des Landesmuseums.
Am 7. November 2005 weilte Regierungsrat Dr.
Martin Meyer mit der Direktion des Bundesamtes
für Gesundheit, Bern, im Liechtensteinischen Lan-
desmuseum und liess sich von Arthur Brunhart
durch die Ausstellungen führen.
Am 9. November 2005 stattete eine Militärdele-
gation, die Vereinigung der Instruktoren und Ange-
stellten am Infanterie-Ausbildungszentrum Walen-
stadt, unter Führung von Oberst Max Crivelli dem
Landesmuseum einen Besuch ab und liess sich
durch die Ausstellungen führen. Sie trugen sich wie
folgt ins Gästebuch ein: «Avec nos plus sinceres re-
merciements pour cette tres instructive visite. L h i -
stoire ne connait pas de frontiere».
Am 26. November 2005 stand auch das Landes-
museum als Teil des historischen Regierungsviertels
im Zentrum des Projektes «100 Jahre Regierungs-
306
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
gebäude - Tag der offenen Tür im Regierungsviertel
in Vaduz». Das Landesmuseum zeigte aus diesem
Anlass im Foyerraum eine Ausstellung von Plänen
und Modellen verschiedener Bauprojekte im Regie-
rungsviertel.
Das Landesmuseum beging in aller Bescheiden-
heit den zweiten Jahrestag nach der Neueröffnung
des Museums vom 29. November 2003. So war es
am Wochenende vom 26. und 27. November 2005
bei freiem Eintritt zu besuchen. Im Medienraum
wurde der 2005 realisierte Dokumentarfilm über
das Regierungsviertel von Norbert Jansen und Da-
niel Schierscher unter Mitarbeit des Landesmu-
seums, des Landesarchivs und weiterer Institutio-
nen dem interessierten Publikum gezeigt.
Am 2. Dezember 2005 konnte der Museumsleiter
Norbert W. Hasler zahlreiche Gäste aus dem In- und
Ausland, darunter Fürstin Marie von und zu Liech-
tenstein, zur Eröffnung der Sonderausstellung «Im
Schutze mächtiger Mauern. Spätrömische Kastelle
im Bodenseeraum» begrüssen. Ausführungen von
Frau Regierungsrat Rita Kieber-Beck, Kulturministe-
rin des Fürstentums Liechtenstein, Dr. Jörg Heilig-
mann, Leiter des Archäologischen Landesmuseums
Baden-Württemberg, Konstanz, und ein Vortrag von
Dr. Timo Hembach, wissenschaftlicher Mitarbeiter
des Archäologischen Landesmuseums Baden-Würt-
temberg, Konstanz, und Kurator der Ausstellung,
rundeten das Eröffnungsprogramm ab.
Die Ausstellung, ein Projekt des Liechtensteini-
schen Landesmuseums, des Archäologischen Lan-
desmuseums Baden-Württemberg, des Amtes für
Archäologie des Kantons Thurgau und des Vorarl-
berger Landesmuseums zeigt neben Modellen eine
Fülle spätantiker Funde aus Kastellen und spätrö-
mischen Höhensiedlungen des Bodenseeraums. Die
Ausstellung dauert bis 7. Mai 2006.
Bereits zum dritten Mal seit der Neueröffnung lud
das Liechtensteinische Landesmuseum am 10. De-
zember 2005 zum Hauskonzert im Barocksaal des
Museums ein mit Einbezug des historischen Orgel-
positivs aus dem 17. Jahrhundert. Zur Aufführung
durch das bewährte Ensemble mit Josef, Helga und
Clarissa Frommelt, Thomas Dünser und Maciej
Zborowski an der Orgel gelangten Werke von Jo-
Anlässlich der Eröffnung
der Sonderausteilung «Im
Schutze mächtiger Mau-
ern. Spätrömische Kastelle
im Bodenseeraum»: Timo
Hembach, Fürstin Marie,
Jörg Heiligmann, Norbert
W. Hasler und Hansjörg
Frommelt (oben); weitere
Einblicke in die Sonderaus-
stellung
307
hann Abraham Schmikerer, Georg Philipp Tele-
mann, Girolamo Frescobaldi, Antonio Caldara, Gio-
vanni Battista Bononcini, Carlo Tessarini, Benedetto
Marcello, Giacomo Carissimi und Francesco Manci-
ni. Erstmals begeisterte die Sopranistin Celia Längle
das zahlreich erschienene Publikum mit ihrer ge-
sanglichen Interpretation. Dank einem Mitschnitt
wird auch dieses Konzert auf CD erscheinen.
Dank einem reichhaltigen Angebot unterschied-
lichster Veranstaltungen ist die Institution Liechten-
steinisches Landesmuseum für viele ein geschätzter
und gerne besuchter Ort der Begegnung geworden.
M U S E U M S P Ä D A G O G I K
Der professionellen Vermittlung von Inhalten eines
Hauses kommt heute in der Museumswelt immer
mehr Bedeutung zu. Die nachhaltige Vermittlung
von Ausstellungsinhalten wird neben entsprechen-
den Publikationen in erster Linie durch fachkundi-
ge, auf die jeweilige Gruppe ausgerichtete Führun-
Am 10. Dezember 2005
fand im Barocksaal des
Landesmuseums ein
Konzert unter Einbezug
des Orgelpositivs aus dem
17. Jahrhundert statt. An
der Orgel spielte Maciej
Zborowski (Bild)
gen und gruppenspezifische Veranstaltungen wie
Workshops u.a. erreicht. Auch in diesem Bereich
hat die Museumsleitung im Berichtsjahr eigene Pro-
jekte vorbereitet und umgesetzt. Am 8. und 11. Au-
gust 2005 wurden die bereits 2004 auf grosse Reso-
nanz gestossenen Projekte des Kindersommers
«Von Fröschen und Prinzessinnen» und «Igelsta-
cheln und Samtkleider» durch die Museumspädago-
ginnen Regula Frey und Flavia Krogh wiederholt.
A m 15. August 2005 betreute Ingeborg Hilty mit
einem abwechslungsreichen Angebot zahlreiche
Kinder bei ihrem Besuch im Liechtensteinischen
Landesmuseum.
An mehreren Nachmittagen im September und
Oktober 2005 brachten die Museumspädagoginnen
Dr. Nicole Ohneberg und Judith Näscher auf spiele-
rische Weise zahlreichen Kindern und Jugendlichen
«Die Welt der Iii Kronstein» näher.
Zum Abschluss des Jahresprogramms wurde am
11. Dezember 2005 das Kindertheater «Das Weih-
nachtsmonster - Ein Märchen für die ganze Fami-
lie» von Stephan Teuwissen wiederholt.
PUBLIKATIONEN
Im Juni 2005 erschien der reich illustrierte Jahres-
bericht 2004 des Landesmuseums im Jahrbuch des
Historischen Vereins für das Fürstentum Liechten-
stein, ergänzt durch einen Beitrag «Liber Regni Ve-
getabilis - Der Codex Liechtenstein» von Norbert W.
Hasler. Dem Historischen Verein sei für das dem
Landesmuseum seit vielen Jahren gewährte Gast-
recht zur Publikation seines Jahresberichtes an die-
ser Stelle sehr herzlich gedankt.
Zur Sonderausstellung «Die Welt der Iii Kron-
stein» erschien eine gleichnamige, 60 Seiten umfas-
sende Publikation mit Beiträgen von David Bankier,
Arthur Brunhart, Elke Doppler, Werner Hanak und
Nora Kronstein-Rosen.
Am 22. Oktober 2005 wurde der von Gudrun
Schnekenburger, Konstanz, verfasste, von Hansjörg
Frommelt, Triesen, redigierte und von Hans Peter
Gassner, Vaduz, gestaltete Kinderführer durch die
Dauerausstellungen des Liechtensteinischen Lan-
308
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
desmuseums mit dem Titel «Bärenzahn und Inter-
net» der Presse vorgestellt. Allen am Projekt Betei-
ligten sei für die intensive Arbeit herzlich gedankt.
«Im Schutze mächtiger Mauern. Spätrömische
Kastelle im Bodenseeraum» ist auch der Titel der
116 Seiten umfassenden Begleitpublikation zur
gleichnamigen Ausstellung, unter anderem mit Bei-
trägen von Mag. Ulrike Mayr, herausgegeben von
Norbert W. Hasler, Jörg Heiligmann, Markus Hönei-
sen, Urs Leuzinger und Helmut Swozilek.
S A M M L U N G E N
Auf dem weiten Gebiet der Museumssammlungen
konnten auch im Berichtsjahr wieder einige Lücken
geschlossen werden. Verschiedene Sammlungs-
komplexe haben Eingang in die Museumssammlun-
gen gefunden, so dass sich die Objektzahl auf mehr
als 2 500 Neuzugänge beläuft.
Die Gemeinde Vaduz hob ihre bisherige Kultur-
gütersammlung auf, die vorwiegend aus landwirt-
schaftlichen Gerätschaften und Objekten der A l l -
tagskultur bestand. Eine grosse Anzahl dieser Ob-
jekte wurde vom Liechtensteinischen Landesmuse-
um in seine Depotsammlung übernommen.
Von privater Seite gelangten zwei umfangreiche
Sammlungen von so genannten Andachtsbildchen,
zum Teil kostbare Spitzenbildchen aus dem 18. und
19. Jahrhundert, als Schenkung zum Landesmuse-
um. Ebenso konnte der Sammlungsbereich von An-
sichtskarten durch gezielte Ankäufe und Schenkun-
gen ausgebaut werden. An Ankäufen sind vor allem
das Gemälde «Balzers, Blick nach Westen» des Vor-
arlberger Malers Martin Häusle (1956), Grafiken
und kartograflsche Blätter zu erwähnen.
Die im Apri l 2005 übernommene Wachssamm-
lung nach Hubert Bühler, Eschen, stellt wohl den
bedeutendsten Neuzugang in die Museumssamm-
lungen dar. Genaue Untersuchungen zeigten jedoch
einen starken Schimmelbefall der Sammlung auf,
was umfassende konservatorische und restaurato-
rische Massnahmen bedingt. Nach gründlichen Ab-
klärungen des Schadensbefalls und Analysen von
Schimmelproben entwickelte Thomas Müssner, Re-
staurator beim Landesmuseum, zusammen mit Dr.
Im Berichtsjahr 2005
erschienene Publikationen
des Liechtensteinischen
Landesmuseums: links
Einführungen in die
Sonderausstellungen «Im
Schutze mächtiger Mau-
ern. Spätrömische Kastelle
im Bodenseeraum» und
«Die Welt der Iii Kron-
stein», in der Mitte der
Jahresbericht 2004 und
rechts der unter dem Titel
«Bährenzahn und Inter-
net» erschienene Kinder-
führer durch die Daueraus-
stellungen
309
MH Bernd Hering aus Fürth eine Methode auf der
Basis einer konzentrierten Alkohollösung zur Behe-
bung des Schimmelbefalls mit gleichzeitiger scho-
nender Objektreinigung, die in den eigenen Werk-
statträumlichkeiten durchgeführt werden kann.
Die Durchführung der konservatorischen Massnah-
men zur Schadensbehebung und Restaurierung der
knapp tausend Sammlungsobjekte werden rund zwei
Jahre Arbeit in Anspruch nehmen. Ein Querschnitt
durch die Sammlung wird anschliessend in einer
Sonderausstellung gezeigt werden.
A U S S E N S T E L L E W O H N M U S E U M
S C H E L L E N B E R G
Das Wohnmuseum Haus Nr. 12 in Schellenberg,
eine Aussenstelle des Liechtensteinischen Landes-
museums, konnte im Berichtsjahr rund 500 Besu-
cherinnen und Besucher verzeichnen, bestens be-
treut durch Hedi Biedermann, Elisabeth Fischli und
Claudia Hürlimann, die auch zahlreiche Gruppen
bei ihrem Rundgang begleiteten.
Das Wohnmuseum ist von April bis Oktober 2006
jeweils wieder am ersten und letzten Sonntagnach-
mittag für Besucherinnen und Besucher zur Besich-
tigung geöffnet.
Im November 2005 wurden sämtliche Innenräu-
me des Gebäudes einer Spezialbehandlung gegen
Schädlingsbefall durch Samuel Götsch, Firma Holz-
schutz, Birmensdorf, unterzogen.
A U S B L I C K A U F 2006
Die Dauerausstellungen zur Kultur- und Naturge-
schichte Liechtensteins und der Region sind das
zentrale Element des Liechtensteinischen Landes-
museums. Ergänzende Ausstellungen und Anlässe
sind auch für das Jahr 2006 geplant.
Bis zum 7. Mai 2006 dauert die Sonderausstel-
lung «Im Schutze mächtiger Mauern. Spätrömische
Kastelle im Bodenseeraum».
Im März 2006 wird die von Arthur Brunhart be-
arbeitete und redigierte Chronik des Johann Georg
Heibert - ein Projekt des Liechtensteinischen Lan-
desmuseums und der Gemeinde Eschen - vorge-
stellt werden.
Im Rahmen der Heimatkundeausstellung «Die
Primarschüler entdecken Liechtenstein» wird auch
das heimatkundliche Lernspiel «Liechtenstein - un-
ser Land», herausgegeben vom Liechtensteinischen
Landesmuseum und dem OK «200 Jahre Souverä-
nität Fürstentum Liechtenstein 1806-2006», er-
scheinen. Auf spielerische und unterhaltsame Weise
soll das Land Liechtenstein mit insgesamt 667 Fra-
gen und 2668 Antworten näher kennen gelernt wer-
den. Das Projekt wird mit einem namhaften finanzi-
ellen Beitrag der Karl Mayer-Stiftung unterstützt,
wofür die Herausgeber zu grossem Dank verpflich-
tet sind.
Im Juni 2006 wird die Sonderausstellung «Mei-
lensteine der Souveränität» im Landesmuseum er-
öffnet werden. Sie dauert bis Mitte Oktober 2006.
Im September 2006 folgt mit der Ausstellung
«Prof. Ferdinand Nigg als Sammler» im Liechten-
steinischen Landesmuseum eine Ergänzung zur
Sonderausstellung «Über Kreuz mit der Welt. Ferdi-
nand Nigg und Schüler. Magdeburger Jahre 1903-
1912», die zeitgleich im Kunstmuseum Liechten-
stein stattfinden wird.
Auch 2006 wird sich das Liechtensteinische Lan-
desmuseum wieder an den Projekten «Lange Nacht
der Museen» sowie «Liechtensteiner Familientag»
beteiligen, die voraussichtlich im Oktober stattfin-
den werden.
Den Abschluss des Ausstellungsprogramms 2006
bildet die Sonderausstellung «Ötzi - Cultour», eine
310
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Wanderausstellung des Südtiroler Archäologiemu-
seums Bozen, die am 7. November 2006 eröffnet
wird.
DANK
Die Museumsleitung bedankt sich für die zielfüh-
rende Zusammenarbeit im abgelaufenen Jahr bei
der Fürstlichen Regierung und zahlreichen Amts-
stellen der Landesverwaltung, insbesondere der
Stabstelle für Kulturfragen, beim Kulturbeirat der
Fürstlichen Regierung, beim Stiftungsrat und den
Mitgliedern der Museumskommission und den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern des Liechtensteini-
schen Landesmuseums sowie dem Team Museums-
führungen. Ein besonderer Dank gebührt allen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern der Fachstelle Ar-
chäologie und Denkmalpflege beim Hochbauamt
sowie den für die naturkundliche Sammlung zu-
ständigen Mitarbeitern beim Amt für Wald, Natur
und Landschaft, ebenso der Leitung der Abteilung
Gebäudeunterhalt beim Hochbauamt. Gedankt sei
auch den Direktionen zahlreicher befreundeter Mu-
seen und Institutionen im In- und Ausland, den Do-
natoren und Sponsoren und nicht zuletzt den Besu-
cherinnen und Besuchern des Liechtensteinischen
Landesmuseums.
Vaduz, im Januar 2006
lic. phil. Norbert W. Hasler, Direktor des
Liechtensteinischen Landesmuseunis
Der Jahresbericht 2005 des Liechtensteinischen
Landesmuseums wurde vom Stiftungsrat in seiner
Sitzung vom 15. Februar 2006 genehmigt.
D O N A T O R E N
- Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz
- Gemeinde Vaduz
- Robert Allgäuer, Vaduz
- Viktor Amann, Vaduz
- Josef Gassner, Triesenberg
- Marie Hasler-Hummer, Bendern
- Pfarrer i.R. Franz Näscher, Bendern
- Dr. Edwin Oberhauser, Götzis
- Arthur Reutimann, Buchs
- Maria Verling, Vaduz
- Philomena Vogt, Schaan
- Dr. Thomas Wanger, Feldkirch
SPONSOREN
- Karl Mayer-Stiftung, Triesen
- International Lottery in Liechtenstein
Foundation, Eschen
- Kulturbeirat der Fürstlichen Regierung, Vaduz
«Die Frage nach unserer Herkunft, nach unseren
Wurzeln, nach unserer Identität - all das sind
Schlüsselfragen für die Zukunft. Wer sich damit
heute beschäftigt, ist nicht reaktionär, sondern pro-
gressiv. Es geht um die Überlebensfrage unserer Ge-
sellschaft und nicht um eine Idealisierung und Re-
staurierung unserer Vergangenheit».
Peter Hahne: Schluss mit lustig.
Das Ende der Spassgesellschaft.
Lahr, 2005, S. 55-56
311
STIFTUNGSRAT KASSA- UND AUFSICHTSDIENST
- Mag. Edmund Banzer, Hohenems
- Christel Hassler, Schellenberg
- lic. phil. Roland Hilti, Ruggell
- Maria Marxer, Gamprin
- lic. phil. Eva Pepic, Triesen (Präsidentin)
- Luise Walser, Vaduz
- Dr. Thomas Wilhelm, Vaduz
MUSEUMSKOMMISSION
- lic. phil. Norbert W. Hasler, Schaan (Vorsitz)
- Johann Otto Oehry, Triesen
- Univ. Prof. Dr. Elmar Vonbank, Bregenz
- Manfred Wanger, Planken
- Barbara Alheit-Mosing
- Myriam E. Bargetze-Köysürenbars,
bis 31. Juli 2005
- Corinna Beck, bis 31. Juli 2005
- Brigitte Büchel, seit 15. Oktober 2005
- Emerita Büchel-Foser
- Marianne Bumbacher-Biedermann
- Vlado Franjevic
- Sonja Frommelt, bis 31. März 2005
- Helen Goop, seit 15. Oktober 2005
- Annie Jeger-Wächter
- Hannah Pfefferkorn
- Silvia Schädler-Hoch
- Brigitte Schweiger
- Yvonne Walser, seit 1. März 2005
- Patricia Wille
M U S E U M S P E R S O N A L
LEITUNG UND VERWALTUNG
- lic. phil. Arthur Brunhart, wissenschaftlicher
Mitarbeiter, Direktor-Stellvertreter
- Sven Beham, Sachbearbeitung Fotografie und
Dokumentation
- Nadja Burtscher, Sachbearbeitung Verwaltung
und Organisation
- Lorenz Frommelt, technischer Dienst
- lic. phil. Norbert W. Hasler, Direktor
- Thomas Müssner, Restaurator
AUFSICHT WOHNMUSEUM HAUS NR. 12
IN SCHELLENBERG
- Hedy Biedermann, Schellenberg, seit 1. Oktober
2005
- Elisabeth Fischli, Schellenberg, bis 30. Juni
2005
- Claudia Hürlimann, Schellenberg
MUSEUMSFÜHRERINNEN UND -FÜHRER
- Anja Fasel-Schreiber, Vaduz
- Keiko Gantenbein, Werdenberg
- Dr. Verena Hasenbach, Triesen
- Stefanie Leibfried, Schaan
- lic. phil. IL Marianne Lörcher, Sevelen
- Angelika Sartor, Schaanwald
- Silvia Schädler-Hoch, Triesenberg
- Jürgen Schindler, Eschen
- Kathrin Wüst, Klaus
Insgesamt sind rund tausend Neuzugänge in die
Sammlungen des Liechtensteinischen Landesmu-
seums für 2005 zu verzeichnen.
312
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Verzeichnis bedeutender
Neuerwerbungen
Holzkästchen mit dem
Jesuskind; unbekannter
Hersteller, Mitte des
18. Jahrhundert; aus der
Wachssammlung Hubert
Bühler
313
Insgesamt sind rund tausend Neuzugänge in die
Sammlungen des Liechtensteinischen Landesmu-
seums für 2005 zu verzeichnen.
Der für das Berichtsjahr 2005 wohl bedeutendste
Sammlungszuwachs stellt die 830 Objekte umfas-
sende Wachssammlung Hubert Bühler dar. Nach
Expertenaussage stellt diese Sammlung als ge-
schlossener Komplex eine europaweit einzigartige
Sammlung von so genannten Klosterarbeiten aus
dem volkskundlichen Bereich dar. Dr. Nina Gocke-
rell, Oberkonservatorin der volkskundlichen Abtei-
lung beim Bayerischen Nationalmuseum München,
schrieb 1992 über diese Sammlung: «Die Samm-
lung (Bühler) hat zwei Schwerpunkte: zum einen die
als <Klosterarbeiten> oder auch als <Schöne Arbei-
tern bezeichneten Kästchen, die meist eine Wachs-
arbeit oder eine Miniatur im Zentrum zeigen, umge-
ben von feinen Draht-, Haar- oder Stoffblumenar-
beiten; hierzu lassen sich auch die so genannten
<Eing'richtflaschen> rechnen, deren Herstellung be-
sondere Fertigkeit - wie beim Bau der Buddelschiffe
- verlangte und die auf dem Antiquitätenmarkt be-
sonders selten geworden sind. Dieser Teil der
Sammlung enthält besonders bedeutende Stücke
aus dem 18. Jahrhundert. Vergleichbare Kästchen
und Flaschen befinden sich - meist als Einzelstücke
- in allen bedeutenden volkskundlichen Sammlun-
gen, etwa in den Museen in Basel, Innsbruck oder
München. Keines dieser Museen verfügt jedoch
über eine so grosse Zahl äusserst qualitätvoller
Stücke, wie die Sammlung Bühler sie enthält. In kei-
nem der genannten Museen könnten einzelne The-
menkreise wie etwa die so unterschiedlichen Dar-
stellungen des Jesuskindes so lückenlos dokumen-
Die Schwarze Madonna
von Einsiedeln, mit
Glassturz; unbekannter
Hersteller, nicht datiert;
aus der Wachssammlung
Hubert Bühler
314
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
tiert werden wie in der musealen Präsentation der
Sammlung Bühler in Liechtenstein; das dortige Mu-
seum würde mit dem Erwerb der Sammlung, gera-
de auf dem Gebiet der so genannten Klosterarbei-
ten, alle bestehenden Volkskundeabteilungen der
bedeutendsten Museen überflügeln.»
Dank finanzieller Mittel seitens der Fürstlichen
Regierung sowie namhafter Beiträge vom Kultur-
beirat der Regierung und der International Lottery
in Liechtenstein Foundation konnte die gesamte
315
Wachsrodel in Kronen-
form, mit Öldruckbild,
vermutlich Christus im
Kreise der Schriftgelehr-
ten; unbekannter Herstel-
ler; nicht datiert; aus der
Wachssammlung Hubert
I i^IHHHHHHMHIi
Sammlung 2005 erworben werden. Museumslei-
tung und Stiftungsrat sind für diese Unterstützung
zu grossem Dank verpflichtet.
Nach der Durchführung umfassender restaurato-
rischer und konservatorischer Massnahmen an den
einzelnen Objekten wird ein Querschnitt durch die-
se einzigartige Sammlung im Liechtensteinischen
Landesmuseum im Rahmen einer Sonderausstel-
lung gezeigt werden.
316
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Reisealtar mit Kreuzkapsel
(links) und einem aufge-
malten Gewand (rechts);
unbekannter Hersteller;
um 1800; aus der Wachs-
sammlung Hubert Bühler
Sitzendes Jesuskind mit
Haarbaum unter entfern-
tem Glassturz; unbekann-
ter Hersteller; nicht datiert:
aus der Wachssammlung
Hubert Bühler
317
Bedeutenden Zuwachs erhielt die Museumssamm-
lung von religiösen Andachtsbildchen - u. a. so ge-
nannten Spitzen-Bildchen, wie sie durch die Liech-
tensteiner Briefmarkenausgabe von Weihnachten
2004 wieder in Erinnerung gerufen wurden - durch
zwei grosszügige Schenkungen von Frau Maria
Hasler-Hummer, Bendern, und alt Dekan Pfarrer
Franz Näscher, Bendern. Beide Schenkungen zu-
sammen belaufen sich auf 860 Einzelbildchen.
318
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Die beiden Quilts von
Zwei Quilts von Verena Schächle, Vaduz, Verena Schächle
zur dekorativen Ausstattung des Vortragssaales:
«Quo vadis - Am See», Bildgrösse 120 x 530 cm;
«Quo vadis - Adlerflug», Bildgrösse 120 x 530 cm.
Martin Häusle (Satteins 1903-1966 Feldkirch):
Blick auf Balzers mit der Ruine Gutenberg,
Öl auf Holz, signiert und datiert 1950.
Bildgrösse 75 x 95 cm.
Alexander Kliemand:
Schloss Vaduz, Öl / Pastell auf Holz, 1957.
Signiert. Bildmass: 39,8 x 47 cm.
Benjamin Steck (1902-1981):
Nordland. Gouache, um 1921.
Bildmass: 23,2 x 17,5 cm.
Schenkung: Dr. Thomas Wanger, Feldkirch
319
Blick auf Balzers mit der
Burg Gutenberg; Ölbild von
Martin Häusle, 1950
Schloss Vaduz; Öl- und
Pastellbild von Alexander
Kliemand, 1957
320
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
Benjamin Steck (1902-1981):
Palästina. Gouache, um 1921.
Bildmass: 23,2 x 17,5 cm.
Schenkung: Dr. Thomas Wanger, Feldkirch
Benjamin Steck (1902-1981):
Kreiskonstruktionen. Gouache, um 1921.
Bildmass: 23,2 x 17,5 cm.
Schenkung: Dr. Thomas Wanger, Feldkirch
Sammlung von Andachtsbildchen.
Schenkung: Maria Hasler-Hummer, Bendern, und
Alt Dekan Franz Näscher, Bendern
Nordland; Gouache von
Benjamin Steck, um 1921
Kreiskonstruktionen;
Gouache von Benjamin
Steck, um 1921
321
Festgruss zum frohen Hochzeitsfeste.
Blütenkranz aus farbigem Papier. Künstliche
Buchszweige und Schlaufen aus Stoffband.
Kranz umringt den Festgruss in grüner Schrift.
Solche Bilder wurden dem Brautpaar von den
Nachbarn geschenkt.
Schenkung: Maria Verling, Vaduz
Bild zur Vermählung.
Blütenkranz aus Papier mit weissen Blüten und
grünen Blättern.
Schenkung: Maria Verling, Vaduz
Diplom 1. Klasse bei der Viehausstellung
in Vaduz, verliehen an Franz Amann, 1933.
Schenkung: Viktor Amann, Vaduz
Wappen der Familie Nigg, gemalt von Josef Kalb,
Dornbirn anno 1938.
Bildmass: 57,5 x 41,5 cm.
Studentenmütze der Realschüler, 1956.
Blauer Filz mit weissem Rand und Goldrotem Band.
Schwarzer Schild.
Prämiensäcklein, verwendet u.a. am jährlichen Vieh-
markt im Steg.
Schenkung des Liechtensteinischen
Landesarchivs, Vaduz
Kinderwagen, um 1900.
Schenkung: Arthur Reutimann, Buchs
Curta Rechenmaschine, Type 1.
Schnittmodell, angefertigt von G. Kleinecke, Ruggell.
Kleinste mechanische Rechenmaschine der Welt,
bestehend aus 520 Einzelteilen.
Biennophon-Radio, Mürren 6005, LMK und UKW,
Röhrenradio, 1959.
Schenkung: Viktor Amann, Vaduz
Glückwunschbild zur
Vermählung (oben) und
Diplom bei der Viehaus-
stellung, 1933 (unten)
322
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2005
323
BILDNACHWEIS
Bildarchiv des Liechten-
steinischen Landesmu-
seums
ANSCHRIFT DES
AUTORS
lic. phil. Norbert W. Hasler
Liechtensteinisches
Landesmuseum
Postfach 1216
FL-9490 Vaduz
324
VERZEICHNIS DER
FÜR DAS FÜRSTLICHE
L A N D E S M U S E U M
ERWORBENEN
OBJEKTE
DAS ERSTE SAMMLUNGSVERZEICHNIS
VON 1894
NORBERT W. HASLER
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Anfangsseiten des Ver-
zeichnisses der für das
Fürstliche Landesmuseum
erworbenen Objekte. In
der linken Spalte ist je-
weils der Gegenstand
bezeichnet, der unter der
Überschrift «Bemerkun-
gen» in der rechten Spalte
genauer beschrieben wird.
326
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
Im Archiv des Liechtensteinischen Landesmuseums
befindet sich ein zehnseitiges handgeschriebenes
Verzeichnis in Querfolioformat, das als das erste
Sammlungsverzeichnis des Landesmuseums be-
zeichnet werden darf. Es handelt sich dabei um eine
Abschrift jenes Verzeichnisses, das sich im Liech-
tensteinischen Landesarchiv unter RE 1894/0065
befindet. Dieses gliedert sich in zwei Bereiche: a)
Objekte für die Antiken- und Raritäten-Abteilung, b)
Objekte für die naturhistorische Abteilung.
Die «Antiken- und Raritäten-Abtheilung» - heute
der kulturhistorische Sammlungsbereich - listet in
42 Positionen einen Sammlungsbestand von rund
150 Objekten auf. Die «naturkundliche Abtheilung»
- heute die naturkundliche Sammlung - führt in 23
Positionen 850 Präparate an, darunter 150 Schmet-
terlinge und 650 Käfer.
Das Verzeichnis geht zurück auf den eigentlichen
Gründervater des Landesmuseums, Landesverwe-
ser Friedrich Stellwag von Carion (1852-1896), der
1894 auch als Verfasser desselben in Frage kommt.
Stellwag von Carion war es, der 1893 dem damali-
gen regierenden Fürsten Johann II. von Liechten-
stein seine Idee von einem zu gründenden Fürstli-
chen Landesmuseum unterbreitete.1 In einem elf-
seitigen Promemoria, 2 das er dem Fürsten in Wien
Ende 1893 zukommen liess, legte Stellwag von Cari-
on dezidiert seine Beweggründe zur Errichtung ei-
nes Museums in Vaduz dar.
Aus dem Verzeichnis geht hervor, dass schon von
Anfang an sowohl eine kulturhistorische wie eine
naturhistorische Abteilung geplant waren. Dieses
Ziel konnte das Liechtensteinische Landesmuseum
aber erst mit dem Neubeginn im Jahre 2003 errei-
chen.
Friedrich Stellwag von Carion war der archäolo-
gischen Forschung sehr zugetan. Es überrascht da-
her nicht, dass es sich bei einer Vielzahl der ange-
führten Objekte um archäologische Funde aus dem
Landesverweser Friedrich
Stellwag von Carion,
Verfasser des Verzeichnis-
ses der für das Fürstliche
Landesmuseum erworbe-
nen Objekte und eigentli-
cher Gründungsvater des
heutigen Liechtensteini-
schen Landesmuseums
1) Vgl. Norbert W. Hasler: Die Geschichte des Liechtensteinischen
Landesmuseums. In: Liechtensteinisches Landesmuseum - Ge-
schichte, Sammlungen, Ausstellungen, Bauten. Vaduz, 2004. S. 12 ff.
2) Ebenda, S. 13-17.
327
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Die Seiten 2 und 3 des
Verzeichnisses der für das
Fürstliche Landesmuseum
erworbenen Objekte
Lande handelt. «Bezeichnend für ihn war, dass er
bereits 1892, kurz nach seinem Amtsantritt (als
Landesverweser in Vaduz) eine Grabung mach A l -
tertumsgegenständen) auf dem Areal des römischen
Kastells in Schaan anordnete». 3 In den Jahren 1893
bis 1896 fand die archäologische Grabung beim rö-
mischen Gutshof in Nendeln statt. Die Auswertung
der Befunde sowie die Veröffentlichung der For-
schungsergebnisse lagen in den Händen des Ar-
chäologen und Konservators Samuel Jenny aus Bre-
genz.4 «Die Ausgrabungen und ihre Ergebnisse er-
regten Aufsehen. Als Fürst Johannes II. von Liech-
tenstein 1896 in Vaduz weilte, legte ihm der
328
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
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geschichtsbewusste Landesverweser die Einzelfun-
de aus Nendeln im Regierungsbureau vor, welche
das höchste Interesse des Fürsten erregt haben». 5
Einige dieser Funde führt SteLLwag von Carion in
seinem Verzeichnis an. Mehrere Fundstücke sind in
der archäologischen Sammlung erhalten geblieben
und in dieser Arbeit abgebildet.6
Das Verzeichnis beginnt dann auch gleich mit ei-
nem archäologischen Fund, einer «Pfeilspitze» und
zugleich mit einem «Kriminalfall» - Kampf, Mord
oder Unfall. Besagte Pfeilspitze, die 1893 in Schaan
in einer Tiefe von drei Metern gefunden wurde,
steckte nämlich «im Brustkasten eines menschli-
3) Ebenda, S. 12.
4) Georg Mal in: Römerzeit l icher Gutshof in Nendeln. Bericht zu den
Ausgrabungen Im Feld in Nendeln, Gemeinde Eschen 1973/1975.
In: JBL 75. Vaduz, 1975, S. 1-140.
5) Ebenda, S. 13.
6) Für Mitarbeit und wertvolle Hinweise danke ich Mag. Ulrike Mayr,
Archäologin und Mitarbeiterin der Fachstelle Archäologie und Denk-
malpflege beim Hochbauamt.
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Die Seiten 4 und 5 des
Verzeichnisses der für das
Fürstliche Landesmuseum
erworbenen Objekte
chen Skelettes». Wer erinnert sich dabei nicht an
das Schicksal des berühmten «Ötzi», des Mannes
aus dem Eis? Das Opfer von Schaan war zudem von
beträchtlicher Körpergrösse, mass das Skelett doch
ganze zwei Meter und zweiundzwanzig Zentimeter,
eine wahre Riesengestalt.
Neben zahlreichen archäolgischen Bronze-, Ei-
sen-, Keramik- und Glasfunden, Münzen und
Schmuckstücken, u.a. zwei Metallknöpfe aus einem
Grab in Bendern, verziert mit einem springenden
Pferd und «einer Rosette», wie von späterer Hand
nachträglich korrigiert wurde, oder mittelalterliche
Pfeil- und Lanzenspitzen, gefunden bei der Burgrui-
330
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
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ne Gutenberg, wurden auch Bauteile, vermutlich rö-
mischer Bauten aus Nendeln, Schaanwald und
Schaan, aufgenommen: Heizziegel, Ton- und Blei-
röhren, Bauziegel, Zementmasse.
Eine Reihe von Objekten (Pos. 22 bis 32) könnten
Schenkungen des Fürsten Johann II. von Liechten-
stein in die Museumssammlung sein: Flasche aus
blauem Glas, Zinnkrüge, Steinschlossgewehr, Wind-
bolzbüchse, Hirschfänger, Degen, Silbermünzen des
Carl Eusebius von Liechtenstein, silberne und gol-
dene Dienstschnallen des Fürstlich-Liechtensteini-
schen Militärkontingents.
Unter Position 33 heisst es in den «Bemerkun-
gen»: «Diese (= eiserne Kassette) sowie folgende Ge-
genstände bis einschliesslich No. 41 stammen aus
der Nigg'schen Sammlung».
Dazu verwahrt das Liechtensteinische Landesar-
chiv ebenfalls ein Dokument, datiert vom 7. Mai
1894: «Verzeichniss der auf fürstliche Rechnung an-
zukaufenden und sohin dem projektierten Landes-
museum in Vaduz einzuverleibenden Gegenstände
aus der Sammlung des Ferdinand Nigg». In neun
Positionen werden analog der Auflistung im Samm-
lungsverzeichnis rund 65 Objekte angeführt mit ei-
nem Schätzwert von 440 Gulden.
331
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Im Jahre 1894 erstelltes
Verzeichnis der Gegen-
stände, die aus der Samm-
lung des Ferdinand Nigg
stammen und für das
geplante Landesmuseum
in Vaduz auf fürstliche
Kosten angeschafft werden
sollten
Da das Sammlungsverzeichnis des Weiteren nur
noch eine hölzerne Truhe aus dem Rennhof in Mau-
ren anführt (Pos. 42), darf geschlossen werden, dass
dieses Verzeichnis bald nach dem Ankauf der Objek-
te aus dem Besitz des Ferdinand Nigg angelegt wur-
de.
Viele der im Verzeichnis aufgeführten Objekte
sind im Laufe der Jahre, bedingt durch den steten
Ortswechsel des Museums und andere Umstände
verloren gegangen, darunter die gesamte natur-
kundliche Sammlung. Einige der Sammelobjekte,
darunter zahlreiche archäologische Funde, sind er-
freulicherweise in den Museumssammlungen erhal-
ten geblieben und konnten eindeutig zugeordnet
werden, u. a. der gläserne Schnapshund, die Silber-
münzen des Fürsten Carl Eusebius von Liechten-
stein, die Buchbeschläge und Trachtenteile aus der
ehemaligen Sammlung Ferdinand Nigg aus Balzers.
Leider wurde nach 1894 das Sammlungsverzeich-
nis des Fürstlichen Landesmuseums nicht mehr
weitergeführt. Erst 1940/41 - Kanonikus Anton
Frommelt hatte mittlerweile die Aufgaben des Kon-
servators der Sammlungen des Historischen Ver-
eins für das Fürstentum Liechtenstein übernommen
- wurde damit begonnen, ein Inventar der Samm-
lung anzulegen. Auch dieses so genannte «Be-
standsbuch der Sammlung des Historischen Ver-
eins», im Wesentlichen ein Verzeichnis archäologi-
scher Funde, wurde nach Anton Frommelt ebenfalls
nicht mehr weitergeführt. Erst seit 1981 führt das
Liechtensteinische Landesmuseum ein lückenloses
Eingangsverzeichnis über neue Sammlungszugän-
ge, erarbeitet ein Sammlungsinventar und ist dabei,
einen geschlossenen EDV-Sammlungskatalog zu er-
stellen. Viele Fragen über die Herkunft verschiede-
ner Objekte vergangener Jahrzehnte werden aber
weiterhin im Räume stehen bleiben.
332
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
333
Transkription
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE
LANDESMUSEUM IN VADUZ ERWORBENEN
OBJEKTE
SEITE A (1)
A . / FÜR DIE A N T I K E N - UND R A R I T Ä T E N
A R T H E I L U N G
1. Pfeilspitze
Gefunden in Schaan im Jahre 1893 in einer Tiefe von 3 m.
Dieselbe steckte in dem Brustkasten eines menschlichen
Skelettes von riesigen Dimensionen. Die Wirbelsäule al-
lein mass 78 cm, das ganze Skelett mass 222 cm. Leider
war dasselbe bereits so mürbe, dass selbst bei der gröss-
ten Vorsicht nicht einmal der Schädel erhalten und bezüg-
lich seines abnormen Umfanges gemessen werden konn-
te.
2. Augensprosse eines Hirschgeweihes
Gefunden in Schaan. Stammt nachweisbar aus der Zeit
der Römerherrschaft, nachdem sie in unmittelbarer Nähe
des vorerwähnten Skelettes gefunden wurde - dieselbe ist
abgesägt und misst in der Geraden 22.5 cm. Umfang an
3. Plan der bei Nendeln im Jahre 1893
ausgegrabenen Reste eines römischen Wohnhauses
Die vorgefundenen Baureste, grossentheils noch mit weis-
sem und rothem Cementestrich, sowie mit dem Hypokau-
sten versehen, waren so gut erhalten, dass sie die Auf-
nahme des Grundrisses mit den Mauerstärken leicht er-
möglichten. Die Längenrichtung des Baues läuft von Nord
gegen Süd. An der
Grundriss-Skizze der im
Jahre 1893 ausgegrabe-
nen Reste eines römischen
Wohnhauses in Nendeln
334
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE A (2)
Nordseite befand sich das balneum, von welchem das
tepidarium, das frigitarium und das offenbar gleichzeitig
als unctorium dienende apodyterium und destrictarium
zweifellos sichergestellt werden konnten. Ob der grosse
aufgedeckte Raum das peristillum oder das atrium war,
kann nicht sichergestellt werden, da die weiteren Gra-
bungen gegen das südliche Ende des Hauses zu, mangels
der hiezu nothwendigen Geldmittel, nicht fortgesetzt wer-
den konnten. Es muss also auch dahin gestellt bleiben, ob
das in der Mitte des vorerwähnten Raumes aufgedeckte,
gepflasterte und mit senkrecht stehenden Steinplatten
eingefasste Becken ein impluvium oder eine piscina gewe-
sen ist.
4. Topfscherben
Funde bei diesen Ausgrabungen: Darunter befinden sich:
eine halbe Reib-Schüssel, die beiden Henkel einer Wase,
mehrere Wasenböden und zahlreiche Scherben von terra
sigilata, leider ohne Töpferzeichen, sowie Scherben von
Gelassen aus geringerem Töpfermateriale.
7.
Anlässlich der 1893 in
Nendeln erfolgten Ausgra-
bung der Fundamente
eines römischen Wohn-
hauses wurden diverse
Topfscherben entdeckt
335
SEITE B (1)
5. Spindelscheiben
Diese sind grösstentheils aus Ziegelstücken, eine aber aus
Stein erstellt.
6. Glasscherben
Diese wurden zumeist in der Nähe des tepidariums gefun-
den und bestehen aus starken, kenntlich in Sandformen
gegossenem Glase. Mutmasslich war der halbkreisförmi-
ge Bau des tepidariums mit Glas eingedeckt.
7. Metallgegenstände
a) aus Eisen:
Ein Schlüssel
Ein Schlossriegel
Mehrere Hacken T-förmig
Diese dienten zur Befestigung der Heizziegel.
Eine Parierstange von einem Schwert.
Mehrere Messerklingen
1 Hammer mit eisernem Griff
1 Topf- oder Eimerhenkel
1 Dochthacken
b) aus Bronce:
Ein Kettchen
Bei den Ausgrabungen in
Nendeln im Jahre 1893
gefundene Gegenstände:
Spindelscheiben sowie
eine T-förmige Hacke
336
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE B (2)
Ein Stück mit Niethen versehenes Bronceblech.
Ein Stück Broncedraht
Ein Sattelknauf
10 cm hoch und 10 cm breit, schön geformt und oben
mit einem Bügel versehen, durch welchen die Zügel
gesteckt werden konnten, um demselben eine gabelar-
tige Wirkung geben zu können.
Ein herzförmiger Schild mit Öse an der Rückseite
Derselbe dürfte das Brustgeschirr eines Pferdes geziert
haben, ist C-förmig nach auswärts gebogen und mas-
siv aber schön gearbeitet und ist senkrecht gemessen
6 cm hoch. Die grösste Breite beträgt 47 mm.
8. Münzen
a) aus Bronce:
3 Stück
Diese sind nicht bestimmbar da sie jedenfalls durch
Feuer stark gelitten haben, so dass die Prägung der
Aversseite und bei zweien auch jene der Reversseite
unkenntlich ist.
1 Stück
A. Probus (P.F.) Aug. R/Victoria (Aug.). Die Viktoria
nach links schreitend, Kranz und Trophäe haltend
(253-260 n. Ch)
b) aus Silber:
1 Stück
Julia Mamea Aug + 235 Mutter des Alexander Sewe-
rus. R/(Vesta). Vesta links hin sitzend, ein Palladium
und Scepter haltend.
1 Stück
Doppeldenar. Imp. C. P.
(sie!)
Lic. .. Aug. (Caius Plublius
Ebenfalls im Jahre 1893
wurden in Nendeln ein
Sattelknauf sowie ein herz-
förmiger Schild gefunden
337
Bei den Ausgrabungen des
Jahres 1893 in Nendeln
wurden nebst den Über-
resten eines römischen
Hauses mehrere Silber-
und Bronzemünzen gefun-
den (vgl. Beschreibung im
vorliegenden Verzeichnis
unter 8.b)
SEITE C (1)
Licinius Valerianus) R/ Liberalitas (Aug.). Die Liberali-
tas stehend mit Füllhorn (253-260 n. Ch.)
9. Suspensura des tepidariums
Dieselbe ist aus rother Cementmasse wie solche durch
Beimischung kleiner Ziegelstückchen erzeugt wurde und
ist in feinem ganzen Umfange mit einer '/i-kreisförmigen
Verzierung eingefasst.
Derselbe hat diese o
Form, ist 136 cm lang und 10 cm breit.
10. 3 Pylae
aus Stein.
11.1 tubus
aus Blei für Wasserleitungszwecke.
12. 2 tubi
aus Thon in der Form von rechtwinkeligen Prismen. In
den schmalen Seitenflächen befinden sich rechteckige Öff-
nungen um die Cirkulation der erwärmten Luft aus einer
Tubussäule in die andere zu ermöglichen.
13. Einige Mauerziegel
ohne Legionszeichen.
14. 2 Stücke Wandverkleidung
aus rother geschliffener Cementmasse.
15.1 Stück Cementestrich
Dieser stammt aus dem grossen Räume (atrium oder peri-
stillum) und zeigt die schuppenartige Lagerung der Stei-
ne, welche den Cementestrich zu tragen hatten.
16. Broncemünze
Gefunden in Schellenberg. Sesterz; Marc.Aurel (161-180
n.Ch.)
17. Broncebügel Gefunden in Gamprin 6 cm hoch, 7 cm
weit, 7 mm breit; abwechselnd geziert mit parallelen sich
kreuzenden
7.
338
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE C (2)
eingravierten Strichen.
18. Zwei Metallknöpfe
(von anderer Hand: der eine Knopf hat Rosette statt Pferd!)
Auf dieselben ist je ein springendes Pferd eingraviert. Sie
wurden bei den Ausgrabungen eines Grabes in Bendern
in einer Tiefe von 1.5 m. gefunden und zw.(zwar) in einer
6 Skelette enthaltenden Grabstelle, welche mit Kohlenres-
ten bedeckt und mit senkrecht stehenden unbehauenen
Steinen elipsenförmig eingefasst war. Die senkrecht ste-
henden Steinplatten waren mit auslagernden horizontal
liegenden Platten ringsum gekrönt.
Nach langen Debatten glaubte die k. k Centraikommission
für Kunst- und historische Denkmale mit Stimmenmehr-
heit diese Knöpfe, ungeachtet mancher, ein höheres Alter
vortäuschenden Anzeichen keiner früheren Zeit als dem
XVIII. oder XVII. Jahrhundert zutheilen zu dürfen, nach-
dem dieselben mit jenen in der Sammlung Richly's vergli-
chen wurden. Die Commission schrieb weiters: «Jeden-
falls bleiben diese beiden Knöpfe ihres stark antikisieren-
den Charakters wegen sehr interessant und aufbewah-
rungswürdig».
19. 3 Pfeil- und eine Lanzenspitze
Gefunden nächst der Schlossruine Gutenberg (Mittelalter)
In Schellenberg wurde
dieser römische Bronze-
Sesterz mit dem Bildnis
des Kaisers Marc Aurel
gefunden.
339
SEITE D (1)
20. Massiver silberner Siegelring
Gefunden bei den Ausgrabungen hinter dem Wohnhause
des fürstlichen Landesverwesers. Gravierung: «A.F.» in An-
tiqua; darunter ein Wappenschild, welches einen Reichs-
apfel trägt. Dürfte aus dem XVII. oder XVIII. Jahrhundert
stammen.
4
21. Standhauer
Gefunden bei den Demolierungen anlässlich des Umbaus
des Wohnhauses des fürstlichen Landesverwesers. Der-
selbe lag zwischen den Mauerresten zweier Gebäude, von
welchen das jüngere zu mindest 300 Jahre stand.
22. Flasche aus blauem Glas
ein phantastisches Tier darstellend XVIII. Jahrhundert.
23. Zinnkrug
aus Vaduz mit dem Zeichen der Löthgerinnung (1758)
24. Zinnkrug
aus Triesen.
25. Steinschlossgewehr
mit mächtigem Backenstück.
26. Wind-Bolzbüch(s)e
27. Hirschfänger
die Klinge mit eingravirten Wildstücken XVII. - XVIII.
Jahrhundert.
28.3 Degen
Einer mit gravierter Klinge, einer mit durchbrochenem
Blutlauf, einer mit der entlang der Klinge eingeschlagenen
Marke: O.RT.:GFO DE ACVFR FNTOLEDO.
29. Silbermünze
CA.E.D. GS. R.F. PR. (I) D.ELICHTENS.
Flasche aus blauem Glas,
18. Jahrhundert (oben) so
wie Silbermünze mit dem
Bildnis des Carl Eusebius
von Liechtenstein, 1629
(unten)
340
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE D (2)
R/ DVH. OPP. ET. CARM. 1629 (Carl Eusebius von Liech-
tenstein; 1627-1684) 1 Silber Kreuzer
30. Silbermünze
CA. ED. G. S. RF.P(3) DE.LICHTEN. RA DVH. OPPETCAR
N. 1629 (Carl Eusebius von Liechtenstein; 1627-1684) 3
Silber Kreuzer.
31. Silberne Dienstschnalle des fürstlich Liechtensteinischen
Contingentes.
32. Goldene Dienstschnalle des fürstlich Liechtensteinischen
Contingentes.
33. Eiserne Casette
bemalt, mit complicirtem Vexirschloss aus Balzers. Diese,
sowie folgenden Gegenstände bis einschliesslich No. 41
stammen aus der Nigg'schen Sammlung.
34. Buchbeschläge
aus getriebenem Messing (aus Triesen)
35. 12 alte Talglichter aus Schmiedeeisen
aus Triesen und Triesenberg
36. 3 alte Steinkrüge
2 mit und einer ohne Zinndeckel; aus Triesen.
37. 7 Zinnkannen
mit den Jahreszahlen 1759,1770, 1775 u. 1780 aus Triesen.
38. 2 Zinnteller
aus Triesen.
39. 1 Zinngiessfass
aus Vaduz.
40. 1 Uhr
aus Triesenberg. Dieselbe ist ganz aus Holz gearbeitet.
•/.
Silbermünze mit dem
Bildnis des Carl Eusebius
von Liechtenstein, 1629
(oben) und Dienstschnallen
des fürstlich-liechtensteini-
schen Truppenkontingents
(unten)
341
SEITE E (1)
41. Liechtensteiner Tracht.
a) 9 Prunkmieder
b) 4 Radhauben mit Goldstickerei
c) 7 Kinderhäubchen
Stickereien
d) 12 verschiedene in Silber u. Goldstickerei ausgeführte
Haubenböden
e) Grosse Spitzenhaube, sogenannte «Heiligengeisthaube»
f) Lederner Gürtel
Die reiche Verzierung desselben ist durch tausende
von 1 mm langen Stahlnägeln hergestellt.
42. Hölzerne Truhe
aus dem Jahre 1553 und vom Rennhofe stammend; eine
Intarsienarbeit im Charakter Augsburg'scher Renais-
sance.
B.) FÜR DIE NATURHISTORISCHE A B T H E I L U N G .
1. Alpenhase
im Winterkleide
2. Edelmarder
3. Steinmarder
4. braunes Eichhörnchen
5. Waldkauz
6. Thurmfalke
342
Prunkmieder als wesentli-
che Teile der Liechtenstei-
ner Tracht
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE E (2)
7. Rabe
8. Steinkrähe
mit schwarzen Ständern
9. Steinkrähe
mit rothen Ständern
10. Elster
11. Nusshäher
12. Wildtaube
13. Buntspecht
14. Auerhenne
15. Steinhuhn
16. Alpenflücklerche
17. Gimpel
Männchen
18. Gimpel
Weibchen
19. Stockente
Enterich
20. Tauchente
21. Rohrhuhn
22. 150 Schmetterlinge
23. 650 Käfer.
Unten: besticktes Kinder-
häubchen
343
BILDNACHWEIS
Sven Beham,
Abt. Fotografie
des Liechtensteinischen
Landesmuseums, Vaduz
ANSCHBIFT DES
AUTOBS
lic. phil. Norbert W. Hasler
Liechtensteinisches
Landesmuseum
Postfach 1216
FL-9490 Vaduz
344
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
Im Archiv des Liechtensteinischen Landesmuseums
befindet sich ein zehnseitiges handgeschriebenes
Verzeichnis in Querfolioformat, das als das erste
Sammlungsverzeichnis des Landesmuseums be-
zeichnet werden darf. Es handelt sich dabei um eine
Abschrift jenes Verzeichnisses, das sich im Liech-
tensteinischen Landesarchiv unter RE 1894/0065
befindet. Dieses gliedert sich in zwei Bereiche: a)
Objekte für die Antiken- und Raritäten-Abteilung, b)
Objekte für die naturhistorische Abteilung.
Die «Antiken- und Raritäten-Abtheilung» - heute
der kulturhistorische Sammlungsbereich - listet in
42 Positionen einen Sammlungsbestand von rund
150 Objekten auf. Die «naturkundliche Abtheilung»
- heute die naturkundliche Sammlung - führt in 23
Positionen 850 Präparate an, darunter 150 Schmet-
terlinge und 650 Käfer.
Das Verzeichnis geht zurück auf den eigentlichen
Gründervater des Landesmuseums, Landesverwe-
ser Friedrich Stellwag von Carion (1852-1896), der
1894 auch als Verfasser desselben in Frage kommt.
Stellwag von Carion war es, der 1893 dem damali-
gen regierenden Fürsten Johann II. von Liechten-
stein seine Idee von einem zu gründenden Fürstli-
chen Landesmuseum unterbreitete.1 In einem elf-
seitigen Promemoria, 2 das er dem Fürsten in Wien
Ende 1893 zukommen liess, legte Stellwag von Cari-
on dezidiert seine Beweggründe zur Errichtung ei-
nes Museums in Vaduz dar.
Aus dem Verzeichnis geht hervor, dass schon von
Anfang an sowohl eine kulturhistorische wie eine
naturhistorische Abteilung geplant waren. Dieses
Ziel konnte das Liechtensteinische Landesmuseum
aber erst mit dem Neubeginn im Jahre 2003 errei-
chen.
Friedrich Stellwag von Carion war der archäolo-
gischen Forschung sehr zugetan. Es überrascht da-
her nicht, dass es sich bei einer Vielzahl der ange-
führten Objekte um archäologische Funde aus dem
Landesverweser Friedrich
Stellwag von Carion,
Verfasser des Verzeichnis-
ses der für das Fürstliche
Landesmuseum erworbe-
nen Objekte und eigentli-
cher Gründungsvater des
heutigen Liechtensteini-
schen Landesmuseums
1) Vgl. Norbert W. Hasler: Die Geschichte des Liechtensteinischen
Landesmuseums. In: Liechtensteinisches Landesmuseum - Ge-
schichte, Sammlungen, Ausstellungen, Bauten. Vaduz, 2004. S. 12 ff.
2) Ebenda, S. 13-17.
327
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Die Seiten 2 und 3 des
Verzeichnisses der für das
Fürstliche Landesmuseum
erworbenen Objekte
Lande handelt. «Bezeichnend für ihn war, dass er
bereits 1892, kurz nach seinem Amtsantritt (als
Landesverweser in Vaduz) eine Grabung mach A l -
tertumsgegenständen) auf dem Areal des römischen
Kastells in Schaan anordnete». 3 In den Jahren 1893
bis 1896 fand die archäologische Grabung beim rö-
mischen Gutshof in Nendeln statt. Die Auswertung
der Befunde sowie die Veröffentlichung der For-
schungsergebnisse lagen in den Händen des Ar-
chäologen und Konservators Samuel Jenny aus Bre-
genz.4 «Die Ausgrabungen und ihre Ergebnisse er-
regten Aufsehen. Als Fürst Johannes II. von Liech-
tenstein 1896 in Vaduz weilte, legte ihm der
328
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
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geschichtsbewusste Landesverweser die Einzelfun-
de aus Nendeln im Regierungsbureau vor, welche
das höchste Interesse des Fürsten erregt haben». 5
Einige dieser Funde führt SteLLwag von Carion in
seinem Verzeichnis an. Mehrere Fundstücke sind in
der archäologischen Sammlung erhalten geblieben
und in dieser Arbeit abgebildet.6
Das Verzeichnis beginnt dann auch gleich mit ei-
nem archäologischen Fund, einer «Pfeilspitze» und
zugleich mit einem «Kriminalfall» - Kampf, Mord
oder Unfall. Besagte Pfeilspitze, die 1893 in Schaan
in einer Tiefe von drei Metern gefunden wurde,
steckte nämlich «im Brustkasten eines menschli-
3) Ebenda, S. 12.
4) Georg Mal in: Römerzeit l icher Gutshof in Nendeln. Bericht zu den
Ausgrabungen Im Feld in Nendeln, Gemeinde Eschen 1973/1975.
In: JBL 75. Vaduz, 1975, S. 1-140.
5) Ebenda, S. 13.
6) Für Mitarbeit und wertvolle Hinweise danke ich Mag. Ulrike Mayr,
Archäologin und Mitarbeiterin der Fachstelle Archäologie und Denk-
malpflege beim Hochbauamt.
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Die Seiten 4 und 5 des
Verzeichnisses der für das
Fürstliche Landesmuseum
erworbenen Objekte
chen Skelettes». Wer erinnert sich dabei nicht an
das Schicksal des berühmten «Ötzi», des Mannes
aus dem Eis? Das Opfer von Schaan war zudem von
beträchtlicher Körpergrösse, mass das Skelett doch
ganze zwei Meter und zweiundzwanzig Zentimeter,
eine wahre Riesengestalt.
Neben zahlreichen archäolgischen Bronze-, Ei-
sen-, Keramik- und Glasfunden, Münzen und
Schmuckstücken, u.a. zwei Metallknöpfe aus einem
Grab in Bendern, verziert mit einem springenden
Pferd und «einer Rosette», wie von späterer Hand
nachträglich korrigiert wurde, oder mittelalterliche
Pfeil- und Lanzenspitzen, gefunden bei der Burgrui-
330
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
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ne Gutenberg, wurden auch Bauteile, vermutlich rö-
mischer Bauten aus Nendeln, Schaanwald und
Schaan, aufgenommen: Heizziegel, Ton- und Blei-
röhren, Bauziegel, Zementmasse.
Eine Reihe von Objekten (Pos. 22 bis 32) könnten
Schenkungen des Fürsten Johann II. von Liechten-
stein in die Museumssammlung sein: Flasche aus
blauem Glas, Zinnkrüge, Steinschlossgewehr, Wind-
bolzbüchse, Hirschfänger, Degen, Silbermünzen des
Carl Eusebius von Liechtenstein, silberne und gol-
dene Dienstschnallen des Fürstlich-Liechtensteini-
schen Militärkontingents.
Unter Position 33 heisst es in den «Bemerkun-
gen»: «Diese (= eiserne Kassette) sowie folgende Ge-
genstände bis einschliesslich No. 41 stammen aus
der Nigg'schen Sammlung».
Dazu verwahrt das Liechtensteinische Landesar-
chiv ebenfalls ein Dokument, datiert vom 7. Mai
1894: «Verzeichniss der auf fürstliche Rechnung an-
zukaufenden und sohin dem projektierten Landes-
museum in Vaduz einzuverleibenden Gegenstände
aus der Sammlung des Ferdinand Nigg». In neun
Positionen werden analog der Auflistung im Samm-
lungsverzeichnis rund 65 Objekte angeführt mit ei-
nem Schätzwert von 440 Gulden.
331
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,300
Im Jahre 1894 erstelltes
Verzeichnis der Gegen-
stände, die aus der Samm-
lung des Ferdinand Nigg
stammen und für das
geplante Landesmuseum
in Vaduz auf fürstliche
Kosten angeschafft werden
sollten
Da das Sammlungsverzeichnis des Weiteren nur
noch eine hölzerne Truhe aus dem Rennhof in Mau-
ren anführt (Pos. 42), darf geschlossen werden, dass
dieses Verzeichnis bald nach dem Ankauf der Objek-
te aus dem Besitz des Ferdinand Nigg angelegt wur-
de.
Viele der im Verzeichnis aufgeführten Objekte
sind im Laufe der Jahre, bedingt durch den steten
Ortswechsel des Museums und andere Umstände
verloren gegangen, darunter die gesamte natur-
kundliche Sammlung. Einige der Sammelobjekte,
darunter zahlreiche archäologische Funde, sind er-
freulicherweise in den Museumssammlungen erhal-
ten geblieben und konnten eindeutig zugeordnet
werden, u. a. der gläserne Schnapshund, die Silber-
münzen des Fürsten Carl Eusebius von Liechten-
stein, die Buchbeschläge und Trachtenteile aus der
ehemaligen Sammlung Ferdinand Nigg aus Balzers.
Leider wurde nach 1894 das Sammlungsverzeich-
nis des Fürstlichen Landesmuseums nicht mehr
weitergeführt. Erst 1940/41 - Kanonikus Anton
Frommelt hatte mittlerweile die Aufgaben des Kon-
servators der Sammlungen des Historischen Ver-
eins für das Fürstentum Liechtenstein übernommen
- wurde damit begonnen, ein Inventar der Samm-
lung anzulegen. Auch dieses so genannte «Be-
standsbuch der Sammlung des Historischen Ver-
eins», im Wesentlichen ein Verzeichnis archäologi-
scher Funde, wurde nach Anton Frommelt ebenfalls
nicht mehr weitergeführt. Erst seit 1981 führt das
Liechtensteinische Landesmuseum ein lückenloses
Eingangsverzeichnis über neue Sammlungszugän-
ge, erarbeitet ein Sammlungsinventar und ist dabei,
einen geschlossenen EDV-Sammlungskatalog zu er-
stellen. Viele Fragen über die Herkunft verschiede-
ner Objekte vergangener Jahrzehnte werden aber
weiterhin im Räume stehen bleiben.
332
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
333
Transkription
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE
LANDESMUSEUM IN VADUZ ERWORBENEN
OBJEKTE
SEITE A (1)
A . / FÜR DIE A N T I K E N - UND R A R I T Ä T E N
A R T H E I L U N G
1. Pfeilspitze
Gefunden in Schaan im Jahre 1893 in einer Tiefe von 3 m.
Dieselbe steckte in dem Brustkasten eines menschlichen
Skelettes von riesigen Dimensionen. Die Wirbelsäule al-
lein mass 78 cm, das ganze Skelett mass 222 cm. Leider
war dasselbe bereits so mürbe, dass selbst bei der gröss-
ten Vorsicht nicht einmal der Schädel erhalten und bezüg-
lich seines abnormen Umfanges gemessen werden konn-
te.
2. Augensprosse eines Hirschgeweihes
Gefunden in Schaan. Stammt nachweisbar aus der Zeit
der Römerherrschaft, nachdem sie in unmittelbarer Nähe
des vorerwähnten Skelettes gefunden wurde - dieselbe ist
abgesägt und misst in der Geraden 22.5 cm. Umfang an
3. Plan der bei Nendeln im Jahre 1893
ausgegrabenen Reste eines römischen Wohnhauses
Die vorgefundenen Baureste, grossentheils noch mit weis-
sem und rothem Cementestrich, sowie mit dem Hypokau-
sten versehen, waren so gut erhalten, dass sie die Auf-
nahme des Grundrisses mit den Mauerstärken leicht er-
möglichten. Die Längenrichtung des Baues läuft von Nord
gegen Süd. An der
Grundriss-Skizze der im
Jahre 1893 ausgegrabe-
nen Reste eines römischen
Wohnhauses in Nendeln
334
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE A (2)
Nordseite befand sich das balneum, von welchem das
tepidarium, das frigitarium und das offenbar gleichzeitig
als unctorium dienende apodyterium und destrictarium
zweifellos sichergestellt werden konnten. Ob der grosse
aufgedeckte Raum das peristillum oder das atrium war,
kann nicht sichergestellt werden, da die weiteren Gra-
bungen gegen das südliche Ende des Hauses zu, mangels
der hiezu nothwendigen Geldmittel, nicht fortgesetzt wer-
den konnten. Es muss also auch dahin gestellt bleiben, ob
das in der Mitte des vorerwähnten Raumes aufgedeckte,
gepflasterte und mit senkrecht stehenden Steinplatten
eingefasste Becken ein impluvium oder eine piscina gewe-
sen ist.
4. Topfscherben
Funde bei diesen Ausgrabungen: Darunter befinden sich:
eine halbe Reib-Schüssel, die beiden Henkel einer Wase,
mehrere Wasenböden und zahlreiche Scherben von terra
sigilata, leider ohne Töpferzeichen, sowie Scherben von
Gelassen aus geringerem Töpfermateriale.
7.
Anlässlich der 1893 in
Nendeln erfolgten Ausgra-
bung der Fundamente
eines römischen Wohn-
hauses wurden diverse
Topfscherben entdeckt
335
SEITE B (1)
5. Spindelscheiben
Diese sind grösstentheils aus Ziegelstücken, eine aber aus
Stein erstellt.
6. Glasscherben
Diese wurden zumeist in der Nähe des tepidariums gefun-
den und bestehen aus starken, kenntlich in Sandformen
gegossenem Glase. Mutmasslich war der halbkreisförmi-
ge Bau des tepidariums mit Glas eingedeckt.
7. Metallgegenstände
a) aus Eisen:
Ein Schlüssel
Ein Schlossriegel
Mehrere Hacken T-förmig
Diese dienten zur Befestigung der Heizziegel.
Eine Parierstange von einem Schwert.
Mehrere Messerklingen
1 Hammer mit eisernem Griff
1 Topf- oder Eimerhenkel
1 Dochthacken
b) aus Bronce:
Ein Kettchen
Bei den Ausgrabungen in
Nendeln im Jahre 1893
gefundene Gegenstände:
Spindelscheiben sowie
eine T-förmige Hacke
336
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE B (2)
Ein Stück mit Niethen versehenes Bronceblech.
Ein Stück Broncedraht
Ein Sattelknauf
10 cm hoch und 10 cm breit, schön geformt und oben
mit einem Bügel versehen, durch welchen die Zügel
gesteckt werden konnten, um demselben eine gabelar-
tige Wirkung geben zu können.
Ein herzförmiger Schild mit Öse an der Rückseite
Derselbe dürfte das Brustgeschirr eines Pferdes geziert
haben, ist C-förmig nach auswärts gebogen und mas-
siv aber schön gearbeitet und ist senkrecht gemessen
6 cm hoch. Die grösste Breite beträgt 47 mm.
8. Münzen
a) aus Bronce:
3 Stück
Diese sind nicht bestimmbar da sie jedenfalls durch
Feuer stark gelitten haben, so dass die Prägung der
Aversseite und bei zweien auch jene der Reversseite
unkenntlich ist.
1 Stück
A. Probus (P.F.) Aug. R/Victoria (Aug.). Die Viktoria
nach links schreitend, Kranz und Trophäe haltend
(253-260 n. Ch)
b) aus Silber:
1 Stück
Julia Mamea Aug + 235 Mutter des Alexander Sewe-
rus. R/(Vesta). Vesta links hin sitzend, ein Palladium
und Scepter haltend.
1 Stück
Doppeldenar. Imp. C. P.
(sie!)
Lic. .. Aug. (Caius Plublius
Ebenfalls im Jahre 1893
wurden in Nendeln ein
Sattelknauf sowie ein herz-
förmiger Schild gefunden
337
Bei den Ausgrabungen des
Jahres 1893 in Nendeln
wurden nebst den Über-
resten eines römischen
Hauses mehrere Silber-
und Bronzemünzen gefun-
den (vgl. Beschreibung im
vorliegenden Verzeichnis
unter 8.b)
SEITE C (1)
Licinius Valerianus) R/ Liberalitas (Aug.). Die Liberali-
tas stehend mit Füllhorn (253-260 n. Ch.)
9. Suspensura des tepidariums
Dieselbe ist aus rother Cementmasse wie solche durch
Beimischung kleiner Ziegelstückchen erzeugt wurde und
ist in feinem ganzen Umfange mit einer '/i-kreisförmigen
Verzierung eingefasst.
Derselbe hat diese o
Form, ist 136 cm lang und 10 cm breit.
10. 3 Pylae
aus Stein.
11.1 tubus
aus Blei für Wasserleitungszwecke.
12. 2 tubi
aus Thon in der Form von rechtwinkeligen Prismen. In
den schmalen Seitenflächen befinden sich rechteckige Öff-
nungen um die Cirkulation der erwärmten Luft aus einer
Tubussäule in die andere zu ermöglichen.
13. Einige Mauerziegel
ohne Legionszeichen.
14. 2 Stücke Wandverkleidung
aus rother geschliffener Cementmasse.
15.1 Stück Cementestrich
Dieser stammt aus dem grossen Räume (atrium oder peri-
stillum) und zeigt die schuppenartige Lagerung der Stei-
ne, welche den Cementestrich zu tragen hatten.
16. Broncemünze
Gefunden in Schellenberg. Sesterz; Marc.Aurel (161-180
n.Ch.)
17. Broncebügel Gefunden in Gamprin 6 cm hoch, 7 cm
weit, 7 mm breit; abwechselnd geziert mit parallelen sich
kreuzenden
7.
338
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE C (2)
eingravierten Strichen.
18. Zwei Metallknöpfe
(von anderer Hand: der eine Knopf hat Rosette statt Pferd!)
Auf dieselben ist je ein springendes Pferd eingraviert. Sie
wurden bei den Ausgrabungen eines Grabes in Bendern
in einer Tiefe von 1.5 m. gefunden und zw.(zwar) in einer
6 Skelette enthaltenden Grabstelle, welche mit Kohlenres-
ten bedeckt und mit senkrecht stehenden unbehauenen
Steinen elipsenförmig eingefasst war. Die senkrecht ste-
henden Steinplatten waren mit auslagernden horizontal
liegenden Platten ringsum gekrönt.
Nach langen Debatten glaubte die k. k Centraikommission
für Kunst- und historische Denkmale mit Stimmenmehr-
heit diese Knöpfe, ungeachtet mancher, ein höheres Alter
vortäuschenden Anzeichen keiner früheren Zeit als dem
XVIII. oder XVII. Jahrhundert zutheilen zu dürfen, nach-
dem dieselben mit jenen in der Sammlung Richly's vergli-
chen wurden. Die Commission schrieb weiters: «Jeden-
falls bleiben diese beiden Knöpfe ihres stark antikisieren-
den Charakters wegen sehr interessant und aufbewah-
rungswürdig».
19. 3 Pfeil- und eine Lanzenspitze
Gefunden nächst der Schlossruine Gutenberg (Mittelalter)
In Schellenberg wurde
dieser römische Bronze-
Sesterz mit dem Bildnis
des Kaisers Marc Aurel
gefunden.
339
SEITE D (1)
20. Massiver silberner Siegelring
Gefunden bei den Ausgrabungen hinter dem Wohnhause
des fürstlichen Landesverwesers. Gravierung: «A.F.» in An-
tiqua; darunter ein Wappenschild, welches einen Reichs-
apfel trägt. Dürfte aus dem XVII. oder XVIII. Jahrhundert
stammen.
4
21. Standhauer
Gefunden bei den Demolierungen anlässlich des Umbaus
des Wohnhauses des fürstlichen Landesverwesers. Der-
selbe lag zwischen den Mauerresten zweier Gebäude, von
welchen das jüngere zu mindest 300 Jahre stand.
22. Flasche aus blauem Glas
ein phantastisches Tier darstellend XVIII. Jahrhundert.
23. Zinnkrug
aus Vaduz mit dem Zeichen der Löthgerinnung (1758)
24. Zinnkrug
aus Triesen.
25. Steinschlossgewehr
mit mächtigem Backenstück.
26. Wind-Bolzbüch(s)e
27. Hirschfänger
die Klinge mit eingravirten Wildstücken XVII. - XVIII.
Jahrhundert.
28.3 Degen
Einer mit gravierter Klinge, einer mit durchbrochenem
Blutlauf, einer mit der entlang der Klinge eingeschlagenen
Marke: O.RT.:GFO DE ACVFR FNTOLEDO.
29. Silbermünze
CA.E.D. GS. R.F. PR. (I) D.ELICHTENS.
Flasche aus blauem Glas,
18. Jahrhundert (oben) so
wie Silbermünze mit dem
Bildnis des Carl Eusebius
von Liechtenstein, 1629
(unten)
340
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE D (2)
R/ DVH. OPP. ET. CARM. 1629 (Carl Eusebius von Liech-
tenstein; 1627-1684) 1 Silber Kreuzer
30. Silbermünze
CA. ED. G. S. RF.P(3) DE.LICHTEN. RA DVH. OPPETCAR
N. 1629 (Carl Eusebius von Liechtenstein; 1627-1684) 3
Silber Kreuzer.
31. Silberne Dienstschnalle des fürstlich Liechtensteinischen
Contingentes.
32. Goldene Dienstschnalle des fürstlich Liechtensteinischen
Contingentes.
33. Eiserne Casette
bemalt, mit complicirtem Vexirschloss aus Balzers. Diese,
sowie folgenden Gegenstände bis einschliesslich No. 41
stammen aus der Nigg'schen Sammlung.
34. Buchbeschläge
aus getriebenem Messing (aus Triesen)
35. 12 alte Talglichter aus Schmiedeeisen
aus Triesen und Triesenberg
36. 3 alte Steinkrüge
2 mit und einer ohne Zinndeckel; aus Triesen.
37. 7 Zinnkannen
mit den Jahreszahlen 1759,1770, 1775 u. 1780 aus Triesen.
38. 2 Zinnteller
aus Triesen.
39. 1 Zinngiessfass
aus Vaduz.
40. 1 Uhr
aus Triesenberg. Dieselbe ist ganz aus Holz gearbeitet.
•/.
Silbermünze mit dem
Bildnis des Carl Eusebius
von Liechtenstein, 1629
(oben) und Dienstschnallen
des fürstlich-liechtensteini-
schen Truppenkontingents
(unten)
341
SEITE E (1)
41. Liechtensteiner Tracht.
a) 9 Prunkmieder
b) 4 Radhauben mit Goldstickerei
c) 7 Kinderhäubchen
Stickereien
d) 12 verschiedene in Silber u. Goldstickerei ausgeführte
Haubenböden
e) Grosse Spitzenhaube, sogenannte «Heiligengeisthaube»
f) Lederner Gürtel
Die reiche Verzierung desselben ist durch tausende
von 1 mm langen Stahlnägeln hergestellt.
42. Hölzerne Truhe
aus dem Jahre 1553 und vom Rennhofe stammend; eine
Intarsienarbeit im Charakter Augsburg'scher Renais-
sance.
B.) FÜR DIE NATURHISTORISCHE A B T H E I L U N G .
1. Alpenhase
im Winterkleide
2. Edelmarder
3. Steinmarder
4. braunes Eichhörnchen
5. Waldkauz
6. Thurmfalke
342
Prunkmieder als wesentli-
che Teile der Liechtenstei-
ner Tracht
VERZEICHNIS DER FÜR DAS FÜRSTLICHE LANDESMUSEUM
ERWORBENEN OBJEKTE / NORBERT W. HASLER
SEITE E (2)
7. Rabe
8. Steinkrähe
mit schwarzen Ständern
9. Steinkrähe
mit rothen Ständern
10. Elster
11. Nusshäher
12. Wildtaube
13. Buntspecht
14. Auerhenne
15. Steinhuhn
16. Alpenflücklerche
17. Gimpel
Männchen
18. Gimpel
Weibchen
19. Stockente
Enterich
20. Tauchente
21. Rohrhuhn
22. 150 Schmetterlinge
23. 650 Käfer.
Unten: besticktes Kinder-
häubchen
343
BILDNACHWEIS
Sven Beham,
Abt. Fotografie
des Liechtensteinischen
Landesmuseums, Vaduz
ANSCHBIFT DES
AUTOBS
lic. phil. Norbert W. Hasler
Liechtensteinisches
Landesmuseum
Postfach 1216
FL-9490 Vaduz
344