J A H R B U C H
DES HISTORISCHEN V E R E I N S
FÜR DAS FÜRSTENTUM
L I E C H T E N S T E I N
BAND 101
JAHRBUCH
DES HISTORISCHEN VEREINS
FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN
BAND 101
VADUZ, SELBSTVERLAG DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN, 2002
Zum Titelbild:
Das Erbrecht bildet den
ersten und umfangreich-
sten Teil des Lands-
brauchs von 1667. Laut
der den Landsbrauch prä-
genden römischen und
germanischen Rechtsauf-
fassung erben zunächst
die unmittelbaren Nach-
kommen, also die Kinder
und Enkelkinder. Im Fall
der hier gezeigten Beispie-
le beerben indes die Nich-
ten und Neffen allein den
Besitz ihrer verstorbenen
Verwandten, da sämtliche
weiteren Mitglieder der
Elterngeneration ebenfalls
verstorben sind.
Zum Bild auf dem Vorsatz:
Zu sehen ist hier ein
Ausschnitt aus der dem
Landsbrauch von 1667
angefügten Polizeiord-
nung. Bestehende Miss-
stände waren dabei ein
wesentlicher Grund für die
Niederschrift von schon
existierendem Gewohn-
heitsrecht. Ein besonderes
Anliegen war dem Gesetz-
geber zudem die Aufrecht-
erhaltung der sittlichen
Ordnung. Folglich erliess
er auch mehrere Verord-
nungen zum Schutz der
Ehe. Davon zeugen Kapi-
telüberschriften wie der
hier gezeigte Titel: «von
ehebruch, hurerey und
nothzwang».
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Fürstentum Liechtenstein
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Verein für das Fürstentum
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IV
Inhaltsverzeichnis
1 «Landts Brauch, oder Erbrecht», in der
«Vaduzischen Grafschaft üblichen»
Ein Dokument aus dem Jahr 1667 als
Grundlage für landschaftliche Rechts-
sprechung
Karin Schamberger-Rogl
129 Zwischen Markt und Elfenbeinturm -
Volkskunde heute
Hermann Bausinger
146 Die Vaduzer Hexenprozesse am Ende des
16. Jahrhunderts
Manfred Tschaikner
153 Die liechtensteinische Migrationspolitik
Im Spannungsfeld nationalstaatlicher
Interessen und internationaler Einbindung
1945 bis 1981
Claudia Heeb-Fleck
Veronika Marxer-Gsell
185 Rezensionen
233 Jahresbericht des Historischen Vereins für
das Fürstentum Liechtenstein 2001
259 Liechtensteinisches Landesmuseum 2001
291 Votivbilder aus Liechtenstein
Norbert W. Hasler
V
Der Historische Verein für
das Fürstentum Liechten-
stein verfolgt den Zweck,
die vaterländische Ge-
schichtskunde einschliess-
lich der Urgeschichte zu
fördern und die Erhaltung
der natürlichen und ge-
schichtlich gewordenen
liechtensteinischen Eigen-
art zu pflegen.
Artikel 1 der Statuten
des Historischen Vereins
für das Fürstentum
Liechtenstein
Für den Inhalt der einzel-
nen Beiträge zeichnen die
Verfasserinnen und Verfas-
ser allein verantwortlich.
«LANDTS BRAUCH,
ODER ERBRECHT» IN
DER «VADUZISCHEN
GRAFSCHAFT
ÜBLICHEN»
EIN DOKUMENT AUS D E M JAHR 1667
ALS GRUNDLAGE FÜR LANDSCHAFTLICHE
RECHTSSPRECHUNG
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Inhalt
5 VORWORT
7 EINLEITUNG
7 DIE ENTWICKLUNG DER
BLUTGERICHTSBARKEIT IN VADUZ UND
SCHELLENBERG
7 Regalien und Gerichtsrechte bis 1430
10 Die Brandisischen Freiheiten
11 Die Gerichtsbarkeit am Eschnerberg
15 DER LANDSBRAUCH - EIN WEISTUM?
15 Der Begriff des Weistums
16 Die Definitionen
19 Die Bedeutung der Weistümer
19 Der Landsbrauch als Zwischenform von
Weistum und Gesetz
20 DIE LIECHTENSTEINISCHEN LANDS-
BRÄUCHE
26 DER SACHINHALT
26 Erbrecht und Testamente
42 Das Schuld- und Pfandrecht
oder das Sachenrecht
46 Strafrecht
46 Die Beteiligten
46 - Der Landammann
48 - Die Beisitzer
49 - Fürsprecher und Räte
49 - Der Landschreiber
49 - Der Gerichtsweibel
49 - Beklagte
50 - Der Ablauf des Malefizgerichts gemäss
liechtensteinischem Landsbrauch
52 - Exkurs: Hinrichtung und Henker
54 Polizeiordnung
60 - Vorschriften für ein gottgefälliges Leben
60 - Vermeidung von Luxus
62 - Vermeidung des Müssiggangs
62 - Schutz der Ehe
68 - Verordnungen, die bestimmte
Personengruppen betreffen
74 EDITION
74 Handschriftenbeschreibung
74 Editionsgrundsätze
75 LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT
75 Von erbschaften und absteigender linie
79 Von erbschaften in aufsteigender linie
83 Von denen erbschaften in der
beederseiths oder zwerch linie.
88 Von erbnehmung der eheleuthen.
90 Von erbnehmung der obrigkeit.
92 Von testamenten
99 Verzaichnus der gandt.
100 Forma und verbahnung des malefiz
gerichts umb gefahr auf nachfolgend
form und weis.
102 Klag auf die fürgestellte malefiz persohnen.
2
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
102
102
102
103
103
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112
113
114
114
114
115
115
116
116
Formb wie man einen schuld brief
einlegen soll.
Wie man die brief wider heraus
erkennen soll.
Wie man die urthl aussprechen soll.
Wie man einen züns brief einlegen solle.
Wie man den zünß brief heraus nehmen soll.
Von kramern, beckhen, brod t rägem,
brandweinschenckhen und anderen,
die ihre waaren unter währenden gottes
dienst feil haben werden.
Vom verbot der sonn- und feuertägen.
Von gottes lästeren, fluchen und schwören.
Von zaubereyen, aberglauben und
wahrsagen.
Von gastgeben, würthen und tafernen.
Von vollerey zu trincken.
Von faulenzen und müssiggänger.
Von der austheilung
Von unnutzen haushalter, prodigis und
verschwändter ihrer güther.
Policey Ordnung.
- Abstellung der tauf suppen, kindermahl
und schänkungen.
- Von todten-mahlen, besingnussen, siben-
den, dreyßigsten und jähr zeiten.
- Von kirch-weyhungen.
- Von der faßnacht, ascher-mittwoch,
mumerey und ansingen.
- Von unordentlicher kleidung und
tractation.
- Von bettleren.
- Von spiler und spileren.
- Von kupplen und heimblichen endhalt.
- Von leichtfertiger beywohnung und
hurerey.
- Von ehebruch, hurerey und nothzwang.
- Von muthwilligen gesellen,
die tag und nacht auf der gassen handl
anstellen.
- Das zwischen bösen und guten
ein unterschidt gehalten werde.
- Von liecht- und gunckel häusern.
- Von hochzeiten und schänkinen.
117 - Von denen gartknechten.
117 - Von denen zigeunern.
120 Register.
122 A N H A N G
122 Sacherklärungen
123 Abkürzungen
124 Quellen
124 - Ungedruckte Quellen
124 - Gedruckte Quellen
124 Literatur
126 Nachschlagewerke
3
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde 1997 als Diplomar-
beit an der Universität Salzburg eingereicht. Vorab
möchte ich mich bei den Personen bedanken, die
zu deren Entstehung massgeblich beigetragen ha-
ben. An erster Stelle steht hier Universitätsprofes-
sor Dr. Heinz Dopsch, von dem ich die Anregung zu
dieser Arbeit erhielt. Als mein Betreuer stand er
mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Seine Ver-
besserungsvorschläge waren mir für die Fertigstel-
lung der Arbeit eine grosse Hilfe. Grossen Dank
schulde ich auch Assistenzprofessor Dr. Alfred Ste-
fan Weiss, an den ich mich mit jedem Problem
wenden konnte. Er und auch der ausserordentliche
Universitätsprofessor DDr. Gerhard Ammerer ga-
ben mir immer wieder moralische Unterstützung
und auch eine Reihe von «handwerklichen» Rat-
schlägen, die mir meine Arbeit sehr erleichterten.
Ihre aufmunternden Worte waren sehr motivie-
rend. Mein besonderer Dank gilt auch Frau Mag.
Birgit Wiedl, die sich bereit erklärte, meine Trans-
kription Korrektur zu lesen.
Ein ganz herzlicher Dank gebührt Herrn lic.
phil. Arthur Brunhart vom Historischen Lexikon
für das Fürstentum Liechtenstein. Während mei-
nes kurzen Aufenthalts in Liechtenstein scheute er
keine Mühe, um mich bei der Archiv- und der Bi-
bliotheksarbeit zu unterstützen. Bis zur Fertigstel-
lung der Arbeit konnte ich mich jederzeit an ihn
wenden. Die Quellen zum Thema «Hinrichtung und
Henker» verdanke ich Herrn Claudius Gurt, dem
Bearbeiter des Liechtensteinischen Urkundenbu-
ches. Er erklärte sich auch bereit, mir bei der Be-
schreibung der Handschriften zu helfen. Auch
dafür sei ihm herzlich gedankt.
Weiters möchte ich mich bei Herrn Professor
DDr. Karl Heinz Burmeister vom Vorarlberger Lan-
desarchiv bedanken, der mich bei der Literatursu-
che unterstützt und sich zudem die Mühe genom-
men hat, meine Arbeit zu korrigieren.
Ganz besonders herzlich aber möchte ich mei-
nen Eltern danken, die mir durch ihre ständige Un-
terstützung nicht nur diese Arbeit, sondern mein
ganzes Studium erst ermöglicht haben.
5
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Einleitung
DIE E N T W I C K L U N G DER B L U T G E R I C H T S -
B A R K E I T IN VADUZ UND S C H E L L E N B E R G
REGALIEN UND GERICHTSRECHTE BIS 1430
Das fränkische Reich, das unter der Herrschaft der
Merowinger und später unter jener der Karolinger
stand, war in Grafschaften unterteilt, an deren
Spitze die Grafen als königliche Amtsträger stan-
den.1 Es stellt sich dabei die Frage, welches Ver-
hältnis die Grafschaften zu den früheren Gauen
hatten.2 In Churrätien wurde im Jahr 806 die
«fränkische Grafschaftsverfassung» eingeführt, die
weltliche Regierung über Churrätien wurde dem
Bischof von Chur abgenommen und dem fränki-
schen Grafen Hunfried übertragen. 3 Zu Verwal-
tungszwecken wurde Churrätien in Ober- und Un-
terrätien geteilt. Die neu gebildete Grafschaft hatte
eine sehr grosse Bedeutung aufgrund ihrer Grenz-
lage; bisweilen trat sie auch als ducatus in Erschei-
nung. 4 Das Grafenamt hatte ursprünglich die Fami-
lie der Hunfridinger inne; die Karolinger achteten
zunächst aber noch darauf, dass sich die Verer-
bung der Grafschaften nicht durchsetzen konnte.
Erst am Ende des 9. Jahrhunderts zeichnete sich
die Tendenz zur Weitergabe der Grafschaft im Erb-
weg ab; eine solche Weitergabe musste jedoch im-
mer vom Königtum sanktioniert werden. 5 Neben
ihren Funktionen in der Rechtssprechung und im
Heerwesen überwachten die Grafen in ihrem Herr-
schaftsbereich die Bewohnerinnen und Bewohner
bei der Wahrnehmung «öffentlicher Arbeiten» wie
Wachdienste, Weg- und Brückenbau, Stellung von
Pferden, Beherbergung von Königsboten. 6 Weiters
musste der Graf den Frieden wahren, die Steuern
einheben und Kirchen, Arme, Witwen und Waisen
schützen. Ihre Besitzungen und Herrschaftsrechte
erwarben sich die Grafen als königliche Lehen oder
auch durch Schenkungen. Sie konnten diese
Amtslehen an ihre Ministerialen weiter verlehnen.
Den Grafen unterstellt waren als weitere Amts-
träger die Zentenare. Diese waren Freie mit grös-
serem oder kleinerem Grundbesitz, die Verwal-
tungs- und Gerichtsfunktionen ausübten. Schulze
weist nach, dass es keine lückenlose Untergliede-
rung der Grafschaften in Zentenen (Flundertschaf-
ten) gab und stellt die Frage nach ihrer Bedeu-
tung.7 Offen bleibt hier die Frage nach der Abgren-
zung der Gerichtsbarkeit der Zentenare gegenüber
der richterlichen Gewalt des Grafen. 8
Bereits für das Jahr 807 ist ein Gerichtstag unter
dem Vorsitz Hunfrieds, des Grafen von Rätien,
überliefert. Der Gerichtsplatz befand sich in Rank-
weil. 9 Für alle freien Männer der Grafschaft
herrschte die Dingpflicht, das heisst, sie mussten
zu allen angekündigten Gerichtstagen der Grafen
erscheinen. Karl der Grosse beschränkte die Ge-
1) Die Grundzüge der f ränkischen Grafschaftsverfassung werden
ausführl ich behandelt bei Hans Schulze, wobei aber die Grafschaft
Rätien, die nicht zum eigentlichen alamannischen Siedlungsgebiet
gehörte , ausser Betracht geblieben ist. Vgl. Schulze, Hans K.: Die
Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des
Rheins. Berlin, 1973. (Schriften zur Verfassungsgeschichte. Band
19); im folgenden zitiert als: Schulze, Grafschaftsverfassung. -
Borgolte, Michael: Geschichte der Grafschaften Alemanniens in
f ränkischer Zeit. Sigmaringen, 1984 (Vorträge und Forschungen.
Sonderband 31), S. 219-229. - Ders.: Die Grafen Alemanniens in
merowingischer und karolingischer Zeit. Sigmaringen, 1986 (Ar-
chäologie und Geschichte. Band 2), S. 18 f.
2) Die Gaue, die man schon in der Völkerwanderungsze i t kannte,
bildeten wahrscheinlich die räumliche Grundlage für die Graf-
schaftsverfassung. Dies bedeutet aber nicht, dass Gau und Graf-
schaft übere inges t immt haben. Oft wurden mehrere Gaue zu einer
Grafschaft zusammengefasst. Vgl.: Schulze, Grafschaftsverfassung,
S. 313.
3) Ospelt, Joseph: Die Gründung der Grafschaft Vaduz nebst kurzer
Geschichte der vorausgegangenen Zeit. In: JBL 41 (1941), S. 31; im
folgenden zitiert als: Ospelt, Grafschaft Vaduz.
4) Schulze, Grafschaftsverfassung, S. 123.
5) Ebenda, S. 124.
6) Ebenda. S. 341.
7) Ebenda, S. 101. Es könnte sich dabei um Sonderbezirke für
Militärkolonisten auf Königsland handeln. Vgl. auch ebenda, S. 320.
8) Ebenda, S. 319. - Alois Nieders tä t ter unterscheidet zwischen den
«causa minores», für die der Zentenar zuständig war, und den
«causa maiores», die dem Grafen vorbehalten blieben. Vgl.: Nieder-
stätter, Alois: Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
Vorarlbergs (14. bis 16. Jahrhundert). In: Montfort 39 (1987), S. 61;
im folgenden zitiert als: Niederstätter, Beiträge Vorarlberg.
9) Vgl . Burmeister, Kar l Heinz: Grundlinien der Rechtsgeschichte
Vorarlbergs. In: Montfort 39 (1987). S. 47. Bis ins Spätmittelal ter
tagte das freie Landgericht zu Rankweil unter freiem Himmel.
7
richtspflicht auf zwei bis drei Gerichtstage pro
Jahr, um eine allzu starke Belastung der Freien zu
verhindern. 1 0 Weiters existierte auch noch das ge-
botene Ding, woran nur die Schöffen" und die an-
gesehensten Männer des Gerichtsbezirkes teilneh-
men mussten.1 2 Im Laufe der Zeit wurde immer
mehr Grundbesitz in Churrätien an den Bischof
von Chur übertragen. Kraft der dem Bischof für
den Kirchenbesitz verliehenen Immunität durften
Grafen und Richter dort keine Amtshändlungen
vornehmen. Einzig die Vollstreckung von Todesur-
teilen blieb dem Grafen vorbehalten.
Im Jahr 916 wurde durch Konrad I. das Herzog-
tum Alemannien (Schwaben) wiederhergestellt und
mit Churrätien vereinigt.1 3 Der Herzog von Schwa-
ben war der königliche Vertreter in Schwaben, der
vom König eingesetzt und mit «Zwischengewalt»
betraut wurde. 1 4 Er benötigte jedoch zur Ausübung
seiner Herrschaft die Zustimmung und Mitwirkung
der schwäbischen Machthaber, der Grafen. Die
Rechtsgrundlage seiner Herrschaft war das Le-
hensrecht.1 3 Im 11. Jahrhundert kam das Herzog-
tum Schwaben mit Rätien an die Hohenstaufen.1 6
Schliesslich trat im Jahr 949 in Unterrätien der
Graf Ulrich von Bregenz auf. Über eine Nachfahrin,
Elisabeth, ging sein ganzer Eigen- und Lehenbe-
sitz, also Bregenz, Feldkirch, Vaduz, Werdenberg,
Sargans und das Rheintal auf deren Mann, Graf
Hugo von Tübingen, über. Ihr Sohn Hugo, der um
1180 die Stadt Feldkirch gründete, war der Ahn-
herr der Grafen von Montfort. 1 7 Im Hause Montfort
gab es in der folgenden Zeit Erbteilungen, wodurch
ein Zweig der Montforter, die Grafen von Werden-
berg-Sargans, in den Besitz des liechtensteinischen
Gebietes gelangten.18 Die Brüder Hartmann III. und
Rudolf IV. von Werdenberg-Sargans teilten ihren
Grundbesitz am 3. Mai 1342 entlang des Rheins, 1 9
wodurch am rechten Flussufer die selbständige
Grafschaft Vaduz entstand.2 0
Ab dem Jahr 1198 waren in Schwaben die Kö-
nigswürde und die Herzogswürde unter einem
Haus vereint.2 1 Mit dem Ende der Hohenstaufen
1268 erlosch das Herzogtum. Seitdem waren
Schwaben und Rätien ohne herzogliche Gewalt. 2 2
Die Grafschaften, die sich gebildet hatten, waren
durch den Wegfall der Herzogsgewalt reichsunmit-
telbar geworden. Leider existieren nur sehr wenige
Urkunden, aus denen ersichtlich ist, welche Rechte
die Grafen zu jener Zeit hatten.2 3 Das Fundament
dieser jüngeren Grafschaften, auch «Allodialgraf-
schaften» genannt, bildete der Eigen- und Lehen-
besitz an Gütern und Menschen. Dazu kamen noch
jene Hoheitsrechte, die einst den Grafen als Amts-
trägern des Königs zugestanden worden waren.
Für die Grafschaft Walgau gibt eine Teilungsurkun-
de aus dem Jahr 1355 Auskunft über den Besitz
von königlichen Regalien: Es sind Geleitrechte, Alp-
rechte, Fischrechte, Zölle, Vogeljagd und Märkte. 2 4
Auch vom Hochgericht ist die Rede:
«Ez ist och bereu umb schädelich Lut... Es were
danne, das der selbe schädelich man Grauen Hart-
mans kind oder iro erben were, den sol man danne
antwurten, ienrent den nechsten acht tagen ...
Graue Hartmans kinden und iren erben, oder iro
Amptman ob sis vorderent, in ir nechstes gericht
ane guerde ...».25
Im Jahr 1360 wird erwähnt, dass die Grafen von
Werdenberg-Sargans das Zollrecht in Vaduz besas-
sen. 2 6 Eine sehr aufschlussreiche Quelle ist auch
die Vereinbarung über den Eschnerberg aus dem
Jahr 1394. 2 7 Erwähnt werden das Gericht, die Ta-
vernen, Fischereirechte, Zoll und Geleitrechte.28
Rudolf von Habsburg wurde 1273 deutscher Kö-
nig. Kurz darauf konnte er 1282 die Herzogtümer
Österreich und Steiermark für seine Familie si-
chern. Nach der Erwerbung von Tirol 1363 versuch-
ten die Habsburger, eine Verbindung zwischen ihrer
neuen Herrschaft und den ursprünglichen Besitzun-
gen in der Schweiz zu schaffen. Im Jahr 1390 konn-
ten sie Feldkirch erwerben. Gegen diese Hegemoni-
albestrebungen der Habsburger wandte sich Graf
LIeinrich II. von Werdenberg-Vaduz, der bei König
Wenzel aus dem Haus der Luxemburger die Aner-
kennung seiner Herrschaft als reichsunmittelbares
Lehen betrieb. 2 9 Wenzel ergriff die Gelegenheit, die
Macht der Habsburger einzuschränken und ent-
sprach der Bitte des Grafen am 22. Juli 1396:
«... das wir Jn die selben Jre Grafschaft zu fa-
dutz und alle andere Jre herschefte und lande und
8
«LANDTSBRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
leute mit Stetten vesten merckten dorferen man-
scheften lehen lehenscheften gerichten zollen Mil-
len Eckern wisen weiden puschen wassern Teichen
geyeyden fogel-weiden und sunst andern allen
Jren zugehorungen nichtes ausgenomen wie man
die mit sunderlichen worten benennen mag die von
Jren uorfaren an sie redlichen kummen und der sy
ouch in geruhlicher gwere sind das alles von uns
und. dem Reiche zu lechen ruret zu uerleichen gne-
digklichen geruchten».'M)
Aus dieser Verleihung geht hervor, dass hier nur
ein schon bestehender Zustand bestätigt wurde
und keine neuen Rechte hinzugekommen sind.
Dem von den Habsburgern bedrängten Grafen
Heinrich II. brachte die Urkunde jedoch einen Nut-
zen, da nun bestätigt wurde, dass dessen Herr-
schaften direkt dem König unterstanden und den
Schutz des Reiches genossen.
In der Folge gab es noch viele Versuche, das
Herzogtum Schwaben wiederherzustellen, die aber
stets am Widerstand des Adels scheiterten. Ein An-
wärter auf die Herzogswürde war Herzog Sigmund
von Österreich, der 1474 an seinen Verwandten,
Kaiser Friedrich III., schrieb: «Unter dem Hinweis
darauf, dass die Grafen von Tierstein und Tübin-
10) Ospelt, Alois: Die geschichtliche Entwicklung des Gerichtswesens
in Liechtenstein. In: Liechtenstein Politische Schriften 8 (1981).
S. 221: im folgenden zitiert als: Ospelt. Entwicklung des Gerichtswe-
sens.
1 I) Die Schöffen oder Geschworenen wurden mit der f ränkischen
Gerichtsverfassung eingeführt . Sie waren vom Grafen und allen bei
den Gauversammlungen anwesenden Freien gewähl te s tändige
Beisitzer des Rechtssprechei s. Ihre Zahl war sechs. Vgl. Ospelt.
Grafschaft Vaduz, S. 3 1.
12) Schulze, Grafschaftsverfassung. S. 344.
13) Ospelt. Grafschaft Vaduz. S. 33.
14) Maurer, Helmut: Der Herzog von Schwaben. Grundlagen.
Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer
und staufischer Zeit. Sigmaringen. 1978. S. 301 ff.; im folgenden
zitiert als. Maurer, Herzog von Schwaben.
15) Ebenda, S. 304.
16) Ospelt. Grafschaft Vaduz. S. 34.
17) Ebenda, S. 39.
18) Ospelt, Joseph: Zur liechtensteinischen Verfassungsgeschichte.
In: JBL 37 (1937), S. 9 f.; im folgenden zitiert als: Ospelt. Verfas-
sungsgeschichte.
19) Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens. S. 222.
20) In diesem Teilungsvertrag sind die Anteile der beiden Brüder
nur sehr grob umschrieben. Genannt werden die Gebiete und die
Formel «waz dar zuo gehöret». Dahinter verbergen sich auch
verschiedene, nicht nähe r definierte Rechte. Vgl. Sablonier, Roger:
«Graf Hartmann sol ze tail werden Vadutz». Der Werdenberger
Teilungsvertrag von 1342. In: JBL 92 (1994). S. 1-37, hier S. 5.
21) Maurer, Herzog von Schwaben. S. 272.
22) Ebenda. S. 298.
23) Vor allem w ä r e es auch interessant, wie sich die Grafen die
verschiedenen Rechte angeeignet haben und woher sie diese ableite-
ten. Otto Brunner verwahrt sich dagegen, dass man jede Form von
Landesherrschaft von den Grafenrechten ableiten kann; vgl. Brun-
ner, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Ver-
fassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Wien, 1965, S. 204 f.
Auch Dietmar Willoweit beschäft igt sich mit der Entwicklung der
Landesherrschaft und geht davon aus, dass die Adelsherrschaft als
Konkurrenz der königlichen Gewalt die herrschaftlichen Rechte und
Lasten wahrnahm: «Die Landesherrschaft ist daher nicht oder
zumindest nicht nur aus erworbenen oder usurpierten Reichsrech-
ten geschmiedet worden, sondern das Resultat teils eigenberechtig-
ter, teils vom Reiche abgeleiteter Her rschaf t smacht» . Vgl. Willoweit.
Dietmar: Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterl ichen
Landesherrschaft. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte I. Stuttgart,
1983, S. 66 ff.; im folgenden zitiert als: Willoweit, Entwicklung und
Verwaltung. - Alois Niederstät ter benennt als Aspekte des Landes-
ausbaus der Montforter die Zurückdrängung der Konkurrenten,
besonders von geistlichen Institutionen, eine zielgerichtete Heirats-
politik und die Binnenkolonisation. Vgl. Niederstätter, Alois: Aspekte
des Landesausbaus und der Herrschaftsverdichtung zwischen
Bodensee und Alpen im 11. bis 14. Jahrhundert. In: Montfort 44
(1992). S. 48-62.
24) Liechtensteinisches Urkundenbuch (LUB). I. Teil: Von den An-
fängen bis zum Tod Bischof Hartmanns von Werdenberg-Sargans
1416. Band 3: Bearbeitet von Benedikt Bilgen. Vaduz, o. J . . S. 138 ff.
25) Ebenda, S. 139 f.; das Liechtensteinische Urkundenbuch wird im
folgenden jeweils zitiert: LUB 1/1-6 (jeweilige Band-Nummer des 1.
Teils).
26) LUB 1/2, S. 157 f. Geleitrechte und Zölle waren sehr wichtige
Rechte, da sie eine gute Einnahmequelle darstellten: «Letztere be-
rechtigen zu Forderungen gegenüber fremden Hintersassen, oft an
neuralgischen Punkten des Handelsverkehrs, und wirken damit
nachhaltig auf das Wirtschaftsleben grösserer Regionen ein. Der Zoll
ist daher ... ein Zeichen politischer Macht . . .» . Vgl. Willoweit, Ent-
wicklung und Verwaltung, S. 71.
27) LUB 1/3, S. 87 ff.
28) Diese Urkunde wird im Kapitel «Die Gerichtsbarkeit am Esch-
nc iberg» auf S. 14 links ausführ l icher besprochen.
29) Ospelt, Grafschaft Vaduz, S. 62.
30) LUB 1/2, S. 246 f.
9
gen, der Markgraf von Hachberg und die Grafen
von Werdenberg, Sulz, Kirchberg und Lupfen oh-
nedies schon seiner Herrschaft eng verbunden sei-
en, beklagt er [Sigmund], dass demgegenüber die
Grafen von Zollern, von Fürstenberg und von
Montfort <sich iren graffschaft halben ettwas eus-
serlichen hielten, wann sy vermeinen, an mittel
under das heilig Römisch Reich zu gehören>. Seine
Bitte an den Kaiser, dafür zu sorgen, dass auch die-
se Grafen <mir und unserm haws Osterreich mer
verpunden werden>, gipfelt bezeichnenderweise in
der Forderung, <daz eur gnad mir das herzogtum
in Swaben mit seiner zugehorung in lehensweis
verlihen möge, dadurch sy und ettlich freyherrn
unserm haws Osterreich mer gehorsam sein mus-
ten und verpunden wern ...>.»31
DIE BRANDISISCHEN FREIHEITEN
Die Brandisischen Freiheiten - der Name stammt
aus einer Urkunde des Jahres 1614 - wurden dem
Freiherrn von Brandis 1430 zum erstenmal verlie-
hen. Diese Verleihung durch König Sigismund ist
sicherlich wiederum im Zusammenhang mit dem
Kampf gegen die habsburgische Hegemonialpolitik
zu sehen; die landesherrliche Gewalt der Freiher-
ren sollte gestärkt werden, um einen Übergriff der
Habsburger zu verhindern. 3 2
Den Freiherren von Brandis wurde die Aus-
übung der Blutgerichtsbarkeit in Vaduz, Schellen-
berg und Blumenegg bestätigt und der Privilegien-
stand erweitert. Die Urkunde ist im Original nicht
mehr erhalten, doch der Text ist vollständig in eine
andere Urkunde aus dem Jahr 1465 eingefügt. Aus
dem Wortlaut geht hervor, dass dies tatsächlich
nicht die erste Verleihung solcher Rechte war:
«Und er [Wolfliart von Brandis] haut uns
demüticlich gebeten, das wir im den ban über das
blut zuo richten in denselben seiner graufschafft
und herschafft in Walgoew, Vadutz und am Esch-
nerberg zu verlihen und in und sein leut mit den
nachgeschriben gnaden und fryheiten als dann die
der vorgenannt] Hartmannn ouch von unns gehapt
haut, zuo versehen gnediclich geruchten».™
Ritter ist der Meinung, dass diese Verleihung an Bi-
schof Hartmann von Chur, den letzten Grafen von
Werdenberg-Vaduz, im Jahr 1413 stattgefunden
haben muss, weil auch Peter Kaiser in seiner «Ge-
schichte des Fürstenthums Liechtenstein» er-
wähnt, dass sich Sigismund damals in Chur aufge-
halten hat. 3 4 Es findet sich auch bei Kaiser der Hin-
weis auf eine Urkunde dieser Ar t . 3 5
Die wichtigsten Rechte, die Wolfhart von Bran-
dis durch diese Urkunde verliehen beziehungswei-
se bestätigt bekam, sind:
- der Bann, über das Blut zu richten in der Graf-
schaft und Herrschaft in Walgau, Vaduz und am
Eschnerberg.
- Ausschluss der Berufung an das königliche
Landgericht Unterrätiens in Rankweil und an das
königliche Hofgericht in Rottweil. Dies war eine
wichtige Neuerung; alle Untertanen und alle, die in
den brandisischen Gebieten wohnten, durften nur
noch vor den eigenen Gerichten abgeurteilt wer-
den.
Eine wesentliche Ausweitung in Bezug auf die
Gerichtsrechte erhielten die Brüder Ludwig und
Sigmund II. von Brandis im Jahr 1492. Seit damals
war es ihnen gestattet, die Blutgerichtsbarkeit
nicht durch eigene Richter wahrnehmen zu lassen,
sondern diese direkt an die Landammänner zu
übertragen:
«... auch den vorbestimbten pan über das plut
zurichten, so o f f t es not sein wirdet, den im, die sy
zu ainer yeden zeit nuczlichen bedunnken, und
vernunnfft und schicklichaithalben darczu tuglich
und gut sein, verner verleyhen und zu richten be-
velhen sullen unnd mugen, die bey den Aiden, so
unns die vorgemelten von Brandiß als hernach-
volgt darumb gethan, ...».36
Der Text dieser von Kaiser Friedrich III. ausgestell-
ten Urkunde ist ebenfalls nur als Einfügung in einer
Urkunde von König Maximilian I. aus dem Jahr
1507 erhalten. Die wichtigsten Bestimmungen be-
trafen die Gerichtsrechte, die einen Ausschluss al-
ler anderen Gerichte vorsahen (Ausnahmen waren
die Landesherren selbst, die ihren Gerichtsstand
beim Kaiser oder beim kaiserlichen Hofgericht hat-
10
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
ten und Kläger, die Klage gegen einen Untertan der
beiden Herrschaften einbringen wollten und denen
das Klagerecht bei einem der Gerichte versagt
war); weiters war es dem Landesherrn verboten,
die von anderen Gerichten verurteilten und geäch-
teten Leute in seinem Gebiet aufzunehmen; auch
sollte er danach trachten, alle Übeltäter zu fangen
und zu verurteilen und er musste dem Kaiser Eid
und Gelübde leisten, die Gerichtsbarkeit als unpar-
teiischer Richter auszuüben:
«dem armen als dem reichen und dem reichen
als dem armen, und darynn nit ansehen miet, gab,
gunst, forcht, freunntschafft noch veindtschafft
noch sunnst ganncz kain annder Sachen, dann al-
lain gerechts gericht und recht inmassen sy das
gegen got dem almechtigen an dem iungsten ge-
richt veranntwurten wellen, ,..».37
Weitere Rechte betrafen die Mauten und Zölle, die
unter Androhung von Warenpfändungen erhoben
werden durften. Jedoch «so sy das an aines ennde
nemen dieselben an anndern ennden damit nit be-
sweren».™ Die Freiherren von Brandis erhielten
auch Nutzungsrechte an Bergwerken, Gerichts-
zwängen, Mühlen und Mühlstätten, Steinbrüchen,
Weiden, Hölzern, Wäldern, Wasser, Wasserleitun-
gen und Zwingen.
Da es sich bei diesen Rechten um Reichslehen
handelte, mussten sie bei jedem Herrscherwechsel
und auch bei jedem Wechsel des Landesherren neu
bestätigt werden. Diese Neubelehnungen mit den
Regalien wurden aber nicht immer vorgenom-
men. 3 9
An der Wende zur Neuzeit kam die Praxis auf,
das Recht, den Blutbann auszuüben, getrennt von
den Regalien zu verleihen. Es sind fünf Urkunden
dieser Art erhalten, die erste aus dem Jahr 1587;
der rechtliche Inhalt deckt sich mit dem der Urkun-
den über die Brandisischen Freiheiten. 4 0
DIE GERICHTSBARKEIT A M E S C H N E R B E R G
Aufgrund der Tatsache, dass Schellenberg nur eine
Herrschaft und keine Grafschaft war, sind die Ge-
richtsrechte sicherlich erst sekundär, also mit den
Grafen, dorthin gelangt. Deshalb scheint es not-
wendig, sich mit der Geschichte dieser Herrschaft
genauer auseinanderzusetzen.
Das Gebiet am Eschnerberg wurde nach einem
Geschlecht benannt, das von etwa 1200 bis 1317
Besitzungen in dieser Gegend hatte. Das Ge-
schlecht der Herren von Schellenberg stammt ur-
sprünglich aus dem Isartal, wo der Name um 1200
verschwunden ist und zur gleichen Zeit am Esch-
nerberg auftauchte.4 1 Büchel stellt fest, dass zur
Zeit der Hohenstaufen eine grosse Zahl von schwä-
31) Maurer, Herzog von Schwaben. S. 300.
32) Immer wieder bestand die Gefahr einer Übe rnahme der Gebiete
durch die Habsburger, die aber verhindert werden konnte. Graf
Heinrich II. von Vaduz widerrief eine Erbeinigung mit dem Grafen
Rudolf von Montfort-Feldkirch, weil er seine Herrschaft an die
Habsburger verkauft hatte. Stievermann stellt zusammenfassend
fest: «Im Hinblick auf Habsburg wandelte man also weiterhin auf
einem sehr schmalen Grad zwischen echter eigen herrschaftlicher
Stellung - kombiniert mit verschiedenen Dienst- und Rechtsbezie-
hungen zu dem übermächt igen Nachbarn - und der vollen territoria-
len Einverleibung. Die fortdauernde Aufsaugung anderer Herrschaf-
ten durch Österreich im Vorarlberger Raum demonstrierte immer
wieder den hohen Gefährdungsgrad der eigenen Lage». Stiever-
mann, Dieter: Geschichte der Herrschaften Vaduz und Schellenberg
zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Liechtenstein - Fürstl iches
Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundlagen und
moderne Perspektiven. Hrsg. Volker Press: Dietmar Willoweit.
Vaduz, 1987, S. 105.
33) Ritter, Rupert: Die Brandisischen Freiheiten. In: JBL 43 (1943).
S. 12; im folgenden zitiert als: Ritter. Brandisische Freiheiten.
34) Ebenda, S. 17.
35) Kaiser, Peter: Geschichte des Fü r s t en thums Liechtenstein. Nebst
Schilderung aus Chur-Rätien 's Vorzeit. Chur, 1847. Neu hrsg. von
Arthur Brunhart. Vaduz, 1989. 2 Bände. Band 1, S. 220; im folgen-
den zitiert als: Kaiser, Geschichte Liechtensteins.
36) Ritter, Brandisische Freiheiten, S. 22 f.
37) Ebenda, S. 23.
38) Ebenda, S. 22.
39) Ebenda. S. 28.
40) Die Urkunde von 1587 ist ebenfalls bei Rupert Ritter ediert.
Ebenda. S. 40 ff.
41) Büchel, Johann Baptist: Geschichte der Herren von Schellenberg.
In: JBL 7 (1907), S. 5-102, hier S. 10; im folgenden zitiert als:
Büchel, Geschichte Schellenberg.
11
Kapelle
Schreiber Landammann Weibel
Fürsprech, zwei Räte
12
Beisitzer
Beklagter
Fürsprech, zwei Räte
12
Beisitzer
->• Umstehende Gerichtsgemeinde ^ -
bischen Edlen entlang dem Rhein bis zu den Alpen-
pässen Burgen bewohnten:
«Wohl durch die staufischen Herzöge und, Kai-
ser geschah die Gründung dieser deutschen Edel-
sitze auf ihrem Gebiete oder dem des Reiches. Es
geschah dies teils, um die bei den vielen Feldzügen
geleisteten Dienste zu belohnen, teils um neue
Dienste sich zu sichern; jedenfalls aber auch, um
die Straßen über die Pässe nach Italien zu bewa-
chen»42
Viele unmittelbar unter dem Kaiser und unter dem
Reich stehende Güter wurden damals als Lehen
verliehen. Spätestens seit der Zeit des Interreg-
nums wurden diese Lehen von den Lehensneh-
mern als Eigentum betrachtet. Nur selten gelang es
König Rudolf I. später, diese Gebiete für das Reich
zurückzugewinnen.
Die Herren von Schellenberg waren wahrschein-
lich Reichsministerialen, die nach dem Tod Phi-
lipps von Schwaben Vasallen der Grafen von Wer-
denberg wurden. 4 3 Auch die Werdenberger hatten
schon Besitzungen am Eschnerberg, bevor sie im
Jahr 1317 die Güter der Herren von Schellenberg
kauften. 4 4
Man sieht also, dass es sich bei der Herrschaft
Schellenberg um kein geschlossenes Gebiet han-
delt. Um 1180 hatte der ganze Eschnerberg zur
Grafschaft des Hugo von Montfort gehört, dem
Sohn des Pfalzgrafen Hugo von Tübingen. 4 5 Er teil-
te seinen Besitz am Eschnerberg unter seine Söhne
auf, wobei Rudolf, der sich Graf von Werdenberg
nannte, das Gebiet der Pfarrei Bendern mit Ruggell
und Schellenberg sowie Leute und Güter zu Eschen
und Mauren erhielt, während sein Bruder Hugo
von Montfort Tisis, Tosters, Nofels und Bangs und
ebenfalls Leute und Güter zu Eschen und Mauren
bekam. 4 6 Die Besitzungen Rudolfs wurden später
innerhalb des Geschlechts wieder aufgeteilt; die
werdenbergischen Leute und Güter am Eschner-
berg kamen an die Linie der Grafen von Werden-
berg-Sargans und von diesen an den Zweig der
Grafen von Vaduz. Dazu kamen noch die Besitzun-
gen der Herren von Schellenberg. Wie aus den von
Johann Baptist Büchel edierten Regesten der Her-
12
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Das Gericht der Herrschaft
Schellenberg tagt bei der
Rofenberg-Kapelle in
Eschen. Der Landammann
in der Bildmitte hält einen
gebrochenen Stab in den
Händen, was auf einen
Malefizprozess hinweist.
Fälschlicherweise sind in
dieser Schulbuch-Skizze
lediglich 12 anstatt 24
Beisitzer dargestellt. Auch
fehlen auf dem Bild die
Schranken, welche die
Zuschauer und Zuschaue-
rinnen - die umstehende
Gerichtsgemeinde - von
den internen Mitgliedern
des Gerichts trennen.
Links auf Seite 12 ist da-
her eine korrigierte Skizze
dieser Gerichtsszene in
schematischer Form abge-
bildet.
ren von Schellenberg zu ersehen ist, gehörte zur
Herrschaft am Eschnerberg der Zehent von Wein,
Korn, Obst und allen Früchten, Schweinen, Hüh-
nern und Gänsen aus dem ganzen Gebiet zwischen
III und Rhein unterhalb von Tosters sowie der ge-
samte Kirchenzehnt der Pfarrei Bendern. Dazu ka-
men noch Fischereirechte in der Esche, das Geleit-
recht von Feldkirch nach Werdenberg und ebenso
die Fährrechte über den Rhein in Ruggell. 4 7
Bei der Teilung Schwabens in Ober- und Nieder-
schwaben durch König Rudolf im Jahr 1282 wur-
den die Brüder Ulrich und Marquard von Schellen-
berg zu Richtern in Oberschwaben ernannt, die im
Namen des Königs Recht sprechen sollten. 4 8
Dienstmannen, Ritter und Städte mussten geloben,
den Richtern wirksame Beihilfe zu leisten. Die Brü-
der nannten sich nun Statthalter des Königs oder
42) Ebenda, S. 14.
43) Büchel stellt fest, dass die Hohenstaufen und auch die Herren
von Schellenberg von den Grafen von Montfort auf das erbittertste
bekämpf t wurden. Es besteht die Möglichkeit, dass das Lehen, das
die Herren von Schellenberg am Eschnerberg erhalten hatten, von
der alten Grafschaft Bregenz abgetrennt worden war und die Grafen
von Montfort nach dem Tod Philipps versuchten, es wieder zurück-
zugewinnen. Aufgrund dieser Gefahr suchten die Herren von Schel-
lenberg Schutz bei den Werdenbergern. - Büchel, Geschichte Schel-
lenberg, S. 15.
44) Büchel, Johann Baptist: Geschichte des Eschnerberges. In: J B L
20 (1920), S. 5-36, hier S. 13; im folgenden zitiert als: Büchel,
Geschichte des Eschnerberges.
45) Ebenda, S. 12.
46) Ebenda, S. 12 f.
47) Büchel, Johann Baptist: Regesten der Herren von Schellenberg.
In: J B L 1 (1901), S. 238 Nr. 233, 234, S. 256 f. Nr. 264.
48) Büchel, Geschichte Schellenberg, S. 32 f.
13
königliche Landvögte. Sie waren in den Jahren
1284 bis 1298 sowie von 1304 bis 1314 als Land-
vögte tätig, wodurch sie Gelegenheit hatten, Grund-
besitz zu erwerben. 4 9 Im Jahr 1317 verkaufte Mar-
quard von Schellenberg seine Besitzungen an die
Grafen von Werdenberg-Bludenz. Zur gleichen Zeit
verschwanden die Herren von Schellenberg aus
der Gegend des Eschnerbergs.5 0
Rudolf IV. von Montfort-Feldkirch verkaufte sei-
ne Grafschaft an die Herzöge von Österreich. Eini-
ges behielt er aber seinem Neffen, Graf LIeinrich
von Vaduz, vor, teils als Leibgeding auf dessen Le-
benszeit, teils als Eigentum. Nach seinem Tod im
Jahr 1390 kamen einige Rechte und Gebiete an
Österreich, während der Rest Heinrich von Vaduz
zufiel. 5 1 Seit dem Jahr 1390 hatte also der Eschner-
berg nur noch zwei Herren: den Grafen Heinrich
von Vaduz und den Grafen Albrecht von Werden-
berg-Bludenz.
Eine interessante Quelle in diesem Zusammen-
hang ist ein Vertrag zwischen den beiden Grafen
über strittige Gerechtsame am Eschnerberg. Er
wurde im Jahr 1394 geschlossen. Dieser Vertrag
handelt «von der stoss und misshellung wegen so
wir von dirr nächgeschribnen stukk und Sachen
wegen in walgow in Montafun und och an dem
Eschnerberg untz uf den hüttigen tag als diser brief
geben ist».52 Beide Herrschaften sollten am Esch-
nerberg einen Ammann über ihre Leute setzen, der
für die eigenen Beklagten zuständig war. Verbre-
cher und Totschläger mussten nach Vaduz geführt
und dort abgeurteilt werden. Weiters werden in
dem Vertrag noch Streitigkeiten bezüglich Taver-
nen und der Fischerei in der Esche geregelt. Nörd-
lich der Esche durften die Grafen von Vaduz keinen
Zoll erheben. Das Geleitrecht des Grafen von Blu-
denz wird ebenfalls abgesteckt. Diese beiden ein-
träglichen Rechte waren also beiden Grafen gleich-
zeitig zu eigen.
Nach dem Tod des Grafen Heinrich von Vaduz
kam es zwischen seinem Bruder, Bischof LIartmann
von Chur, und dem Grafen Albrecht von Bludenz zu
einem neuerlichen Vertrag, weil es immer wieder
Streitigkeiten bezüglich verschiedener Gerechtsa-
me gab. 5 3 Seit 1402 hatte der Graf von Vaduz auf-
grund dieses Vertrags die Blutgerichtsbarkeit über
alle Verbrecher auf dem Eschnerberg inne:
«Umb die stoss an dem Eschnerberg ist berett
und sien daz ainhelliklichen in ain komen was da
schädlicher lut werdent gefangen die mir Graf Al-
brechten zugehörent oder min Aigen sind. Die sol
und mag Graf Hartman und sin erben und ire
Amptman gen Vadutz füren und die da berechten
von weders hern luten die gefangen werdent».54
Bei flüchtigen Verbrechern konnte der Graf von Va-
duz das erste Gericht am Eschnerberg halten. Für
alle anderen Verbrechen sollte weiterhin für jede
Herrschaft ein Ammann zuständig sein, und der
Graf von Vaduz sollte, wie es traditionell immer ge-
schehen war, zweimal jährlich Gericht halten, im
Mai und im Flerbst. Ausserdem wurden Vereinba-
rungen über herrschaftliche Tavernen und das Fi-
schen in der Esche getroffen. Die neu zugewander-
ten Leute sollten dem Grafen von Vaduz gehören.
Bischof Hartmann von Chur verpfändete seine
Hälfte des Eschnerbergs an seine Stiefbrüder, die
Freiherren Ulrich Thüring und Wolfhart von Bran-
dis. Graf Albrecht von Bludenz wiederum verkaufte
seine Besitzungen im Jahr 1412 an den Grafen Wil-
helm IV. von Montfort-Tettnang.'5 Nach seinem Tod
kam es allerdings zu Streitigkeiten. Eine seiner
Töchter war mit Wolfhart von Brandis verheiratet,
zwei andere verkauften ihre Besitzungen an ihren
Schwager Wolfhart, obwohl Graf Wilhelm behaup-
tete, im Alleinbesitz der Herrschaft zu sein. Ein kai-
serlicher Entscheid von Sigismund dürfte aber im
Jahr 1434 zugunsten des Wolfhart zu Brandis aus-
gegangen sein, da dieser ab diesem Zeitpunkt im
alleinigen Besitz des Eschnerbergs war. Nun war
also der Eschnerberg zu einer einheitlichen Llerr-
schaft geworden, die Schellenberg genannt wurde.
Es gab auch nur noch einen Ammann, der zu
Rofenberg Gericht hielt. Obwohl Schellenberg keine
alte Grafschaft war, wurde es von den Freiherren
von Brandis der Grafschaft Vaduz gleichgestellt
und erhielt so wie diese das Hoch- beziehungswei-
se Blutgericht.
14
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
DER L A N D S B R A U C H - EIN WEISTUM?
DER BEGRIFF DES WEISTUMS
Als «Weistümer» werden eine bestimmte Art von
ländlichen Rechtsquellen bezeichnet. Diese Be-
zeichnung ist seit den Arbeiten Jacob Grimms üb-
lich geworden. 5 6 Dieter Werkmüller gibt an, dass
das Wort Weistum aus den Quellen selbst stammt,
die sich häufig als «weistum», «Weisung», «wisin-
ge», «wisong» oder «bewisung» bezeichnen. 5 7
Weistümer sagen etwas aus über die Rechtslage
in früheren Zeiten. Sie regeln seit dem Spätmittel-
alter meist das Verhältnis zwischen dem Grund-
herrn und seinen Hintersassen.5 8 Sobald man die
gegenseitigen Rechte und Pflichten gewiesen - also
in einer förmlichen Versammlung festgestellt - hat-
te, waren sowohl die Bauern als auch der Grund-
herr an das Weistum gebunden.5 9 Das erklärt die
beiderseitige Bestrebung, in allen Bereichen des
Rechts eine Bestimmung zu finden, um sich im
Streitfall auf das Weistum berufen zu können. Die
Bedeutung der Weistümer liegt demnach in Aussa-
gen über die Wirtschafts-, die Sozial- und die
Rechtsgeschichte.
Der Beginn der Weistumsforschung ist mit den
Quellensammlungen Jacob Grimms anzusetzen.
Seine Sammlung, die aus sechs Bänden besteht,
enthält Weistümer aus allen Teilen Deutschlands,
aber auch aus der Schweiz, Frankreich und Öster-
reich. Sie gilt als grundlegend und wegweisend für
alle späteren Weistümersammlungen. 6 0
Im Jahr 1870 begann man in Österreich, Weistü-
mer zu sammeln und herauszugeben. Dies geschah
im Auftrag der kaiserlichen Akademie der Wissen-
schaften. Die Einteilung erfolgte nach Krön- re-
spektive Bundesländern. Heute ist diese Edition be-
reits auf 18 Bände angewachsen. Die Vorarlberger
Weistümer wurden von Karl Heinz Burmeister her-
ausgegeben, der zuvor schon Studien über den
Charakter und die Entstehung der Vorarlberger
Weistümer veröffentlicht hat. Seine Studien können
auch zur Bearbeitung der liechtensteinischen
Landsbräuche herangezogen werden.
Die Schweiz ist ebenfalls ein Gebiet, das reich an
Weistümern ist. 6 1 Sie sind in der grossen «Samm-
lung Schweizerischer Rechtsquellen» ediert. Be-
sonders hervorzuheben ist die Auswertung der
St. Galler Offnungen 6 2 durch Walter Müller. 6 3 Für
den Vergleich mit Liechtenstein interessant ist die
Edition des Landsbrauchs der zürcherischen Frei-
herrschaft Sax-Forsteck aus dem Jahr 1627 durch
Hans Georg Aebi . 6 4
Das Wort «Weistum» kommt von der Weisung
und ist gleichzeitig das Ergebnis der Weisung. 6 5
49) Ebenda, S. 51 f.
50) Ebenda, S. 16.
51) Büchel, Geschichte des Eschnerberges. S. 16 f.
52) LUB 1/3, S. 88.
53) Büchel, Geschichte des Eschnerberges, S. 18 f.
54) LUB 1/3, S. 213.
55) Büchel. Geschichte des Eschnerberges, S. 21 f.
56) Werkmüller, Dieter: Über Aufkommen und Verbreitung der Weis-
tümer. Nach der Sammlung von Jacob Grimm. Berlin, 1973, S. 66;
im folgenden zitiert als: Werkmüller, Aufkommen der Weistümer.
57) Ebenda.
58) Vgl . Wiessner, Hermann: Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeu-
tung der Weis tümer im deutschen Kulturgebiet. Baden, Wien,
Leipzig, Brünn, 1934, S. 2; im folgenden zitiert als; Wiessner,
Sachinhalt.
59) Vgl . Theisl, Maria: Die Bestimmungen der Weis tümer der
österreichischen Alpenländer im Spiegel des heutigen Rechtes. Diss.
Graz, 1994, S. 19; im folgenden zitiert als: Theisl, Bestimmungen
der Weistümer.
60) Die Grimm'sche Weis tümersammlung wird ausführ l ich behan-
delt bei Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 34 ff. Allerdings
beschränk t sich die Abhandlung auf das Gebiet der alten Bundesre-
publik Deutschland.
61) Vgl. ebenda, S. 84.
62) Zum Begriff «Öffnung» siehe Ausführungen auf Seite 16.
63) Müller, Walter: Die Offnungen der Fürs tabte i St. Galten. Die
Ergebnisse im Spiegel der Weistumsforschung. In: Deutsche Ländli-
che Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung.
Hrsg. Peter Blickle. 1. Auflage, Stuttgart, 1977.
64) Aebi , Hans Georg: Landsbrauch der zürcher ischen Freiherr-
schaft Sax-Forsteck 1627. Ein Beitrag zur Erforschung ländlicher
Rechtsquellen im St. Galler Rheintal. Diss. Zürich, 1974: im folgen-
den zitiert als: Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck.
65) Vgl . Wiessner. Sachinhalt, S. 1.
15
Alte, rechtskundige Männer geben auf amtliche An-
frage unter Eid eine Aussage über geltende Rechts-
gewohnheiten. Auf diesem Weg gefundenes Recht
wird als gewiesenes Recht bezeichnet und steht im
Gegensatz zum gesetzten Recht, dessen Schaffung
durch Satzung oder Gebot zunächst dem Königtum
vorbehalten war. 6 6 Das Erscheinen der erwachse-
nen Männer einer Gerichtsgemeinde bei der Wei-
sung war Pflicht. 6 7 Erst ab dem 13. und 14. Jahr-
hundert erfolgte die Aufzeichnung der Weistümer,
um im Falle von Streitigkeiten einen schriftlichen
Beweis für das geltende Recht zu haben. 6 8 Die
schriftliche Fixierung der Weistümer war kein Akt
einer selbständigen Rechtssetzung, sondern nur
die Feststellung und Verkündung des geltenden Ge-
wohnheitsrechts. Selbst wenn das Weistum verbes-
sert oder den neuen Verhältnissen angepasst wur-
de, verstand man dies nicht als neue Rechtsset-
zung. 6 9 Man ging vielmehr von dem Grundsatz aus,
dass es für alle Rechtsfälle ein geltendes Gewohn-
heitsrecht gab, das nur gewiesen werden musste.
Wurde aber durch die Weisung neues Recht ge-
schaffen, weil es vorher keine klare Entscheidung
gegeben hatte, war das den Beteiligten nicht be-
wusst. 7 0 Die Bestimmungen der Weistümer wurden
öffentlich verlesen. Die ältesten schriftlichen Weis-
tümer stammen aus dem 12. Jahrhundert, die
jüngsten waren noch im 19. Jahrhundert, zum Teil
auch noch im 20. Jahrhundert in Anwendung. 7 1
Nicht in allen Quellen der deutschsprachigen Ge-
biete kommt das Wort «Weistum» vor. 7 2 Es findet
sich vor allem in Mittel-, Nord-, Nordwest- und
Westdeutschland. In Süddeutschland bezeichnen
sich die Quellen als «Ehaft» oder «Ehafttaiding», in
Österreich als «Taiding» oder «Banntaiding», in
der Schweiz als «Öffnung», «Öffnung» oder «Jahr-
ding», im Elsass als «Dingrodel», in Sachsen und
Nordböhmen als «Rüge» und in Niederdeutschland
als «Holtding». In Liechtenstein, Vorarlberg und
seltener auch in der Schweiz ist der Begriff «Lands-
brauch» üblich.
Ein Schema zur Einteilung der Weistümer bietet
Theodor von Inama-Sternegg in seiner Arbeit:
«Über die Quellen der deutschen Wirtschaftsge-
schichte»: 7 3 Er unterteilt die Weistümer in folgende
Unterkategorien: Gerichtsweistümer, Marktgenos-
senschaftsweistümer, Urbarial(Stifts)weistünier, Dorf-
weistümer, Bauernschaftsweistümer sowie Hof-
rechtsweistümer.
Erna Patzelt geht bei ihrer Einteilung der Weis-
tümer von der Erkenntnis aus, dass sie das Ver-
hältnis zwischen Grundherren und ihren Hinter-
sassen regeln. Gemäss ihrer Analyse können Weis-
tümer folgende Bereiche abdecken beziehungswei-
se beinhalten: 7 4
1. Privilegien;
2. Urkunden, die über die Streitigkeiten zwischen
verschiedenen Grundherrschaften handeln;
3. Erläuterungen der Rechte der Hintersassen;
4. Urkunden über eine von der Gemeinde selbst
beschlossene Ordnung ihrer inneren Angelegen-
heiten, die auf deren Bitte von der Gerichtsob-
rigkeit genehmigt und ratifiziert wird;
5. Urkunden, die von den Grundherrschaften selbst
ausgestellt sind.
Hermann Wiessner teilt die Weistümer in zwei Ka-
tegorien ein, nämlich je nachdem, ob im Weistum
der Herr oder die bäuerliche Bevölkerung im Vor-
dergrund steht.75 Von den verschiedenen Arten von
Weistümern zählt Dieter Werkmüller die wichtigs-
ten a u f 7 6
1. Reichsweistümer: Die deutschen Kaiser des Mit-
telalters Uesen durch die Edlen ihres Flofes fest-
stellen, was «herkömmlich und rechtens» sei;
2. Landrechte, die in Weisturnsform ermittelt wur-
den, die aber häufig eine Mischform zwischen
Weistum und Satzung darstellen;
3. Städtische Weistümer;
4. Sendweistümer: Weistümer der Kirche;
5. Bäuerliche Weistümer: Weistümer im engeren
Sinn.
DIE DEFINITIONEN
Auch heute herrscht noch keine Einigkeit darüber,
wie ein Weistum zu definieren ist. Die erste umfas-
sende Definition stellte Hans Fehr auf, der folgende
Merkmale eines Weistums hervorhob:
16
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
«Weistümer sind Rechtsdenkmäler eines lokal
eng begrenzten, bäuerlichen Lebenskreises, ausge-
hend von der Genossenschaft allein oder von Ge-
nossenschaft und Herrschaft zusammen. Sie wei-
sen überwiegend gewohnheitsrechtliche und bis
zum 16. Jahrhundert deutschrechtliche Natur auf
und sind abgestimmt auf dauernde Regelung der
Rechtsverhältnisse».77
Georg von Below hat den Weistumsbegriff formaler
definiert als «Aussage der Pflichtigen über gelten-
des Recht, abgegeben auf amtliche Anfrage». 7 8
Würde man aber nur das Kriterium der Beantwor-
tung von Rechtsfragen heranziehen, so wären viele
Weistümer von dieser Definition ausgeschlossen.79
Viele stellen sich nämlich als einfache Zusammen-
fassung des bäuerlichen Rechtsstoffes oder als Ver-
einbarungen zwischen Genossenschaft und Herr-
schaft dar. Deshalb ist diese Definition von Below
zu eng gefasst.
Karl Heinz Burmeister weist darauf hin, dass
der vorhandene Gegensatz zwischen Formweistum
und Editionsweistum keine Einigung auf einen Ge-
samtbegriff zulässt. 8 0 Vielmehr sei es nötig, eine
Definition auf zwei verschiedenen Ebenen vorzu-
nehmen. Eine Schwierigkeit ergibt sich, wenn ei-
nem Weistum das Formelement der Weisung fehlt.
Hermann Baltl betont jedoch, dass es in erster L i -
nie auf die Einordnung in die bäuerlichen Lebens-
verhältnisse ankommt. 8 1
Theodor Bühler-Reimann stellt drei Merkmale in
den Vordergrund, deren Kombination für das Weis-
tum spezifisch ist:
«1. Es handelt sich in überwiegendem Masse um
Gewohnheitsrecht; 2. Dieses Recht bezieht sich auf
bäuerliche Lebensverhältnisse, und 3. Die Urheber
haben die erkennbare Absicht, das für alle Teilha-
ber einer Gemeinschaft verbindliche Recht auf die
Dauer zu fixieren».82
Ich möchte mich im folgenden auf die Definition
von Karl Heinz Burmeister stützen und anhand
dieser den Liechtensteinischen Landsbrauch unter-
suchen:
«Das Weistum ist eine Rechtsquelle, die auf eine
dauernde Regelung der Rechtsverhältnisse hin-
zielt, dem bäuerlichen Lebenskreis angehört, einen
lokalen Geltungsbereich hat und vorwiegend ge-
wohnheitsrechtlichen Inhalts ist».Si
1. Mit der Rechtsquelle wird eine dauernde rechtli-
che Regelung, das heisst eine auch für die Zukunft
verbindliche Rechtsfeststellung angestrebt.
Mit diesem ersten Merkmal grenzt Karl Heinz
Burmeister das Weistum vom Urteilsweistum ab,
66) Vgl. Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Hrsg. Heinz Dopsch;
Hans Spatzenegger. Band 1/2. Salzburg, 1983, S. 876; im folgenden
zitiert als: Geschichte Salzburgs.
67) Vgl . Wiessner, Sachinhalt, S. 3.
68) Vgl . Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 20.
69) Vgl . Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 68.
70) Vgl . Geschichte Salzburgs, S. 877.
71) Vgl . Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 3.
72) Vgl . Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 66.
73) In: Wiessner, Sachinhalt, S. 16.
74) Vgl. Patzelt, Erna: Entstehung und Charakter der Weis tümer in
Österreich. Baden, Wien. Leipzig, Brünn, 1924, S. 26 f f ; im folgen-
den zitiert als: Patzelt. Entstehung der Weistümer.
75) Vgl . Wiessner, Sachinhalt, S. 19.
76) Vgl . Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 69 IT.
77) Fehr, Hans: Über Weistumsforschung. In: Vierteljahrsschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 13 (1916), S. 556; im folgenden
zitiert als: Fehr, Weistumsforschung.
78) Zitiert nach Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 72.
79) Vgl. Fehr, Weistumsforschung, S. 555.
80) Vgl . Burmeister, Kar l Heinz: Probleme der Weistumsforschung.
In: Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der
Weistumsforschung. Hrsg. Peter Blickle. 1. Auflage, Stuttgart, 1977,
S. 74; im folgenden zitiert als: Burmeister, Probleme.
81) Zitiert nach Burmeister, Probleme, S. 74 f.
82) Bühler-Reimann. Theodor: Warnung vor dem herkömmlichen
Weistumsbegriff. In: Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme
und Wege der Weistumsforschung. Hrsg. Peter Blickle. 1. Auflage,
Stuttgart, 1977, S. 90 f.; im folgenden zitiert als: Bühler-Reimann.
Warnung.
83) Burmeister, Kar l Heinz: Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr
Standort in der Weistumsforschung. Zürich, 1970, S. 28; im folgen-
den zitiert als: Burmeister, Vorarlberger Landsbräuche .
17
das nur einen konkreten Fall entscheidet.84 Mit der
Niederschrift schafft man Rechtssicherheit und er-
spart sich künftig in ähnlichen Fällen die dauernde
Befragung der Schöffen. In den niedergeschriebe-
nen Weistümern werden Rechtszustände widerge-
spiegelt, die zur Zeit ihrer Entstehung Bestand hat-
ten. Deshalb fragte der Richter auch die Schöffen,
was von alters her rechtens sei. 8 5 Die Änderung
und Anpassung der Weistümer erfolgte nicht ab-
rupt, sondern schrittweise. Dies wurde von den
Bauern nicht als Neuerung empfunden, sondern als
eine Wiederherstellung des guten alten Rechts.8 6
Im Liechtensteinischen Landsbrauch wird in der
Einleitung zum Erbrecht betont, dass man mit des-
sen Festlegung Unruhen und Missverständnisse
beseitigen will:
«Weyl dan wür aiß dißer zeit regierender herr
vor gott und der weit schuldig sind, unserer ge-
threuen lieben underthanen nutz und wohlfarth
zue bedencken, so haben wür die sach mit unßeren
beambten in zeitige berathschlagung gezogen und
demnach, damit allerley unruoch, umbtrieb,
zanckh, hader, Überlaufens der obrigkeit, unco-
stung, vernachtheilung, vortheil und verkhürtzung
(alles den billichen gleichmessigen rechten zuewi-
der) für khommen und abgeschniten werden ,..».87
2. Die Rechtsquelle sagt etwas über Rechts- oder
Wirtschaftsverhältnisse des bäuerlichen Lebens-
kreises aus.
Karl Heinz Burmeister vertritt damit den engeren
Weistumsbegriff, womit er Reichsweistümer, städ-
tische Weistümer und Ähnliches ausgrenzt. Theo-
dor Bühler-Reimann betont hingegen die Gleich-
wertigkeit von Herrschafts- und Sendweistümern
und ist auch gegen die Abgrenzung von Stadtrech-
ten, die nach seiner Meinung aus Weistümern her-
vorgegangen sind. 8 8 Im liechtensteinischen Lands-
brauch findet sich nur der Hinweis, dass er für die
Untertanen des Landesfürsten erstellt worden und
für diese gültig ist.
3. Die Quellen zum Landsbrauch haben gewohn-
heitsrechtlichen Inhalt.
Mit der Niederschrift der Quellen wurde nicht neu-
es Recht gesetzt, sondern überkommenes kund-
gemacht. Schon die Bezeichnung «Landsbrauch»
deutet auf dieses Element hin . 8 9 Viele Weistümer
berufen sich auf altes Herkommen, auf alte Ge-
wohnheit und auf alten Gebrauch. 9 0 Für den liech-
tensteinischen Landsbrauch ist dieses Merkmal
aber nicht mehr uneingeschränkt gültig. Das Erb-
recht wurde von einem Notar, dem Obervogt Jo-
hann Jakob Beck, aufgestellt, auch die Polizeiord-
nung wurde obrigkeitlich gesetzt.91 Die Aufzeich-
nung der Malefizgerichtsordnung deutet auf lang-
jährige Praxis hin, die schriftlich niedergelegt
wurde.
4. Der Geltungsbereich des Landsbrauchs ist lokal
oder regional begrenzt.
In den Weistümern wurden nur die Beziehungen
der Insassen eines eng begrenzten, territorialen
Gebietes geregelt.92 Das war im Regelfall ein ländli-
cher Gerichtsbezirk. Im Falle Liechtensteins waren
dies die Grafschaft Vaduz sowie die Herrschaften
Schellenberg und Blumenegg, für die der Lands-
brauch von 1682 gültig war. Das allgemeine Pro-
blem dieser Regelung war die grosse Rechtszer-
splitterung, da oft auch benachbarte Grundherr-
schaften verschiedene Rechtsordnungen hatten. 9 3
5. Das Weistum muss sich auf verschiedene Berei-
che des Rechts- oder Wirtschaftslebens beziehen.
Karl Heinz Burmeister bezweckt mit diesem
Merkmal eine Abgrenzung zu den Urbaren und zu
den Sonderweistümern wie Alpsatzungen oder
Mühlenordnungen. 9 4 Wie aus dem Inhaltsverzeich-
nis des liechtensteinischen Landsbrauchs zu erse-
hen ist, trifft auch dieses Merkmal zu.
Ein weiteres Merkmal, auf das Maria Theisl ein-
geht, ist die Tatsache, dass die Weistümer den
Rechtsstoff nicht in eine einheitliche Form brach-
ten, sondern nur Zustände in den einzelnen Grund-
herrschaften wiedergaben. 9 5 Die Bestimmungen,
die das Zusammenleben regelten, standen ohne
Ordnung und Systematik nebeneinander.
18
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Einig sind sich Karl Heinz Burmeister und Theo-
dor Bühler-Reimann in dem Punkt, dass die
deutschrechtliche Natur kein Kriterium für ein
Weistum ist, wie dies noch Hans Fehr forderte. 9 6
Schon ab dem 16. Jahrhundert ist ein römisch-
rechtlicher Einfluss zu beobachten. Dies ist, wie
noch zu zeigen sein wird, auch für den liechtenstei-
nischen Landsbrauch gültig.
DIE B E D E U T U N G DER WEISTÜMER
Nach Ansicht von Dieter Werkmüller liegt der
Schwerpunkt des Quellenwertes der Weistümer in
ihrer Bedeutung für die ländliche Rechts- und Ver-
fassungsgeschichte und besonders für das grund-
herrlich-bäuerliche Verhältnis. 9 7 Aber Weistümer
werden auch als Quellen für die Strafrechtsge-
schichte herangezogen, wie die 1992 erschienene
Dissertation von Ulrike Aichhorn zeigt.9 8 Sie über-
prüft den Topos der strafrechtüchen Schlechterstel-
lung der Frau gegenüber dem Mann anhand der
Weistümer. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis,
dass die Frau dem Mann gleichgestellt, in mancher
Hinsicht sogar bessergestellt war. 9 9 Es gab keine
geschlechtspezifische Differenzierung bei Delikten
wie Zauberei, Hexerei, Gotteslästerung, Vagabun-
dieren, Hausieren und Diebstahl. Als typische
«Frauendelikte» galten Streit und Zank.
Für viele Forscher steht die Bedeutung der Weis-
tümer für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte im
Vordergrund. 1 0 0 Es geht dabei um die Beziehung
des Herrn zu den Untertanen im Rahmen der
Grundherrschaft und die Herleitung der Weistümer
von den Urbaren. Besonders Erna Patzelt und Her-
mann Wiessner untersuchten die Weistümer unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten.1 0 1
Als Dokumente für Auseinandersetzungen zwi-
schen Herrschaftsträgern sieht Irmtraut Eder die
Weistümer. 1 0 2 Besonders im saarländischen und im
kurpfälzischen Raum sind die Quellen stark herr-
schaftlich geprägt. Natürlich geht es aber auch hier
um die innere Organisation der Gemeinde und um
die Beziehungen der Untertanen zum Grund- und
Niedergerichtsherrn.
DER LANDSBRAUCH ALS ZWISCHENFORM
VON WEISTUM UND G E S E T Z
Der vorliegende Landsbrauch, der relativ spät
schriftlich fixiert wurde, ist formal von einem
«ländlichen Weistum», wie es Erna Patzelt oder
Hermann Wiessner beschreiben, schon weit ent-
fernt. Die ländlichen Weistümer sind häufig durch
einen wörtlich wiedergegebenen Wechsel von Fra-
gen des Richters und Antworten der Beisitzer oder
Schöffen gekennzeichnet, der sich im Landsbrauch
von 1667 nur noch teilweise in der Malefizgerichts-
ordnung und im Schuldrecht findet. Das Erbrecht
und die Polizeiordnung hingegen weisen eher die
Merkmale von Gesetzen auf. In der Einleitung des
Erbrechts beruft sich der Landesherr Karl Ludwig
84) Ebenda, S. 23.
85) Vgl. Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 11.
86) Ebenda, S. 14.
87) LEA Landsbrauch 1682: Abschrift von Landammann Basilius
Hoop.
88) Vgl. Bühler-Reimann, Warnung, S. 89.
89) Vgl . Burmeister, Vorarlberger Landsbräuche , S. 24.
90) Vgl. Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 6.
91) L L A Landsbrauch 1682: Einleitung der Erbordnung, Polizeiord-
nung.
92) Vgl . Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 8.
93) Ebenda.
94) Vgl. Burmeister, Vorarlberger Weistümer, S. 25.
95) Vgl. Theisl, Bestimmungen der Weistümer, S. 9.
96) Vgl . Fehr, Über Weistumsforschung, S. 555.
97) Vgl. Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 59.
98) Aichhorn, Ulrike: Die Rechtstellung der Frau im Spiegel des
österre ichischen Weistumsrechts. Wien, 1992. (Dissertationen der
Universität Salzburg. Band 33).
99) Ebenda, S. 121.
100) Vgl . Werkmüller, Aufkommen der Weistümer, S. 57.
101) Patzelt, Entstehung der Weistümer; Wiessner, Sachinhalt.
102) Eder, Irmtraut: Weis tümer als Dokumente der Territorialpolitik.
In: Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der
Weistumsforschung. Hrsg. Peter Blickle. 1. Auflage, Stuttgart, 1977,
S. 142 f.
19
von Sulz zwar auf altes Recht und Herkommen,
weshalb das Erbrecht auch vom Volk als Gewohn-
heitsrecht anerkannt wurde. Es wurde aber nicht
mehr in der für ein Weistum charakteristischen
Form festgehalten. Der Landsbrauch besteht also
aus heterogenen Teilen, wobei gewiesenes (Ge-
wohnheits-)Recht durch obrigkeitliche Satzungen
überlagert wird. Demzufolge ist er am ehesten mit
einem Landrecht vergleichbar, das eine Mischform
von Weistum und Satzung darstellt. 1 0 3 Die Entste-
hung der einzelnen Teile des Landsbrauchs lässt
sich jedoch zeitlich nicht festlegen.
fol . lr : Die erste Seite des
Landsbrauchs von 1667
enthält einleitende Bemer-
kungen zu diesem Gesetz-
buch, welches die Grund-
lage für die landschaftliche
Rechtssprechung darstell-
te. Erst die im Jahr 1809
erlassene neue Erfolgs-
und Hinterlassenschafts-
ordnung hob die diesbe-
züglichen Bestimmungen
des Landsbrauchs auf.
DIE LIECHTENSTEINISCHEN LANDSBRAUCHE
In den liechtensteinischen Archiven befinden sich
sechs Abschriften des Landsbrauchs. Sie unter-
scheiden sich zwar in der Anordnung der verschie-
denen Kapitel, nicht aber im Inhalt. Fünf Abschrif-
ten stammen aus dem 17. Jahrhundert, wobei die
Abschriften von 1664 und 1667 wörtlich gleichlau-
tend sind. Die Abschrift von 1682 enthält zusätz-
lich neun Artikel, die ein Landammann den Ge-
schworenen vorhalten sollte, und ein Sulzisches
Urbar. Weiters liegen aus dem 17. Jahrhundert
noch zwei Fragmente vor, die nicht datiert sind. A l -
bert Schädler nimmt an, dass sie am Beginn des
17. Jahrhunderts niedergeschrieben wurden. 1 0 4 Sie
enthalten einige zusätzliche, später eingefügte Teile
wie einen Anschlag der Reichsherrschaft Schellen-
berg, eine Notiz betreffend «Goldene Boos» und
eine Vogtrechnung aus der Zeit von 1840 bis 1856.
Die jüngste Abschrift wurde im Jahr 1794 von
Andreas Pümpel, einem Studenten der Theologie,
hergestellt. Sie enthält die neue Polizei- und Lan-
desordnung aus dem Jahr 1732, die in gedruckter
Form im Liechtensteinischen Landesarchiv vor-
liegt, und eine Waldordnung aus demselben Jahr.
Die Grundlage für die Edition bildet die Ab-
schrift von 1667, die von den älteren Abschriften
am besten erhalten ist. Sie wurde vom Landam-
mann Johann Georg Wolf zum dienstlichen Ge-
brauch in Auftrag gegeben. Dieser am Beginn der
Abschrift genannte Landammann wurde 1619 ge-
boren. Zwischen 1664 und seinem Sterbejahr 1683
tritt er 15mal urkundlich als Landammann auf. 1 0 5
Er wird aber schon im Jahr 1652 in einer Urkunde
103) Vgl . h ier /u das Kapitel «Landrechte». In: Ebel, Wilhelm:
Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. 2. Auflage. Göttingen,
1958 (Göttinger Rechtswissenschaftlicho Studien. Band 24), S. 51-53;
im folgenden zitiert als: Ebel. Geschichte der Gesetzgebung.
104) Schädler, Albert: Die alten Rechtsgewohnheiten und Landsord-
nungen der Grafschaft Vaduz und der Herrschaft Schellenberg,
sowie des nachherigen Fürs ten tums Liechtenstein. In: JBL 5 (1905).
S. 39-86, hier S. 41: im folgenden zitiert als: Schädler. Rechtsge-
wohnheiten.
105) Vgl . Ospelt. Joseph: Landammänner -Verze ichnis und Landam-
männer-Siegel . In: JBL 40 (1940). S. 37-51. hier S. 51.
20
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
21
erwähnt, in der er unter den Gerichtsleuten auf-
scheint. 1 0 6 Die Abschrift wurde vom ehemaligen
Schulmeister Johann Christof Faber von Vaduz
hergestellt. Der Landammann bekam auf diese
Weise ein Nachschlagewerk für Rechtsentschei-
dungen vor Gericht.
Die Bestimmungen des Landsbrauchs lassen
sich in vier Hauptgruppen einteilen: Zu Beginn
steht das Erbrecht, ergänzt durch verschiedene
Formen von Testamenten, dann folgt - sehr kurz
gehalten - das Verzeichnis der Gant, also die Art
und Weise des Schuldentriebs. Hierzu kann man
auch das Kapitel «Form wie man einen Schuldbrief
einlegen soll» zählen. Als nächstes findet sich im
Landsbrauch der Ablauf einer Malefizgerichtsver-
handlung. Abschliessend enthält der Landsbrauch
noch eine ausführliche Polizeiordnung. Ergänzt
wird er durch ein übersichtliches Register.
Der grösste Wert wird im Landsbrauch auf das
Erbrecht gelegt, das den ausführlichsten Teil dar-
stellt. Die Erbordnung ist wörtlich gleichlautend
mit jener, die in Blumenegg Gültigkeit hatte. Sie
wurde von Karl Heinz Burmeister herausgege-
ben. 1 0 7 Die Entwicklung des Erbrechts geht aus der
Einleitung, verfasst von Graf Karl Ludwig von Sulz,
hervor. Diese ist aber in der Abschrift von 1667
nicht enthalten. 1 0 8 Karl Ludwig von Sulz bezieht
sich zunächst auf die erste schriftliche Erbordnung
von Graf Rudolf von Sulz aus dem Jahr 1531. Sie
wird in manchen Abhandlungen als der erste
Landsbrauch bezeichnet.1 0 9 Albert Schädler gibt sie
in seiner Abhandlung über die Landsbräuche wort-
getreu wieder. 1 1 0 Entstanden ist sie auf Initiative
der Untertanen, die vor Rudolf erschienen und die
Aufzeichnung einer Erbordnung forderten. Sie er-
folgte mit Beratung «ains vicarii und gaistlichen
richters zu Chur».ul Es handelte sich dabei um den
Bündner Juristen Caspar von Capal, der zur Zeit
der Entstehung dieser Erbordnung gerade die
wichtigsten Ämter im Bistum Chur innehatte.1 1 2 Er
machte sich besonders um die Einführung des rö-
misch-rechtlichen Repräsentationsrechts im Erb-
recht verdient.
Aber weder diese Erbordnung noch eine Revisi-
on aus dem Jahr 1577 waren laut Graf Karl Ludwig
von Sulz ausreichend und klar genug abgefasst.
Beide Erbordnungen waren ausserdem nur in der
Grafschaft Vaduz gültig gewesen. Karl Ludwig war
aber auch Herr über Schellenberg und bis zum
Jahr 1602 über Blumenegg, das in diesem Jahr
durch eine Erbteilung an seinen Bruder Rudolf
f i e l . 1 1 3 Deshalb muss man die Entstehung dieser
Erbordnung um das Jahr 1600, in jedem Fall vor
1602, festlegen. Der kaiserlich approbierte Notar
und Landschreiber Johann Jakob Beck wurde be-
auftragt, mit Hilfe eines Rechtsgelehrten ein Erb-
recht zu erstellen. Landschreiber waren meist aus-
gebildete Juristen und entstammten ganz bestimm-
ten Familien. 1 1 4 Auch bei dieser Erbordnung spielt,
wie Karl Ludwig von Sulz betont, der Wunsch der
Bevölkerung nach einem einheitlichen Erbrecht
eine grosse Rolle. Es handelt sich also hier, um der
Einteilung von Karl Heinz Burmeister zu folgen,
um eine offizielle Redaktion unter Mitwirkung des
Landesherren, die auch in Vorarlberg die Regel-
form war. 1 1 5 Entstanden ist eine sehr umfangrei-
che, nicht unkomplizierte Ordnung mit einer Viel-
zahl von römisch-rechtlichen Einflüssen, aber auch
gewohnheitsrechtlichen Elementen, wie noch zu
zeigen sein wird.
Im Verzeichnis der Gant wird das Verfahren
zum Einzug der Schulden beschrieben. Auch die
gebräuchlichen Formeln bei Gerichtsverhandlun-
gen zur Ausstellung eines Schuldbriefs für den
Gläubiger sind in diesem Kapitel verzeichnet. Aus
dem Bereich des Strafrechts ist im Landsbrauch
nur die Form der Gerichtsverhandlung bei todes-
würdigen Verbrechen, die Malefizordmmg, ver-
zeichnet. Es ist auffallend, dass keine weiteren Be-
stimmungen strafrechtlichen Inhalts aufgezeichnet
wurden. Diesen Umstand finden wir auch im Saxer
Landsbrauch. Die Aufzeichnung solcher strafrecht-
licher Normen wurde als nicht notwendig betrach-
tet, weil das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung
diesbezüglich besonders ausgeprägt war. 1 1 6 Wäh-
rend also traditionelles, tief eingewurzeltes Ge-
wohnheitsrecht oft nicht in schriftlicher Form fest-
gehalten wurde, kam es umgekehrt häufig zur F i -
xierung von rezipiertem, aber eigentlich nie leben-
dig gewordenem Recht.
22
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Inwieweit dieser Umstand für die im Lands-
brauch enthaltene Polizeiordnung gilt, ist nicht
feststellbar. Sie hält sich eng an die 1530 entstan-
dene, beziehungsweise an die 1577 in Frankfurt
erneuerte Reichspolizeiordnung. Immer wieder
wird aber auf konkrete Missstände hingewiesen,
denen die neuen Gesetze abhelfen sollten. Bezüg-
lich der Datierung dieser Polizeiordnung könnte
eine Verordnung Karl Ludwigs von Sulz aus dem
Jahr 1589 hilfreich sein. Sie enthält einige polizei-
rechtliche Bestimmungen, nämlich über die Sperr-
stunde im Wirtshaus und das Geldborgen. Dabei
erwähnt der Sulzer, dass «alles in der polizey Ord-
nung vergriffen und meniglich offenbar gemacht
worden» ist." 7 Auch die zu erwartenden Strafen
könnten dort eingesehen werden. Wenn sich dieser
Satz nicht auf die Reichspolizeiordnung bezieht,
könnte man die Entstehung der Polizeiordnung im
Landsbrauch zwischen 1577 und 1589 festlegen,
was aber nicht ausschliesst, dass schon früher eine
Polizeiordnung für die Grafschaft Vaduz und die
Herrschaft Schellenberg existierte.
Bestehende Missstände sind ein wichtiger Grund
für die Niederschrift von Gewohnheitsrecht.1 1 8
Schlechte Gewohnheiten, die sich aufgrund man-
gelnder Normen eingebürgert hatten, sollten auf
diese Weise abgeschafft werden. Im Landsbrauch,
besonders in der Polizeiordnung häufig verwende-
te Formeln in diesem Zusammenhang sind: «Wür
aber leyder durch tägliche erfahrung befinden ...»,
«Aus allerhand begebenden Ursachen befehlen wür
auch hirmit ernstlich ...», «Es gibt leider die tägli-
che erfahrung zu erkennen, ...».'19
Durch die Aufzeichnung des Landsbrauchs sollte
auch Rechtssicherheit und Beweiserleichterung ge-
schaffen werden. 1 2 0 Dies geht besonders aus der
Einleitung zur Erbordnung hervor, wo es über die
Erbordnungen von 1531 und 1577 heisst:
«... so sind doch darin gahr wenig fäll und etlich
darunder so kurtz, dunkhel und unverständtlich
gesetz und auß gefüehrt, daß man darauß über et-
welche zue getragen fäll kheinen gründtlichen be-
richtfassen mögen, dar durch dan aller handt Wei-
terungen, unruohen, misverständt und Widerwillen
endtstanden seind».rn
Der Landsbrauch beanspruchte aber nicht, auf jede
Frage bezüglich des aufgezeichneten Rechts eine
Antwort zu haben. Zwar stand er über gemeinem
Recht, er musste aber durch landesherrliches und
römisches Recht ergänzt werden, wenn im speziel-
len Fall keine Bestimmung aus dem Landsbrauch
zutraf. Im Erbrecht wird sogar ausdrücklich darauf
hingewiesen:
«Da sich aber über dise ausgedruckte fühl noch
andere mehr begeben und zutragen wurden, so
ordnen und wollen wür, daß in selbigen allen und
jeden die gemeine geschribene recht und des
heil[igen] römfischen] reichs Ordnung observirt und
gehalten, nach welcher ausweisung die übrige erb-
fähl alle verhandlet und berechtiget werden sol-
len»?22
106) LUB 1/4. S. 243.
107) Vorarlberger Weistümer. 1. Teil (Bludenz - Blumenegg -
St. Gerold). Hrsg. Karl Heinz Burmeister. Wien, 1973.
108) Man findet sie im L L A Landsbrauch 1682 (Abschrift Basilius
Hoop). aber auch bei Schädler, Rechtsgewohnheiten, S. 50 ff.
109) Zum Beispiel bei Beck, Wilhelm: Eheliches Güterrecht und
Ehegattenrecht nach unseren Rechtsquellen. In: JBL 17 (1917).
S. 107-124; im folgenden zitiert als: Beck, Eheliches Güterrecht .
110) Schädler, Rechtsgewohnheiten. S. 44 ff.
111) Ebenda, S. 45.
1 12) Vgl. Burmeister. Karl Heinz: Caspar von Capal (ca. 1490-1540).
ein Bündner Humanist und Jurist. Sonderdruck aus: Festgabe zum
65. Geburtstag von Claudio Soliva. Zürich, 1994; im folgenden zitiert
als: Burmeister, Caspar von Capal.
113) Vgl . Kaiser, Geschichte Liechtensteins, S. 355.
114) Vgl. Burmeister, Vorarlberger Landsbräuche , S. 65.
115) Ebenda, S. 51.
116) Vgl. Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 65.
117) LLA U 57. Verordnung Karl Ludwigs von Sulz, 1589.
118) Vgl. Burmeister. Vorarlberger Landsbräuche , S. 47 f.
119) Vgl. zum Beispiel LLA Landsbrauch 1667 fol. 67r. LLA Lands-
brauch 1667 fol. 70v, L L A Landsbrauch 1667 fol. 76v, etc.
120) Vgl. Burmeister, Vorarlberger Landsbräuche , S. 45.
121) L L A Landsbrauch 1682.
122) L L A Landsbrauch 1667 fol. 39r; im folgenden wird dieser
Landsbrauch abgekürz t zitiert als LB. - Vgl. auch Burmeister.
Vorarlberger Landsbräuche , S. 74.
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7
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
DER SACHINHALT
E R B R E C H T UND T E S T A M E N T E
Das Erbrecht ist das ausführlichste Kapitel des
Landsbrauchs. Es beschäftigt sich primär mit der
Intestaterbfolge, enthält aber auch sehr genaue Be-
stimmungen über die Errichtung von Testamenten.
Familienrechtliche Bestimmungen sind in das Erb-
recht integriert und werden nicht seperat behan-
delt. Auch das eheliche Güterrecht wird nur im Zu-
sammenhang mit den vermögensrechtlichen Fol-
gen der Ehe, wenn einer der beiden Partner stirbt,
angesprochen.
Die vorliegende Erbordnung ist übersichtlich ge-
gliedert. Zunächst geht es um die Intestaterbfolge,
wobei der Grundsatz gilt, dass «eines jeden abge-
storbenen guth soll fallen auf seine nächst eheliche
gebohren und einander mit bluths verwandte
freund».123 Nach der Einteilung im Landsbrauch
geht es zunächst um die Kinder und Enkel, dann
um die Verwandten in aufsteigender Linie, also El-
tern und Grosseltern. Als drittes folgen die Ver-
wandten in den Seitenlinien. Alle Fälle sind sehr
ausführlich dargestellt und werden mit Beispielen
und Stammbäumen erklärt. Ein weiteres Kapitel
betrifft die gegenseitige Beerbung von Eheleuten
und das Heimfallsrecht.
fol. l v und 2r: Zuerst
behandelt der Lands-
brauch einen Erbfall, in
welchem die Enkelkinder
den Besitz des verstorbe-
nen Grossvaters erben.
Die Eltern der bedachten
Enkel sind ebenfalls ver-
storben, die noch lebende
Tante geht bei der Verer-
bung leer aus. Das Beispiel
folgt der Regel, dass der
Besitz in «absteigender Li-
nie» von der älteren auf
die jüngere Generation ver-
26
erbt wird, wobei Verwand-
te in aufsteigenden Linien
sowie in Seitenlinien nicht
erbberechtigt sind (Seite
24/25).
Als ein zweiter Teil folgen die Bestimmungen
über die Testamente, wobei man anmerken kann,
dass die Aufstellung von Testamenten von der Ob-
rigkeit eher gefördert als unterdrückt wurde. 1 2 4
Über die Erbfähigkeit, die erbrechtliche Er-
werbsfähigkeit, gibt der Landsbrauch keine Aus-
kunft. Erwähnt werden nur die unehelichen Kin-
der, denen kein gesetzliches Erbrecht zusteht, wie
es schon im Schwabenspiegel heisst. 1 2 5 Die durch
nachfolgende Ehe Legitimierten wurden aber wie
eheliche Kinder behandelt. Es handelt sich hierbei
um eine römisch-rechtliche Legitimationsart, die
auch dem Schwabenspiegel bekannt war. 1 2 6 Ein un-
eheliches Kind, das ohne eheliche Nachkommen
starb, verlor sein Gut an die Obrigkeit.
Zwischen Söhnen und Töchtern wurde im
Landsbrauch kein Unterschied gemacht, sie erbten
zu gleichen Teilen. Im deutschen Recht wie auch in
der römischen Folgeordnung nach Novelle 118,2,3
erbten zunächst die Deszendenten, also die Söhne
und Töchter, Enkel und Urenkel und so weiter. 1 2 7
Im Landsbrauch galt auch das uneingeschränkte
Repräsentationsrecht, das im römischen Recht be-
schränkt war: 1 2 8 Für einen vorverstorbenen Sohn
konnten seine Kinder zu Erben eintreten, und zwar
wurde dessen Anteil auf so viele Teile aufgeteilt,
wie Enkel vorhanden waren. (Hierbei handelt es
sich um eine Teilung nach Stämmen, die typisch
römisch-rechtlich ist 1 2 9.) Waren jedoch alle Kinder
des Erblassers verstorben und nur noch Enkel vor-
handen, so wurde das Erbe unter den Enkeln zu
gleichen Teilen aufgeteilt. Verbreitet wurde das Re-
präsentationsrecht vor allem durch die Reichsge-
setzgebung.1 3 0 Nach dem deutschen Erbrecht wa-
ren die Enkel vorverstorbener Söhne ausgeschlos-
sen gewesen; die Einführung des Repräsentations-
rechts in zahlreichen Territorien am Beginn der
Neuzeit wurde vor allem mit sozialen Argumenten
begründet . 1 3 1 Als nächstes folgten die Geschwister
des Erblassers, wobei Geschwister und deren Kin-
der die Eltern ausschlössen. 1 3 2 Dies ist eine Abwei-
chung von der Parentelenordnung, welche seit dem
späten Mittelalter über grosse Teile der Schweiz
und manche Gegenden der Rheinlande, Österreichs
und Tirols gültig war. 1 3 3 Auch Halbgeschwister erb-
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
ten noch vor den Eltern, deren Kinder hingegen
nicht. Halbgeschwister waren jedoch ausgeschlos-
sen, wenn «rechte» Geschwister vorhanden waren.
Nach ihnen erbten die Eltern und die Grosseltern.
Als letztes erbten die Verwandten in den Seitenlini-
en, womit die Nachkommen der Grosseltern, also
Geschwister der Eltern, aber auch als letztes die
Geschwister der Grosseltern gemeint waren.
Auch die Ehegatten wurden in der Folgeord-
nung berücksichtigt. Dies war die erste Erwähnung
eines gesetzlichen Erbrechts der überlebenden
Ehegatten, das in der Erbordnung von 1531 noch
fehlt. Als verheiratet galt man nicht schon nach der
Hochzeitszeremonie, sondern erst, wenn «die De-
cke beschlagen» war, also nach der Hochzeits-
nacht. Verlobte hatten keinen Erbanspruch. Ver-
starb der Ehemann, so bekam seine Frau alles, was
sie selbst in die Ehe eingebracht hatte sowie den
dritten Teil dessen, was sie während der Ehe ge-
meinsam erwirtschaftet hatten. Der Rest dieses
Guts sowie alles, was der Mann in die Ehe gebracht
hatte, fiel an die nächsten Verwandten des Mannes,
üblicherweise an die gemeinsamen Kinder. Der
überlebende Mann hingegen erhielt zwei Drittel
des in der Ehe erwirtschafteten Gutes.
Eine wichtige Bestimmung deutsch-rechtlicher
Natur war, dass das Erbe nicht «steigen» sollte. 1 3 4
Wenn jemand etwas geerbt hat, so sollte bei dessen
Tod das Erbe nicht an seine Eltern, sondern an den
nächsten Blutsverwandten des vorher Verstorbe-
nen fallen.
Von der gegenseitigen Beerbung der Ehegatten
handelt das nächste Kapitel im Landsbrauch. Bei
der Vererbung des Guts wird, wie im deutschen
Recht üblich, unterschieden, ob es sich um «liegen-
des» Gut, also Grundstücke und Immobilien oder
«fahrendes», das heisst bewegliches Gut wie Werk-
zeug oder Mobilar handelte. 1 3 5 Das «liegende» Gut
123) LB fol. l r .
124) «... niemanden ... das testieren und vermachen entziehen oder
verbieten wollen, sondern lassen es alles den unsrigen ... hiemit frey
libre zu». LB fol 39v.
125) Vgl. Burmeister, Vorarlberger Landsbräuche . S.96.
126) Legitimation per subsequens matrimonium. Es handelte sich
dabei um eine beschränk te Legitimation, da die Kinder nur im
Verhältnis zu ihren Ellern als ehelich geboren galten, nicht aber den
übrigen Verwandten gegenüber. Vgl. Siegel, Heinrich: Das deutsche
Erbrecht nach den Rechtsquellen des Mittelalters in seinem inneren
Zusammenhang dargestellt. Neudruck der Ausgabe Heidelberg
1853. Aalen, 1969, S. 32.
127) Vgl . Schmelzeisen, Gustaf Klemens: Polizeiordnungen und
Privatrecht. Münster/Köln, 1955. (Forschungen zur Neueren Pri-
vatrechtsgeschichte. Band 3), S. 154; im folgenden zitiert als:
Schmelzeisen, Polizeiordnungen.
128) Vgl. Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 96. Auch in Sax-
Forsteck war das Repräsenta t ionsrecht allgemein anerkannt.
129) Vgl . Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 146. Im Reichsab-
schied von Speyer aus dem Jahr 1529 war für die Teilung nach
Köpfen entschieden worden, woran sich manche Landesordnungen
orientierten.
130) Ebenda.
131) Vgl . Burmeister, Caspar von Capal, S. 44.
132) In einigen Landesordnungen, wie zum Beispiel in Sax-Forsteck,
nahm man auf das römische Erbklassensystem Bezug, bei dem die
Verwandten des Verstorbenen nach Erbklassen geordnet wurden,
welche dann das Erbe gemeinsam antraten. Das Erbrecht in Vaduz,
Schellenberg und Blumenegg ist jedoch noch germanisch-rechtlich
bestimmt, da die Verwandtschaft nach Gradesnähe eingeteilt wurde
und auch so erbte (Geschwister vor Eltern und nicht gemeinsam!).
Vgl . Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 93 f.
133) Vgl. Hübner, Lorenz: Grundzüge des deutschen Privatrechts.
5. Auflage. Leipzig, 1930, S. 764 f. Nach der Parentelenordnung erben
Eltern vor den Geschwistern, da die Kinder nach alter Auffassung
mit den Eltern durch ein engeres Blutsband verbunden seien als mit
den Geschwistern; im folgenden zitiert als: Hübner, Privatrecht.
134) Ebenda, S. 95.
135) Über liegendes Gut und Fahrnis siehe nächs tes Kapitel «Das
Schuld- und Pfandrecht oder das Sachenrecht» auf S. 42-46.
fol. 2v und 3r: Jedem in
Form eines Stammbaums
dargestellten Erbfall ist
eine erläuternde Erklä-
rung angefügt. Dem so-
eben erklärten Fallbeispiel
folgt eine Situation, in der
die Witwe und die Kinder
eines verstorbenen Man-
nes stehen. Es wird hier
festgelegt, zu welchen Tei-
len der Witwe und den
Kindern das Erbgut des
Verstorbenen zufällt
(Seite 28/29).
27
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«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
29
verblieb im Vermögen desjenigen Ehegatten, der es
in die Ehe eingebracht hatte. Im Todesfall fiel es an
seine nächsten Erben. «Fahrendes» Gut fiel sehr
wahrscheinlich mit der Eheschliessung ins Ge-
samteigentum der Ehegatten. 1 3 6 An der gemeinsa-
men Errungenschaft während der Ehe, egal ob es
sich um «liegendes» Gut oder um Fahrhabe han-
delte, hatten beide einen quotenmässigen Anteil,
zwei Dritteile wurden dem Mann zugeschrieben,
ein Dritteil der Frau. 1 3 7 Die gleiche Verteilung galt
für die Auslagen für Unterhalt und Erziehung von
Kindern. Diese güterrechtlichen Bestimmungen
hatten aber zu Lebzeiten der Ehegatten kaum Be-
deutung. Dass sie dennoch gültig waren, ist zwar
nirgends ausdrücklich festgehalten, wird aber den-
noch allgemein angenommen. 1 3 8
Auch die Schuldenbezahlung war im Todesfall
eines Ehegatten geregelt. Die Erben des verstorbe-
nen Mannes hatten zwei Drittel zu tragen. Starb die
Frau vor dem Mann, mussten ihre Erben ein Drittel
übernehmen. Ob auch ein Ehegatte allein Schulden
machen konnte, ist nicht näher erläutert.
Sind innerhalb der zehnten Sippzahl keine Er-
ben vorhanden, so beerben sich die Ehegatten voll-
s tändig. 1 3 9 Da dieser Fall wahrscheinlich nur sehr
selten eintrat, war in der Intestaterbfolge der über-
lebende Ehegatte, besonders die Frau, eher schlecht
gestellt. Wie aber aus dem Kapitel über die Testa-
mente zu ersehen ist, war es sehr wohl möglich,
seinem Ehegatten mehr zu hinterlassen als es vom
Gesetz her vorgesehen war. Ehegatten können ent-
erbt werden, wenn sie einander verlassen haben
oder untreu werden. 1 4 0
Der Landsbrauch enthält auch einige Bestim-
mungen über das Heimfallsrecht. Es geht dabei um
Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit die
Verlassenschaft als erbenloses Gut an den Landes-
herrn fällt. Dieser Fall tritt zunächst ein, wenn bis
zum zehnten Grad kein Verwandter existiert, der
das Erbe antreten konnte. Weiters fällt der Obrig-
keit das Erbe zu, wenn die Verwandtschaft erbun-
fähig ist. Erbunfähig ist jemand, wenn er sich
selbst der Erbschaft unwürdig gemacht hat. Heute
ist diese Erbunwürdigkeit genau geregelt: Sie tritt
beispielsweise ein bei einer gerichtlich strafbaren
Handlung gegen den Erblasser oder bei einem An-
griff auf den wahren Willen des Erblassers. 1 4 1 Nach
welchen Kriterien dies im 17. Jahrhundert bewer-
tet wurde, ist leider nicht nachvollziehbar. Als Bei-
spiel wird in einem anderen Fall der Landesver-
weis der zukünftigen Erben genannt.1 4 2
Ein Selbstmörder konnte seinen Besitz nicht ver-
erben. Auch das Gut eines Ausländers, dessen Er-
ben unbekannt sind, fällt bei seinem Tod dem Lan-
desherrn zu. Seine Erben können aber noch zehn
Jahre nach seinem Tod ihr Recht geltend ma-
chen. 1 4 3 Wie schon erwähnt, fällt auch der Besitz
von unehelich Geborenen ohne eheliche Erben an
die Obrigkeit. Zuletzt wird auch erwähnt, dass Ver-
brecher, die zum Tod verurteilt oder des Landes
verwiesen werden, ihr Gut nicht vererben dürfen,
sondern dass es der Obrigkeit anheimfällt. Der
Landsbrauch weist darauf hin, dass im Falle einer
Unsicherheit auf die Ordnung des Heiligen Römi-
schen Reichs zurückgegriffen und dessen Bestim-
mungen übernommen werden sollten. 1 4 4
In ausführlicher Art und Weise werden an-
schliessend die Testamente behandelt. Letztwillige
Verfügungen dürften zur Zeit der Niederschrift des
Landsbrauchs schon anerkannte Mittel zur Verer-
bung von Vermögen gewesen sein. Ursprünglich
war das Gut in der Familie gebunden und deshalb
letztwillige Verfügungen über den Nachlass ausge-
schlossen. 1 4 5 Erst durch den Einfluss der Kirche,
welche die Gläubigen aufforderte, einen Teil ihres
Vermögens zum Seelenheil an die Kirche zu geben,
wurde die Entstehung eines Freiteils gefördert,
über den der Hausvater selbständig verfügen konn-
te. Dieser Gedanke des Familiengutes verblasste im
Laufe des Mittelalters allmählich, und die Verfü-
gungsmacht des einzelnen über sein Eigentum trat
stärker hervor. Besonders unter dem Einfluss des
römischen Rechts, das die Testierfreiheit zum Prin-
zip erhoben hatte, wurden Testamente zum Allge-
meingut. Die Intestaterbfolge blieb aber bestehen,
wenn kein Testament vorhanden war.
Dennoch muss angenommen werden, dass die
strengen Formvorschriften, die eingehalten wer-
den mussten und von denen auch der Landsbrauch
handelt, viele Bauern davon abhielt, ein Testament
30
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
zu errichten. 1 4 6 Dies wird auch in der Einleitung zu
den Testamenten erwähnt:
«... nachdem in den gemeinen geschribenen
rechten vil und mancherlei) weeg testament und
lezten willen aufzurichten gesezt, die alte aber be-
sonder zugehörige wesentlich stuckh und Zierlich-
keiten erfordern, deren unsere unterthanen als der
mehrer theil einfältig und solche rechten und Zier-
lichkeiten unerfahrene leuth wenig Wissenschaft
haben ,..».147
Sinn und Zweck eines Testaments war laut Lands-
brauch das Seelenheil des Testierers, welcher alles
Gute, das ihm im Leben widerfahren war, vergelten
sollte. Auch das Vermachen eines Teils des Erbguts
an die Kirche oder an ein Spital wurde den Unter-
tanen zugestanden.
Testierfähig waren, wie ausdrücklich erwähnt,
Männer und Frauen, die jedoch die vorgeschriebe-
nen Formen einhalten mussten. Die Testierfähig-
keit war in Hinblick auf Alter und Geisteszustand
eingeschränkt. Personen unter 14 Jahren durften
nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Obrigkeit ein
Testament aufrichten. Geisteskranke und geistes-
schwache Personen ebenso wie Blinde, Taube und
fol. 8v: Im hier gezeigten
Erbfall war der verstorbe-
ne Mann zweimal verhei-
ratet und hinterlässt
Kinder und Enkel aus
beiden Ehen (Seite 32).
fol. 9r: Das darauf folgende
Beispiel zeigt den Fall, bei
dem das Erbgut des ver-
storbenen Grossvaters
vollständig auf die Enkel
verteilt wird, da die Erb-
berechtigten der mittleren
Generation ebenfalls ver-
storben sind (Seite 33).
fol. 9v: Bei der vorgängig
illustrierten Erbschaftsan-
gelegenheit wird der
Besitz des verstorbenen
Grossvaters zu gleichen
Teilen auf die fünf Enkel-
kinder verteilt (Seite 34).
fol. 10r: Ein eher seltener
Fall wird mit dem Beispiel
Nr. 8 veranschaulicht. Hier
erbt der Enkel das Gut
seines verstorbenen Gross-
vaters, da sein Vater eben-
falls verstorben ist. Die
noch lebenden Urgross-
eltern, aber auch die Tante
und der Onkel gehen indes
leer aus (Seite 35).
136) Vgl. Beck. Eheliches Güterrecht , S. 114.
137) So wurde es auch in der Freiherrschaft Sax-Forsteck gehalten;
vgl. Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 91.
138) Vgl. Beck, Eheliches Güterrecht , S. 115.
139) LB fol. 32r.
140) LB fol. 36r.
141) Vgl . Koziol, Helmut; Welser, R.: Grundriss des bürger l ichen
Rechts. Band 11. Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht. 6. Auflage,
Wien, 1982. S. 240.
142) LB fol. 37v.
143) LB fol. 38r.
144) LB fol. 39r.
145) Vgl . Handwör te rbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG).
Hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. Band 1. Berlin.
1971, S. 974. Im deutschon Recht waren Testamente unbekannt; vgl.
Siegel, Deutsches Erbrecht, S. 134.
146) Vgl. Burmeister. Vorarlberger Landsbräuche , S. 97.
147) LB fol. 39r.
31
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
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«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Stumme waren ausgeschlossen. Nicht mehr gültig
war die nach altdeutschen Rechtsquellen angenom-
mene Testierunfähigkeit infolge Leibesschwäche. 1 4 8
Unehelich Geborene ohne Leibserben durften
ebenfalls kein Testament machen, da ihr Gut ja oh-
nehin der Obrigkeit zufiel. Weiters waren ausge-
schlossen Verschwender und solche, deren Güter
von der Obrigkeit konfisziert worden waren.
Die Testierfreiheit war einerseits eingeschränkt
durch das Heimfallrecht, das durch letztwillige Ver-
fügungen nicht ausgeschlossen werden konnte. Die
Fälle, in denen das Erbe der Obrigkeit zufiel, wur-
den ja schon erwähnt. Liier war ein Testament wir-
kungslos. Andererseits war die Testierfreiheit wahr-
scheinlich durch das Pflichtteilsrecht beschränkt.
Der Pflichtteil sollte sicherstellen, dass die Familie,
also besonders Kinder und Ehegatten, nicht grund-
los um das ihr zustehende Erbe gebracht werden
konnte. Dass nicht das ganze Erbe willkürlich vom
Erblasser verteilt werden konnte, ist daraus er-
sichtlich, dass bestimmte Bedingungen erfüllt wer-
den müssen, damit der Erblasser seine Familie ent-
erben kann. Zudem ist ein Testament ungültig,
wenn die Deszendenten nicht berücksichtigt wer-
den. 1 4 9 Deshalb kann angenommen werden, dass
eher nur ein kleiner Teil an familienfremde Perso-
nen wie Wohltäter oder die Kirche vergeben wur-
de, während der Rest des Erbes, wie von der Inte-
staterbfolge vorgesehen, in der Familie blieb. Die
Höhe des Pflichtteiles war im Landsbrauch nicht
genau bestimmt. Im gemeinen Recht hatten die
Deszendenten und die Aszendenten einen An-
spruch auf Erbeinsetzung, und zwar wenigstens in
der Höhe von einem Drittel, bei mehr als vier Kin-
dern von der Llälfte des gesetzlichen Erbteils. 1 3 0
Im Landsbrauch weist nichts darauf hin, dass
die Kirche oder die Armen im Testament eines Un-
tertanen berücksichtigt werden mussten. In ande-
ren Ländern war es durchaus üblich, sanften
Zwang auszuüben, damit wohlhabende Bürger
auch ein Vermächtnis für die Armen gaben. In
Salzburg durfte die Obrigkeit sogar nach Befund
des Vermögens und der Beschaffenheit der Erben
einen Teil des Erbguts von Amts wegen zurückbe-
halten. 1 3 1 Teilweise wurden sogar letztwillige Ver-
fügungen, in denen die mildtätigen Vermächtnisse
fehlten, für nichtig erklärt.
Genau bestimmt sind die Fälle, in denen ein Te-
stierer seine Kinder enterben durfte. 1 5 2 Vom Erbe
ausgeschlossen waren Deszendenten, die ein Ver-
brechen begangen hatten, die den Erblasser be-
droht oder gar zu ermorden versucht hatten, die
sich des Inzests, der Zauberei, oder der Ketzerei
schuldig gemacht hatten, die den Erblasser im Fall
einer Krankheit oder eines Gefängnisaufenthalts
vernachlässigt hatten oder ihn an der Aufrichtung
eines Testaments gehindert hatten. Aus ähnlichen
Gründen konnten auch Kinder ihre Eltern enter-
ben. Um Deszendenten und Aszendenten tatsäch-
lich zu enterben, musste ein Beweis gebracht wer-
den, dass sie sich dieser Vergehen schuldig ge-
macht hatten.
Besonders zahlreich sind die Vorschriften über
die Form eines Testaments. Ein wichtiges Element
sind die Zeugen, die die Rechtmässigkeit eines Te-
staments feststellen sollten. Nach römischem Recht
(Codex lustinianus 6, 23, 21,4) war eine mündliche
Erklärung vor sieben Zeugen vonnöten. 1 5 3 Perso-
nen, die nicht testierfähig waren, konnten nicht als
Zeugen auftreten, auch nicht jene, die im Testa-
ment als Erben eingesetzt waren. Weiters ausge-
schlossen waren Frauen, Minderjährige (Personen
unter 14 Jahren), Juden und Wiedertäufer. 1 5 4
Im vorliegenden Landsbrauch hielt sich aber
auch die hergebrachte Form des gerichtlichen Te-
staments, entweder als persönliche Erklärung des
letzten Willens vor Gericht oder als persönliche
Übergabe eines Schriftstücks. 1 5 5 Die beteiligten Per-
sonen waren Richter, Gerichtsleute und der Schrei-
ber; es waren keine Zeugen notwendig. Das Testa-
ment wurde in das Gerichtsprotokoll eingetragen
und bis zum Ableben der testierenden Person ver-
wahrt. Der Landschreiber konnte aber auch allein
gebeten werden, das Testament niederzuschrei-
ben. Dann wurde erst das versiegelte, fertige Testa-
ment vor das Gericht gebracht. Kranke Personen
konnten vier Gerichtspersonen bitten, zu ihnen zu
kommen, um dort das Testament aufzurichten. Es
war auch möglich, ein Testament vor der Obrigkeit
selbst oder vor einem kaiserlichen Notar aufzurich-
36
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
ten. Bei Testamenten, die ohne das Gericht aufge-
stellt wurden, mussten vier oder fünf unparteiische
Zeugen dazugebeten werden. Wurde der Kirche et-
was vermacht, so sollten ein Priester und zwei Zeu-
gen anwesend sein. Auch Wohltätern konnte ein
Teil des Vermögens vermacht werden. Dies erfor-
derte die Anwesenheit von mindestens zwei Ge-
richtspersonen und drei anderen Zeugen.
Es musste immer festgestellt werden, ob der Te-
stator sein Testament unbeeinflusst aufgerichtet
hatte. Letztwillige Verfügungen, die unter unzuläs-
siger Beeinflussung des Testators entstanden wa-
ren, waren ungültig. Als Ausnahmen galten Testa-
mente, die ausserhalb des Landes, beispielsweise
von Soldaten verfasst wurden. Dafür genügten be-
reits zwei Zeugen. Wurde das Land von einer Epi-
demie heimgesucht, so waren ebenfalls nur zwei
oder drei Zeugen vonnöten, um ein gültiges Testa-
ment aufzurichten.
Testamente konnten auch ungültig werden. Je-
des spätere Testament setzte nach römischen
Recht ein früheres ausser Kraft . 1 5 6 Nachträgliche
Änderungen konnten jederzeit eingefügt werden,
es musste nur die Form gewahrt bleiben.
Alle vorher erwähnten Fälle über Erb- und Te-
stierunfähigkeit kamen hier zur Anwendung. Auch
fol. 19v und 20r: Ein wich-
tiges Kapitel im Erbrecht
bilden die Fallbeispiele,
bei denen Geschwister
(und deren Kinder) erbbe-
rechtigt sind. Das hier
gezeigte Beispiel schildert
den Fall, in welchem ein
Bruder sowie die Kinder
der verstorbenen Schwe-
ster den Besitz des eben-
falls verstorbenen zweiten
Bruders erben (Seite
38/39).
fol. 20v: Beim darauf
folgenden Beispiel wird
das Gut der verstorbenen
Schwester auf ihre Nichten
und Neffen vererbt, da die
übrigen Geschwister eben-
falls verstorben sind
(Seite 40).
fol. 21r: In einem weiteren
Beispiel erben die zwölf
Nichten und Neffen den
Besitz des verstorbenen
Onkels vollständig, da
sämtliche Geschwister des
Onkels ebenfalls tot sind
(Seite 41).
148J Vgl . Schmelzeisen, Polizeiordnungen. S. 156. Diese deutsch-
rechtliche Verordnung entsprach nicht mehr der neuzeitlichen
Auflassung. Auch im römischen Recht wurde die körperl iche Ge-
sundheit nicht gefordert.
149) LB fol. 43v.
150) Vgl. Schmelzeisen, Polizeiordnungen. S. 158.
151) Ebenda, S. 174. Die Amtspersonen, die bei der Testamentser-
richtung mitwirkten, sollten darauf hinwirken, dass die Armen nicht
vergessen wurden. Dabei sollte aber darauf geachtet werden, dass
bedürft igen Erben nichts entzogen wurde.
152) LB fol. 43v.
153) Vgl. Schmelzeisen. Polizeiordnungen, S. 162. Diese Form fand
sehr wenig Verbreitung.
154) LB fol. 42v.
155) Vgl. Hübner, Privatrecht, S. 794.
156) Vgl. Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 173. Es war nach der
Errichtung eines neuen Testaments der Widerruf des alten nicht
mehr notwendig.
37
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
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«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
wenn Deszendenten oder Aszendenten übergangen
wurden, war das Testament ungültig. Das gilt auch
für die nachträgliche Geburt eines ehelichen Kin-
des, wie im gemeinen Recht vorgesehen. 1 5 7
Der Landsbrauch enthält einige Beispiele von
Testamenten, in denen sich Ehegatten gegenseitig
zu Erben einsetzten. Solche gemeinschaftlichen Te-
stamente waren seit dem 14. Jahrhundert üb-
l ich . 1 5 8 Sie sind zwar mit den Prinzipien des römi-
schen Rechts nicht unvereinbar, werden dort aber
nicht speziell geregelt. Hier liegt die Form eines so-
genannten «wechselseitigen» Testaments vor.
Diese eben beschriebene Erbordnung blieb bis
zum Jahr 1809 in Kraft. Am 1. Jänner dieses Jah-
res erliess Fürst Johann Josef von Liechtenstein
eine neue Erbfolgs- und Verlassenschaftsordnung,
mit der er auch den Landsbrauch vollinhaltlich auf-
hob. 1 5 9
DAS SCHULD- UND PFANDRECHT ODER
DAS SACHENRECHT
Im Bereich des Schuld- und Sachenrechts behan-
delt der Landsbrauch nur in kurzer Form die Art
und Weise des Schuldentriebs. Hatte ein Gläubiger
gegen einen Schuldner eine Forderung einzubrin-
gen, so wurde in jedem Fall der Gerichtsweibel 1 5 0
eingeschaltet, der die Zahlungsaufforderung an
den Schuldner überbrachte. Die Gebühr für den
Gerichtsweibel hatte der Gläubiger zu erlegen. Der
Schuldner war zur Auskunft über seine Schuld ver-
pflichtet. Eine Pfändung ohne amtliche Mitwirkung
war nicht möglich. Dies bedeutete aber nicht, dass
die richterliche Person pfändete, ihre Anwesenheit
Hess nur die Erlaubnis des Gerichts zur Pfändung
sichtbar werden. 1 6 1 In einzelnen Rechtsgebieten
war es jedoch bis ins Spätmittelalter zugelassen,
dass der Gläubiger ohne Zuziehung des Gerichts
die Pfändung unternahm. 1 6 2
Nach erfolgter Zahlungsaufforderung hatte der
Schuldner einen Aufschub von vierzehn Tagen.
Dieses Verfahren wird im Saxer Landsbrauch als
«lange Gant» bezeichnet.1 6 3 Am 15. Tag nahm der
Weibel ein Pfand. War das Pfand mehr als zehn
Pfund wert, wartete man noch sechs Tage, bis es
zur Pfändung kam. Die Pfändung war gleichbedeu-
tend mit der Ankündigung der Schätzung, die den
eigentlichen Pfändungsakt ausmachte.1 6 4 Die Schät-
zung fand meist im Haus des Schuldners durch den
Weibel statt.1 6 5 Wo das Pfand bis zur Schätzung
aufbewahrt wurde, geht aus dem Landsbrauch
nicht hervor, es kam aber seit dem hohen Mittelal-
ter sicherlich nicht mehr zum Gläubiger. 1 6 6
Erst wenn der Schuldner nach acht Tagen das
Pfand nicht auslösen konnte, war der Gläubiger er-
mächtigt, über das Pfand zu verfügen «und seinen
frommen damit zu schaffen gewalt haben».167 Das
Pfand verfiel in das Eigentum des Gläubigers, er
konnte es behalten und gebrauchen (Pfandver-
fall) . 1 6 8 Rechtshistorisch jünger ist der Pfandver-
kauf; der Gläubiger war ermächtigt, das Pfand bei-
spielsweise auf der Gant zu versteigern. Unter
«Gant» versteht man den im Rahmen der Zwangs-
vollstreckung vorgenommenen öffentlichen Pfand-
verkauf. 1 6 9 Manchmal war es auch Sache des Wei-
bels oder des Gerichts, den Verkauf des Pfands vor-
zunehmen. 1 7 0 Üblicherweise wurde das Pfand an
den Meistbietenden verkauft. Und um dies zu ga-
rantieren, führte man den Verkauf durch öffentli-
che Personen ein.
Auch die Beschaffenheit des Pfands war im
Landsbrauch geregelt. Man unterschied auch hier
zwischen «liegendem Gut» und «Fahrnis». Als
Fahrnis galten Sachen, die ohne Veränderung ihres
Wesens von Ort zu Ort bewegt werden konnten. 1 7 1
Hatte jemand eine Schuld zu bezahlen, so musste
er die doppelte Summe 1 7 2 als Pfand auslegen, und
zwar musste «die beste Pfand» gegeben wer-
den. 1 7 3 In mittelalterlichen Quellen wird oft er-
wähnt, dass dem Gläubiger aüein die Pfandwahl
zustand und der Schuldner nicht das Bestim-
mungsrecht hatte. 1 7 4 Im vorliegenden Landsbrauch
ist zumindest die Reihenfolge der zu pfändenden
Gegenstände vorgegeben. Zuerst wurde die Fahr-
nis im Haus selbst gepfändet. Reichte sie nicht aus,
so wurde das Vieh gepfändet. Erst wenn auch Heu
und Stroh im Stall nicht ausreichend war, durfte
liegendes Gut angegriffen werden. 1 7 5 Es lag jedoch
nicht in der Macht des Weibels, liegendes Gut zu
42
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
pfänden. Hier musste das Gericht eingeschaltet
und Brief und Siegel verlangt werden. 1 7 6 Das Aus-
stellen eines solchen Briefes durch den Landschrei-
ber ging auf Kosten des Gläubigers, der diese Ko-
sten durch den Verkauf des Pfands natürlich wie-
der eintreiben konnte. Die letzte Möglichkeit zum
Auslösen des Pfands hatte der Schuldner auf der
Gant selbst, wobei er seine Schulden mitsamt Zin-
sen und Gerichtskosten zu erlegen hatte.
Häufig blieb dem Schuldner aber noch nach dem
Verkauf des Pfands die rechtliche Möglichkeit, das
Pfand zurückzukaufen. 1 7 7 Der Gläubiger hatte dem
Schuldner die Person zu nennen, an die er das
Pfand verkauft hatte. Für den Rückkauf gab es wie-
derum eine gesetzliche Frist. Wenn der Schuldner
dem Käufer den Kaufpreis und etwaige Unterhalts-
kosten ersetzen konnte, war dieser zur Herausgabe
des Pfands verpflichtet.
Über die Form des Schuld- oder Gantgerichts
berichtet der Landsbrauch unter dem Kapitel
«Formb wie man einen schuld brief einlegen soll».
Der Weibel wurde befragt, ob er den Schuldner
«für gericht boten» hat. Dies bedeutete eine Vorla-
dung des Schuldners. 1 7 8 Liegendes Gut blieb nach
157) Ebenda, S. 176.
158) Vgl. Hübner, Privatrecht. S. 795.
159) Vgl. Schädler, Rechtsgewohnheiten, S. 56.
160) Über die Tätigkeit des Weibels siehe nächs tes Kapitel.
161) Vgl. Planitz, Hans: Die Vermögensvolls treckung im deutschen
Mittelalter. Band 1: Die Pfändung. Leipzig, 1912, S. 171. Auch die
Gläubigerhandlung wurde dabei unter richterlicher Kontrolle
gehalten; im folgenden zitiert als: Planitz, Pfändung.
162) Vgl. Planitz. Pfändung, S. 448.
163) Vgl. Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 106.
164) Ebenda.
165) Vgl. Planitz, Pfändung, S. 560.
166) Vgl. Naegeli, Alfred: Das germanische Selbs tpfändungsrecht in
seiner historischen Entwicklung mit besonderer Rücksicht auf die
Schweiz. Diss. Zürich, 1876, S. 54; im folgenden zitiert als Naegeli,
Selbstpfändungsrecht . Erst nach Ablauf der Wartefrist durfte der
Gläubiger nach Landsbrauch das Pfand zu seinen Händen nehmen;
LB fol. 58r. Manchmal gab es zur Pfandverwahrung ein besonderes
Ganthaus; vgl. HRG Bd. 2, S. 1385.
167) LB fol. 58r.
168) Hübner, Privatrecht, S. 505.
169) HRG Bd. 2, S. 1384. Gantstät ten waren meist der Marktplatz,
das Rathaus, das Gericht oder ein eigenes Ganthaus.
170) Vgl . Planitz, Pfändung. S. 379 ff.
171) Vgl. HRG, Band 1, S. 1050. Dazu gehören Tiere und alle nicht
fest mit dem Boden verbundenen leblosen Sachkörper. Das Deutsche
Rechtswörterbuch zitiert einige Quellen, in denen Fahrnis definiert
ist: «ist unter l ähmus erkandt, was mit nagel nit angehaeff t» . «was
die fackel oder brand hinweg nehme, daß solches vor fahrnus
gehalten und erkandt werde» . Deutsches Rechtswörterbuch (Wörter-
buch der äl teren deutschen Rechtssprache). Hrsg. von der Preussi-
schen Akademie der Wissenschaften. Band I I I . Weimar, 1935.
S. 385. Daraus ergibt sich auch, dass das aus Holz gebaute Haus zur
Fahrnis gerechnet wurde; vgl. auch Mitteis, Heinrich; Lieberich,
Heinrich: Deutsches Privatrecht. Ein Studienbuch. 4. Auflage Mün-
chen, Berlin, 1963, S. 70.
172) In anderen Landbüchern war es etwa üblich, einen Drittel der
Schuld auf den Pfandwert aufzuschlagen. Vgl. Naegeli. Selbstpfän-
dungsrecht, S. 54.
173) LB fol. 58r.
174) Vgl. Planitz, Pfändung, S. 527.
175) Nach den Volksrechten war nur die Fahrnis pfändbar , selbst bei
der gerichtlichen Exekution wurde liegendes Gut nicht angegriffen;
vgl. Naegeli. Selbs tpfändungsrecht , S. 25.
176) Vgl. Kaiser, Geschichte Liechtensteins, S. 361.
177) Vgl. Planitz, Pfändung, S. 691.
178) Vgl. Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 107. «Boten» im
Rahmen des Schä tzungsver fahrens bedeutete « m a h n e n » oder
«ankündigen des Pfandens»; vgl. auch: Idiotikon, Wör te rbuch der
schweizerdeutschen Sprache, Band IV, Frauenfeld, 1881 f f .
S. 1893/4.
fol. 32v: Wie Eheleute ein-
ander beerben, ist eben-
falls ein wichtiger Aspekt
im Landsbrauch. Das Erb-
gut des verstorbenen Man-
nes fällt in der Regel an
dessen Ehefrau, wie es das
hier gezeigte Beispiel illus-
triert. Dies hätte auch Gül-
tigkeit, wenn Anverwandte
des Mannes noch am Le-
ben wären (Seite 44).
fol. 33r: Das darauffolgen-
de Beispiel behandelt den
Fall, in welchem der ver-
storbene Mann aus erster
Ehe Kinder hinterlässt.
Sowohl diese Kinder als
auch die zweite Frau sind
anteilmässig erbberechtigt
(Seite 45).
43
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
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der Gerichtsverhandlung sechs Wochen und drei
Tage im Gewahrsam des Schuldners. Erst dann
wurde ein «gandt brief» ausgestellt, wonach der
Gläubiger zur Pfandverwertung schreiten konnte.
Der Schuldner war auch verpflichtet, dem Gläubi-
ger Zugang zu seinem Pfand zu verschaffen. Nach
der Vergantung musste alles, was über die Summe
der Schuld hinaus erlöst wurde, dem Schuldner
zurückgegeben werden.
Über den Liegenschaftsverkehr wird nur so viel
erwähnt, dass der Käufer die halbe Kaufsumme
des Grundstücks sofort erlegen musste. Für den
Rest konnte er ein Pfand hinterlegen, welches vom
Gläubiger genutzt wurde, bis die Restschuld be-
zahlt war. Auch bei einem Grundgeschäft waren
vermutlich die Amtsleute beteiligt. 1 7 9 Meist musste
der Abschluss vor Gericht getätigt werden. Es wur-
de ein Protokoll aufgenommen, wobei Käufer und
Verkäufer eine Ausfertigung des Verkaufsbriefs er-
hielten. Die Veräusserung wurde meist auch in das
Gerichtsbuch eingetragen. Wurde nur die halbe
Kaufsumme erlegt, dann wurde ein Schuldbrief
ausgestellt, wobei der Schreiberlohn zu Lasten des
Gläubigers ging. In der Herrschaft Sax-Forsteck
war es offenbar der Weibel, der Schuldbriefe aus-
fertigte, was mit seiner Tätigkeit als «Schätzer» zu-
sammenhing. 1 8 0 Diese Tätigkeit wurde ihm 1714
von der Obrigkeit verboten.
Der «lidlohn», 1 8 1 «gesprochen und baar geliehen
gel t» 1 8 2 und «zörich» 1 8 3 konnten im Verfahren der
«kurzen Gant» eingezogen werden. 1 8 4 Die Pfän-
dung wurde dabei schon bei erfolgloser Zahlungs-
aufforderung angekündigt. Am dritten Tag konnte
der Gläubiger bereits die Pfändung eigenmächtig
vollziehen.
S T R A F R E C H T
Die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellen-
berg bildeten je eine Gerichtsgemeinde,1 8 5 deren
Vorsteher der Landammann war. Zweimal jährlich
wurde eine Gerichtsversammlung einberufen, die
vierzehn Tage vorher angekündigt wurde. 1 8 6
Beim Malefizgericht, also beim obersten Gericht
oder Hochgericht, 1 8 7 wurden Strafsachen abgehan-
delt, und zwar zuerst vom Grafen selbst, der ja der
oberste Gerichtsherr war, 1 8 8 und nach 1492 auch
vom Landammann. Worum es sich bei «Strafsa-
chen» handelte, ist bei Hans Schlosser näher be-
schrieben: «Demnach lassen sich als Strafsachen
bestimmen zunächst die Dreiergruppe Totschlag,
Notzucht und Diebstahl, die an den todt gend oder
ze dem tot ziehent, also Lebensstrafen nach sich
ziehen, ferner blutige Körperverletzungen und eh-
renrührige Scheltworte. Sie gehören als Hochge-
richtsfälle grundsätzlich zur landesherrlichen Vor-
behaltsgerichtsbarkeit». 1 8 9 Diese Delikte werden in
Salzburg auch als «Vitztums- oder Hauptmanns-
händel» bezeichnet. 1 9 0
Bei den Gerichtsverhandlungen, die in der Herr-
schaft Schellenberg auf Rofenberg und in der Graf-
schaft Vaduz direkt in Vaduz an einem offenen
Platz unter einer Linde abgehalten wurden, 1 9 1 war
durch hölzerne Schranken die Gerichtsstätte abge-
grenzt, innerhalb derer der Landammann und sei-
ne Beisitzer Platz nahmen. 1 9 2 Um die Gerichtstätte
herum standen als «Umbstand» die «Gerichtsleu-
te», die grossjährigen Bauern des Gerichtsbezirks,
die alle zur Teilnahme am Gerichtstag verpflichtet
waren.
Im folgenden soll deutlich gemacht werden, wer
- nach den Quellen des 17. Jahrhunderts - an ei-
nem Malefizgerichtsprozess teilgenommen hat,
welche Aufgaben jeder zu erfüllen hatte und wie
dieser Prozess abgelaufen ist.
DIE BETEILIGTEN
Der Landammann 1 9 3
Seit 1492 hatten die Landesherren die Möglichkeit,
die Vollmacht zur Ausübung der Blutgerichtsbar-
keit an den Landammann zu übertragen. Inwieweit
hier eine schon bestehende Praxis bestätigt oder
eine neue Ermächtigung geschaffen wurde, ist
nicht feststellbar. Für bestimmte Verwaltungsange-
legenheiten und die Leitung des Niedergerichts
46
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
wurde schon früher ein Ammann von der Herr-
schaft eingesetzt. 1314 tritt ein «Jordanus minister
de Vaduz» als Zeuge in einer Urkunde auf, für
Schellenberg ist 1319 ein Ammann belegt.1 9 4 Der
Landammann wurde alle zwei Jahre von den wahl-
berechtigten Männern für jede der beiden Land-
schaften gewählt . 1 9 5 Das Vorschlagsrecht hatte der
Landesherr, der drei Männer zur Auswahl stellte.
Bis ins 18. Jahrhundert erfolgte diese Wahl durch
das sogenannte «offene Handmehr», also durch
Handerheben, danach durch den Mehrlauf: dabei
stellte sich der Wähler direkt zu seinem Kandida-
ten. 1 9 6 Die Pflichten des Landammanns waren der
Vorsitz bei Gericht, die Leitung der Polizei, Verwal-
tungsaufgaben, Steuerwesen und die Vertretung
der Gerichtsgemeinde nach aussen. 1 9 7
Gleich nach der Wahl wurde dem Landammann
das Recht, über das Blut zu richten, über t ragen . 1 9 8
Dies geschah anscheinend in der Regel sehr form-
los, da es nur eine einzige Urkunde gibt, in der die
Weiterübertragung der Blutgerichtsbarkeit schrift-
lich festgehalten ist. Diese Urkunde datiert aus dem
Jahr 1573:
«Wir [Georg Graf zu Helfenstein und Heinrich
Graf zu Fürstenberg] haben demnach unserem lie-
ben, getreuen Ammann Jakob Blenki an unserer
Statt den Bann über das Blut und andere schädli-
che Sachen zu richten verliehen. Wir befehlen ihm
denn auch Kraft dieses Briefes, alles das nach Ge-
wohnheit und Recht vorzunehmen, zu tun und zu
lassen, was er uns denn gelobt und geschworen
hat».m
Sie wurde von den Vormündern der Söhne des Gra-
fen Alwig von Sulz ausgestellt, die zu diesem Zeit-
punkt noch minderjährig waren. Diese Tatsache
179) Vgl. Schmelzeisen. Polizeiordnungen. S. 217.
180) Vgl . Aebi, Landsbrauch Sax-Forsteck, S. 100.
181) Lidlohn bedeutet «Lohn eines Dienstboten, soweit er in Geld
besteht»; vgl. Haberkern, Eugen; Wallach, Joseph Friedrich: Hilfs-
wörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit. 8. Auflage, Basel,
Tübingen, 1995, S. 395; im folgenden zitiert als: Haberkern/Wallach,
Hilfswörterbuch. Hier war der Gesichtspunkt der Dringlichkeit der
Forderung massgebend; siehe dazu auch: Planitz, Pfändung, S. 327.
182) Hatte der Schuldner versprochen, eine Barzahlung zu leisten
oder handelte es sich um die Rückzahlung von geliehenem Geld,
konnte der Gläubiger die Schuld direkt eintreiben lassen; vgl. Aebi .
Landsbrauch Sax-Forsteck. S. 107.
183) Hierbei handelt es sich um Wirtshausschulden, um die keine
Immobilien gepfändet werden sollten; vgl. Aebi. Landsbrauch Sax-
Forsteck. S. 107.
184) LB fol. 60r. Siehe auch: Landsbrauch Sax-Forsteck, Ziff. 38.
Ziff. 62.1.
185) Ospelt, Verfassungsgeschichte. S. 14.
186) Vgl. Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens, S. 226.
187) Jutz, Leo: Vorarlbergisches Wör terbuch mit Einschluss des
Fürs ten tums Liechtenstein. Wien, 1960, S. 342 f.
188) Vgl. Ritter, Brandisische Freiheiten, S. 34.
189) Schlosser, Hans: Spätmittelal terl icher Zivilprozess nach bayri-
schen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang. Wien. 1971.
S. 23.
190) Vgl. Geschichte Salzburgs, S. 905.
191) Vgl. Schädler, Rechtsgewohnheiten, S. 61.
192) In Salzburg wurde dieser Platz deshalb «Schranne» genannt;
vgl. Geschichte Salzburgs. S. 901.
193) Im Handwör te rbuch zur deutschen Rechtgeschichte findet sich
folgende Definition zum Wort «Amtmann»; Er ist ein «Inhaber eines
Amtes. Es kann sowohl den unfreien Dienstmann wie den belehnten
oder spä ter beamteten Träger hoher richterlicher oder Verwaltungs-
funktionen meinen. Eine besondere Entwicklung ist im Bereich der
oberdeutschen Wortform <Ammann> vor sich gegangen. Aus den
Beamten des Grundherrn wird, zuerst wohl in den geistlichen
Grundherrschaften um den Bodensee, ein Dorfvorsteher. Bald
s tä rker der Herrschaft verpflichtet, bald gewähl tes Oberhaupt der
Gemeinde, findet sich der Ammann in der Schweiz, um den Boden-
see und in Oberschwaben. Im gleichen Raum erscheint er auch als
s tädt ischer Beamter, in der Schweiz sogar als Vorsteher grösserer
Bezirke, vor allem in den unabhäng ig gewordenen Talschaften der
Innerschweiz (Landammann). Hier lebt die Bezeichnung bis in die
Neuzeit weiter»; vgl. HRG. Bd. 1. S. 155 f.
194) LUB 1/3, S. 32 f f ; LUB 1/3. S. 263 ff. Ob es sich dabei wirklich
um einen Landammann in den gleichen Funktionen handelt, wie wir
ihn aus dem 15. oder 16. Jahrhundert kennen, ist fraglich. Erst im
15. Jahrhundort grenzten sich die Bezeichnungen und Funktionen
Vogt/Ammann voneinander ab; vgl. hierzu Stievermann, Geschichte
Vaduz und Schellenberg. S. 119.
195) Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens, S. 226.
196) Vogt, Paul: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeits-
buch zur liechtensteinischen Geschichte. Hrsg. vom Schulamt des
Fürs ten tums Liechtenstein. Vaduz, 1990, S. 28; im folgenden zitiert
als: Vogt, Brücken zur Vergangenheit.
197) Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens, S. 226.
198) Ospelt, Verfässungsgeschiehte . S. 14.
199) L L A SchäU 73, zitiert nach: Vogt, Brücken zur Vergangenheit,
S. 30 (vereinfacht).
47
könnte auch die Erklärung für die einmalige Aus-
stellung einer solchen Urkunde sein; dass es sich
dabei um die erste Verleihung der Blutgerichtsbar-
keit handelt, ist nicht glaubwürdig, weil seit der Er-
mächtigung der Freiherren von Brandis inzwi-
schen über 80 Jahre vergangen waren. Zur Erinne-
rung: Diese Ermächtigung hatte den Freiherren
von Brandis das Recht gegeben, als Landesherren
den Blutbann an die Landammänner weiter zu ver-
leihen.
Der Landammann wird als Vorsitzender der Ge-
richtsverhandlung in den Quellen durchgehend als
«Richter» bezeichnet. Auch die Bezeichnung «Stab-
halter» kommt in einem Landsbrauch vor. 2 0 0 Sie
nimmt darauf Bezug, dass der Richter den Richter-
stab als Hoheitszeichen bei der Eröffnung des Ge-
richtstages in die Hand nahm.
Die Beisitzer
Neben dem Landammann als Richter nahmen an
der Gerichtsversammlung auch noch Beisitzer teil,
die die Funktion von Geschworenen hatten. 2 0 1 Zu-
meist ist von zwölf Beisitzern die Rede, beim Male-
fizgericht wurde diese Zahl jedoch verdoppelt. Der
Hinweis darauf findet sich in einem Lands-
brauch, 2 0 2 während sonst nirgends die Anzahl der
Beisitzer bei der Gerichtsverhandlung erwähnt
wird. Die Besetzung des Blutgerichts (Malefizge-
richts) mit 24 Beisitzern war auch in anderen Län-
dern üblich. Der Zeitpunkt, zu dem diese Zahl in
Vaduz und Schellenberg festgelegt wurde, ist nicht
genau zu ermitteln.
Kaiser bezeichnet die Beisitzer durchgehend als
«Richter», die Bezeichnung der Beisitzer ist in den
Quellen jedoch ganz uneinheitlich. Im Text wird
auch noch die Bezeichnung «urtelsprecher» ver-
wendet, was sehr logisch erscheint, weil sie gleich-
zeitig auf die Funktion der Beisitzer hinweist, näm-
lich das Urteil zu fäl len. 2 0 3 Karl Siegfried Bader un-
terscheidet diese Form der Gerichtsverfassung von
der Schöffenverfassung:
«Weit mannigfaltiger, aber zugleich auch un-
durchsichtiger und diffuser sieht die Organisation
der Dorfgerichte dort aus, wo, wie im deutschen
Südwesten und Südosten, die Schöffenverfassung
durch ein System von Richtern und Urteilen ersetzt
worden ist. Die fränkischen scabini konnten sich
hier trotz aufoktroyierter Grafschafts- und Cente-
narverfassung nicht halten; das Vorbild für die
dörfliche Gerichtsbesetzung bildete offenbar das
grundherrliche Meiergericht und das ihm nachge-
bildete Vogtgericht. Schon die Bezeichnung der am
Gericht Mitwirkenden ist ganz uneinheitlich; vor
allem wird trotz Scheidung der Funktionen zwi-
schen Gerichtsvorsitzenden und Urteilssprecher
nicht nur der das Gericht leitende Ammann,
Schultheiss oder Vogt sondern auch der Urteiler
<Richter> genannt. Mitunter finden sich Ersatzbe-
zeichnungen wie <Geschworene>, <Gerichtsmänner>
usw., wobei durchaus nicht gesagt ist, dass deren
Funktionen sich auf die Urteilsfindung beschrän-
ken»204
Die Beisitzer wurden, im Gegensatz zum Landam-
mann, von der Herrschaft gewählt . 2 0 5 Ihre Amtszeit
war nicht beschränkt. Erst beim Tod oder beim
Zurücktreten eines Beisitzers wurde ein neuer ge-
wählt, was sehr ungewöhnlich ist. Die Gerichtspro-
tokolle vom Maien- und Herbstzeitgericht von
Rofenberg weisen tatsächlich darauf hin, dass die
Beisitzer auf Lebenszeit gewählt wurden. 2 0 6 Die
Wahl auf Lebenszeit hatte natürlich einen entschei-
denden Vorteil: die Beisitzer gewannen immer
mehr Erfahrung und konnten ihre Urteile leichter
nach dem Vorbild eines bereits vorausgegangenen
Gerichtsurteils fällen.
Sowohl der Landammann als auch die Beisitzer
hatten nach ihrer Wahl einen Eid zu leisten:
«Nachdem Ihr Ammann mit mehrer Hand zu ei-
nem Ammann gemacht und Ihr andern zu Beisit-
zern und Urteilssprechern gewählt seid, so werdet
Ihr einen Eid. zu Gott und den Heiligen schwören,
unserem gnädigen Herrn und den vorgesetzten
Oberbeamten an seiner Statt untertänig und gehor-
sam zu sein, mit allen gebührlichen Mitteln Ihro
Gnaden, der Landschaften und der armen Leuten
Nutz und Frommen fördern und Schaden und
Nachteil wenden. Wo Ihr von Übeltätern erfahrt,
48
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
werdet Ihr diese dem Landvogt anzeigen und darü-
ber weiteren Befehl erwarten ... Weiter werdet Ihr
Witwen und Waisen vor Gewalt und Unrecht schüt-
zen und Euren Stab und das Recht redlich füh-
ren...».201
Fürsprecher und Räte
Sowohl die Anklage als auch der Beklagte wurden
durch jeweils einen Fürsprech und zwei Räte, die
dem Fürsprech zur Seite standen, vertreten. 2 0 8
Der Landschreiber
Der Landschreiber war nicht nur Gerichtsorgan,
sondern ein meist auf Lebenszeit bestellter Beam-
ter.2 0 9 Er führte das Protokoll bei den Gerichtsver-
handlungen, verfasste die schriftlichen Urteile und
fertigte die öffentlichen Urkunden aus, die vom
Landammann besiegelt wurden. 2 1 0 Er überprüfte
auch die ausserordentlichen Ausgaben und Ein-
nahmen des Ammanns und sollte die Untertanen
bei Rechtsproblemen mit Fremden beraten. 2 1 1
Der Gerichtsweibel
Vierzehn Tage vor der Gerichtsverhandlung rief
der Gerichtsweibel das Gericht aus. Er wurde von
der Landesherrschaft gewählt und vereidigt. Er
zeigte auch Frevel und Verbrechen an und nahm
Pfändungen vor. 2 1 2 Während der Gerichtsverhand-
lung verbannte er das Gericht und sass gemeinsam
mit dem Landschreiber neben dem Landam-
mann. 2 1 3 In anderen deutschen Ländern wird er als
Scherge, Fronbote oder Gerichtsdiener bezeichnet.
Beklagte
Der Beklagte (oder die Beklagten) vor dem Malefiz-
gericht wird (werden) in den Quellen stets als Male-
fizperson (Malefizpersonen) bezeichnet.
Die auf Seite 13 wiedergegebene Abbildung aus
einem Schulbuch soll als Illustration dienen. 2 1 4 Es
handelt sich hierbei um eine Gerichtssitzung bei
der Kapelle Rofenberg. Dass der Landammann ei-
nen gebrochenen Stab in seinen Händen hält, weist
auf einen Malefizgerichtsprozess hin. In diesem
200) LLA Landsbrauch 17. Jahrhundert.
201) Die Funktion der Beisitzer als Geschworene führ t öfters zu
Verwechslungen in der Terminologie. Es gab nämlich Beamte, die
zwar den Titel «Geschworene» führ ten , die aber vollkommen andere
Aufgaben als die Beisitzer hatten. Sie waren die Vorsteher der Ge-
meinden und hatten die Aufgabe, Holz und Feld zu schützen und zu
schirmen, Weg und Steg zu bessern, Witwen und Waisen zu schüt-
zen, aber auch Verbrecher an das Gericht auszuliefern und Frevel
anzuzeigen; vgl. hierzu: Kaiser. Geschichte Liechtensteins, S. 357 f.;
Ospelt. Alois: Wirtschaftsgeschichte des Fürs ten tums Liechtenstein
im 19. Jahrhundert. In: J B L 72 (1972). S. 5-423, hier S. 74.
202) L L A Landsbrauch 17. Jahrhundert: «Umbfragen und verba-
nung deß malefiz gerichts wie solches in der grafschaft vaduz
üblich».
203) Es besteht auch noch die Möglichkeit, dass die Bezeichnung
«Richter» eine Sammelbezeichnung für den Landammann und die
Beisitzer ist. Das würde aber voraussetzen, dass der Landammann
an der Urteilsfassung beteiligt war.
204) Bader. Kar l Siegfried: Studien zur Rechtsgeschichte des mittel-
alterlichen Dorfes: 2. Teil: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde.
Wien, 1974, S. 349 f.
205) Vgl. Vogt, Brücken zur Vergangenheit, S. 28. Das Vorschlags-
recht hatten die verbleibenden Beisitzer, die der Herrschaft drei
Männer zur Auswahl stellten.
206) Gerichtsprotokolle von Rofenberg 1602 bis 1605. In diesen vier
Jahren wurde nur ein Beisitzer ausgetauscht; vgl. hierzu Hollaus.
Petra: Das Maien- und Herbstzeitgericht zu Rofenberg: Eine Unter-
suchung der Gerichtsprotokolle 1602-1605. In: Bausteine zur
liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische For-
schungsbei t räge . Hrsg. Arthur Brunhart. Zürich, 1999. Band 2.
Neuzeit: Land und Leute, S. 189-191.
207) Aus: Regierungsarchiv, alte Abteilung: Fasz, 22, Materie 3.
Zitiert nach: Vogt, Brücken zur Vergangenheit, S. 28 (vereinfacht).
208) L L A Landsbrauch 1682.
209) Vgl . Niederstätter, Beiträge Vorarlberg, S. 64 f.
210) Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens, S. 226.
211) Niederstätter, Beiträge Vorarlberg, S. 59.
212) Ebenda. S. 64.
213) L L A Landsbrauch 1682.
214) Skizze aus dem Schulbuch von Vogt, Brücken zur Vergangen-
heit, S. 29.
49
Fall müsste aber die Zahl der Beisitzer auf 24 er-
höht werden. Die Schranken, die die Zuschauer
von der Dingstätte trennen, sind auf dem Bild nicht
zu sehen. Die Zuschauer sollten auch nicht gegen-
über dem Gericht stehen, sondern rundherum (da-
her der Name: «Umbstand»). Links auf Seite 12 be-
findet sich daher eine verbesserte schematische
Darstellung einer solchen Gerichtssitzung.
Der Ablauf des Malefizgerichts gemäss liechten-
steinischem Landsbrauch
Die Prozessordnung des Malefizgerichts ist in vier
Landsbräuchen enthalten, wobei die ausführlichste
aus dem Jahr 1682 stammt und von Schädler be-
reits ediert wurde. Der Wortlaut ist im wesentli-
chen gleich, es fehlen jedoch oft Teile oder die Rei-
henfolge der einzelnen Abschnitte wird umgekehrt.
Dies macht es schwierig, den Ablauf des Malefizge-
richts genau zu rekonstruieren. Eine Richtlinie bie-
tet die Malefizgerichtsordnung aus der Reichsherr-
schaft Blumenegg, die aus dem 17. Jahrhundert
stammt, als Blumenegg noch gemeinsam mit Vaduz
und Schellenberg verwaltet wurde. 2 1 5 Sie ist aus-
führlicher als die Gerichtsordnungen, die in den
liechtensteinischen Landsbräuchen erhalten sind.
Zunächst fragte der Landammann die Beisitzer
nach der Rechtmässigkeit der Zusammenkunft. 2 1 6
Dieses Frage-Antwort-System war ein sehr ge-
bräuchliches Element aller Gerichtssitzungen und
diente zur Feststellung der Legitimität. 2 1 7 Auf diese
sechs Fragen antworteten die Beisitzer höchst-
wahrscheinlich gemeinsam. In der Blumenegger
Gerichtsordnung findet sich nach jeder Frage die
Formel: «Des gefragten Antwort». 2 1 8 Es könnte da-
her auch möglich sein, dass ein Beisitzer stellver-
tretend für alle anderen geantwortet hat. Bei den
Gerichtstagen in Salzburg und Niederösterreich
wurde aus den Reihen der Beisitzer ein «Vor-
sprech» bestimmt, der unter anderem das Urteil
verlas. 2 1 9 Diese Funktion erfüllte aber in Liechten-
stein der Landschreiber. Die erste Frage betraf die
Tagzeit: Ob der Tag nicht zu früh, zu spät, zu heilig
oder zu schlecht sei, dass er den Stab aufheben
und richten könne. Bei diesen Worten nahm der
Landammann den Richterstab vom Tisch auf, wo
ihn der Gerichtsdiener vorher hingelegt hatte. Eine
weitere Möglichkeit wäre die direkte Übergabe des
Stabes. 2 2 0 Nun erst hatte er alle Befugnisse als
Richter und die Rechtswirksamkeit seiner Hand-
lungen war gegeben.2 2 1
Weiters fragte der Landammann, ob genügend
Richter anwesend seien und ob alle ehrlich seien,
ob er mit seinen Beisitzern aufstehen könne, um
dem heiligen Sakrament Ehre zu erweisen und ob
er dann immer noch richten könne, ob man die
Verhandlung unterbrechen könne, wenn Feind,
Feuer oder Wassersnot dazwischenkämen und was
geschähe, wenn er krank würde. Auf diese Frage
antworteten die Beisitzer, dass er an seiner Statt je-
mandem den Stab übergeben könne. Falls er gene-
se, könne er weiterrichten. Der Richterstab durfte
während der Gerichtsverhandlung nicht niederge-
legt werden, da ansonsten die Verhandlung als be-
endet anzusehen gewesen w ä r e . 2 2 2 Als letztes frag-
te der Landammann, ob man unter ein Obdach
rücken könne, wenn ein Unwetter käme. Die Sorge
galt dabei dem Gerichtsbuch. Hier stellt sich die
Frage, ob dies ein Hinweis darauf ist, dass die Ge-
richtsverhandlung im 17. Jahrhundert tatsächlich
noch unter freiem Himmel stattgefunden hat oder
ob diese Formel nur aus Tradition auch im Ge-
richtshaus beibehalten wurde. 2 2 3
Danach fragte der Landammann einen Beisitzer,
ob er zwei «Biedermänner» hinzuziehen könnte,
damit das Recht «desto ordentlicher aufrecht und
redlich an sein Statt gange». Bei diesen Bieder-
männern handelte es sich um die Fürsprecher, die
für den Kläger und den Beklagten die gerichtsübli-
chen Formeln sprachen. Es ist möglich, dass diese
aus dem Kreis der Beisitzer genommen wurden.
Nicht ganz klar ist dann allerdings eine Formel in
der Blumenegger Gerichtsordnung, die eher darauf
hinweist, dass die Biedermänner nicht aus dem
Kreis der Beisitzer kommen: «zwen redliche erli-
che biderman auserhalb des rechten».224
Nicht im Landsbrauch verzeichnet ist der Text,
mit dem sowohl der Landammann als auch die Bei-
sitzer und der Landschreiber vereidigt wurden.
50
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Der Text dieser Eide liegt gesondert vor. Der Rich-
ter schwört, dass er
«soll und will in Peinlichen Sachen Recht ergehn
laßen. Richten und urtheylen dem Armen also dem
Reichen und das nit laßen weder durch lieb, Leid,
Miet, gab noch kainer andern Sachen wegen. Und
sonderlich, so will Ich Kayser Rudolph deß Andern
und des heiligen röm. Reichs Peinliche Gerichts
Ordnung, getreulich geloben, und nach meinem pe-
sten vermögen halten, und handthaben, alles ge-
treulich und uneverlich. Also helf mir Gott und all
Heyligen».22-'
Der Eid der Beisitzer hat den gleichen Wortlaut. Sie
mussten den Text, der ihnen vorgelesen wurde,
nachsprechen. Der Schreiber hatte zu beschwören,
dass er genau aufpassen und alles getreulich auf-
schreiben werde.
Dann wandte sich der Landammann an den
Fürsprech des Klägers, der die Klage erhob. Dar-
aufhin verlas der Landschreiber die Urgicht, das
Geständnis des Angeklagten. 2 2 6 Der Fürsprech des
Klägers ergriff nun wieder das Wort, der Angeklag-
te habe durch seine Taten sein Leben verwirkt und
müsse zum Tod verurteilt werden. Nun durfte auch
der Fürsprech des Angeklagten appellieren.
Bevor nun ein Urteil gefasst wurde, wandte sich
der Landammann an den Fürsprech des Klägers
und fragte ihn nach einem Urteil. Dieser sagte dar-
auf, er sei des Rechts nicht allein verständig und
bitte, diesen Umstand abzutreten. Die Beisitzer
rückten nun zusammen und berieten wegen eines
Urteils. Wenn sie ein Urteil gefasst hatten, schrieb
der Landschreiber es nieder und jeder setzte sich
wieder an seinen Platz. Der Landammann wandte
sich an den Fürsprech des Klägers, um das Urteil
zu eröffnen. Dieser bat den Landschreiber, das Ur-
teil zu verlesen. Flandelte es sich um ein Todesur-
teil, so brach der Landammann den Stab und be-
hielt die Teile in der Fland. 2 2 7
215) Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschaft Blumenegg. In:
Burmeister, Vorarlberger Weistümer, S. 340-344; im folgenden
zitiert als: Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschaft Blumenegg.
216) Diese Fragen sind in jeder Malefizgerichtsordnung der Lands-
bräuche gleich. Siehe auch LLA RA 143/36: «Verbannung dess
Malefiz Gerichtes».
217) Kocher, Gernot: Richter und S tabübergabe im Verfahren der
Weistümer. Graz, 1971. S. 53; im folgenden zitiert als; Kocher.
Richter und Stabübergabe .
218) Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschaft Blumenegg,
S. 340.
219) «Das Schöffenkollegium wähl te aus seiner Mitte einen Vorspre-
cher, der - in wichtigen Fällen nach Beratung mit seinen Mitge-
schworenen - die Urteile dem Vorsitzenden mitteilte und andere
Entscheidungen und Stellungnahmen bekannt gab»; vgl. Feigl.
Helmuth: Rechtsentwicklung und Gerichtswesen Oberösterreichs
im Spiegel der Weistümer. Wien. 1974 (Archiv für Osterreichische
Geschichte. Band 130), S. 89. In Salzburg wurde aus den Reihen der
Rechtssitzer ein Vorsprach gewählt , der auf die Memorialfragen des
Richters antwortete. Bei diesen Fragen wurden die Grenzen des
Gerichtes festgestellt und das geltende Recht erfragt. Er verkündete
das von den Rechtssitzern gefundene Urteil; vgl. auch: Geschichte
Salzburgs. S. 901.
220) Vgl. Kocher, Richter und S tabübergabe , S. 59 ff.
221) Ebenda, S. 60.
222) Ebenda, S. 75.
223) Burmeister stellt fest, dass (äst jedes Dorf eine Dingstatt unter
freiem Himmel kennt. Es sind zumeist Linden oder Eichen, unter
denen das Gericht gehalten wird. Im Jahr 1465 erhäl t das Landge-
richt in Rankweil von Kaiser Friedrich III. das Privileg, über der
Dingstatt ein Dach auf vier Pfählen zu errichten. Es muss aber nach
allen Seiten hin offen sein. Daraufhin entstehen auch Gerichtsgebäu-
de, die ausgesprochene Mehrzweckbauten sind; vgl. Burmeister.
Vorarlberger Weistümer, S. 47. In der Herrschaft Schellenberg
wurde das Gericht zu Rofenberg unter einer Eiche vor der Kapelle
gehalten. Dort gab es auch ein Amtsgebäude , in dem der Landam-
mann und die Zolleinnehmer amteten. In diesem Gebäude waren
das Richtschwert und die Landesfahne der Herrschaft verwahrt; vgl.
Schafhauser, Eugen: Die St. Martinskirche von Eschen und das
Gerichtsgebäude zu Rofenberg. In: J B L 54 (1954). S. 74.
224) Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschaft Blumenegg,
S. 342.
225) L L A RA CXIII, «Dess Richters Ayd über das Blut Zurichten»,
«Vrtlsprecher Ayd», «Schreibers Ayd».
226) Haberkern/Wallach. Hilfswörterbuch, S. 632. - In der Reichs-
herrschaft Blumenegg werden dem Delinquenten vor der Verlesung
der Urgicht die Fesseln gelöst; vgl. Malefizgerichtsordnung der
Reichsherrschaft Blumenegg, S. 342.
227) Der Landammann zerbrach nicht den kostbaren Richterstab,
sondern einen eigens angefertigten, dünnen Stab. Kocher erwähnt ,
dass der Stab meistens bei der Übergabe des Delinquenten an den
Henker gebrochen wurde. Vgl. Kocher, Richter und Stabübergabe ,
S. 45. Auch in der Reichsherrschaft Blumenegg wurde diese Praxis
geübt. Vgl. Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschaft Blumenegg.
Beiträge Vorarlberg, S. 344. Hier scheint aber der Landammann den
Stab schon vor dem Plädoyer des Fürsprechs der Malefizperson zu
brechen.
51
Der Fürsprech des Angeklagten hatte aber noch
die Möglichkeit, eine Begnadigung zu erwirken. Er
sprach von der christlichen Nächstenliebe und bat
das Gericht, das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe
umzuwandeln.
Wenn nun der Beklagte gar nicht anwesend, also
flüchtig war, so ersuchte der Landammann den Ge-
richtsweibel, den Gerichtsring nach drei Seiten zu
öffnen und dreimal den Täter laut zu rufen. Kam
nach einer Viertelstunde niemand, so wurde der
Gerichtsring wieder geschlossen und mit der Ver-
handlung fortgefahren.
Die Richtstätte, an der die Hinrichtung vollzogen
wurde, war vom Ort der Gerichtsversammlung
(Dingplatz, Dingstätte) immer getrennt. Der Galgen
stand im Oberland an der heutigen Gemeindegren-
ze Vaduz-Triesen und im Unterland bei Güdigen,
nordöstlich von Eschen. 2 2 S Auf eine andere Llin-
richtungsart, nämlich das Köpfen, findet man ei-
nen Hinweis in der Malefizgerichtsordnung von
Blumenegg:
«Herr richter, nachdem vormals erkannet ist mit
der urteil, daß dieser arm mensch das leben ver-
würckt und den todt verschuldet habe, so bedunckt
es mich recht auf mein aid, daß diser arm mensch
jetz zuemal dem nachrichter229 geantwurt und be-
volchen werden solle. Der soll in zue seinen hen-
den nemen, binden, versorgen und bewaren nach
notturft und solle ine hinausfüeren auf die gewon-
liche richtstatt und der übelthalt halben, so er lai-
der geüebt und gehandlet, solle ime sein leib ent-
zwei gehauen werden und der leib das gröser und
das haupt das klainer seie».2?M
Leider ist es nicht nachvollziehbar, wie viele To-
desurteile tatsächlich vollstreckt wurden und wie
oft es auch Begnadigungen gegeben hat. Dass eini-
ge Verbrecher begnadigt wurden, ist aus den Ur-
fehdeschwüren ersichtlich: Zum Tode verurteilte
Verbrecher legten bei ihrer Entlassung aus dem
Gefängnis den Schwur ab, dass sie sich wegen er-
littenen Strafen nicht an der Herrschaft rächen
werden. 2 3 1 Die letzte Hinrichtung auf Güdigen fand
am 5. März 1785 statt.232
Diese Form der Gerichtsverhandlung mit dem
Landammann als Richter war von 1492 bis zum
Jahr 1733 gültig. Danach konnten die beiden Land-
schaften Vaduz und Schellenberg zwar noch ihre
Landammänner wählen; nach einem Erlass des
Fürsten Josef Wenzel von Liechtenstein sollten die
Landammänner nur noch den Beisitz bei den Blut-
gerichten haben und nach der Verlesung des Ur-
teils den Stab brechen. 2 3 3 Die endgültige Aufhebung
der Landammannverfassung und somit die Ab-
schaffung des Landammannamtes fand im Jahr
1808 statt.234
Exkurs: Hinrichtung und Henker
Nachdem der Verbrecher von den Richtern zum
Tode verurteilt worden war, wurde er vom Henker
oder Nachrichter, wie er in den Quellen genannt
wird, zur Hinrichtung geführt. Dies konnte auch
erst Tage nach der Verurteilung geschehen; der
Verbrecher hatte noch Gelegenheit, einen Priester
zu empfangen, oder er wurde sogar begnadigt.
Welche verschiedenen Arten der Hinrichtung es
gab, geht aus der Bestallungsurkunde für den
Scharfrichter Johann Georg Reichlin hervor. 2 3 5 Man
unterschied je nach Aufwand und Kosten zwischen
«grossem» Richten, für das der Henker acht Gul-
den bekam und «kleinem» Richten; dafür betrug
die Belohnung vier Gulden. Zum kleinen Richten
zählten Enthaupten, Hängen, und Ertränken, zum
grossen Richten Vierteilen, Lebendigbegraben,
Verbrennen und Rädern. Beim Rädern wurden
dem Delinquenten mit einem eigens angefertigten,
schweren Rad alle Glieder zerstossen und danach
der gelegentlich noch lebende Körper durch die
Speichen eines anderen Rades geflochten. 2 3 6 Für
die benötigten Handschuhe und den Strick erhielt
der Scharfrichter jedes Mal 40 Kreuzer; sollte er ei-
nen Knecht benötigen, erhielt dieser für die Mahl-
zeit 15 Kreuzer.
Aber nicht nur die Hinrichtung zählte zu der
Tätigkeit des Henkers. Auch über die Bezahlung
anderer Dienste gibt die vorgenannte Bestallungs-
urkunde Auskunft. Grundsätzlich betrug das jährli-
52
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
che Wart- und Dienstgeld 52 Gulden. Dazu kamen
noch die Belohnungen für andere Tätigkeiten. Da-
bei handelt es sich einerseits um die Beseitigung
der Körper von Selbstmördern, die sich das Recht
auf die Bestattung in geweihter Erde verwirkt hat-
ten und meist unter dem Galgen begraben oder auf
dem Wasser hinweggeschwemmt wurden. Dafür
erhielt der Scharfrichter sechs Gulden. Die Beklei-
dung des Selbstmörders gehörte dem Scharfrich-
ter; Wertsachen aber hatte er der Obrigkeit abzu-
liefern. Auch die Beseitigung von toten Tieren, der
Wasendienst, war eine Aufgabe des Scharfrichters.
Es war genau geregelt, welche Tierfelle der Scharf-
richter behalten durfte und welche er dem Besitzer
des Tieres abzuliefern hatte. Falls der Besitzer des
Tieres die Haut behalten wollte, musste er dem
Scharfrichter 30 Kreuzer bezahlen. Weiters war
der Scharfrichter noch zuständig für peinliche Be-
fragungen, also die Folter, welche angewandt wur-
de, um das Geständnis eines vermutlichen Verbre-
chers zu erpressen. Hier ist interessant, dass der
Scharfrichter zu dieser Zeit pro Tag bezahlt wurde,
und zwar mit 15 Kreuzer, und nicht pro durchge-
führte Folterung. Daneben führte er noch die Kör-
perstrafen durch, die nicht nur auf die Zufügung
von Schmerzen abzielten, sondern auch für den
Betroffenen äusserst ehrenrührig waren. Dazu
gehörten «mit ruthen ausschlagen», «ohren ab-
schneiden», «durch bakhen und Stirnen brennen»
oder «finger abhauen». Die Belohnung dafür be-
trug zwei Gulden.
Der erste LIenker, der in den liechtensteinischen
Quellen erwähnt ist, ist der Nachrichter von Bre-
genz, der für die oben erwähnten Henkerstätigkei-
ten nach Vaduz berufen wurde. 2 3 7 Laut Wolfgang
Scheffknecht ist zu dieser Zeit, also zwischen 1570
und 1578, Meister Mathis Pflug im Amt bezeugt.2 3 S
Im Jahr 1650 wurde mit Christoph Hürter abge-
rechnet, der ebenfalls Scharfrichter in Bregenz
war. 2 3 9 1666 erhielt Hans Jakob Neher aus Lindau
die Attestation eines Scharfrichters, nachdem er
mit der Vollstreckung zweier Todesurteile sein Mei-
sterstück verrichtet hatte. 2 4 0 Der oben erwähnte Jo-
hann Georg Reichlin hatte seinen Einstandsbrief
am Beginn des 18. Jahrhunderts erhalten. 2 4 1 Es
dürfte sich bei ihm um den am 26. März 1674 ge-
borenen Sohn des damaligen Scharfrichters han-
deln, der 1685 sein Amt verlor. 2 4 2 Dazwischen dürf-
te wieder der Scharfrichter von Bregenz nach Va-
duz beordert worden sein, wie aus den Instruktio-
nen für den Bregenzer Scharfrichter aus dem Jahr
1695 hervorgeht.2 4 3
Im Jahr 1718 ersuchte Johann Georg Reichlin
den Fürsten um eine Bestallung, da er bereits über
60 Personen hingerichtet hatte. 2 4 4 Dieser Bestal-
lungsbrief dürfte im Jahr 1720 immer noch nicht
ratifiziert worden sein, da er den Fürsten um eine
Ratifikation ersuchte. 2 4 5 Die erste nachweisbare
Bestallung erfolgte im Jahr 17 2 7. 2 4 6 Auf ihn folgte
Michael Reichle, 2 4 7 seine Familie verband sich
228) Vgl. Goop. Adulf Peter: Liechtenstein - gestern und heute.
Vaduz. 1973.
229) Der Nachrichter ist gleich zu setzen mit dem Henker.
230) Malefizgerichtsordnung der Reichsherrschai't Blumenegg,
S. 343.
231) L L A SchäU 24, L L A Schä U26: Ludwig Gitz schwört , dass er
fortan in kein Haus treten wird, in dem Biederleute wohnen, dass er
kein langes Messer oder Degen, sondern nur ein abgebrochenes
Messer tragen wird, und er schwör t ebenso, dass er in der Kirche
nur hinten stehen wird.
232) Schädler, Rechtsgewohnheiten. S. 67.
233) Ebenda, S. 68.
234) Vgl. Ospelt, Entwicklung des Gerichtswesens. S. 232.
235) L L A RA 02/6/08.
236) Vgl. Schof'fknecht, Wolfgang: Scharfrichter. Eine Randgruppe im
frühneuzei t l ichen Vorarlberg. Konstanz, 1995, S. 54; im folgenden
zitiert als: Scheffknecht. Scharfrichter.
237) LLA RA 02/6/01.
238) Vgl. Scheffknecht. Scharfrichter. S. 148.
239) LLA RA 146/021.
240) LLA RA 02/6/02.
241) LLA RA 02/6/05.
242) Vgl. Scheffknecht, Scharfrichter, S. 156.
243) L L A RA 02/6/04.
244) LLA RA 02/6/06.
245) L L A RA 02/6/07.
246) LLA RA 02/6/09.
247) Vgl. Scheffknecht. Scharfrichter. S. 156.
53
durch Heirat mit der Vorarlberger Scharfrichterfa-
milie der Vollmar.
Als zweite Vaduzer Scharfrichterfamilie ist die
Familie ßurkhar t bezeugt. Im Jahr 1798 folgte Xa-
ver Burkhart seinem verstorbenen Vater Michael
Burkhart im Amte des Scharfrichters nach. 2 4 8
POLIZEIORDNUNG
Polizeiordnungen sind Verordnungen der Landes-
herren, welche die allgemeine Wohlfahrt und öf-
fentliche Interessen betreffen. Sie sind die Haupt-
form der landesherrlichen Gesetzgebung und blei-
ben es bis ins 18. Jahrhundert. 2 4 9 Die vorrangige
Intention der Gesetzgeber war die Erhaltung der
alten Sitten gegenüber neuen Einflüssen mit Beru-
fung auf das Gemeinwohl. Natürlich stehen Polizei-
ordnungen auch im Zusammenhang mit der Aus-
weitung der landesherrlichen Macht.
Ein Hauptanliegen der Landesherren war es,
mit den Polizeigesetzen eine Erhaltung und Stabili-
sierung der alten Zustände zu erreichen. Gerade in
einer Zeit, in der das mittelalterliche Ordnungsge-
füge im Auflösen begriffen war, erhielten solche
Gesetze eine wichtige Bedeutung. 2 5 0
Die ersten kleineren Landesordnungen mit poli-
zeirechtlichen Bestimmungen entstanden gegen
Ende des Mittelalters. 2 5 1 Die «gute Polizei», also die
sittliche Ordnung, war durch neu aufgetretene
Missstände oder durch Missbrauch gefährdet . 2 5 2
Diese Tatsache nahmen die Landesherren zum An-
lass, Vorschriften zu erlassen, welche die überlie-
ferten Zustände wahren oder aber wiederherstel-
len sollten.
Anklänge an die späteren Polizeiordnungen ent-
hält bereits jenes «Gesetz», das Erzbischof Fried-
rich III. 1328 für sein Herrschaftsgebiet, das wer-
dende Land Salzburg, erliess. Es enthält Vorschrif-
ten gegen Wucher, Fürkauf und Würfelspiel sowie
über den Grundstückserwerb und die Morgenga-
be. 2 5 3 1446 und 1482 erschienen Polizeiordnungen
in Sachsen, 1474 und 1491 im Flerzogtum Bayern-
Landshut und 1495 im Herzogtum Württemberg
sowie in der Markgrafschaft Baden. 2 5 4
Seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts wurde
die Polizeigesetzgebung auch Sache des Reichs. Als
Teil der Reichsgesetzgebung entstanden im 16. Jahr-
hundert nach einigen dem Umfang nach geringe-
ren Ordnungen die Reichspolizeiordnungen. Gegen-
stände dieser Reichspolizeiordnungen, neben der
Carolina (Peinliche Gerichtsordnung Karls V. aus
dem Jahr 1532) die letzten bedeutenden Reichsge-
setze, sind die öffentliche gute Ordnung (Kleider,
Hochzeiten, Spielleute, Bettler, Ehebruch, Gottesläs-
terung) und Wirtschafts- und Arbeitsrecht (Masse,
Gewichte, Handel, Preise, Löhne). 2 5 5 Sie nahmen
keine ausschliessliche Geltungskraft für sich in An-
spruch, sondern setzten eine Ergänzung durch Lan-
desrecht voraus. Die Reichsstände wurden für be-
fugt erklärt, die Reichspolizeiordnung «nach eines
jeden Landes Gelegenheit einzuziehen, zu verringe-
ren und zu maßigen, keineswegs aber zu erhöhen
und zu mehren».256 Viele Landes- und Stadtordnun-
gen lehnten sich inhaltlich und der Form nach an
die Reichspolizeiordnungen an, 2 5 7 entwickelten je-
doch oft regionale Besonderheiten, die mit ihren
speziellen Notwendigkeiten zusammenhingen. Die
staatlichen Regelungen wurden in einem bis dahin
noch nicht üblichen Mass ausgeweitet.
Um sicher zu gehen, dass ihre Verordnung nicht
im Widerspruch zum Reichsgesetz stand, liessen
die Landesherren ihre Gesetze mitunter vom Kai-
ser bestät igen. 2 5 8 Es gibt jedoch auch Polizeiord-
nungen, die gänzlich unabhängig zu den Reichspo-
lizeiordnungen entstanden sind, wie zum Beispiel
die «Policey und Ordnung» für Schlesien. 2 5 9 Des-
halb ist es unmöglich, allein durch die Bezeichnung
«Polizeiordnung» auf einen bestimmten Inhalt zu
schliessen.
Bei der Erlassung der Reichspolizeiordnungen
war der Kaiser, wie auch sonst bei wichtigen Reichs-
gesetzen, an die Zustimmung der Reichsstände ge-
bunden. 2 6 0 Ohne ihre Unterstützung konnte der er-
strebte polizeiliche Zustand nicht verwirklicht wer-
den. Die Befehle in den Reichspolizeigesetzen rich-
teten sich immer an die «Obrigkeit», die dabei aber
nicht näher definiert wurde. 2 6 1 Ihr wurde die Aus-
führung übertragen. Gemeint waren damit die welt-
lichen und geistlichen Fürsten sowie die reichsun-
54
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
mittelbaren Herren, Ritter und Städte, denen es zur
Pflicht gemacht wurde, die Vorschriften des Reichs
an die Stellen weiterzuleiten, die ihnen unmittelbar
Gehorsam schuldig waren.
Polizeiordnungen wurden also vom jeweiligen
Landesherrn erlassen. Warum riefen sie dann kei-
nen Widerstand des Volkes hervor, welches doch in
diesen Neuregelungen einen Konflikt mit dem
überkommenen Rechtsverhältnis sehen musste?
Zunächst muss man festhalten, dass die Vorstel-
lung, nach der das Recht durch Weistum festge-
stellt werden müsse und jegliche Satzung etwas an-
deres als Recht sei, in den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters langsam an Bedeutung verlor. 2 6 2
Dazu kommt noch die Lehre der Juristen, dass eine
Satzung Recht wird, wenn sie vom Kaiser oder
Landesherrn bestätigt wird.
Zusätzlich zielten die Polizeiregelungen auch auf
die Wahrung des «guten alten Rechts» ab, da sie ja
helfen sollten, die überlieferten Zustände und die
alte Ordnung zu erhalten. 2 6 3 Diese Funktion der
Missbrauchs- und Missstandsabwehr ordnete die
Polizeigesetzgebung der landesherrlichen Gerichts-
barkeit zu.
Es war auch eine landesherrliche Aufgabe, be-
sonderer Not abzuhelfen. 2 6 4 Da die Regelungen der
Polizeiordnungen sich auch auf diese Verpflichtung
beriefen, standen sie nicht im Gegensatz zur herr-
schenden Rechtsauffassung.
Letztendlich lässt sich auch feststellen, dass die
Landesherren darauf bedacht waren, nicht neues
Recht einzuführen, sondern immer die alten Rech-
te zu sammeln, zu sichten und möglichst in das Ge-
setz einzuarbeiten. 2 6 5
Das Wort «Polizei» ist kein statischer Begriff, der
einfach zu definieren wäre. Im Laufe der Zeit hat
dieses Wort eine stete Entwicklung durchgemacht
und erscheint in den Quellen in verschiedenen Be-
248) L L A RA 02/6/10.
249) Vgl. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung, S. 60.
250) Vgl. Schulze, Reiner: Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschaft-
und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg in der f rühen Neuzeit.
Aalen, 1978 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsge-
schichte, Neue Folge. Band 22), S. 16; im folgenden zitiert als:
Schulze, Polizeigesetzgebung.
251) HRG, Band 3. S. 1804.
252) Vgl. Schulze. Polizeigesetzgebung, S. 125.
253) Vgl. Schmelzeisen. Polizeiordnungen, S. 17.
254) Ebenda, S. 17.
255) Vgl. Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter
besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Göttingen,
1952, S. 109.
256) Vgl. Conrad, Hermann: Deutsche Rechtsgeschichte. Band IL
Neuzeit bis 1806. Karlsruhe, 1966. S. 257.
257) Vgl. Schulze, Polizeigesetzgebung, S. 11.
258) Vgl. Polizei- und Landesordnungen. Hrsg. Gustaf Klemens
Schmelzeisen; W. Kunkel; H. Thienne. Köln, Graz, 1968 (Quellen zur
Neueren Privatrechtsgeschichte. Band 2), S. 29.
259) Vgl. Weber, Matthias: Die schlesischen Polizei- und Landesord-
nungen der f rühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien, 1996 (Neue For-
schungen zur schlesischen Geschichte. Band 5), S. 14.
260) Vgl . Polizei- und Landesordnungen, S. 24.
261) Hartz, Werner: Die Gesetzgebung des Reichs und der weltlichen
Territorien in der Zeit von 1495 bis 1555. Diss. Marburg, 1931, S. 8;
im folgenden zitiert als: Hartz. Gesetzgebung des Reichs.
262) Vgl . Ebel, Geschichte der Gesetzgebung, S. 63.
263) Schulze, Polizeigesetzgebung, S. 125.
264) Ebenda, S. 127.
265) Ebel, Geschichte der Gesetzgebung, S. 70 f.
fol. 83v und 84r: Als An-
hang zum Landsbrauch ist
die gültige Polizeiordnung
beigefügt. Diese Ordnung
enthält im Wesentlichen
Vorschriften für ein gottge-
fälliges Leben, Anweisun-
gen zur Vermeidung von
Luxus, Müssiggang und
lasterhaftem Tun. Die ein-
leitende Bestimmung zur
«Abstellung der Tauf Sup-
pen» möchte dieses feierli-
che Familienessen zwar
nicht verhindern, aber
ausschweifenden Gelagen
und hohen Kosten einen
Riegel vorschieben (Seite
56/57).
55
56
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
57
deutungen. Leider enthalten die Quellen selbst kei-
ne Definition von Polizei , 2 6 6 und so war eine inten-
sive Beschäftigung mit denjenigen Quellen nötig,
die sich selbst als «Polizeiordnung» bezeichneten,
um die Bedeutung des Begriffs in der jeweiligen
Zeit zu erschliessen. Namhafte Juristen und Histo-
riker haben bereits einschlägige Werke herausge-
geben. Hier eine kurze Zusammenfassung ihrer Er-
gebnisse.
Wortmässig stammt «Polizei» aus dem Griechi-
schen und gelangte, nachdem es in das Lateinische
übernommen worden war, über die burgundischen
Kanzleien in die Kanzleisprache des Deutschen
Reichs. 2 6 7 In den Gesetzen tauchte das Wort erst-
mals im 15. Jahrhundert auf. Franz-Ludwig Kne-
meyer findet die ersten Belege für den Gebrauch
des Wortes «Polizei» in Rechtssätzen aus den Jah-
ren 1464, 1476, 1488, 1492 und 1495. 2 6 8
Bedeutungsmässig müssen wir grundsätzlich
zwischen mehreren Möglichkeiten unterscheiden.
Bis ins 18. Jahrhundert wurde das Wort «Polizei»
(Pollicey, Pollucy, Pollicei, Policey, ...) als ein «Zu-
stand guter Ordnung im Gemeinwesen» verstan-
den. 2 6 9
Dort, wo sich die Bürger ordentlich, züchtig, ge-
sittet und ehrbar verhielten, dort bestand Polizei
oder gute Polizei. Beachtenswert ist, dass gute Poli-
zei nicht durch Massnahmen staatlicher Stellen er-
reicht werden sollte, sondern durch das ordnungs-
gemässe Betragen der Bürger. 2 7 0 Es gab auch
zunächst keine Vollzugsbeamten, die auf die Ein-
haltung der Polizeigesetze achten sollten; diese
Aufgabe fiel, wie es auch in der Grafschaft Vaduz
der Fall war, den Pfarrern und den Landammän-
nern zu:
«Als erstlich sollen alle unsere gesessenen Or-
dens leuth, pfarrherren, caplän, frühe messer und
gemeiniglich alle priester, wer die seyn, ... das
volck ßeissig mahnen und ermahnen und abweh-
ren, daß sie die gräuliche gottes lästerung und bey
dem nahmen gottes ... zu schwören, zu fluchen
oder verächtlich davon zu reden sich gäntzlich ent-
halten ,..».271
«... so ist hiemit unser ernstlicher wil und mey-
nung, daß alle unsere ambtleuth, des gleichen
waiblen, geschworne, auf solche und dergleichen
verthräuliche haußhalter, verschwendter und pro-
digi ihr sonderbahr und fleißig aufmerkhen haben,
und da sie einen erfahren, der anfange, seines und
seines weibs güther also leichtfertiger weis zu ver-
schwendten, denselben alsbalden für das ambt
bringen ...».272
Neben dieser Verwendung des Wortes Polizei als
ein Zustand guter Ordnung bedeutete es in man-
chen Quellen ohne die Zufügung eines zweiten
Wortes auch ein Gesetz, welches zum Ziel hat, ei-
nen Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens
herzustellen oder zu erhalten. 2 7 3 Es handelt sich
hierbei um eine Kürzung des Wortes «Polizeiord-
nung». Im Jahr 1532 erinnert beispielsweise Kai-
ser Karl V. an die 1530 aufgerichtete «Reformation
und Ordnung guter Polizei» und gestattet den Stän-
den, die «Polizei und Ordnung» zu bessern, falls sie
Mängel fänden. Hier bestand also ein Nebeneinan-
der von zwei Bedeutungen ohne eine begriffliche
Unterscheidung.
Im 18. Jahrhundert setzte allmählich ein Be-
griffswandel ein. Zu dieser Zeit wurden Beamte
eingesetzt, die den Titel Polizeidirektor, Polizei-
knecht usw. trugen. Bald verband man mit dem Be-
griff «Polizei» eine obrigkeitliche Aktivität zur Her-
stellung guter Polizei und schliesslich das Polizeior-
gan selbst. 2 7 4
So wenig wie das Wort «Polizei» in den Gesetzen
definiert ist, so wenig finden wir auch eine Festle-
gung auf bestimmte Gebiete, die zu den Polizeisa-
chen gehören. Es werden nur verschiedene rege-
lungsbedürftige Bereiche des gemeinschaftlichen
Lebens aufgezählt.
Im Jahr 1759 führte Johann Heinrich Gottlob
von Justi auf, was seiner Meinung nach zu den Auf-
gaben der Polizei gehörte:
«Zu dem Ende muss die Landes-Policey bestän-
dig auf diejenigen Quellen eine große Aufmerksam-
keit haben, wodurch die Landes-Produckte hervor-
gebracht werden».275
Dabei bezieht er sich im besonderen auf Landwirt-
schaft, Wald- und Forstwesen, Manufakturen und
58
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Fabriken. Aber auch der Handel liegt im Aufgaben-
bereich der Polizei eines Landes. Diese muss die
Steuern günstig gestalten und den Gewinn, die
Geldzirkulation und den Kredit fördern . 2 7 6 Des wei-
teren muss sie einen Einfluss auf die Religion ausü-
ben. Dazu gehört die Verhütung des Zwiespalts der
Religionen, die Bücherzensur und die Aufsicht über
die Geistlichen. 2 7 7 Nicht zuletzt muss die Polizei das
Gemeinwohl fördern. Sie hat die Aufsicht über die
Sitten, die Erziehung der Jugend und sie muss dar-
auf achten, dass keine Verschwender, Müssiggeher,
Bettler, kein liederliches Gesindel, keine Räuber
und Diebe ihr Unwesen treiben. Wie daraus zu er-
sehen ist, überschritt im 18. Jahrhundert die Poli-
zei oftmals die Grenze dessen, was wir heute als
Privatangelegenheiten betrachten.
Das geordnete Funktionieren der Justiz gehörte
nicht zu den Polizeigesetzen.2 7 8 Gerichtsbarkeit
und Rechtspflege bildeten einen eigenen Bereich
staatlicher Tätigkeit. Zunächst war aber die Justiz
für die Ahndung von Polizeisachen zuständig, das
heisst, Gerichte entschieden auch über Polizeisa-
chen. Während des 18. Jahrhunderts setzte eine
intensive Diskussion um den Unterschied von
Recht und Justiz einerseits und der Polizei anderer-
seits ein. 2 7 9 Die Polizeisachen wurden besonderen
Behörden zur «Polizeigerichtsbarkeit» übertragen
und den Justizbehörden wurde verboten, sich in
polizeiliche Angelegenheiten einzumischen. 2 8 0
Die wissenschaftliche Literatur des 17. und 18.
Jahrhunderts setzte sich auch damit auseinander,
was eigentlich der Zweck der Polizei sein sollte. Als
Beispiel zitiere ich hier wieder Johann Heinrich
Gottlob von Justi, der ebenfalls einen Beitrag zur
dieser Diskussion geleistet hat. Er betont, dass die
Regierung die Ruhe und gute Ordnung unter den
Untertanen erhalten muss {«kurz: die Fürsorge der
Landes-Policey, die wir in dieser Abtheilung vor-
tragen, hat die innerliche Sicherheit des Staats
zum Endzwecke»)-281 aber auch, dass es Endzweck
der Polizei sei, «die innere Macht und Stärke des
Staates zu vergrößern».282
Damit kommen wir zu der Frage, welche Berei-
che in den Polizeiordnungen, konkret aber in der
Polizeiordnung der Grafschaft Vaduz und der Herr-
schaft Schellenberg geregelt waren. Es ging dabei
einerseits um Vorschriften für bestimmte Perso-
nengruppen und andererseits werden verschiede-
ne gesellschaftliche Themen aufgegriffen, wie zum
Beispiel die Arbeitsordnung, Kirchenzucht und
zahlreiche Delikte, die gegen die guten Sitten Ver-
stössen.
Im folgenden möchte ich die Themenbereiche
der Polizeiordnung im Landsbrauch vorstellen, wo-
bei ich versucht habe, eine möglichst übersichtli-
che Einteilung zu finden. Leider liess es sich nicht
vermeiden, dass bestimmte Überschneidungen vor-
kommen, worauf ich jeweils hinweisen werde.
266) Vgl . Preu. Peter: Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die
Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissen-
schaften des IS. Jahrhunderts. Göttingen. 19S3 (Göttinger Rechts-
wissenschaftliche Studien. Band 124). S. 15.
267) Vgl . Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner.
Werner Conze, Reinhard Kosellek. Band 4, Stuttgart, 1972 ff.. S. 875;
im folgenden zitiert als: Geschichtliche Grundbegriffe.
268) Knemeyer, Franz Ludwig: Polizeibegriffe in Gesetzen des 15.
bis 18. Jahrhunderts. In: Archiv des öffentlichen Rechts 92 (1967),
S. 156; im folgenden zitiert als: Knemeyer, Polizeibegriffe. Als Beispiel
führ t Knemeyer eine Vorschrift an, die Bischof Rudolf von Scheren-
berg 1476 als Landesherr für Würzburg erlassen hat: Die Stadt,
heisst es, sei «mit viel löblichen Polizeien und guten Ordnungen
versehen».
269) Ebenda, S. 155.
270) Ebenda, S. 161.
271) LB fol. 68r.
272) Ebenda, fol. 79r.
273) Knemeyer, Polizeibegriffe, S. 158 f.
274) Ebenda, S. 163.
275) Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Grundsätze der Policeywis-
senschaft. 3. Ausgabe. Göttingen, 1782 (Neudruck Frankfurt a. M . .
1969), S. 109 ff.; im folgenden zitiert als: Justi, Policeywissenschaft.
276) Ebenda. S. 170 ff.
277) Ebenda, S. 238 ff
278) Knemeyer, Polizeibegriffe, S. 171.
279) Preu, Polizeibegriff, S. 44.
280) Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe, Band 4, S. 882.
281) Justi, Policeywissenschaft. S. 290 f.
282) Ebenda, S. 381.
59
Vorschriften für ein gottgefälliges Leben
Zunächst enthält die Polizeiordnung Vorschriften
für ein gottgefälliges Leben der Untertanen. Damit
sollte verhindert werden, dass der Zorn Gottes in
Form von Strafen über das Land kommt. 2 8 3 Das
Übergreifen des Staates auf dieses Gebiet beweist,
dass die geistlichen Kräfte, die das Mittelalter ge-
tragen haben, deutlich geschwächt waren. Eine ge-
wisse Säkularisierung der Kirchenzucht war die
Folge. 2 8 4 Zu diesen Vorschriften gehört zunächst
die Anweisung, an Sonn- und Feiertagen nicht zu
arbeiten. 2 8 5 Ausgenommen davon sind bestimmte
Berufsgruppen, deren Dienstleistung man auch an
einem Sonntag in Anspruch nehmen muss wie
Schmied, Rädermacher, Sattler oder Seiler. Beson-
deres Augenmerk richtet der Gesetzgeber darauf,
dass die Untertanen nicht fluchen, schwören und
Gott lästern. Dies dürfte, nicht nur in der Graf-
schaft Vaduz, eine Alltäglichkeit gewesen sein:
«Wür aber leyder durch tägliche erfahrung be-
finden, daß solch gebot von vilen menschen, jung
und alten, manns- und frauen persohnen gott er-
barms, vilfältig und leichtfertig überschritten, da-
durch dan der allmächtige gott schwärlich beleidi-
get, und auch wür armen menschen hierin zeitlich
und dort ewiglich seiner göttlichen gnaden beraubt
und unwürdig worden ...».286
Die Priester werden aufgefordert, Achtung darauf
zu haben, dass die Untertanen in dieser Beziehung
nicht fehlgehen und selbst ein gutes Vorbild zu ge-
ben, was darauf schliessen lässt, dass auch dieser
Stand öfters Anlass zum Ärgernis gegeben hat.
Wird jemand beim Fluchen erwischt, so soll er
bestraft werden. Hier wird kein Unterschied ge-
macht, ob der Missetäter nüchtern oder betrunken
war. Betrunkene Flucher und Schwörer werden so-
gar zu ihrer Ausnüchterung bei Wasser und Brot in
den Turm gesperrt.2 8 7 Gnade erfährt nur jemand,
der offensichtlich Reue zeigt und verspricht, nie
wieder zu fluchen und zu schwören.
Um die Anzeigepflicht zu gewährleisten, wird
auch demjenigen, der es unterlässt, einen Flucher
zu denunzieren, eine Strafe angedroht. Hart be-
straft werden auch die Eltern eines Kindes unter
zwölf Jahren, welches beim Fluchen erwischt wird.
Man soll sie
«... vor unseren ambt leuten oder ganz gesesse-
nen gericht mit einer ruthen in grosse einer
henckers ruthen dermassen, einem anderen zum
exempl, darumben zichtigen und hauen, bis man
ein gutes begnügen hat».288
Als Gotteslästerung gilt auch jegliche Art von Aber-
glauben. Wahrsager und Zauberer sollen des Lan-
des verwiesen werden. 2 8 ' ' Damit soll die Religion
des Landes vor Spaltung geschützt werden. Gleich-
zeitig wird den Untertanen auch verboten, Zaube-
rer und Wahrsager aufzusuchen, was sicherlich
häufig praktiziert wurde. Zuwiderhandelnden wird
sogar eine Turmstrafe angedroht.
Vermeidung von Luxus
Ebenfalls zum gottgefälligen Leben gehört die Ver-
meidung von Luxus, mit der sich die Hochzeits-,
Tauf- und Begräbnisordnungen befassen. Diese
Einschränkungen dienten aber auch dazu, die Un-
tertanen in die Schranken ihres Standes zu verwei-
sen und ein allzu üppiges Leben zu vermeiden. Die-
se Vorschriften waren sicherlich nur für das niede-
re Volk gedacht, auch wenn dies nicht ausdrücklich
erwähnt wi rd . 2 9 0 Als Grund für diese Verordnungen
gibt der Gesetzgeber an, die Gastgeber sollen davor
bewahrt werden, sich bei Feierlichkeiten in Unko-
sten stürzen zu müssen. Man versuchte, grosse
Ausgaben zu verhindern, da sich dies offensichtlich
auf die Preisbildung ungünstig auswirkte. 2 9 1 Bei
Tauffeiern wird einerseits geregelt, wie das Tauf-
mahl beschaffen sein soll (nur ein Tisch voll Gäste
darf geladen werden, es dürfen nur bis zu vier
Gänge bei den Mahlzeiten serviert werden), ande-
rerseits werden auch die Geschenke an die Kind-
betterin eingeschränkt. Desgleichen befasst sich
die Polizeiordnung mit Begräbnissen, wobei den
Untertanen vor allem der üppige Leichenschmaus
vorgeworfen wird:
60
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
«Disem greul und todten gefräss aber zu begeg-
nen, schaffen wür hirmit ernstlich bey 10 pfund
Pfennig einen jeden verbrechenden und der sich
darbey befinden wurde, unnachlässlich zu entrich-
ten ...»."•••
Bei Kirchweihfesten wird besonders beklagt, dass
einige «unverschambte gesellen» den Feiertag
dazu benutzen, sich bei Verwandten den Bauch
vollzuschlagen und diesen dadurch hohe Kosten zu
verursachen. Auch werden die Gastgeber angewie-
sen, ihren Gästen nur vier Gerichte zu servieren,
gefolgt von Nachspeisen. Anschliessend an einen
nachmittäglichen Spaziergang solle höchstens
noch ein Trunk sowie die übrig gebliebenen Spei-
sen serviert werden. Danach seien die Gäste nach
Hause zu schicken. Das Essen sollte nicht wichtiger
sein als der Gottesdienst, deshalb durfte vor dessen
Ende niemandem Speis oder Trank verabreicht
werden. 2 9 3
Ein «übermässig fressen und saufen» kam auch
in der Fastnacht vor. Dieses sollte ebenfalls einge-
schränkt werden. 2 9 4
Zu diesen Verordnungen zur Vermeidung von
Luxus gehört auch die Kleiderordnung. Kleiderord-
nungen reichen in Frankreich, Spanien und Italien
bis in das 13. Jahrhundert zurück. Sie sollten die
Untertanen vor Unkeuschheit schützen, aber auch
den wirtschaftlichen Wohlstand bewahren. 2 9 5 Be-
stimmte Kleidungsstücke oder Materialien wurden
schlichtweg verboten. Vor allem ausländische Klei-
dung wurde untersagt, um die einheimischen Indu-
strien zu schützen. 2 9 6 Dazu gehören Samt, Atlas,
Seide sowie englisches oder niederländisches Tuch.
Der Landsbrauch beruft sich auch wiederum auf
ein gottgefälliges Leben, wenn er beklagt, dass
«das junge gesündl» durch ihren Überfluss in der
Kleidung hoffärtig und leichtfertig wird und da-
durch Gottes Zorn hervorruft. 2 9 7 Hier überschnei-
den sich also konservative Gedanken, die das Be-
stehende und Überlieferte vor dem Untergang be-
wahren wollten, mit rein wirtschaftlichen Gesichts-
punkten. 2 9 8
Zusätzlich sollten mit einer Kleiderordnung auch
die Stände voneinander abgegrenzt werden. 2 9 9
Nach 1500 findet sich kaum mehr eine Kleiderord-
nung ohne diese Intention. Die für die Landshuter
Bürger entworfene Kleiderordnung wurde bei-
spielsweise auf Betreiben des Landshuter Hofadels
erlassen, um die Bürger der Residenzstadt in
Schranken zu halten. 3 0 0 Auch in der vorliegenden
Polizeiordnung wird auf die Notwendigkeit des
Standesunterschieds hingewiesen:
«Disem verderben- und übelstandt abzugegnen
setzen, ordnen und wollen wür, daß insgemein ...
ein jede persohn sich ihrem stand gemäss zimblich
und überflüssig, noch unordentlich, wie bishero in
disen landten üblich gewesen und herkommen be-
kleiden sollen»™1
Bauern und LIandwerker dürfen keine Federn tra-
gen. Soldaten jedoch, welche sich durch besondere
Leistungen ausgezeichnet haben, erhalten einige
Zugeständnisse.
283) Der Landsbrauch zählt auf: Hunger. Krieg, Misswuchs, Krank-
heit, Teuerungen; vgl. LB fol. 67v.
284) Vgl. Lieberich, Heinrich: Die Anfange der Polizeigesetzgebung
des Herzogtums Bayern. In: Festschrift für Max Spindler. München,
1969. S. 350; im folgenden zitiert als: Lieberich, Polizeigesetzge-
bung.
285) LB fol. 66v.
286) Ebenda, fol. 67r und 67v.
287) Ebenda, fol. 69r.
288) Ebenda, fol. 69v.
289) Ebenda, fol. 70r.
290) Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 361.
291) Vgl. Hartz, Gesetzgebung des Reichs, S. 13.
292) LB fol. 85r.
293) Ebenda, fol. 86v.
294) Ebenda, fol. 88r.
295) Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 363.
296) Schulze, Polizeigesetzgebung. S. 28.
297) LB fol. 89r.
298) Hartz, Gesetzgebung des Reichs. S. 13.
299) Schulze, Polizeigesetzgebung. S. 25 ff.
300) Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 364.
301) LB fol. 89v.
61
Vermeidung des Müssiggangs
Besonderes Augenmerk legte der Gesetzgeber dar-
auf, dass seine Untertanen einer geregelten Arbeit
nachgingen. Der Grundgedanke war, dass jeder
Mensch zur Arbeit verpflichtet sei und Müssiggang
den Ursprung allen Lasters und Übels bedeute, ins-
besondere den Anfang der Bettelei. 3 0 2 Jeder Müs-
siggeher sollte innerhalb von zwei oder drei Mona-
ten eine geregelte Arbeit finden und sonst des Lan-
des verwiesen werden. Gleichfalls wird auf Ver-
schwender geachtet. Menschen, die Schulden
machen, werden unter besondere Aufsicht gestellt,
um Frau und Kinder vor Unglück zu bewahren. 3 0 3
Sie werden zunächst abgemahnt und, falls sie un-
verbesserlich sind, in den Turm geworfen.
Einige Gesetze dienten zur Erhaltung der Ruhe
und Ordnung im Lande. Hier wendet sich der Ge-
setzgeber zuerst gegen die Trunkenheit:
«Obgleich wohl der wein ein edles tranckh, got-
tes gaab und an Ihme selbs guth, so sieht erfahrt
man aber doch, wer den selbigen zu viel zusieht
nimbt und misbraucht, daß daraus ein unzimbliche
trunckenheit und hernacher widerumb aus dersel-
bigen allerhand leichtfertigkeit, gottes lästerung,
unfrid, todtschläg, hurerey, krankheit des leibs
und der seelen folgt».304
Wiederum beruft sich der Gesetzgeber also auf die
göttlichen Strafen, aber auch darauf, dass Frau
und Kinder eines Trinkers leiden müssen. Deswe-
gen werden einerseits die Priester angewiesen, ge-
gen das Trinken zu predigen, aber auch die Wirte,
keine Zeche anzuschreiben. Der Wirt soll «seine
gäst und zöchleuth von dem laster der truncken-
heit fleissig abmahnen und wahrnen»™-'
Keine Gnade gab es, wenn jemand in volltrunke-
nem Zustand eine Übeltat beging. Dieser sollte
noch härter bestraft werden. Verboten war auch
das Zutrinken: Da das Verweigern des Bescheidge-
bens als Beleidigung galt, kam das Zutrinken für
die Zechgenossen einem Trinkzwang gleich, wo-
durch ebenfalls Trunkenheit entstehen konnte. 3 0 6
Die Einschränkung des Spiels gehört ebenfalls
zu den Gegenständen des polizeilichen Bemühens.
Es gab in der Grafschaft Vaduz kein umfassendes
Spielverbot, wie es in anderen Ländern durchaus
üblich war, 3 0 7 sondern nur eine Begrenzung der
Summe, die täglich verspielt werden durfte, auf
drei Batzen. 3 0 8 Das Geld durfte aber nicht geborgt
sein. Dabei wird insbesondere auf das Karten- und
Würfelspiel hingewiesen. Ohne Einschränkung
bleiben hingegen Spiele, die zur Ertüchtigung des
Körpers dienen, wie Kegeln, Schiessen oder Ball-
spiele. Besonders streng bestraft werden Falsch-
spieler.
Die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung
bildete ein wesentliches Anliegen des Lands-
brauchs. So sollen zum Schutz des Friedens und
der Ordnung auch diejenigen bestraft werden, die
in den Strassen lärmen und andere damit belästi-
gen, «was Staudts oder Weesens die seyn».3m
Schutz der Ehe
Ein besonderes Anliegen war dem Gesetzgeber die
sittliche Ordnung im Lande. Deshalb erliess er auch
einige Verordnungen zum Schutz der Ehe. Dazu
gehörte zunächst das Verbot der Kuppelei, wozu
auch die Anstiftung und Beihilfe zu unerlaubter
Eheschliessung zähl te . 3 1 0 Bestraft werden diejeni-
gen, die ihr Haus für heimliche Liebesbeziehungen
zur Verfügung stellen. Eine besonders schwere
Strafe trifft Eltern oder Vormünder, die ihre Kinder
«zu den Unehren verkuppeln»: Sie werden sogar
am Leben gestraft.3 1 1
Nicht im Lande geduldet wurden Paare, die un-
verheiratet beieinander lebten. Die Verfolgung des
Konkubinats widersprach an sich der germani-
schen Rechtstradition, zweifellos spielte hier der
religionspolitische Gesichtspunkt eine grössere
Rolle als die moralische Entrüstung. 3 1 2 Besonders
zur Zeit der Gegenreformation kam es zu einer all-
gemeinen Diffamierung des ausserehelichen Ge-
schlechtsverkehrs. Dazu zählte nicht nur der Ehe-
bruch, sondern auch das «ärgerlich leben einer
ledigen tochter oder wittfrau».'iVi Auch Verlobte
sollten nicht «schändlicher unzüchtiger weiß zu-
sammen schlupfen, wie bey vilen bishero besche-
62
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
hen ist».314 Unverheiratete, die in flagranti er-
wischt werden, erhalten Gefängnisstrafen. Der Ge-
setzgeber beruft sich hier wieder auf Gottes Willen,
auf den Zorn Gottes und seine Strafen, die über das
ganze Land kommen.
Ein uneheliches Kind konnte sowohl dem Vater
als auch der Mutter zugesprochen werden. Stritt je-
mand die Vaterschaft ab, so genügte der Schwur
der Mutter als Beweis, dass dieser und kein ande-
rer der Vater war.
Keine Anweisung gibt die Polizeiordnung zur
zwangsweisen Verehelichung einer Geschwänger-
ten mit dem Vater ihres Kindes. Oftmals hatte der
Verführer die Wahl, die Verführte auszusteuern
oder zu ehelichen, im kanonischen Recht war die
nachfolgende Ehe sogar verpflichtend. 3 1 5 Auch mit
der Prostitution, die ja mancherorts als notwendi-
ges Übel geduldet wurde, setzt sich die Polizeiord-
nung nicht auseinander.3 1 6 Besondere Beachtung
findet hingegen der Ehebruch. Ehebrecher werden
mit Gefängnis bestraft und gesellschaftlich geäch-
tet. Beim dritten Mal erfolgt Landesverweis, beim
vierten Mal die Todesstrafe. Von Bedeutung ist
fol. 95v und 96r: Personen,
die «in Unehren beyeinan-
der sässen», sollen entwe-
der zur Ehe gezwungen
oder aber im Verweige-
rungsfall des Landes ver-
wiesen werden. Mit dieser
Vorschrift versucht die Ob-
rigkeit, die «leichtfertige
beywohnung und hurerey»,
die «je länger je mehr über
hand nimbt», zu bekämp-
fen (Seite 64/65).
fol. 96v und 97r: Der vor-
eheliche Geschlechtsver-
kehr wird mit einer Geld-
strafe sowie mit Arrest
belegt. Bei Ehebruch er-
halten die Schuldigen eben-
so Gefängnisstrafen; sie
werden zudem mit gesell-
schaftlicher Ächtung ge-
brandmarkt. Die Verge-
waltigung einer Frau zieht
für den männlichen Verge-
waltiger in jedem Fall die
Todesstrafe nach sich
(Seite 66/67).
302) Vgl. Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 315.
303) LB fol. 79r.
304) Ebenda, fol. 72v.
305) Ebenda, fol, 74r.
306) Vgl. Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 362.
307) Hier handelte es sich um verschiedene ständisch bedingte
Spielverbote und besonders um Geldspiele; vgl. Lieberich, Anfänge
der Polizeigesetzgebung, S. 358 f.
308) LB fol. 94r.
309) Ebenda, fol. 99v.
310) Vgl. Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 357.
311) LB fol. 95v.
312) Vgl. Lieberich, Anfänge der Polizeigesetzgebung, S 353.
313) LB fol. 95v.
314) Ebenda, fol. 96v.
315) Vgl. Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 23 f.
316) Ebenda, S. 23: «Die Kirche dulde die Dirnen umb vermeydung
willen merers Übels in der Christenheit». Nürnberger Ordnung für
die gemeinen Weiber. 15. Jahrhundert.
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«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
67
auch der Hinweis: «aus der ursach ist des weibs
ehebruch schwärlicher und. sträflicher zu achten
als des manns»,317 wobei sich die Frage stellt, wel-
che Ursache hier gemeint ist.
Eine Vergewaltigung wurde anfänglich nur be-
straft, wenn keine Ehe nachfolgte. 3 1 8 Laut der Poli-
zeiordnung zieht sie in jedem Fall die Todesstrafe
nach sich. Genauso werden Bigamisten bestraft,
und zwar Männer durch das Schwert und Frauen
durch Ertränken.
Beim Kampf gegen die sittliche Unordnung seien
noch die «Lichthäuser» erwähnt. Sie dienten ur-
sprünglich dazu, sich abends zur Arbeit in einem
bestimmten Haus zu treffen, um sich zu Hause das
Holz und das Licht zu ersparen. Anscheinend wur-
de diese Einrichtung von den Leuten aber bald zu
anderen Zwecken benutzt, nämlich um sich zum
Tanz, Spiel und Gesang zu treffen. Dies rief, wie
aus der Polizeiordnung hervorgeht, den Wider-
spruch des Gesetzgebers hervor, welcher befand,
dass
«aus der nächtlichen versamblung licht- und
gunckhel Stuben nichts änderst als allerhandt Un-
zuchten, tantzen, spilen, mumereyen, fressen,
saufen, hurereyen und endlich volle bäuch erfol-
gen ..,».319
Deshalb wurden diese Lichthäuser gänzlich verbo-
ten. Erlaubt war nur das gemeinschaftliche Arbei-
ten in der Nachbarschaft, wobei man sich aber der
Leichtfertigkeit, des Gesangs sowie unzüchtiger
Worte enthalten sollte. Gleichfalls verboten wurden
auch die Bräuche in der Fastnacht wie das Verklei-
den und das «gefangen in die brunen werfen», die
«nit allein gottes Ordnung, sondern aller christli-
chen züchten ehrbarkeiten zuwider», 320 weil eben-
falls daraus viel Unzucht entstehen konnte.
Verordnungen, die bestimmte Personengruppen
betreffen
Zu guter Letzt enthält die Polizeiordnung auch
noch Verordnungen, die bestimmte Personengrup-
pen betreffen. Zunächst setzt sie sich mit verschie-
denen Händlern auseinander wie Krämern, Bä-
ckern, Brotträgern und Brandweinschenkern, de-
nen verboten wird, ihre Waren während der Messe
anzubieten.
Auch Wirte werden speziell erwähnt. Aus dieser
Verordnung ist besonders gut ersichtlich, welche
«Unarten» sich damals in der Grafschaft Vaduz
eingebürgert hatten, worüber sich die Gäste be-
schwerten. Da waren beispielsweise der unreine
Wein, die schlecht schmeckenden Speisen oder die
unsauberen Küchen. Al l dies wurde unter Strafan-
drohung gestellt. Der Wirt darf seinen Gästen nicht
mehr als fünf Pfund borgen. Generell wendet sich
die Verordnung gegen das Anschreiben. Auf keinen
Fall soll der Wirt ohne Beisein seines Gastes an-
schreiben.
Die «Sperrstunde» war im Sommer um acht und
im Winter um neun Uhr abends. Danach durfte der
Wirt seine Gäste nicht mehr bedienen, sondern
musste sie «fein gütlich heimb weisen».321
Im Zusammenhang mit dem Bestreben, die Ar-
beit als Mittel zur Sozialdisziplinierung einzuset-
zen, steht auch die Verordnung über die Bettler.
Der Gesetzgeber beklagt die Masse an «teutschen
und welschen bettlern», die das Land über-
schwemmen und nicht nur für die Untertanen, son-
dern auch für die inländischen Bettler und hausar-
men Leute eine Beschwerung darstellen, da diese
für ihre eigene Unterhaltung weniger Geld erbet-
teln können. Die Verordnungen hatten damit eine
Bedeutung für die Armenfürsorge, indem man ver-
suchte, ortsfremde Bettler hinaus zu drängen und
die Fürsorge auf die Dorfarmen zu beschränken. 3 2 2
Die ausländischen Bettler sollten nicht über die
Grenze ins Landesinnere gelassen werden und kei-
ne Almosen erhalten.
Jede Gemeinde sollte selbst für ihre Bettler sor-
gen. Dazu wurde nach dem Gottesdienst eine
Schüssel aufgestellt, in die jeder nach seinem Ver-
mögen spenden sollte. Die Aufsicht darüber hatte
ein Spendmeister. Wer in seiner Gemeinde nicht
versorgt werden konnte, bekam einen Schein aus-
gestellt, der ihn dazu befähigte, auch in einer ande-
ren Gemeinde zu betteln.
68
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Die Polizeiordnung fordert auch eine Trennung
zwischen Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen.
«Starke» Bettler, also solche, die durchaus zur Ar-
beit fähig waren, sollten keine Almosen erhalten.
Dieselben Grundsätze galten für die sogenann-
ten Gartknechte. Das waren aus dem Dienst entlas-
sene Soldaten. Diese verlegten sich nach Beendi-
gung eines Krieges auf das Betteln und Stehlen und
wurden dadurch für die Bevölkerung beschwer-
l ich . 3 2 3 Kranke und arbeitsunfähige Knechte durf-
ten beherbergt und verköstigt werden, man sollte
aber zwischen ihnen und echten «Faultropfen» un-
terscheiden.
Den Untertanen wurde auch aufgetragen, ein-
maljährl ich ohne Vorwarnung
«mit ihren nachbarn dises losen gesündls halber
auf dem landt, in Wäldern, heuhäusern und ande-
ren dergleichen verdächtigen orthen besuchung
thun und anstellen».324
Verdächtige Personen sollten aufgegriffen, befragt,
verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Solche
Landstreifen waren besonders im 18. Jahrhundert
ein typisches Mittel der Bettler- und Gauner-
bekämpfung. 3 2 ' ' Ab den 1770er Jahren wurden im
Fürstentum Liechtenstein regelmässig Streifen ab-
gehalten. Den Bauern wurde bei einer Strafandro-
hung von 20 Reichstalern verboten, Verdächtigen
zur Flucht zu verhelfen.
Gänzlich verboten war es, mit Berufung auf die
Reichspolizeiordnung, Zigeuner im Reich deut-
scher Nation zu dulden. Man hielt sie für die Fein-
de der Christenheit und für Späher der Türken . 3 2 6
Sollte ein Zigeuner aufgegriffen werden, konnte
seine Ware konfisziert und er selbst in das Gefäng-
nis geworfen werden. Wer auch immer eine Misse-
tat gegen einen Zigeuner oder gegen eine Zigeune-
rin beging, ging straffrei aus. 3 2 7
Die Polizeiordnung ist also noch geprägt von
eine Vorstellung, wonach Wohlergehen oder Miss-
stände von einem primär sittlich-moralischen An-
satz her gesehen werden. 3 2 8 Die Forderung nach ei-
nem gottgefälligen Leben nimmt in den einzelnen
Verordnungen einen grossen Raum ein. Viele Vor-
schriften, die eigentlich dem Gesetzgeber oder, wie
die Kleiderordnung, der Wirtschaft eines Landes
dienen, werden mit der Notwendigkeit eines reli-
giösen Lebens begründet, um die Strafen Gottes
abzuwenden.
Mit dem Verfall der ständischen Gesellschafts-
ordnung und der Ausbreitung des Merkantilismus
ändert sich dieses Bild. Für die Polizeiordnungen
317) LB fol. 98r.
318) Vgl. Lieberich. Anfänge der Polizeigesetzgebung, S. 355.
319) LB fol. l O l r .
320) Ebenda, fol. 88v.
321) Ebenda, fol. 72r.
322) Vgl. Weber, Die schlesischen Polizei- und Landesordnungen,
S. 131.
323) Vgl. Hartz, Gesetzgebung des Reichs, S. 15.
3241 LB fol. 105v.
325) Vgl. Falk-Veits. Sabine; Weiss, Alfred S.: «Armselig sieht es aus,
die not ist nicht zu beschreiben.» Armut als soziales und wirtschaft-
liches Problem des 18. und 19. Jahrhunderts, dargestellt am Fallbei-
spiel Liechtenstein. In: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte.
Studien und studentische Forschungsbei t räge . Hrsg. Arthur Brun-
hart. Zürich, 1999, Band 2. Neuzeit: Land und Leute, S. 209-242.
326) Vgl . Hartz, Gesetzgebung des Reichs, S. 15.
327) Siehe dazu Peter Putzer: Liechtensteinische Quellen zum
Zigeunerrecht. In: JBL 96 (1998). S. 199-210.
328) Vgl. Preu. Polizeibegriff. S. 17.
fol. lOOv und l O l r : Die lungen in «licht- und gun-
Stigmatisierung der un- ckhel Stuben» sollen in Zu-
ehelichen «pastard und kunft verboten sein, da
pfaffen kinder» ist festge- sich anstelle von gemein-
schriebenes Recht. Solche samer Arbeit «allerhandt
Kinder dürfen keine Füh- Unzuchten» abspielten
rungspositionen in der (Seite 70/71).
Gesellschaft einnehmen.
Vielmehr haben sie ge-
genüber den «anderen
ehrlich gebohrenen» zu-
rückzustehen. Die im Dorf
üblichen Abendversamm-
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«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
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werden zunehmend staatswirtschaftliche Überle-
gungen wirksam. 3 2 9 Die Vorschriften für ein gottge-
fälliges Leben gehen drastisch zurück, die Produk-
tivität steht im Vordergrund. Aus diesem Blickwin-
kel werden nun beispielsweise die Verordnungen
gegen den Müssiggang, aber auch die Kleiderord-
nungen gesehen.
Als Beispiel soll kurz die Polizei- und Landsord-
nung des Reichsfürstentums Liechtenstein vom
2. September 1732 vorgestellt werden, die von
Fürst Joseph Johann Adam von Liechtenstein er-
lassen wurde. Sie ist wesentlich kürzer als die alte
Polizeiordnung und prägnanter im Ausdruck, ent-
hält aber auch weniger Themen. Gerade die todes-
würdigen Verbrechen wie Ehebruch oder Kuppelei
sind nicht enthalten. Der Gesetzgeber beruft sich
jedoch auf die «uralte» Polizeiordnung, die nicht
vergessen oder ausser acht gelassen werden sollte.
Der Grund für die Neuaufrichtung einer Polizeiord-
nung waren Beschwerden darüber, dass die alte
Polizeiordnung nicht mehr eingehalten würde. Es
entstünden Unfrieden, Zankerei, LIass und Neid,
Fluchen, Saufereien, Ehebruch und Hurerei. Die
Gefahr dabei wäre eine Landesstrafe durch den ge-
rechten Zorn Gottes. Auf die rechte Einhaltung der
Polizeiordnung achteten weiterhin Amts- und Ge-
richtsleute, Geschworene, Weibel, die Flausväter
und -mütter sowie sämtliche Priester.
Im grossen und ganzen ist der Inhalt der neuen
Polizeiordnung der gleiche, es gibt nur wenige
Neuerungen, die sich speziell auf wirtschaftliche
Probleme beziehen. Dazu gehört beispielsweise
das Vergehen, dass manche Fuhrleute den Gottes-
dienst nicht besuchen. Dadurch umgingen sie die
Bezahlung des Zolls, der während des Gottesdien-
stes nicht eingehoben wurde. Deshalb wurde ihnen
bei Strafe der Beschlagnahmung ihrer Waren ver-
boten, während des Gottesdienstes Transporte
durchzuführen. Der Fürst hatte also ein wirtschaft-
liches Interesse daran, dass auch Fuhrleute den
Gottesdienst besuchten.
Ein weiteres Gebot bezieht sich auf die
Viehmärkte. Diese wurden in Liechtenstein zwei-
mal jährlich, und zwar «zum sonderbaren Nutzen
des Landes»:m abgehalten. Der Nutzen des Landes
bestand darin, dass ein Zoll eingehoben wurde, der
beim Verkauf «ab Hof» wegfiel. Anscheinend wur-
de die Abhaltung der Viehmärkte immer mehr ver-
nachlässigt, was sich negativ auf diesen Zoll aus-
wirkte. Deshalb wurde den Bürgern bei Strafe ver-
boten, zu Hause ein Stück Vieh zu verkaufen, wenn
sie dieses Tier nicht vorher auf dem Markt feilgebo-
ten hatten.
Weiters wurde den Untertanen noch untersagt,
Güter, die weniger als zehn Gulden wert waren, zu
teilen, was anscheinend häufig praktiziert wurde.
Damit teilten sich auch bestimmte Abgaben, die
mit der Zeit ganz wegfielen. Deshalb lag es im In-
teresse des Landesherrn, grössere Güter zu erhal-
ten. Gleich geblieben sind die Verordnungen über
Krämer, Bäcker, Brotträger und Brandweinschen-
ker, über die Lichtstuben, die anscheinend immer
noch Anlass zum Ärgernis gaben, über die «Sperr-
stunde», die Trunkenheit und das Spielen, das im-
mer mehr überhand nahm. Es wurde nur noch um
einen geringen Einsatz wie ein Glas Wein und bis
zur Sperrstunde erlaubt. Besonders wird der Be-
such des Gottesdienstes gefordert. Nach dem Ave-
Maria-Läuten sollten «alle unnöthige Handel und
Wandel hoch verboten seyn, also daß weder Sohn
noch lochten weder Knecht noch Magd ... nicht
mehr finden lassen».331 Wiederum wird hier das
nächtliche Gassenlaufen, später auch speziell das
Lärmen in den Gassen, verboten.
Weiters findet sich hier erstmals ein Verbot des
Tabakrauchens, das, wie missbilligend festgestellt
wird, besonders von den jungen Burschen, «die
kaum hinter denen Ohren ertrücknet oder das Va-
ter Unser recht zu beten gelehrnet haben»332 prak-
tiziert wurde. Verboten war das Tabakrauchen an
gefährlichen Orten oder für Jugendliche unter 20
Jahren.
Immer noch ein Problem stellten in Liechten-
stein die Bettler, Gartknechte, Zigeuner und Räuber
dar, die von Österreich, der Schweiz oder Graubün-
den vertrieben wurden und sich dann über die
Grenze nach Liechtenstein begaben und dort die
Untertanen belasteten und beschwerten. Sie durf-
ten nicht eingelassen und nicht versorgt werden.
Wiederum beruft sich der Gesetzgeber auf die eige-
72
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
nen Hausarmen, die in diesem Fall weniger erbet-
teln können. Besonders betont wird der Arbeits-
zwang für starke Bettler, die bei Missachtung ihrer
Arbeitspflicht des Landes verwiesen werden.
Der Landesverweis ist hier die höchste Strafe,
die für ein Vergehen gegen die Polizeiordnung an-
gedroht wird. Als übliche Strafen sieht die Polizei-
ordnung von 1732 hauptsächlich Geldstrafen vor.
In dieser Polizeiordnung von 1732 wird zudem
den Gewerbetreibenden oft die Beschlagnahmung
ihrer Waren angedroht. Dagegen enthält die im
Landsbrauch enthaltene Polizeiordnung auch
Gefängnisstrafen und sogar die Todesstrafe. Beson-
ders bedeutsam ist die Strafverschärfung bei Wie-
derholung. Sehr oft kommt es vor, dass ein Missetä-
ter beim ersten Mal nur eine Verwarnung bezie-
hungsweise eine Geldstrafe erhält, beim zweitenmal
eine höhere Geldstrafe, beim drittenmal aber eine
Gefängnisstrafe oder gar einen Landesverweis, an-
sonsten die Todesstrafe. Auch Körperzüchtigung
kommt im Landsbrauch vor. Besonders beliebt schien
bei der Obrigkeit die Verhängung der Gefängnis-
strafe zu sein. Trinker, Spieler, Müssiggeher, Fa-
schingsnarren, alle wurden bis zu ihrer Besserung
in den Turm geworfen. Natürlich waren diejenigen
benachteiligt, die kein Geld hatten, um ihre Strafe zu
bezahlen, denn sie landeten ebenfalls im Gefängnis.
Nicht im Land geduldet wurden (weiterhin) in
wilder Ehe Lebende, Ehebrecher, Zigeuner, Gart-
knechte, Bettler und Zauberer. Letztere durften als
Wiederholungstäter auch am Leben gestraft wer-
den: Sie wurden zum Tod verurteilt.
Als todeswürdige Verbrechen galten im Lands-
brauch Vergewaltigung, das Verkuppeln der eige-
nen Kinder und wiederholtes Ehebrechen.
Das Kapitel «Von der Bestrafung der Policey-
Verbrechen» in Justis Werk 3 3 3 gibt die damalige
Meinung über die richtigen Strafen bei Übertretun-
gen von Polizeigesetzen wider. Justi betont die
Wichtigkeit der konsequenten Durchführung von
angedrohten Strafen, um zu garantieren, dass die
Gesetze auch wirklich gehalten werden. Sie sollten
je nach Absicht und Grösse des Verbrechens ver-
schärft werden. Als üblichste Strafe sieht Justi die
Geldstrafe an, die für vermögende Personen emp-
findlicher sein muss. Weiters befürwortet er Stra-
fen, die mit öffentlicher Schande verbunden sind,
da sie, wie er meint, auf den Pöbel mehr Eindruck
machen als ein paar Tage Gefängnis. Als noch tole-
rierbare Strafen erachtet er das Gefängnis und den
Festungsbau, Landesverweisung jedoch «ist eine
Strafe, die vernünftige?! Grundsätzen ganz und gar
nicht gemäß ist».33*
329) Ebenda.
330) I I A RA 1/16/6: Policey- und Landtsordnung des Reichs-Für-
stenthums Liechtenstein 1732, S. 11.
331) Ebenda, S. 6.
332) Ebenda. S. 7.
333) Justi. Policeywissenschaft, S. 363-369.
334) Ebenda, S. 369.
73
Edition
HANDSCHRIFTEN-
BESCHREIBUNG
Signatur:
LLA A M 5, Landsbrauch
1667
Originaltitel auf fol. l r :
Landts Brauch, oder
Erbrecht...
107 Papierblätter:
fol. 1 bis 107 und 6 fol.
umfassendes Inhaltsver-
zeichnis
Gebunden:
Masse 17,5 x 23,5 cm.
Es handelt sich um eine
originale Quelle, die aller-
dings, wie aus fol. l r her-
vorgeht, auf Geheiss des
damaligen Landammanns
der Grafschaft Vaduz,
Johann Georg Wolf, vom
Schulmeister Johann
Christoph Faber von Va-
duz aus einer älteren Vor-
lage abgeschrieben wurde
EDITIONS-
GRUNDSÄTZE
Für die Edition des Lands-
brauchs der Grafschaft
Vaduz und der Herrschaft
Schellenberg wurden die
Richtlinien von Johannes
Schultze zum Vorbild
genommen. 3 3 5
1. Die Orthographie wur-
de im wesentlichen dem
Originaltext entsprechend
belassen. Das Verständnis
des Textes wird dadurch
in keiner Weise einge-
schränkt, und die ortho-
graphischen Eigenheiten
jener Zeit bleiben dem
Interessierten erhalten.
2. Doppelkonsonanten
wurden, wenn nicht der
heutigen Schreibweise
entsprechend, weggelas-
sen.
3. Grosse Anfangsbuch-
staben wurden nur bei
Eigennamen oder am
Satzbeginn verwendet.
4. Abkürzungen wurden
mit eckigen Klammern
aufgelöst.
5. Die Interpunktion wur-
de nach Möglichkeit der
heutigen Verwendung
entsprechend angepasst.
6. Die Seitenzahlen des
Originaltextes wurden als
Fussnoten eingefügt.
74
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT3 f
von erbschaften ohne testament, auch von testamenten,
lezten willen, vermächtnussen, übergaaben und anderen
geschälten von todts-wegen in der grä,ü[ichen] vaduzi-
schen grafschaft üblichen. Und anno 1667 aus einem
buch hat schreiben lassen der ehrnveste und wohlge-
dachte h[err] Georg Wolf, der zeit landtman der grafschaft
Vaduz, durch mich, Johann Christoph Fabern, ehemahlen
schulmeistern zu gemelten Vaduz.
Darbey ansehlichen zu wissen, daß eines jeden abge-
storbenen guth soll fallen auf seine nächste eheliche ge-
bohrene und einander mit bluths verwandte freund, de-
nen seynd dreyerley unterschidt. Die ersten seynd in ab-
steigender linie, als kinder, enickhlen, ur enickhlen, ur ur
enickhlen pp. und also fortan, 3 3 7so weit sich der stamm
erstreckt. Die andere in aufsteigender linie, als vater und
mutter, ehnl und ahnl, urehnl und urahnl, ururehnl und
ururahnl und also weither, und die dritten auf der seithen
in der zwerch-linie, als da seynd Schwester und brüder
und alle, so von denen gebohren werden, item ehnl und
ahnl geschwisterige und andere, so von ihnen beyder-
seiths gebohren linien herkommen, die alle erben, wie
hernach folgt.
Der erste titul
Von erbschaften und absteigender linie
Erster fall oder regel von absteigender linie, das die in ab-
steigender linie alle in aufsteigender und zwerch linie
ausschliessen und um die enickheln an ihre alte luckhen
stehen.
Anfänglich sezen und ordnen wür und wollen wür alle,
dieweil kinder, 3 3 8enickhlen, urenickhlen, und also für und
für zu rechnen /: sie seyen wie weit sie wollen :/ im leben
seyn, daß sie allein erben und alle andere in aufsteigen-
der linie allerdings ausschliessen, und sollen hierin jeder-
zeit die enickhlen, wan neben ihnen ein söhn oder tochter
verhanden, anstatt ihrer vater oder mutter erben, und ihr
eiteren luckhen, ihr vater und mutter, wan sie noch leb-
ten, zur erb empfahen.
Als davon ein exempel
t
Adam
verstorben, so zu erben
t t
Bernhard Margaret Anna
Elisabeth Joseph Florin
3 3 9 Erclärung darüber
Alliier erben den verstorbenen Adam seine enickheln
Elisabeth und Joseph anstatt ihres vaters Bernhard sambt
dessen Schwester Margaret und dem Florin, welches
gleichfahls in die luckhen seiner mutter steht.
Der andere fahl
Was und wie kinder erben sollen, wan ihr vater allein und
vor der mutter stirbt: Erstlich, wan sich zwey persohnen
zusammen verheurathen und erzeugen eheliche kinder
beyeinander, und stirbt alsdan der vater vor der mutter,
so ordnen, sezen und wollen wür, daß alsbalden vor allen
dingen die ganze verlassenschaft durch den geschwore-
nen landtschreiber inventirt und aufgeschriben, folgends
darüber ein Überschlag gemacht, und daraus öffentlich
die gemeinen in der ehe gemachten mit einander schul-
den bezahlt werden 340dergestalt, daß daran des manns
erben die zwey theil, und des weibs den dritten theil ent-
richten, und hernach die übrige erbschaft, was sie an l i-
gendem guth zusammen gebracht, jedem das seinige zu
einem voraus gebühren; was sie aber in währender ehe,
so bald die deckhe beschlagen, mit und bey ein ander, es
seye woher es wolle, ererbt, errungen und gewohnen hät-
ten, darvon sollen des mannes erben, deren seyen gleich
vil oder wenig, die zwey theil und die verlassene wittib
den übrigen dritten theil nehmen, und die kinder alsbal-
335) Schultze, Johannes; Richtlinien für die äuße re Textgestaltung
bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Creschichte. In:
Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jahrgang 98 (1962), S. 1-11.
336) fol. l r .
337) fol. lv .
338) fol. 2r.
339) fol. 2v.
340) fol. 3r.
75
den bevogtet, und ob eines oder mehr darunter, die zu
ihren mannbahren jähren gekommen, so soll ihnen ihr
gebührend erbtheil zugestellt, und die übrigen kinder,
münderjährigen, der mutter in einen zimblichen verding,
wie auch deren güther, um einen leidentlichen [gestri-
chen: preis] züns vor andern gelassen werden, es wäre
dann sach, daß sich die mutter widerumb verheuraten
thäte und dadurch die kinder einen strengen stief vater
bekommen, oder sonst andere bedenkhen vorfallen wur-
den, als dan mag der kindt-vogt mit ^'derselben freund-
schaft wohl änderung den kindern zum besten fürneh-
men, und dan ordnen und wollen wir auch, daß hinführo
ein jede mutter schuldig seyn solle, ihre kinder aus ihrem
gueth zum dritten theil, so wohl als der verstorbene vater
zum zweyen theilen mit essen und trinkhen umb und an,
item bei der schulen und dergleichen zu unterhalten und
zu erziehen, bis sie zu ihren tagen kommen; im fall aber
die kinder von ihrem verstorbenen vater oder mutter so
vil ererbt hätten, daß sie das jährliche interesse ertragen
und erziehen möchte ohne schwanung des haubt guths,
alsdan sol das im leben vater oder mutter allda zu geben
nichts schuldig seyn.
Exempl.
t
Adam
Vater zu erben
Eva
Mutter
Allwig Rudolph Ludwig
vater vertheilt werden, daß nemblichen denen kindern
alsbald ihr mutter gebührender voraus, was sie zum vater
an ligendem guth gebracht, solle zugestellt werden und
hernacher von übriger erbschaft, was sie in währender
ehe bey und miteinander, es seye woher es wolle, ererbt,
gewonnen, errungen hätten, davon sollen des weibs er-
ben den dritten und dero verlassene mann die übrigen
zwey theil nehmen und die kinder alsbalden bevogtet und
ob eines oder mehr darunter, die zu ihren mannbahren
alter kommen, ihnen ihr gebührender erbtheil zugestellt
und die übrigen minderjährigen kinder dem vater in ei-
nem zimblichen verding, wie auch der güther umb einen
leidentlichen züns vor anderen gelassen werden solle.
Exempl.
Jacob
Vater
t
Anna
mutter, die zu erben
Hans Ursula Georg
Erklärung. 3 4 4
Hie erben die 3 kinder Hans, Ursula und Georg über be-
zahlte schulden, die in der ehe gemacht worden, alles l i -
gend guth, das ihr mutter zum vater gebracht sambt ei-
nen dritten theil, was sie in der ehe miteinander ererbt,
errungen und gewonnen haben, und der vater die zwey
theil und das jenige, was er zur mutter an ligendem guth
gebracht hat.
Erklärung dißes exempl. 3 4 2
In disem zugetragenen fahl nach dem beschehenen abzug
der schulden erben die 3 hinterlassnen kinder Allwig, Ru-
dolph und Ludwig zwey theil und Eva, die mutter, den
dritten theil des in währender ehe ererbten und gewonne-
nen guths, es sei ligendes oder fahrendes; was aber die ei-
tern an ligendem guth zusammen gebracht, bleibt jedem
sein theil, oder ihren kindern, oder nächsten freunden zu
einem voraus, also vorsteht ligen.
Der dritte fall.
Wie und welcher gestalt die hinterlassene kinder erben
sollen, wan ihr mutter vor dem vater stürbe.
So sich dan hergegen begeben wurde, daß zwey ehe-
gemächt kinder beysammen erzeigten und die mutter vor
dem vater mit todt abgienge, so ordnen und wollen wür,
daß in solchen fall nach fleissiger inventierung und be-
zahlung der schulden, als vorstehet, alle ligende und fah-
rende haab und güther, gesuchts und ungesuchts derge-
stalt 3 4 3 und den ehlichen hinterlassenen kindern und den
Der vierte fall.
Wie hernacher, so der in leben verblibene vater oder mut-
ter ohnverändert auch abstirbt, der theilung halber mit
denen kindern gehalten werden solle.
So sich aber zutrüge, daß hernacher das verblibene
ehegemacht, es seye vater oder mutter, unverheurath
auch mit todt abginge, so erben alsdan so noch im leben
verblibenen kinder, als väterlich und mütterliche haab
und güther in die häubter zu gleichen theilen, als im fol-
genden exempl erklärt wird.
3 4 5Exempl.
t
vater oder mutter
so zu erben
Carl Joachim Hans Michel
76
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Erklärung.
Hie seynd nach zu vor abgeleibtem vater und hernach ge-
storbenen mutter, oder hergegen, vier söhn als nemblfzcft]
Carl, Joachim, Hans und Michel im leben verhüben, die
erben ihren vater oder mutter zu gleichen theilen in die
häupter.
Der fünfte fahl.
Von erbnehmung der kinder und kindts kinder.
Wan aber sambt den kindern in ersten grad auch
kindts kinder von einem verstorbnen söhn oder tochter
verhanden seynd, sollen dieselben mit ihnen in die stämb
zu erben zugelassen werden und an ihres vaters oder
•w>mutter fusstapfen stehen dergestalt, daß alle solchen
kindts kinder als vil, als ihr vater oder mutter selber, so
das noch in leben wäre, erblich empfangen sollen, als in
nachgesezten exempl zu sehen.
Erstes exempel
t
Adam vater
so zu erben
t t
Jacob Georg Carl
t
Ludwig Margareth
Hans Anna
Erklärung.
3 4 7 Hie werden Ludwig, der enickhlen, anstatt Georgen,
seines vaters, auch Hans und Anna anstatt Carls, ihres
ehnls, mit Jacoben, des verstorbenen Adam söhn, an des-
selbigen Adam Verlassenschaft in die stämb zu erben zu-
gelassen.
Das andere exempl.
t
vater oder mutter zu erben
t t
Johanna Adolph Michel Margaret
Martin Conrad Hans Clara Bernhard
Erklärung. .
Alhier wurde die erbschaft in vier theil getheilet. Einen
theil nehmen Martin und Conrad, die enicklen, anstatt ih-
rer mutter Johanna, den andern nimbt ihr mutter bruder,
der Adolph, 3 4 8den 3ten theil nehmen Hans und Clara und
Bernhard anstatt ihres vaters Michael, und den 4ten theil
nimbt die lezte Schwester Margareth.
Der 6te fahl.
Wie es mit künftigen erbschaften gehalten soll werden,
wan sich in obigen fählen der in leben verblibene vater
oder mutter widerumb verändert und aus nachgehender
ehe auch kinder verlasset.
Wan sich dan fügte, daß in obgesezten fällen vater
oder mutter ihren witwenstand veränderten und sich wi-
derumb in die andere ehe einliessen und eines aus ihnen
bey einem andern eheman oder weib noch mehr kinder
erzeigten, so setzen und ordnen und wollen wür, daß die
kinder erster und anderer ehe ihrem vater und mutter zu
gleichen theilen in die häubter oder die kindts kinder in
die stämm in allen seinen verlassenen aigenen güthern
oder zustehenden antheil erben sollen.
341) fol. 3v.
342) fol. 4r.
343) fol. 5r.
344) fol. 5v.
345) fol. 6r.
346) fol. 6v.
347) fol. 7r.
348) fol. 7v.
77
3 4 9Erstes exempl.
da alle kinder verhanden
Exempl
t
erst verstor-
bene weib
vater verstorben'
so zu erben
andere
weib
Carl Georg Claus Agnes Fridrich
In disem fahl [eingefügt] sollen die drey kinder lezter ehe
als nemblU'c/z] Claus, Agnes, Friderich sambt dem Carl
und Georg, ihren vater halb geschwistrigen, dessen hin-
terlassenen antheil in die häupter erben.
Ander exempl
da neben denen kindern enickeln verhanden.
t
3 5 , J Eva erst ~
verstorbene
weib
t
Adam
vater verstorben
so zu erben
änderte
weib
Ferdinand Sebald
Sara
t
Peter Maria Florin
Laux Anna Carl
Erklärung.
Hie wird des verstorbenen Adams verlassenschaft in fünf
theil vertheilt, den ersten theil nimbt Ferdinand als ein
kind erster ehe, den änderten theil Sara anstatt ihres va-
ters Sebald, den 3ten empfanget Peter als ein söhn ander-
ter ehe, den 4ten nehmen Laux, Anna und Carl anstatt ih-
rer verstorbenen mutter, den 5ten und lezten theil emp-
fanget Florin.
3 5 1 Der sibende fahl.
Von erbnehmung der kindts kinder allein, da keine kin-
der, sondern lauther enickheln verhanden seyen.
Desgleichen, so es sich begab, da die verstorbene per-
sohn kein ehlich kind in ersten grad, sondern allein kindts
kinder oder enickhl von 2 oder mehr ehelichen kindern
verliesse, obgleich wohl von einem kind oder stammen
mehr kinder dan von dem anderen verhanden wären, so
sollen in dergleichen fällen die enickhlen in die häupter
zu erben zugelassen werden.
t
Conrad verstorben
so zu erben
t
Joachim
Philipp Susana
t
Sara
Bartl Magdal[e«a] Allwig
^Erklärung
Alhier wird die erbschaft in 5 theil ausgetheilt, und Phi-
lipp und Susanna, die 2 enickhl die zwey theil und dan
Bartl, Magdalena und Allwig die 3. theil als auch enickhl
des Conrads, ihres ehnls, verlassenschaft erblich empfan-
gen, wie wohl die geschribene rechten änderst vermögen.
Der achte fahl.
Da in des ehnls oder ahnl erbnehmung die enickhl den ur-
ehnl oder urahnl, ohngeacht sie im grad näher, allerdings
ausschliessen.
Trug sich auch der fall also zu, das ein persohn stürbe
und verliess hinter ihm ein urenickl und darzu [eingefügt]
seinen leiblichen] vater oder mutter, so solle in disem fall
sein verlassen guth dem urenickhl der linien nach mit
sich hinab zustehn und der vater oder mutter, ohngeacht
daß er im grad näher verwandt, allerdings ausgeschlos-
sen werden.
3 5 3 Exempl
Eberhard
urehnl
Agnes
urahnl
Anna Albrecht ehnl
so zu erben
t
Niclas
Vicenz
Galle
Ein lächerliches exempel! Der landsbrauch will sagen, daß
zuerst die in absteigender, dan die in aufsteigender u[nd]
endten die in der zwerch linien zugelassen werden. 3 5 3"
78
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Erklärung.
3 5 4Alhier erbt Galle der enickhl seinen ehnl Albrecht und
schliesst Eberhard, seinen urehnl, und Agnes, seine ur-
ahnl, wie auch Anna und Vicenz aus, ohngeacht sie in auf-
steigender und zwerch linie denen verstorbenen näher ge-
freundt, dieweil in allweg die erben absteigender linie alle
so dem verstorbenen in aufsteigender oder beseitlicher li-
nie verwandt seynd, ausschliessen.
Von unehelichen und legitimirten oder geehlichten
kindern und derselben erbgerechtigkeit.
Wiewohl gemeine ehelichung, so durch päpstliche und
kayserllichen] oder andere rescript beschickt, durch sel-
bige väterlicher erbschaft fähig gemacht werden, so wol-
len wir danach setzen auch und ordnen hiemit, daß so-
wohl geehlichte als unehliche kinder, so ausserhalb des
ehestands erzeiget werden, es seyen gleich andere ehli-
che kinder verhanden oder 3 5 5nicht, von alle väterlfic/zer]
und mütterlicher erbschaft ausgeschlossen seyn sollen,
allein der fall ausgenohmen, wan solch unehlich gebohre-
ne kinder mit Vermählung und bestätung der heiligen]
ehe gegen ihrer mutter vereidiget werden, als dan wollen
wür, daß sie in allen erbgerechtigkeiten andern gleich an-
fänglU'cft] ehlich gebohrnen kindern gleich seyen.
Von erbschaften in aufsteigender linie
Erster fahl.
Wie vater und mutter zugleich oder deren ehnl allein ihr
kinder erben.
So es sich den zutrüge, das die kinder vor den eitern
abstürben, und die abgestorbene persohn keine eheliche
kinder oder kindts kinder, auch keine geschwisterige oder
deren selben kinder verliesse, so ordnen und wollen wür,
daß alsdan 3 5 &vater und mutter mit ein ander, oder wel-
ches unter ihnen im leben, das verstorbene kind erben,
und all andere, die weither in aufsteigender oder zwerch
linie verwandt, ausschliessen sollen. Es seye dan sach,
daß das verstorbene kindt etwas von seinem vater oder
mutter, ehnl oder ahnl oder noch weithers in aufsteigen-
der linien ererbt hätte, so soll alsdan solch guth nit dem
vater oder mutter, sondern dem nächsten bluths ver-
wandten, dannnacher das guth kommet, zufallen.
Exempl.
ehnl
vater mutter
Kind
verstorben
so zu erben
7 Erklärung
Alhier nehmen vater und mutter des verstorbenen kindts
erbschaft allein und schliessen den ehnl aus, es wäre dan
sach, daß dise verstorbene kindt etwas zu voran wo den
einen theil vater oder mutter, so verstorben wäre, von
ehnl oder ahnl oder noch weithers in aufsteigender linie
als vorstehet, ererbt hätten; alsdan soll des selbige erb-
guth an des verstorbenen nächsten erben fallen, woher
das guth nemb\[ich] kommen ist.
Der andere fahl.
Wann ein kindt und ahnl erben sollen.
Wann aber vater und mutter nit im leben, so erben als-
dan ehnl und ahnl allein, so fern der verstorbene keine
geschwisterige oder geschwisterig kinder noch im leben
verlassen hätte.
349) fol. 8r.
350) fol. 8v.
351) fol. 9r.
352) fol. 9v.
353) fol. lOr.
353a) Von anderer Hand geschrieben.
354) fol. lOv.
355) fol. l l r .
356) fol. l l v .
357) fol. 12r.
79
Exempl.
3 5 8 Adam
ehnl
t
Petrus
vater
Eva
ahnl
t
" Anna
mutter
Simon
söhn verstorben
so zu erben
Exempl.
ehnl T ahnl
t
vater
enickl
der zu
erben ist
urehnl urahnl
ehnl T ahnl
t
mutter
Alliier erben Adam und Eva ihren enickl Simon zugleich.
Der dritte fahl.
Wann ehnl und ahnl beederseiths von vater und mutter
verhanden, wie die erben sollen.
Wann aber die verstorbene persohn nit vater oder
mutter, sondern ehnl und ahnl beederseiths vater und
mutter halb verliessen. so sollen alsdan solche vier ehnl
und ahnl zugleich in die häupter erben.
3 5 9 Exempl
ehnl 1 ahnl ehnl 1 ahnl
t t
vater | mutter
enickhl
verstorben,
so zu erben
Erklärung
Hie wird die verlassenschaft des verstorbenen enickhl
dem ehnl und ahnl auf des vaters seithen zum halben und
der andere halbe theil dem ehnl und ahnl von der mutter
her zu gleichen theil zugetheilt werden.
3 6 'Erklärung
Alhier wird des verstorbenen enickhls verlassenschaft
dem ehnl und ahnl auf des vaters seith zum halben und
die ander hellte der ahnl von der mutter seithen zuge-
theilt, und werden der urehnl und die urahnl davon aus-
geschlossen.
Der 5te fahl.
Wann beiderseiths ehnl oder ahnl in ungleicher zahl
seynd, desgleichen so obgesezte persohnen in ungleicher
zahl lebendig gefunden wurden, als auf einer seithen vä-
tev\[iche] ehnl und ahnl, auf der ander seithen aber der
mütterliche [gestrichen: ahnl] ehnl oder ahnl, so vil als
beede väterliche] ehnl und ahnl zu erben empfangen und
nehmen, wie das nachfolgende exempl ausweist.
3 f l 2Exempl.
ehnl 1 ahnl ehnl
t t
vater | mutter
Michel
söhn den
man erbt.
3 6 0 Der 4te fahl.
Wann die persohnen aufsteigender linie in gleichen grad
seynd, wie sie erben sollen.
Wann aber in disen fall der ehnl und ahnl, urehnl und
urahnl, und also noch weither über sich in gleichen grad
seynd, so schlüst allwegen das nächste das weithere gar
von solcher erbschaft aus, wie in folgenden exempl er-
klärt wird.
Erklärung
In disem fahl erbt der mütterl[ic/ie] ehnl so vil, als beede
väterl[/c/ze] ehnl und ahnl.
3 6 3 Der 6te fahl.
Wie die rechte geschwisterige aneinander erben sollen,
und vater und mutter so gleichwohl in leben davon aus-
schliessen.
So aber die ohne leibs erben verstorbenen persohn ne-
ben vater und mutter oder einen derselbigen allein auch
80
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
ehliche geschwisterige von beeden banden verliesse, so
sollen des verstorbenen rechte geschwisterige erben und
vater und mutter ausgeschlossen werden.
Exempl
vater mutter
Jacob
verstorben
so zu
erben
Hans Jerg Oswald
3 6 4 Erklärung.
Alhier würdet die verlassenschaft in 3 theil getheilt, und
nehmen Hans, Jerg und Oswald, die 3 Kinder, jedes einen
gleichen [eingefügt] theil.
Der 7te fahl.
Wann neben vater und mutter und geschwisterigen auch
geschwisterig kinder zu beyden banden verhanden.
So aber der verstorbene neben dem vater und mutter
und geschwisterig auch geschwisterig kinder von beyden
bandten verliesse, so werden dieselben geschwisterig kin-
der anstatt ihres vaters oder mutter für ein persohn ge-
rechnet und auch zugelassen, erben doch nicht mehr dan
ihr vater oder mutter geerbt hätte.
Exempl
3 6 5 Adam
vater
~ Eva
mutter
t
Caspar
so zu erben
t
Anna Bernhard Baltasar
Joachim Gerwig
Erklärung.
Alhier werden Adam und Eva als vater und mutter ausge-
schlossen und erben Bernhard und Baltasar jede einen
theil, sodan Joachim und Gerwig anstatt ihrer mutter
Anna sambtlich den 3ten theil an der verlassenschaft des
verstorbenen Caspar.
3 6 f 'Der achte fahl.
Wie ehnl und ahnl oder deren eines sambt des verstorbe-
nen rechten geschwisterigen oder deren kinder erben
oder ausgeschlossen werden sollen.
Gleicher weis und gestalt so einer stirbt und verlast
hinter ihm ehnl und ahnl und rechte geschwisterige oder
geschwisterig kinder, und kein vater oder mutter mehr in
leben ist, so erben des verstorbenen enickhl guth dessel-
ben geschwisterig und derselben brüder oder Schwester
kinder allein und Schlüssen ehnl und ahnl aus.
Exempl
Stephan
ehnl
t
Thomas
vater
Cathar[/na]
ahnl
t
Luccia
mutter
t
Andrea
Babtist
enickhl
Agnes
t
Lorenz
t
Joseph
verstorben
Laux Marx
3 6 7 Erklärung.
Hie wird des verstorbenen Joseph [eingefügt] erbschaft in
3 theil getheilt, der erste gebührt Agnes, deren verstorbe-
nen Schwester, der ander theil Laux und Marx, und der
3te theil gehört Baptist des verstorbenen bruders kindern,
und werden Stephan und Catharina als ehnl und ahnl da-
von ausgeschlossen.
358) fol. 12v.
359) fol. 13r.
360) fol. 13v.
361) fol. 14r.
362) fol. 14v.
363) fol. 15r.
364) fol. 15v.
365) fol. 16r.
366) fol. 16v.
367) fol. 17r.
81
Der 9te fahl
Wie man erben soll, wan beederseiths von vater und mut-
ter ehnl und ahnl neben des verstorbenen ehnls und
ahnls geschwisterigen verhanden.
Lasset einer weder kinder noch kindts kinder, weder
vater noch mutter, sondern ehnl und ahnl beederseiths
von vater und mutter, oder eins allain nach sich und
seynd gleicher gestalt des verstorbenen rechte geschwi-
sterige oder deren kinder verhanden, so erben obgesagter
massen des verstorbenen verlassenschaft die rechte ge-
schwisterige oder derselben kinder allein und werden
ehnl und ahnl allerdings ausgeschlossen und stehen 3 6 8die
geschwisterig kinder anstatt ihren vater und mutter, so
die eitern nicht verhanden, sondern gestorben seynd.
Exempl.
Carl"
ehnl
Margaret
ahnl
Christian"
ehnl
Elsa
ahnl
t
Adam
vater
t
~~ Eva
mutter
t
Anna
verstorben
so zu erben
t
Andreas Barbara
Agnes Mathis Jacob
'Erklärung.
Alhier wird der verstorbenen Anna Erbschaft in 2 theil
ausgetheilt; den ersten theil nimbt Barbara die Schwester;
der andere theil gebührt Agnes, Mathis und Jacob mitein-
ander anstatt ihres vaters Andreas und werden ehnl und
ahnl davon allerdings ausgeschlossen.
Der lOte fahl
Daß die kinder von ihrem vater oder mutter, enickhl von
ihren ehnl oder ahnl allein geerbt werden, wan sie von ei-
nem bandt geschwisterig oder dero kinder verlassen.
Wan es sich dan zutrüge und begebe, daß ein persohn
ohne leibs erben oder rechte geschwisterig abstürbe und
verliess vater und mutter oder ehnl und ahnl nach sich in
leben, und wären darzu seine ein halbe geschwisterig
oder derselben kinder auch verhanden, so erben die ein
halb geschwisterig allein; so aber die stief geschwisterig
eines oder mehr den fahl nit erlebt und und doch zuvor
kinder verlassen hat, so werden derselben ein halb ge-
schwisterig kinder der erbschaft 3 7 0nicht fähig, sondern
der verstorbenen persohn vater oder mutter zu erben ge-
lassen.
Erstes exempl, da vater und mutter verhanden.
t
Sabina erst
verstorbene
weib
Christoph
vater
t
Leonard Friderich
~ Anna
mutter
t t
Margaret Sebastian Elisabeth
verstorben
zu erben
Ulrich Luccia Adam Eva
Erklärung.
Alhier erben vater und mütter ihr tochter Elisabeth sambt
der Margareth und stehen Adam und Eva anstatt ihres
vaters Sebastian und auch Leonhard der bruder, allein va-
ter 3 7 1halben verwandt sambt des verstorbenen S t ie fb ru-
der Friderich hinterlassenen 2 kindern allerdings ausge-
schlossen.
Änderte exempl da ehnl und ahnl verhanden.
Luccas
ehnl
" Justina
ahnl
t
Anna —
erste weib
t
Jerg
t
Peter Barbara Bernard
Agnes
das 2te
weib
t
Sabina Abraham
so zu
erben ist
Agatha Claus Michel Jacob
Erklärung
Hie erben den verstorbenen Abraham Luccas 3 7 2 und Ju-
stina, sein ehnl und ahnl sambt seiner rechten Schwester
Sabina hinterlassenen 3 kindern und werden die anderen
3 geschwisterige von einem bandt ausgeschlossen.
82
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Von denen erbschaften in der beederseiths
oder zwerch linie.
Erster fahl.
Wie rechte geschwisterig oder deren selben kinder erben.
So dann der verstorbene in ab- oder aufsteigender l i -
nie keine verwandten verliesse, so der allein geschwiste-
rige von beyden bandten, auch etliche seiner verstorbe-
nen rechten geschwisterig kinder, alsdan ordnen und wol-
len wür, daß neben den geschwisterig auch des v e r s t o r -
benen geschwisterig kinder, doch alleine in stämb an ih-
res vaters oder mutters statt zu erben sollen zugelassen
werden.
Exempl
Exempl
t
Niclas
verstorben
t
Conrad
verstorben
so zu erben
Eberhard
bruder
t
Regina
Anna Marx
Erklärung.
Hie erben des Conrads verlassenschaft Eberhard, sein
bruder, zum halben theil und dan Anna und Marx, seiner
verstorbenen Schwester 3 7 4kinder den anderen halben
theil.
Der andere fahl.
Das die recht geschwisterig kinder allein mit ein ander in
die [gestrichen: stäm oder] häupter erben sollen.
Wan aber das verstorbene kein geschwisterige von
beyden bandten, sondern allein etliche geschwisterig kin-
der nach ihme in leben verliesse, so ordnen und wollen
wür, daß dieselbige brüder oder Schwester kinder, es Sey-
en derselben vil oder wenig, an solcher verlassenschaft in
die häupter zugleich anstehen und darvon einem so vil als
dem anderen werden soll, in ansehung, daß sie dem ver-
storbenen in gleichen grad verwandt und das jus reprä-
sentationis, wan kein geschwisterig mehr in leben, nicht
mehr [eingefügt] statt hat.
5Peter
t t
Regina Martin
verstorben
so zu erben
t
Anna
Conrad Georg Clemenz Susanna Heinrich
Änderte Exempl
Abraham
t
Hans
verstorben,
so zu erben
t
Barbara
t t
Conrad Erasmus
Friderich Caspar Elisabeth 9 Kinder
3 7 6 Erklärung.
Alhier würd des verstorbenen Hansen verlassenschaft in
zwölf gleiche theil nach anzahl der 12 hinterlassenen
Schwester und bruders kindern ausgetheilt.
Erklärung des dritten fahls.
Wie es mit des bruders erbnehmung gehalten werden
soll, wan rechte geschwisterich, auch ein halb geschwi-
sterig verhanden seynd.
368) fol. 17v.
369) fol. 18r.
370) fol. 18v.
371) fol. 19r.
372) fol. 19v.
373) fol. 20r.
374) fol. 20v.
375) fol. 21 r.
376) fol. 21 v.
83
Wann dan der verstorbene keine verwandten auf- oder
abwerhts, sondern rechte geschwisterige von beyden
bandten und auch geschwisterig von einem bandt hinter
sich im leben verliesse, so ordnen und wollen wür, daß in
solchen fahl die rechte geschwisterig von beyden bandten
des verstorbenen bruders oder schwesters erbschaft an-
treten, und die einhalben geschwisterig oder dero kinder
darvon ausgeschlossen seyn sollen.
3 7 7Exempl.
t
Menrad —
erster mann
t
Madlena"
mutter
" Leonhard
der andere
mann
Hans Andreas Barbara Anna
verstorben
so zu erben
Erklärung
Hier nehmen Andreas und Barbara ihres verstorbenen
rechten bruders Hansen erbschaft allein und Schlüssen
ihre stief Schwester Anna darvon aus, ausserhalb des
guths, so sie zu vor mit einander von ihrer mutter see-
\[ig] Madlena ererbt hätten, als in hernachstehenden
exempl folgt.
3 7 8 Der 4te fahl
So etwas verlassen, so zuvor ein halbe geschwisterige mit
einander ererbt haben.
Wann geschwisterige, die seynd von einem oder bey-
den bandten miteinander von ihren rechten vater oder
mutter, ehnl oder ahnl etwas ererbt und alsdan eines oder
mehr aus ihnen ohne leibs erben abstürben, so ordnen
und wollen wür, daß in solchen fahl sowohl die geschwi-
sterigen von einem bandt als von beyden bandten, daß
verstorbene geschwisterig gleich miteinander erben sol-
len, jedoch noch mahlen lauth allein auf das jenige guth
und portion zu verstehen seye, was solche ungleiche ge-
schwisterig von ihren rechten vater oder mutter, ehnl
oder ahnl mit einander ererbt haben.
Exempl.
t
3 7 9Agnes ~
erst verstor-
ben weib
t
Galle
vater den beyderley
kinder geerbt
~ Anna
andere
weib
t
Bernhard Georg Baltasar Barbara Michael
verstorben,
so zu erben
Erklärung
Alhier erben den verstorbenen Bernhard Georg, sein
rechter bruder, sambt dem Balthasar, Barbara und
Michael, seines allein vater halb geschwisterige an dem
zu vor ererbten väterlichen guth.
Der 5te fahl
Das geschwisterige kindts-kinder, so ihr vater noch in le-
ben, von ihres ehnls bruder oder Schwester erbschaft aus-
geschlossen werden.
3 S 0Item s t ü r b e einer ohne leibs erben und andere ver-
wandte in aufsteigender linie und hinterliesse eines rech-
ten bruders kinder, ein Schwester und aus einem anderen
rechten Schwester kinder ein enickhl , so erben allein bey-
derseiths bruders kinder und die recht Schwester, so noch
in leben ist.
Exempl.
t
Andreas
vater
t
Hans
verstorben
so zu erben
Peter
t
Margaret
t
Catharina
Anna Ludwig Agata Lucia Joste/] Claus
Adam
3 8 1 Erklärung.
Alhier in disem fall werden Agata und Adam von des ver-
storbenen Hansen erbschaft ausgeschlossen und erben
Anna und Ludwig anstatt ihres vaters Peter und Marga-
84
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
reta, des verstorbenen bruders Schwester, den anderen
theil, den 3ten theil nimbt Lucia, Jos[e/| und Claus anstatt
ihrer mutter Catharina.
Der 6te fahl
Das brüder oder Schwester kinder von beyden bandten
ihres vaters und mutter stief brüder oder Schwester auch
ausschliessen.
Item wan einer stirbt und verlast niemand in ab- oder
aufsteigender linie, sondern seines rechten bruders oder
Schwester kinder von beyden bandten und sein bruder
und Schwester von einem bandt, so erben alsdan des
rechten bruders oder schwester kinder und wird der stief
bruder oder schwester ausgeschlossen, ohngeacht in grad
er näher, dan die rechten 3 S 2bruders oder schwester kin-
der.
Exempl.
t
Gregori
t
Barbara
t
Abraham
verstorben
so zu erben
t
Agata
Jacob
t
Franciscus
Hans
Erklärung.
Hier erbt Jacob seiner mutter bruders Abrahams verlas-
senschaft allein und wird Hans, des gedachten Abrahams
Stiefbruder, ausgeschlossen.
Exempl
Da fünf geschwisterige und stief geschwisterige kinder
verhanden.
t
3 S 4 Anna -
erst weib
t
Hans
t
Margaret
änderte
weib
t
Kilian
verstor-
ben, so zu
erben
Jacob
t
Anna
Conrad Maria
Erklärung.
Hier erbt Jacob, des verstorbenen Kilian bruder vater
[eingefügt] halb ein theil und dan Conrad und Maria, auch
mit halb-bruders kinder den anderen theil.
3 8 5 Der 8te fahl
Wan stief geschwisterige kinder noch allein in leben, das
solche in die häupter und nit in die stammen erben sollen.
Wann dan der verstorbene aus zweyer oder mehr ein
halben geschwistrig allein dere kinder, und zwar in un-
gleicher zahl, hinter ihm [eingefügt] verlasset, so ordnen
und wollen wür, daß gleichergestalt, wie oben von bey-
derseiths geschwisterigen hinterlassenen kindern gesezt
worden, sie in die häupter, als so vil mundt, so vil pfundt
zu gleichen theilen ein ander erben sollen.
3 S 3 Der 7te fahl 3 7 7 ) ( b l 2 2 r
Von erbnehmung der stiefgeschwisterig allein und dersel- 3 7 8 ^ l o L 2 Z v -
be kindern. 379) fol. 23r.
Wo aber der abgestorbene weder in ab- oder aufstei-
gender linie auch keine rechte geschwisterig von beyden
bandten noch derselben kinder verlassen hat, als dan sol- 3 S 1 ) f o 1 ' 2 4 r
len zu seinen rechten erben zugelassen werden seine an- 332) f 0 i . 24v.
dere von einem bandt vater und mutter halb geschwiste-
rige, und mit denselben auch ihrer einhalben geschwiste-
rigen kinder, alle massen und gestalten, wie von denen 384) fol. 25v
rechten geschwisterigen und ihren kindern in vorgehen
den fahlen geordnet ist worden.
380) fol. 23v.
383) fol. 25r.
385) fol. 26r.
85
Exempl.
t
3 8 6 Anna -
erstes
weib
t
Peter •
t 1
Ambrosi t
verstorben, Georg
so zu erben
t
Madlena
änderte
weib
t
Hans
t
Wilhelm
Galle Agnes Jerg Anna Ernst 6 7 8 9 10
Erklärung.
Allhier soll des verstorbenen Ambrosi erbschaft nach an-
zahl der brüder kinder zu gleichen theilen und also in 10
theil ausgetheilt werden und eines so vil als das andere
erblich empfangen.
3 8 7 Der 9te fahl
Wann zumahl keine geschwisterig noch geschwisterig
kinder weder von einem bandt noch vor dem anderen
verhanden, wer alsdan erben soll.
So dann der verstorbene weder in ab- noch aufsteigen-
der linie, darzu auch noch weder geschwisterig noch ge-
schwisterig kinder von einem oder zweyen bandten hin-
ter sich verliesse, so ordnen, sezen und wollen wür, daß
alsdan derjenige, so in der zwerch linie ihm am nächsten
verwandt, sein erb seye. also daß die nächste, sie seyen
vil oder wenig, allweeg die ferneren ausschliessen und sie
in die häupter zu gleichen erb kommen und zugelassen
sollen werden.
Exempl
t
Adam
Eva verstorben
3 8 8 Erklärung
Hier erben Eberhard und Anna den verstorbenen Conrad
und wird Agnes, also so weither verwandt, allerdings aus-
geschlossen.
Der lOte fahl
Wan enickheln ohne leibs erben absterben, wohin das
von ihnen anererbte guth von ehnl und ahnl hinfallen soll.
Wan aber ein enickhl, welches seinen ehnl oder ahnl
zu vor geerbt, ohne leibs erben absterben wurde und er-
ben des ehnls oder ahnls beseits verwandten seines vater
oder mutter rechte geschwisterige oder deren kinder
nach sich verliesse, so ordnen und wollen wür, daß solch
von ehnl oder ahnl anererbte guth immassen hie bevor in
jüngeren landts brief auch geordnet gewesen, erstlich auf
seine rechte geschwisterige oder wo keine rechte ge-
schwisterige in leben wären, alsdan auf seines vaters
oder mutter rechte geschwisterige, so mit ihme denselben
ehnl oder ahnl geholfen erben, und es ihnen also für das
riecht ge389standen, so vil deren oder ihrer kinder in zeit
des widerfahl noch in leben Aund nit weither:/ das abge-
storbene enickhl an den jenigen, was von seinen ehnl
oder ahnl, als obstehet, auf es geflossen und herkommen,
erben und an sie widerumb hinter sich fallen solle.
Exempl t
Adam -
urehnl
t
— Eva
urahnl
Georg
ehnls
bruder
Ander ur-
ehnl, welcher
Martin den
enickhl helfen
erben
Dorothea
ahnl
Blasi,
ahnls
bruder
Peter Margret Hans
Eberhard
t
Jacob
Agnes
t
Peter
vater
t
Conrad
verstorben,
so zu erben
Anna
t Gertraut 2. Georg
Marta
verstorben, des anererbten
ehnl guth zu erben ist
3 9 0 Erklärung
Alhier erben Margareth einen theil und dan Gertraut und
Georgius des Martin anererbt guth von ehnl und schlies-
sen Georgen, des ehnls bruder, wie auch Blasius, der ahnl
bruder, darvon aus.
86
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Der Ute fahl
Wie vater und mutter ihre enickhl und kinder erben sol-
len.
Alsdan in unser graf- und herrschaft bishero nit bräu-
chig gewesen, das vater und mutter ihre kinder, so die ge-
schwisterige allein ihren verstorbenen bruder oder
schwester geerbt haben, doch nichtsdestoweniger natürli-
cher und ordentlicher Satzung nach dieselbe ihre kinder
aufzuerziehen und zu versehen schuldig seynd, auch die
kinder ihre väter und mutter für demnach [eingefügt] mä-
niglich rechtlich erben, dannoch so sezen, wollen und
meinen wür, daß nun hinführo vater und mutter ihres lez-
ten kind, so mit todt ohne eheliche leibs erben von ihnen
gebohren, abgangen, erben sollen mit diser bescheiden-
heit, das vater und mutter dasselbig ihr leztes kindt ver-
lassen 3 9 1ligend und fahrend haab und guth, was das
wäre, ihr weil und leben lang inhaben, nutzen, niessen,
gebrauchen, und den nutzen jährl[jc/z] darvon nehmen,
und sollen auch die güther, so in erbs weis an sie also ge-
fallen, weder versetzen noch verkaufen, verordnen, ver-
schaffen, noch sonst verhandln, in kein weis, noch weeg,
sondern in guten wesentlicher ehren und bauen erhalten;
wo aber vater und mutter an den blumen von den selben
güthern zusambt ihren eigenen guth nit nahrung noch
auskommen hätten, so sollen sie ihr aigen guth zu ihrer
leibsnahrung und Unterhaltung zuvor angreifen und ver-
brauchen, und dan ihr aigen guth nicht genugsamb errei-
chen, und gedienen möcht, als dan sollen und mögen sie
mit ehegemelten guth schaffen, handien, thun und lassen
wie und als mit anderen guth, doch allweeg zimlich und
nit wüstlich ohne noth; und so dan der vater oder mutter
auch absterben, ob er oder sie schon aus anderen ehen
andere kinder verliessen, so solle dan das kündlich an
erbguth nit auf sie, sondern wider hinter sich an die näch-
sten ihres vaters oder mutter bluths verwandte dannen
hero das guth geflossen und kommen, erblich zurückfal-
len.
2Exempl.
Galle
Margret
t
— A n n a "
erst ver-
storben
weib
t
Peter vater
verstorben
so zu
erben
_ Elsa
ander
weib
t t t
Jacob Sabina Conrad Anna Barbara Carle
letztver-
storben kind so
der vater geerbt
Erklärung
Alhier nachdem Peter sein lezt verstorbenes kind Conrad
geerbt und nacher auch sturb, soll das guth, welches er
von Conrad geerbt, nit auf seine kinder anderter ehe, son-
dern des erst verstorbenen weibs vater, den Galle, und ihr
schwester, die Margreth, fallen.
' "Änder te exempl.
t
Raimundus
t
Ulrich
Rudolph
vaters
bruder
t
Adam
vater
t
~ Eva Petrus Marge Wolfgang
mutter mutter mutter mutter
bruder schwester bruder
t
Hans
verstorben,
so zu erben
Anna
t
Margire«]
386) fol. 26v.
387) fol. 27r.
388) fol. 27v.
389) fol. 28r.
390) fol. 28v.
391) fol. 29r.
392) fol. 29v.
393) fol. 30r.
87
Erklärung. Exempl
Die weil der verstorbene Hans weder recht noch halb ge-
schwisterige noch auch deren kinder, sondern einen va-
ters bruder und zwey mutter brüder 3 9 4sambt dero schwe-
ster verlasen, so erben dieselbigen zugleich, einer so vil
als der andere, und werden des Wolfgangs kinder als im
weitheren grad ausgeschlossen.
Von erbnehmung der eheleuthen.
Erster fahl.
Wie und wan die eheleuth, so eines oder das andere ohne
erzeugte eheliche kinder mit todt abgehet, von einander
erben sollen.
Wann dan zwey persohnen sich ehelich mit einander
versprochen und alsdan eines vor dem andern, es seye
weib oder mann, ohne erzeigten ehelichen kindern mit
todt abgienge, so sollen vor allen dingen /wie anfänglich
bey dem erstn theil verordnet/ die schulden, deren seyen
vil oder wenig, so in wehrender ehe durch beyde eheleu-
the 395gemacht, dergestalt bezahlt werden, daß nemblb'cÄ]
des verstorbenen manns erben die zwey theil oder des
verstorbenen weibs erben den 3ten theil entrichten und
hernach die übrige erbschaft, was sie beyde in Hgenden
guth zusammen gebracht, jedem das seinige zum voraus
zugetheilt, was sie aber in wehrender ehe mit und bey
einander gewunnen und errungen oder, es seye auf was
seithen es wolle, ererbt hätten, es seye ligendes oder fah-
rendes, davon sollen des mannes erben, so er verstirbt,
die [eingefügt] [gestrichen: den] zwey theil, oder des
weibs erben, wan sie verstirbt, je und allwegen den 3ten
theil erblich hinweg nehmen.
Exempl.
So der mann vor dem weib stirbt
t
Adam Eva
ehemann
so zu erben
3 9 6 Erklärung
Hier nimbt Eva, die hinterlassene wittib, was sie anfäng-
lich ihren mann an ligendem guth zu gebracht, sambt
dem 3ten theil der errungenschaft und in währender ehe
anererbten guths; das übrige aber fählt des manns näch-
sten freunden heim.
t
Anna Peter
eheweib
so zu erben
Erklärung
Alhier wird Peter, der in leben verblibene mann, was er
anfängH/c/z] an ligenden guth seinem weib zu gebracht,
und danach zwey theil von allen dem, was er und sein
verstorben weib wehrender ehe ererbt, errungen und ge-
wunnen; den 3ten theil aber sambt dem, was 3 ' ) 7dem
mann zugebracht, gebührt der verstorbenen Anna näch-
sten freunden.
Änderte fahl
Wie eheleuth einander erben, wan kein bluths verwand-
ter innerhalb der lOten [gestrichen: zahl] sippzahl vor-
handen.
Wann es auch sich begebe, daß der ehemann oder das
eheweib ohne eheliche kinder verstürben und das abge-
storben weder in auf- noch absteigender oder zwerch lini-
en keine bluths verwandten inner dem lOten grad /: wel-
ches doch selten geschieht :/ nach sich verliesse, alsdan
ordnen und wollen wür, daß nach ausweisung gemeiner
kayserl[(c/7] geschribenen rechten der mann das weib und
das weib den mann in allen hinterlassenen guth erben
solle.
88
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
sExempl.
t
Jacob
t
Franz
t
Adam
t
Georg
t
Marx
mann in währender ehe gewunnen und ererbt hätten,
daran soll sie den 3ten theil empfangen und das übrig al-
les denen hinterlassenen kindern 4 0 0anererbt und zuge-
lassen seyn.
Exempl.
t
Brigitta —
erstes weib
so verstorben
t
— Allwig —
der mann,
so zu erben
— Margret
das änderte
weib
t
Joseph
t
Susana
t
Samuel
t
Anna
t
Hans
t
Clemens
Jacob Anna
Erklärung.
Alhier erbt Margret, das andere weib, alles ihr zuge-
brachte guth neben dem 3ten theil des fürschlags oder in
stehender ehe, es seye woher es wolle, gefallenen erb-
theil; das übrige aber nehmen Jacob und Anna, die hin-
terlassenen kinder voriger ehe.
t
Gertrud
t
Allwig
t
Conrad —
eheman,
so zu erben.
• Margaret
eheweib
'"Erklärung
Alhier wan schon Anna. Hans, Clemens, welche dem ver-
storbenen in dem Il ten, 12ten und 13ten grad verwandt,
noch in leben wären, so erbten sie den verstorbenen Con-
rad nit, sondern seine verlassene wittib, die Margareth.
Der 3te fahl
Von erbschaften der ehe leuth, die gleichwohl keine kin-
der beyeinander erzeiget, der mann aber aus vorgehen-
der ehe erzeigte kinder verlassen.
Wann dan der mann zu vor, ehe er, abgestorben oder
eine oder mehr vorgehenden ehen vil oder wenig kinder
nach sich verlaßt, so soll nach bezahlten schulden derge-
stalt [gestrichen: wie] obmelten das lezt [gestrichen: lezt]
verblibene weib alles das jenig, was sie dem mann zuge-
bracht, zu voraus weg nehmen; was aber sie mit ihrem
Der 4te fahl
Von erbnehmung, so das verstorbene weib aus voriger
ehe kinder verlaßt.
So aber das weib vor dem mann mit tod """abgehet
und verlaßt nach ihr ein oder mehr kinder aus vorgehen-
der einer oder mehr ehren [sie!], so solle alsdan der in le-
ben verblibene mann das jenige nach abzahlung der
schulden, wie oben vermelt, voraus nehmen, und in übri-
gen, was er und sein leztverstorbenes weib in währender
ehe miteinander gewunnen und errungen oder geerbt ha-
ben, zwey theil empfangen und das andere alles des
weibs hinterlassenen kindern zuständig seyn.
394) fol. 30v.
395) fol. 31r.
396) fol. 31v.
397) fol. 32r.
398) fol. 32v.
399) fol. 33r.
400) fol. 33v.
401) fol. 34r.
89
Exempl.
t
Michael —
erst verstor-
bener mann
t
~~ Catharina -
ehe weib, so
zu erben
~~ Hans
Christa
Florin Margret Ludwig
•^Erklärung.
alhier nimbt Hans und Christa zum voraus alles ihnen zu-
gebrachtes gueth, und demnach 2 theil von dem was er
mit Catharina seinem verstorbenen weib in stehend ehe
gewunen, errungen oder geerbt haben.
Exempl.
so der mann verstirbt,
t t
Eva des
verstor-
benen
weib
— A d a m
verstorben,
so zu
erben
Anna ~
das
änderte
weib
t
"Gebhard
erst ver-
storbene
mann
Michel Arbogast Sabina Margret Conrad
Erklärung
Allhier erbt Anna das hinterlassene weib sambt ihren kin-
dern neben ihrem zugebrachten guth aus dem fürschlag
den 3ten theil und des verstorbenen adams kinder als
4 0 3Conrad und Michel empfangen neben ihrem natürli-
chen guth die 2 übrigen theil des fürschlags.
der 5te fahl
Wenn beede eheleuth kinder aus vorigen ehen haben, wie
es mit den Erbschaften gehalten soll werden.
Wenn alle dergleiche eheleuthe beyderseiths aus vori-
gen ehen kinder nach sich verliessen, so solle es gleich-
falls, wie sie oben verordnet, also gehalten werden, daß
des verstorbenen kinder erben ihren väterlichen antheil
des fürschlags, und des hinterlassenen weib den 3ten
theil sambt dem ihrigen hinweg nehmen, auch so hierge-
gen das weib zu vor mit todt abgienge, der mann die zwey
theil, und 4 U 4des verstorbenen weibs kinder neben ihrem
natürlichen guth den 3ten theil zu erb empfangen.
Änderte Exempl
so das weib verstürbt
t
Rudolph
erst ver-
storben
mann
t
- Christina
verstorben,
so zu
erben
Gabriel
der
änderte
mann
t
Christina
erst ver-
storben
weib
Lienhard Agata Heinrich Elisabeth Sigmund
Erklärung
Hier erbt Gabriel 2 theil und der verstorbenen Christina
hinterlassene kinder den 3ten theil, das jenige alles des-
sen beider eheleuth in stehender ehe mit einander ererbt
und errungen haben.
4 0 5 Wie in vorigen fahlen verstanden werden solle.
Es seynd aber alle solche obgemelte fähle allein zwi-
schen den eheleuthen zu verstehen, die in währender ehe
stand [eingefügt], schuldiger pflicht nach, einander treuli-
chen beystandt geleistet haben. Dan wo ein ehegemacht
vergessentlich das andere verlassen, ihme keine eheliche
beywohnung noch hülf bey der haushaltung gelaistet,
sondern ohne redliche Ursachen muthwilliger weis verlas-
sen oder aber eins dem andern ehebrüchig worden und
destwegen keine Versöhnung geschehen, alsdan solle sol-
ches ehegemächt des verstorbenen errungenschaft nit ge-
wärtig seyn, sondern allerdings davon ausgeschlossen
seyn solle.
Desgleichen, da sich 2 allein gegeneinander ehelichen
verlobt und ehe die hochzeit vollbracht406 oder sie die
deckhe beschlagen hätten, eines, welches das wäre, von
dem anderen durch den zeitlichen] todt geschieden, so
soll in disem fall keins von dem andern ohne sondere ver-
Schaffung nichts erben.
Von erbnehmung der obrigkeit.
Erster fahl.
So einer erblos stirbt.
Erstlichen, so ein persohn mit tot abgehet und inner
dem zehenden grad keine verwandte noch ein eheman
oder weib verlaßt, so ordnen und wollen wür, daß alsdan
in solchen fahl alle seine güther uns als der obrigkeit
heimbgefallen seyn sollen.
90
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Der änderte fahl.
So die verwandte der erbschaft unfähig.
Wan auch schon die verstorbene persohn 4 0 7bluths ver-
wandte oder sein aigen weib oder man in leben nach sich
verliesse, dieselben aber aus den Ursachen, warumben
sie enterbt werden möchten, und des verstorbenen er-
schaft sich selbsten unwürdig gemacht, so ordnen und
wollen wür gleichfalls, daß solche verlassenschaft nit
auf sie, sondern uns als der obrigkeit fallen und kommen
solle.
Der 3te fahl.
Daß, welcher seinen anwärmenden erbtheil verschenckt,
desselben hernach nit mehr theilhaftig unfähig seye.
So es sich begebe, daß unsere unterthanen einer sei-
nen anwarthenden erbtheil, ehe und zu vor sich der fahl
begibt, verschenken, vertauschen oder verkaufen wurde,
alsdan er von solcher als deren unwürdig ausgeschlossen
und solche erbschaft an uns als oberherren gefahlen seyn
solle.
4 0 S Der 4te fahl.
Das die erben so gröblich mishandlet oder des landts ver-
wisen seynd, durch die obrigkeit von erb ausgeschlossen
seyn sollen.
Wan es sich auch zutrüge, daß ein persohn verstürbe,
verliess gleichwohl nach ihr etliche erben, dieselben hät-
ten aber gröblich mißgethan und gehandlet oder wären
des landts verwisen, so sollen dieselbige als unwürdig sol-
cher erbschaft ausgeschlossen seyn und wür als die obrig-
keit anstatten ihrer den erbtheil einziehen mögen.
Der 5te fahl.
Das deren erbschaft, so sich selber ertödtet, der obrigkeit
heimbfalle.
So es sich auch begebe, welches gott der allmächtige
gnädiglich verhüten wolle, daß einer aus unseren unter-
thanen fürsätzlicher weis ausserhalb einer taubsucht
oder dergleichen sich selbsten entleibt, 4 l ) I Jso sollen seine
hinterlassene güther auch uns als obrigkeit heimbgefallen
seyn.
Der 6te fahl.
Daß eines frembdlings hinterlassene guth der obrigkeit
zufalle.
So es sich dann zutrüge, daß ein frembde unbekhand-
te persohn in unsere graf- oder herrschaften komme und
an einem ohrt ohne testament stürbe und man dessen erb
nicht recht [eingefügt] wissen kunte, alsdan sollen die von
ihme hinterlassenen güther auch uns, sofern innerhalb
10 jähren kein rechtmässige beweisung und urkundt des
rechten erben aufgeleget wird, alsdan der obrigkeit
heimb- und zugefallen seyn.
Der 7te fahl.
Daß alle unehrlich gebohrenen persohnen ohne leib er-
ben hinterlassenschaft der obrigkeit heimbfalle.
So dan ein persohn, welche ausserhalb der ehe erzei-
get /: ob sie schon ausserhalb des fahls, daß sie mit Ver-
mählung ihrer mutter geehliget :/ legitimiert 4 l 0wurde,
ohne eheliche leibs erben mit todt abgehet und etwas
nach sich verlaßt, so ordnen und wollen wür, daß solches
alles, wie von alten herkommen, uns als der obrigkeit erb-
lich heimbgefallen seyn soll.
Der 8te fahl.
Wie es mit denen malefizischen und landts flüchtigen per-
sohnen erbguth gehalten werden solle.
Leztlich so ordnen, setzen und wollen wür auch, wie es
dan bis-hero in unserer graf- und herrschaft üblichen
hergebracht, daß aller deren persohnen, so ihrer miß-
handlung wegen ihr leben verwürckht und des landts ver-
wisen oder sonst landtflüchtig worden, all ihr haab und
guth uns als der obrigkeit verfallen und erblich zustehen
soll. Und weilen also hiermit die fürnehmste und gemein-
ste erbfähl, so sich bey unseren unter 4 nthanen zugetra-
gen und begeben möchten, wie es damit gehalten unter-
schidlich erläuthert, gesezt und erklärt haben. Da sich
aber über dise ausgedruckte fahl noch andere mehr bege-
ben und zutragen wurden, so ordnen und wollen wür, daß
402) fol. 34v.
403) fol. 35r.
404) fol. 35v.
405) fol. 36r.
406) fol. 36v.
407) fol. 37r.
408) fol. 37v.
409) fol. 38r.
410) fol. 38v.
411) fol. 39r.
91
in selbigen allen und jeden die gemeine geschribene recht
und des heiligen] röm[ischen] reichs Ordnung observirt
und gehalten, nach welcher ausweisung die übrige erb-
fähl alle verhandlet und berechtiget werden sollen.
Von testamenten
lezten willen, vermächnussen, übergaaben und anderen
geschäften von todts wegen p.p.
Anfänglich, nachdem in dem gemeinen geschobenen
rechten vil und mancherley weeg testament und lezten
willen aufzurichten gesezt, die alle aber besondere zu-
gehörige wesentlich stuckh und Zierlichkeiten erfordern,
deren unsere unterthanen als der mehrere theil einfältig
und solche rechten und Zierlichkeiten unerfahren leuth
wenig Wissenschaft haben und damit der absterbende
lezte Verordnung 4 1 2 und vermächtnus, wie sie dise nach
ihrem todt gehalten haben wollen, nit gestört noch ver-
wehrt, sondern in allweeg vollzohen, auch maas und Ord-
nung geben werde, was ein testament und wie ein solches
aufzurichten seye, so haben wür dannoch zur Verhütung
allerhand streit und zweyungen, die bisweilen sich unver-
schaffter guether halben zutragen, niemanden, so der es
von rechts wegen thun mag, das testieren und vermachen
entziehen oder verbieten wollen, sondern lassen es alles
den unsrigen, es seyen manns- oder weibs persohnen,
hiemit frey libre [gestrichen: woll\ zu, doch änderst nit.
dan in formb und gestalt wie unterschidlich hernach folgt,
daß wür darumben, damit jedermänniglich sich darnach
zu richten wissen, in druckh fertigen und unserer landts
Ordnung beyfügen lassen wollen. Gebiethen, setzen und
ordnen darauf, wo ein testament oder lezter will wider
oder ausserhalb solcher form und solenitaeten gemacht
und aufgehellt wurde, daß solches gäntzlichen 4 1 3zunich-
ten und unkräftig seye, als wür auch das hiemit disem
erbrechten entkräftigen, also des weder legata oder icht-
was anders in denen selbigen nichtigen testamenten
wahrhaftig seye und gestattet werden sollen, dan allein
die gottes gaaben, so einer kirchen, spital, siechen haus
und gemeinen nutzen vermacht wurde, die mögen ent-
lieht werden, so fern es andern unsern vor- und nachge-
schrienen Statuten nicht zuwider ist.
Der erste fahl.
Was ein testament seye.
Ein testament ist unsers gefälligen wissens ein zierli-
che und vollkommentliche Verordnung und urkundt vor
das jenige, so wür wollen nach unseren tödtlichen abrei-
ben unsere verlassenschaft halber gehalten haben mit be-
nennung und einsetzung eines oder mehr erben.
4 1 4 Der andere fahl.
Warumben das testieren angesehen und erlaubt seye.
Darumb, daß ein jeder vor seinem end umb seiner See-
len heil willen gottes gaab thun oder denen jenigen ihre
guthaten vergelten möge, von welchen ihme, in zeit seines
lebens, liebs und guths widerfahren.
Der 3te titul.
Daß einem jeden testament und lezten willen zu verord-
nen zugelassen.
Weil je und allweegen bey allen völekhern vermög
geistlicher und weltlicher rechten herkommen und er-
laubt, daß ein jeder seines gefallens testiren und lezten
willen ordnen möge, auch in Sonderheit menschlichen
weesen nichts besser ansteht, als frey unverhinderte Ver-
ordnung zu thun, et supremo voluntatis liber fit Stylus et
licitum arbitrium, so lassen wür unsere unterthanen bil-
lich auch darbey 4 , 5verbleiben und solle derohalben kei-
nem seine hand geschlossen seyn, sondern einem jeden
seines willens und gefallens zu verschaffen und zu verma-
chen, wie oben auch angezohen, hiemit ausdrucklich zu-
gelassen seyn, es wären dan Ursachen und mängl vorhan-
den, darumben einer von rechts wegen nicht testieren
kunte.
Der 4te fahl.
Welchen persohnen testament zu machen verbothen seye.
Nachdeme ein jeder mensch, der des Verstands, alters
und Vernunft ist, daß es zu testieren tauglich, wohl ein te-
stament, es seye ihm dan in Sonderheit in rechten oder
durch eine landts Ordnung verbothen, aufzurichten und
machen mag, so ordnen und wollen wür, daß in unserer
graf- und herrschaft allein die hernach benanten persoh-
nen nit gewalt noch macht haben sollen zu testieren und
ausserhalb deren allein anderen ohne einige hinderung
ihren lezten 4 1 6 willen aufzurichten oder testament zu ma-
chen unbenohmen, sondern in allweeg zugelassen seyn
soll.
Dieweil dan bey denen münderjährigen persohnen der
verstand zu gering und sie leichtlich beredt oder verführt
mögen werden, so ordnen und wollen wür, daß der ge-
walt und freyheit ein testament zu machen, erstlich denen
unmündichen, sowohl manns- als weibs persohnen, wel-
che das 14te jähr noch nicht erreicht haben und nit mehr
unter dem gewalt der eitern oder vögten seynd, solle be-
nohmen und entzohen seyn, also daß sie kein testament
und lezten willen vor obbenambsten jähren bis sie gäntz-
lich erfüllt, nit ausrichten können noch sollen.
92
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Doch wollen wür uns in kraft habender obrigkeit hier-
mit vorbehalten haben, wo es sich fügte, daß einer per-
sohnen, so zwischen dem 12ten oder 14ten jähr aus ehe-
haften und erheblichen Ursachen zu testiren angelegen
und vonnöten 4 1 7seyn wurde, solches auf selbiger anhal-
ten nach gestalt der sachen gnädig zugelassen und zu ge-
statten.
Zum änderten können oder mögen auch kein testa-
ment machen alle die, so unbesinnt, tobsichtig oder tho-
recht seynd und ihren verstand nicht haben, so lang sie
nit widerum zu ihnen selbst und guten Vernunft oder ver-
stand kommen.
Zum dritten auch die stummen, so nit schreiben, item
blinde, so nit reden, und die tauben, so deren keines we-
der schreiben noch reden kan.
Zum vierten solle der gewalt auch zu testiren allen de-
nen benohmen seyn, welche ausserhalb der ehe gebohren
und erzeügt worden, es were dan sache, daß sie eheliche
leibs erben hätten.
Zum fünften, welcher haab und güther nach auswei-
sung der rechten confiscirt oder uns als der obrigkeit ver-
fallen seynd, derowegen sie dann derselbigen nit mehr
gewaltig oder mächtig, bis sie allerdings widerumb be-
gnädiget seynd.
Zum sechten sollen und können auch kein testament
aufrichten, welche ihres Übelhausens und vergandtens
4 1 8halber nach ausweisung unserer [gestrichen: rechten]
landts Ordnung durch uns oder unsere ambt leuth die Ver-
waltung ihres eigenen guths genohmen oder verbothen
worden.
Im fahl dan leztlich über jezt erzehlte persohnen noch
weithers andere zu testieren für unnöthig oder untauglich
sich finden Hessen, so lassen wür in und mit derselbigen
bey gemeinen geschribenen rechten und derselbigen
recht verständigen verbleiben.
Der 5te fahl.
Welche in testament gezeügen oder nit seyn mögen.
Demnach dan auch aus Ordnung gemeinen geschribe-
nen [gestrichen: recht] rechten in aufrichtung der testa-
menten ein gewise anzahl der gezeügen erfordert und
aber vermög ermelten rechten etwelche persohnen darin-
nen nicht gezeügen seyn mögen, damit dan unsere unter-
thanen in disem auch einen gewisen bericht haben, so
setzen und ordnen wür, daß erstlich alle und jede, wel-
chen testament zu machen verbothen, auch in testamen-
ten nit taugliche gezeügen seyn sollen oder können.
Desgleichen sollen auch keine weibsbilder, keine, so
4 l 9 zum erben eingesezt wird oder welcher das 14te jähr
seines alters nit erfüllt, auch kein jud, widertaufer oder
andere, welche die rechten, zeugen zu seyn, ausdrücklich
verbothen.
Der 6te fahl.
Welche persohnen zu erben nit eingesezt werden mögen.
Nachdeme auch der erben halber fürnemblich die te-
stamenten erfunden, so ordnen und wollen wür, daß in ei-
nem jeden testament derjenige, so erben soll, ausdruck-
lich benent und eingesezt werde, doch seynd etliche, wel-
che vermög der rechten nit sollen noch mögen zue erben
eingestellt werden, als da seynd all die jenigen, welchen
das landt oder unsere graf- und herrschaft verbothen, so-
dan auch alle uneheliche oder welche ausserhalb der ehe
erzeuget worden und andere, welche die gemeine ge-
schribene recht von der erbsatzung ausschliessen.
Wann aber sach wäre, daß einer oder mehr, so zu er-
ben eingesezt, vor dem testirer abstürbe und den fahl nit
erlebte, so solle alsdan den 4 2 0anderen eingesezten erben
solcher theil zufallen, gehören und bleiben, und sich die
nächsten befreunden, welche an testamenten erben
wären, dessen nit anzumassen.
Der 7te fahl.
Aus was Ursachen vater und mütter und andere erben
ihre kinder oder kindts kinder enterben mögen.
Dieweil dan auch die gemeine geschribene rechten mit
sich bringen und verordnen, als die eitern ihre kinder
oder kindts kinder in absteigender linie nothwendiglich
zu erben einsezen sollen, also daß, wo solches unterlas-
sen, ihr testament unkräftig und nichtig, es wäre dan Sa-
che, daß sie ursach hätten, sie zu enterben, damit derwe-
gen unsere unterthanen Wissenschaft haben mögen, so
seynd in derselben geschribenen rechten 14 ausdruckli-
che Ursachen darbey, wir es auch also verbleiben lassen.
Nemblich und zum ersten, wan ein kind oder enickhl
seinen vater oder mutter, ehnl oder ahnl fürsetzlich ge-
schlagen oder freventlich hand an sie geleget hätten.
Zum änderten, wan ein kind oder enickhl seinen 4 2 1 va-
ter oder mutter eine grosse unehrliche und schwäre inju-
rie oder schmach zugemessen.
412) fol. 39v.
413) fol. 40r.
414) fol. 40v.
415) fol. 41 r.
416) fol. 41 v.
417) fol. 42r.
418) fol. 42v.
419) fol. 43r.
420) fol. 43v.
421) fol. 44r.
93
Zum 3ten, wan ein kind oder enickhl seine eitern pein-
lich beklaget hätten, es wäre dan eine solche übelthat
oder laster, so wider [eingefügt] uns und [eingefügt] dem
landt herren fürgenohmen worden.
Zum 4ten, wan ein kindt oder enickhl mit zauberey
oder hexenwerkh umbgieng.
Zum 5ten, wan ein kindt oder enickhl seinen eitern ei-
nem nach dem leben stellte und die selbigen mit gift,
schwerd oder in andere weeg umbzubringen unterstan-
den hätte.
Zum 6ten, wan ein kind oder enickhl sich zu seiner
Stiefmutter oder Stiefvater gelegt und sich mit ihme oder
ihr vermischt.
Zum 7ten, so ein kindt oder enickhl seine eitern ver-
rathen und sie dadurch in schwären schaden und nach-
theil ihrer güther gebracht und geführt hätte.
Zum 8ten, wan die eitern einer schuld oder anderer
ursach halber in haftung und gefängnus kommen und ein
kind oder enickhl das darumben ersucht, seinen vermö-
gen nach die eitern nit wider ausbürgen 4 2 2wolte oder sich
nit sonsten bestens Vermögens beflisse, das sie der ge-
fängnus entlediget werden möchten.
Zum 9ten, wan kinder oder enickhl ihren eitern
währen, testament zu machen oder fürsetzlich daran ver-
hinderten.
Zum lOten, wan sich ein kind oder enickhl wider sei-
ner eitern willen in ein leichtfertiges übles leben und we-
sen begebe.
Zum Ilten, so die eitern einer tochter zur ehrlichen
heurath helfen, sie auch darzu mit gebührlichen heurath
guth nach gelegenheit ihres Vermögens versehen wollen
und sie über solchs die heurath ausschlieg und sich in un-
ehrliches wesen begebte, mögen sie von ihren eitern von
solchen unehrbahrkeit auch enterbt werden.
Zum 12ten, so die kinder oder enickhl den krankhen
und sünlosen eitern nit gebührliche hülf und sorge thäten.
Zum 13ten, so ein kind oder enickhl eines frembden
und in v'6m[ischen] reich verbotenen religion oder un-
christlichen glauben wäre und verharte.
Zum 14ten, so ein kind oder enickhl ihre gefangene ei-
tern aus gefängnus nit erlösen wolten, wan sie kirnten.
4 2 3 Wie wohl nun ein jede aus obgesezten Ursachen zur
enterbung der kinder oder kindts kinder genugsamb und
erheblich ist, so müssen sie doch nit allein in testament
ausgedruckt und gesezt, sondern auch in fahl die enterbte
persohnen deren nit geständig, durch andere eingesezte
erben genugsamb erwisen werden.
Wo aber solche ursach nit erwisen wäre, so ist und
wird die erbsatzung allerdings nichtig und kraftlos,
gleichsamb als wan kein testament gemacht worden, je-
doch was sonsten der erbsatzung in solchem testament
verordnet, als da seynd legata und anderes dis bezahlt,
sein würkhung ein weeg haben als den andern.
Der 8te titul.
Aus was Ursachen entgegen die kinder ihre eitern enter-
ben mögen.
Weil dan auch hergegen die kinder nach ausweisung
der geschribenen rechten ihre eitern in etlichen fällen
gleichfalls enterben mögen, haben wür zu besseren nach-
richt solche auch alhier setzen wollen, und volgt.
4 2 4 Zum ersten mögen und können die kinder ihre ei-
tern enterben, wan vater und mutter oder andere eitern
ihre kinder übergeben und ausserhalb des lasters belai-
digten hals- und oberherren in den todt bringen oder
andworten wolten.
Zum 2ten, wan die eitern ihre kinder mit zauberey, gift
und ander weeg umb das leben zu bringen unterstunden.
Zum 3ten, wan der eitern eins mit seines kindts ehe-
man oder eheweib sich ungebührlicher weis vermischen
wurde.
Zum 4ten, wan der eitern eins den kindern in den
fahlen, darin es die recht zugeben, testament zu machen
verhinderte.
Zum 5ten, wan der vater seines sohns oder tochter
oder die mutter den söhn oder tochter übergeben oder
dessen leben in ander weeg nachstellen thätte.
Zum 6ten, wan die kinder oder enickhl sünlos und von
ihren eitern nit versorgt wurden.
Zum 7ten, wan die eitern ihre gefangenen kinder in
gefängnus oder bandten verderben Hessen und sie, wo-
fern ihnen wohl möglich, nit erledigten.
4 2 5 Zum 8ten, wan die eitern einer frembden und in
\\e\\[igen] vöm[ischen] reich ohnzulässlicher religion
wären.
In jeglichen disen fällen mögen die kinder ihre eitern
enterben, jedoch müssen in allweeg die Ursachen der ent-
erbung in testament ausgedruckt und in fall der noth ge-
nugsamb beygebracht und erwisen werden.
Der 9te fahl.
Wie und in was formb testament und lezte willen aufge-
richtet werden mögen.
Obgleich die gemeine kaiserliche] beschribene recht
zu aufrichtung der beständigen testamenten vil und man-
cherley requisita, solennitäten und Zierlichkeiten erfor-
dern, so haben wür uns doch, unseren unterthanen und
gemeinen mann zu sondern gnaden und güthe der kürtze
beflissen und anstatt der weithläufigen Schriften und
umbständen auf andere richtige schlechtere formb, mittel
und weeg bedacht, damit vil mühe, kosten und arbeith er-
spahrt werde, wie hernach zu sehen.
94
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
4 2 6Erste mittel und formb zu testieren.
Es mag ein jede testamentierende persohn, mann oder
weib, vor gericht erscheinen, daselbsten mit verständli-
chen worten seinen lezten willen und gemüth, es seye
gleichsamb verwandten darwider oder nit, eröfnen,
nemblichen, wen er zu seinen rechten erben haben, auch
wem und was er von seiner verlassenschaft, haab und
güthern verschaffen und endlich wie es in allweeg nach
seinem tödtlichen abgang gehalten haben wolle, mit an-
gehängten begehren an richter und gericht desselben
ohrts, solchen seinen lezten willen in das gerichts protho-
coll einschreiben zu lassen und solches bis auf sein ab-
sterben in guter Verwahrung zu halten und alsdan seinen
eingesezten erben, auch anderen, denen er etwas ver-
schafft, zu eröffnen.
Nota
Der landtschreiber oder dessen Substitut soll hie fleissig
aufmerknen, wie und was des testierenden endlicher will
und meinung seye, und sobald er solchen mit beygesezten
tauf- und zunahmen, 4 2 7woher er seye, jähr, monaths tag
und stund und an was orth es beschehen, auch welche
von dem richter und gerichtspersohnen darbey gewesen,
aufgezeichnet, soll es dem testierer in des gerichts gegen-
warth widerumb vorlesen und nochmahl fragen, ob sein
will und gemüth also gestellt seye.
Nit weniger sollen unsere ambt- und gerichts leuthe
die testirende persohn nach gelegenheit derselbigen flei-
sig und ernstlich befragen, ob sie zu solchen ihrem lezten
willen gezwungen, getrungen, überredt oder hinterführt
oder ob solches ihr wohl bedachter will und meinung
seye, welche frag und darauf gefolgte andwort auch soll
eingeschriben werden, und der actus darmit verricht
seyn. Wann auch der testierer abschrift oder sonst brief
und sigl, sol vil er deren voneten, begehrt, soll man ihme
dieselbige widerfahren lassen. Und wolte er dan, daß
solch sein lezter will bis aufsein absterben in geheimb ge-
halten wurde, so sollen unsere ambtsleuth, Schreiber und
richter und gerichts leuth solches wie andere geheimbe
Sachen bey ihren eyd verschweigen.
Änderte formb.
Wan einer in der geheimb testiren wolte.
4 2 S Wäre dan einer bedacht, in der geheimb zu testiren,
also das niemand wissen solle, wie und was, wem oder
wohin er vil oder wenig, verschaffet hätte, der mag sol-
ches, was allenthalben sein gemüth will und meinung
seye, durch den geschworenen landtschreiber stellen und
aufzeichnen solle lassen, alsdan mit unseres landt vogts,
landtschreibers oder amans desselbigen orths insigel ver-
schliessen und folgends verschlossen für ein gesessen ge-
richt bringen mit vermelden, wie daß er sein testament
oder lezten willen in disem verschlossenen brief aufge-
richt und wolle, das solchem nach seinem tödtlichen ab-
gang statt gethan, und nach gelebt werde, mit bitte, den-
selben bis nach seinen todt hinter gericht zu verwahren,
und alsdan seinen eingesezten erben, auch anderen, die
es belangen möchte, zu verkündtigen, anzeigen und zu
eröffnen, auch nach inhalt desselben zu vollziehen.
Nota
Darauf sollen unsere ambt leuth und gerichts leuth aber-
mahls, wie oben bey der nächsten formb steht, fragen, ob
er solches ungezwungen, ungetrungen, aus eigenem frey-
en willen fürgenohmen und gethan 4 2 9werde. Und solle
darauf alsbald die andwort mit des testierers tauf nahmen
und zunahmen, jähr, monath, tag, stund und wo es be-
schehen, durch den geschworenen gerichts- oder landt-
schreiber verzeichnet werden. Kunte man aber nit füglich
auf das testament schreiben, so soll man ein aigen besig-
lete urkundt darneben fertigen und das testament darein
oder darzu schliessen.
Folgen einige form eines testaments zweyer eheleuthen,
die einander zu erben einsetzen.
Ich Thomas N. von N. aus der gi'Ml[ich.en] herrschaft N.
und ich Anna N. , sein eheliche haus frau, bekennen öf-
fentlich mit disem brief, demnach wür betrachtet haben,
daß nichts gewises dan der todt und hierwiderumb nichts
ungewisers dan die unentflichende stund desselbigen,
daß wür darumben sambenthaft mit guter zeitiger vorbe-
trachtung, recht und redlich, gesundes leibs und guter
vernunft dise unsere Ordnung und lezten willen gethan
und gemacht haben, 4 3 0ordnen, setzen und machen dan
auch in und mit kraft dis briefs, wie solches nach Ordnung
422) fol. 44v.
423) fol. 45r.
424) fol. 45v.
425) fol. 46r.
426) fol. 46v.
427) fol. 47r.
428) fol. 47v.
429) fol. 48r.
430) fol. 48v.
95
und freyheit diser herrschaft N. oder sonst in rechten al-
lerbest kraft und macht hat, haben soll, kan und mag,
also zu welcher zeit gott der allmächtige über uns gebie-
ten würdet und wür mit todt abgehen werden, so befehlen
wür unsere seelen in sein gnad und barmherzigkeit und
wollen, daß misere todte cörper nach christlich catholi-
scher Ordnung zur erden bestattet werden, und ist darauf
unser beyder lezter will und meinung, wan unser eines,
welches das ist, also mit todt abgangen, das alsdan das
lezt lebende unter uns beyden in allen des erst abgestor-
benen güthern, sie seyn ligend oder fahrend, nichts dar-
von ausgenohmen, ein rechter erb seyn und bleiben solle,
wie wür auch hiermit und in kraft dises briefs eines das
andere wissentlich und in besten formb geerbt und zu er-
ben benennt und gesezt haben wollen. Und wür eheleuth
behalten uns heran ein gantz vollkommen macht und ge-
walt, solch unsere Ordnung, Satzung und lezten willen zu
ringern, zu mehren, zu ändern 4 3 ,eines theils oder zumahl
abzuthun, wan und welche zeit uns füglich und eben ist,
ohne eintrag allermännigliches, alles gethreulichen, und
dessen zu wahrhaftigen gezeügnus haben wür mit fleis
gebeten den N.N., daß er sein eigen insigl, doch ihme, sei-
nen erben und nachkommen ohne schaden, ordentlich
gedruckht hat auf dis unser beschlossenes testament, so
geben und beschehen ist aufe N.N. monath N. montags N.
im N. jähr.
Nota
Welche auf dise jezt geschribene oder andere mehr for-
men, wan man die testamenta hinter die obrigkeit oder
ein gericht jedes orths deponieren und hinterlegen wolte,
ihren lezten willen aufrichten, dieselbe nicht schuldig
seynd, einige zeugen ausserhalb des geschworenen landt-
schreibers, der das testament in gewöhnlb'c/zer] formb
richten, dihrigieren soll, darzu zu nehmen, sondern daß
einer oder jede zulässige testirende persohn mit jedem
aufgerichteten beschlossenen testament für gericht kom-
men und solches alda insinuieren, 4 3 2einandworten und
hinterlegen mögen, allermassen wir bey diser nächst ge-
sezten anderer formb darvon meidung geschehen.
Dritter formb von offenen testamenten.
Wan aber einer ohne abscheuchen öffentl ich, es k ä m e vor
seinen absterben sein lezter w i l l gleich an tag oder nit, te-
stament und v e r m ä c h n u s setzen wolte, der mag auch vor
dem landtschreiber thun, doch sollen allweeg des wenig-
sten 4 oder 5 ehrliche unpartheiyische gezeügen , welche
dise Ordnung zulasset, i n dem testament einverleibet wer-
den, unge fäh r l i ch auf dise nachgeschribene oder andere
formb, mutatis mutandis, wie einem jeden beliebet, und
die landtschreiber sich jederzeit darin zu schicken und
anstellung zu thun wissen werden sollen.
4 3 3 Forma.
Ich Caspar N. von N. , in der herrsch[q/'J] N. gelegen, be-
kenne öffent l ich und mit disem brief, nachdem ich jezund
schwaches leibs, doch von den gnaden gottes guter Ver-
nunft b in , so hab ich aus Ursachen, mich darzu bewegen-
der, all und jeglichen meinen testament und lezten wi l len ,
so ich hievor dato dis briefs gemacht und aufgericht habe,
jezt in kraft dis briefs wider rufen und abgethan, also dan
die hinvorder kein kraft noch macht haben solle. Damit
ich aber doch nit ohne geschä f t oder Ordnung abzuschei-
den angesehen und zwischen meinen kindern und ihrer
mutter einiglich bleibe, so habe ich mit wi l len und wissen
meiner jezigen haus f raun mein Ordnung, Satzung und
lezten wil len gethan und gemacht, wie das nach Ordnung,
freyheit oder gewohnheit diser herrschaft N. allerbest
kraft und macht hat, haben soll und mag, ordne, setze
und mache das in und mit kraft dis briefs. Also zu welcher
zeit gott der a l lmäch t ig über mich gebiethet, daß ich von
disem z e r g ä n g l i c h e n leben verschaiden werde, so befehl
ich mein arme seel in die hand gottes des 4 3 4 a l l m ä c h t i g e n
vaters und in das verthrauen des bitteren leidens und
Sterbens Jesu Christi, als f ü r meine eigen e r lö sung und
genugthuung. Das die gemelt meine eheliche haus f rau
Anna nach meinen todt bey allen und\egl[ichen] g ü t h e r n ,
so ich bey meiner ersten haus f raun seelig, und dan mei-
ne jezige haus f rau zu mi r gebracht bey ihnen errungen
und gewunnen hat, und nach meinen abgang lassen wer-
de, es seye ligend oder fahrend, v i l oder wenig, al lweg d i -
selbe Anna i n ihren wi twen stand verbleibt, ruhrigl icher
sitzen bleiben und gelassen werden soll. Und nachdem
ich Caspar N. obgenannt, bey meiner ersten ehelichen
haus f rau 4 kinder, die noch in leben seynd, gehabt hat,
soll sie die obgemelten kinder von o b g e h ö r t e n g ü t h e r n
ehrbahrl ich erziehen, unterweisen und solche g ü t h e r ihr
und den kindern zum besten in p ä u l i c h e n ehren erhalten
und hand haben und denen k indern mit geverdten nichts
entziehen. Und nach ich 3 kinder verendert und jeden zu
heurath guth ein hundert geben hab, 4 3 5 ist mein wil len
und meinung, daß diselben 3 verenderte kinder und wer
die hundert gü lden oder so vi l werth gegeben werde. So-
fern aber gedachte Anna, meine haus f rau, nach meinen
ableiben sich anderwehrts verheurathen wurde, so soll
sie ihre kleider, kleinodien und anders zu ihrem leib
gehör ig , zu einem voraus nehmen und alsdan mit den ge-
melten meinen 9 kindern oder sovil deren zue derselbigen
zeit in leben seyn werden, gleich theilen und sich mit ei-
nem kindts-theil b e g n ü g e n lassen. Und soll der gemelten
kinder keines, sie seyen von der ersten oder andern mei-
ner jezigen haus fraun, mehr haben als das andere, son-
96
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
dem gleiche erben seyn, als ob sie von beyden eitern
rechte geschwisterige wären. Item ich setze, bitte und er-
wähle meinen besagten 4 kindern, so ich mit Anna, mei-
ner jezigen hausfrauen habe, zu vögten und Vormündern
die ehrsamben N.N., meine liebe und gute freund, die
meine haus frau alldieweil sie sich ehrlich, redlich bey
ihren kindern unverändert bleibt und halt, mit gütlicher
und räthlicher hülf beystand thun. Und so sie sich verän-
dern wurde, meiner kinder 4 3 r ,theil zu empfangen und ver-
sehen, auch ihnen zum besten vorstehen, also sie mir das
zu thun zugesagt und versprochen haben. Und ich Caspar
obgenant behalt mir in allweeg bevor, dise mein obge-
schribene Satzung und Ordnung zu mindern oder zu meh-
ren, zu endern eines theils zumahlen abzuthun, wan und
zu welcher zeit es füglich und eben ist, ohne eintrag je-
dermänigliches. Und ich Anna, des obged[achl,en] Caspar
N. eheliche haus frau, bekenne in und mit disem brief,
daß vorgemelter mein lieber mann sein Ordnung, testa-
ment und lezten willen, wie hiervon geschriben steht, mit
meinem guten willen und wissen gethan und gemacht
hat. Gerede und verspreche auch in wahren threuen
deme also unverweigerlich nachzukommen und folg zu
thun ohne alle gefährde. Hierbey seynd gewesen die
ehrsamben N.N. vor denen ich oft gemelter Caspar N.
solch meine Ordnung und Satzung gethan und gemacht
habe und des zu urkundt hab ich gebeten und erbeten.
4 3 7 V i l formen hätten hieher ein ander nachkommender
gesezt werden sollen, ist aber geliebter kürze halber un-
terlassen und jeder testirender persohn wie auch dem
landtschreiber zu ihrer discretion und geschicklichkeit
heimbgestellt worden.
Die 4te formb
testament zu machen, wan ein persohn so übel vermö-
gend oder krankh wäre, die nit für gericht kommen
möchte.
In fahl ein man oder weibs persohn kranckheits, alters
oder ander Ursachen halber nit. persönlich für gericht
kommen könte, so mag dieselbige persohn den geschwor-
nen landtschreiber oder gemeindt von seinetwegen sambt
4 gerichts geschwornen zu sich berufen und vor denselbi-
gen ihr gemüth und lezten willen, es sey schriftlich oder
mündlich, entdeckhen, mit bitt und begehren, daß der ge-
schworne landt 4 3 8schreiber, der von seinetwegen entge-
gen ist, solch vorhabend geschäft und vermächnus Reissig
aufmerckhen, verschreiben und für gericht bringen solle,
auch darmit zu handien und in Verwahrung zu halten, bis
zu gebührender zeit, wie vorgehende formb ausweisen.
Nach disem, wan solche 4 gerichts persohnen sambt
dem landtschreiber den erzehlten lezten willen angehört,
sollen sie abermahls, als obstehet, die testierende per-
sohn mit sonderen fleis befragen, ob solches also ihr end-
licher und lezter will und meinung seye, auch desthalber
von niemand angewisen, hinterführt oder beredt seye.
Ebenfalls auch des testierenden verstandts und wesen
halber gut aufmerckh haben, da sie dan die testirende
persohn richtig oder wie es befunden, das sollen sie her-
nach für gericht bringen und ins prothocol verzeichnen,
und folgends darob halten, auch dem in allen durchaus
stattgeben, als wäre die testirende persohn selbsten vor
gericht gewesen und hätte in bester formb testirt. Auch
soll man ihro auf begehren abschrift nach 4 3 ynothdurft
einzutheilen, allermassen wie oben bey ander formen
gleichfalls anzeige beschehen.
Die 5te formb.
Wan ein krankher etwas umb gottes willen verordnen
wolte.
Wan ein mensch mit kranckheit beladen wäre und sei-
ner seelen zu heyl und trost umb gottes willen etwas ver-
ordnen und verschaffen wolte, daß allweegen des wenig-
sten der priester und 2 ehrlich glaubwürdige biderman zu
zeugen darbey seyn sollen, daß doch in allweeg unver-
dächtlich, redlich und ehrbarlich zugangen.
Der 6te fahl.
Wann ein kranckher persohn entweder freunden oder
guthätern etwas verordnen wolte.
Welche persohn mit kranckheit behaft wäre, die ihren
freunden oder gutthätern etwas vermachen und ver-
schafften wolte, wan dasselbige geschäft über 3 pfund
pfennig anlief, so sollen zu diser Verordnung 5 zeugen
4 4 üerbeten werden und darunter des wenigstens 2 gerichts
persohnen und die übrige 3 sonst ehrliche ohnverdächti-
ge leuthe seyn. Änderst soll dis geschäft nit gelten.
431) fol. 49r.
432) fol. 49v.
433) fol. 50r.
434) fol. 50v.
435) fol. 51r.
436) fol. 51v.
437) fol. 52r.
438) fol. 52v.
439) fol. 53r.
440) fol. 53v.
97
Die 7te formb.
Heimbliche oder öffentliche testamenta vor der obrigkeit
aufzurichten.
Es möchte sich etwan begeben und zutragen, daß un-
sere unterthanen und hintersassen, manns- und weibs
persohnen etwan in ander weeg als vorstehet ihren willen
und gefallen nach testament ordnen und solches vileicht
lieber vor uns oder in unseren abweßen vor unseren ober-
ambtleuthen thun wolten. Das soll abermahl eine hierzu
taugliche persohn durch den geschworenen landtschrei-
ber ihren will und meinung, wem und was sie vermachen
wolle, in ein Ordnung setzen und richten und beschreiben
lassen, und uns oder unseren oberambtleuthen hernach
entweders verschlossen oder offen in unser bewahrung
ein 4 4 lbringen. Was dan wür oder unser ambtleuth also
annehmen, pasieren und gutheissen, das soll in allweeg
kräftig und büendtig seyn, auch in unseren graf- und
herrschaften vor allen richtern und gerichten und ge-
meinden darauf erkennt und vollzohen werden.
Die 8te formb.
Durch einen kaylserlichen] notarius zu testieren.
Damit der freye will, der unverbündtlich seyn soll, te-
stament und lezten willen zu machen nit gehindert, son-
dern vilmehr gefürdert, auch einen jeden unserer unter-
thanen und hintersässen so vil möglich, vorgefahlene Ver-
hinderung aufgehebt und der billigkeit nach zu aufrich-
tung seines lezten willen fürschub gethan und geholfen
werden möge, so setzen und wollen wür ferners, welche
bedenckhen hätten, auf die oder all andere geschribene
formb zu testiren, daß sie darzu nit gebunden seynd, son-
dern ein jede persohn, wans ihr geliebt 4 4 2macht und ge-
walt haben solle, nach des Heiligen] Röm[ischen] Reichs
rechten, durch einen freyen kay[serlichen] notarium
ihren lezten willen vergreifen und aufrichten zu lassen.
Dasselbig soll kraft und macht haben, auch darauf er-
kennt werden, als wäre es nach anderen obstehenen un-
seren gesezten formben aufgericht.
Die 9te formb
testament aufzurichten, wan einer oder mehr unserer un-
terthanen ausser landt wären.
Wan vil oder wenig unserer unterthanen und hinter-
sässen ausserthalb unser graf- und herrschaften sich ent-
hielten, es wäre in kriegen, diensten oder anderstwo, die
umb dise unsere Ordnung und erb recht nichts wüsten
oder sonsten derselbigen nit geleben oder nachsetzen
könnten, daß wo einen die noth ergriffe, kranck wurde
oder in andere gefahr geriethe, daß derselbige seinen lez-
ten willen nach desselbigen ohrts, alda er sich befindet,
gebrauch oder durch 4 4 3einen kaiserlichen] notarium
und gebührender anzahl der zeugen stellen mögen. Und
wan derselbige also gestellt und hernach für unser gericht
umb Vollziehung gebracht, daß darauf in allweeg erkennt
und solcher lezte will gutgeheissen und passirlich sein
solle.
Sonsten wan einer unser unterthanen, der ein soldath,
in währenden kriegs läufen ausserhalb landts testiren
wolte oder wurde, der soll an zwey zeugen an seinem te-
stament genug haben.
Der 10te fahl.
Wan die pest regierte oder sonst ein erblich abscheuliche
kranckheit vorfiele, wie man testiren möge.
Wiewohl sich etwan fahl begeben, darin sich einer de-
ren hirvor erzehlten formben nit gebrauchen mag, als in
erschröcklichen pestilenzischen oder anderen derglei-
chen fällen weder die gericht noch gerichts persohnen,
darzu weder notarii, Schreiber noch sonsten die gezeügen
sich nit gebräuchlich gebrauchen lassen. 4 4 4Jedoch damit
demnoch auch in disen leidigen fählen unser arme unter-
thanen und hintersässen ein mittel und weeg haben, ihren
lezten willen kräftig beständiglich zu richten, so ordnen,
setzen und wollen wür, wan einer in obgehörten und an-
deren dergleichen gefährlichen kranckheiten lege und te-
stiren wolte, und vermög dises erbrechts zu testiren
tauglfic/z] wäre, der mag sein testament und lezten willen
vor einen pfarr herrn und des wenigsten noch 2 oder 3
erbetenen ehrlichen gezeügen anzeig thun und eröffnen.
Dabey aber soll er erinnert und befragt werden, ob sein
unberedter und unbezwungener endlicher will und mei-
nung darbey seye, wan das also beschicht, so soll diser
sein lezter will allermaß kraft und macht haben, als wäre
der in einer der oberzehlten formen oder nach auswei-
sung der rechten am zierlichsten aufgericht und verferti-
get worden.
Die U t e formb.
Wann und was ein landts- oder gerichtschreiber über auf-
richtung der testamenten und lezten willen sich verhalten
und schwören soll.
4 4 5 E i n jeder, den wür zu einem landt- oder gericht-
schreiber auf- und annehmen, der soll zu gott dem all-
mächtigen geloben und schwören, daß er in verzaichnus
und aufrichtung der testamenten, codicillen und lezten
willen, darzu er auf dem landt, berg und thal in- oder aus-
serhalb des gerichts erfordert wird, redlich, aufrecht und
ehrbahrlich ohne aufsatz, gefahr und arglist handien und
sonderlich aber nach unsers publicirten erb rechts for-
98
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
men und Ordnungen, dieselben threulich beschrieben und
verfertigen seine eigenen prothocolla, wie sich gebührt,
darüber, und alles bey ihme in der geheimb behalten, bis
zur zeit sich solches vor uns und unseren gerichts leuthen
und denen, die es berühren möchte, zu eröffnen gezimt,
gethreulich und ohngefährlichsten.
Der 12te titul.
Warumb und was Ursachen aufgerichte testamenta un-
kräftig werden.
Aus vil und mancherley Ursachen werden aufgericht
testamenten und lezte willen unkräftig, 4 4 ('deren wollen
wür unseren unterthanen zur nachrichtung nur etliche
anzeigen.
Als erstlich mag ein jeder, der ein testament und lezten
willen aufgericht hätte, dasselbig über kurz oder lang,
wan er immer will, widerumb ändern, mindern, mehren,
zum theil oder gar abthun, auch seiner gelegenheit nach
ein anderes machen, daran ihn auch niemand von rechts
wegen hindern kan noch soll, ob er gleich solches umb
keinerley Ursachen willen zu widerrufen gelobt oder ge-
schworen hätte, so mag es doch in rechten nicht fürtragen
noch hindern, sondern es soll einen jeden sein eigener ge-
fälliger will seyn bis in sein lezten seufzer und sich leib
und seel voneinander scheiden, frey, unverbunden seyn
und bleiben.
Wan dan einer sein testament einmahl kundtlich wi-
derrufen hätte, das kan hernach kein kraft noch wür-
ckhung mehr haben, es wolt dan einer ein anderes
herentgegen wider aufrichten. So thut allweeg das lezt
oder jüngste das älter ab und zunichten machen.
4 4 7 Es ist auch ein testament und lezter will unkräftig,
wan einer solche aufrichten wurde, der hirzu von rechts
wegen untauglich wäre, welche persohnen hiroben er-
zehlt seynd.
Item wan einer zum erben eingesezt wäre, der von
rechts wegen, wie oben erzehlt, nit erb seyn kunte.
Nit weniger wan ein testament unförmblich und nach
ausweisung dises erb rechts immassen bey jeder formb
sein maas und Ordnung geben ist, aufgericht wurde, das
soll nichtig sein.
Zugleich auch wan die testierende persohn eines oder
mehr seiner kinder oder kindts kinder, als ebenmässig ein
kindt seinen vater, mutter oder andere eitern, ja auf den
fahl, das keine leibs erben vorhanden, in seinen testa-
ment übergangen oder aber ohne genugsamb erhebliche
Ursachen und unrechtmässig enterbet hätte.
Item wan den testierer nach aufgerichten testament
und lezten willen etliche kinder gebohren wurden, die er
in testament gebräuchlicher weis zu erben nit eingesezt
hätte, ist das testament auch unkräftig.
So einer in ledigem stand sein testament aufgericht
und darnach sich in die ehe begeben, soll das testament
4 4 Sgleichwohl bestehen, aber doch seinen ehegemahl, den
andern zu verlassen schuldig unprejudicirlich und nach-
theilig seyn.
Und dan, so die eingesezte erben nach absterben des
testirers nit erben seyn wolten oder seyn könten, so mag
das testament aus mangel der erben auch nit kraft haben,
es wäre dan darinnen sondern Vorsehung beschehen, wie
es in disen fahl gehalten werden solte.
Verzaichnus der gandt.
Weichermassen dieselbig durch die obrigkeit, ambt man,
gericht und dorf geschwornen und gantzen gemeinden
der grafschaft Vaduz erneuert und fürderhin zu halten
auf- und angenohmen worden.
Erstlich wo einer dem andern zu thun schuldig, es
wäre gleich wenig oder vil, und der jenige, so solche
schuld zu fordern hätte, dem waibel den lohn gibt, ist er,
der waibel, solchen Schuldner zu pfändten, auch sofern es
einer begehrt, ihne zu fragen schuldig, ob er, Schuldner,
derselbigen schuld bekandtlich seye oder nit, welches dan
der Schuldner ihme, waybel, 4 4 9auch anzuzeigen verbun-
den. Und wan einer also gepfändt worden, so soll es dan
14 täg anstehen. Und am 15ten tag mag gemelter waibel
alsdan den jenigen so erzehlten Schuldner pfändten, sol-
che pfandt verkaufen lassen und darnach am 3ten tag zu
dem pfändten verkündten, es seyen der schulden vil oder
wenig, umbligendes oder fahrendes. Und was unter 10
pfundten ist, soll bey den obgemelten tagen bleiben, so es
aber 10 pfundt, mehr oder darüber, solches noch 6 täg
länger stehen. Und wan die pfandt geschätzt seynd, so
sollen sie 8 tag, darnach mag der, so pfänden lassen, die-
selben wohl zu seinen handen nehmen und seinen from-
men damit zu schaffen gewalt haben.
Zum änderten, wan einer dem andern, wie gemelt, ein
schuld zu bezahlen, verfallen und schuldig, die nit umb
441) fol. 54r.
442) fol. 54v.
443) fol. 5f>r.
444) fol. 55v.
445) fol. 56r.
446) fol. 56v.
447) fol. 57r.
448) fol. 57v.
449) fol. 58r.
99
gelegen guth h e r r ü h r e n d e , so ist er ihme die beste
zvveyfache pfandt zu geben verbunden, erstlich im haus,
käs ten , hä fen , pfannen, ghift und geschirr, bett und bet-
tens, korn. saltz, schmaitz, kaäs , wein und dergleichen.
Mögen aber die pfänden in haus nit gelangen, so ist er
schuldig in stall zu gehen und zu geben khüe, kälber, r in-
der, roß 4 S ( , und wagen, sie seyen vorgemiethet oder nit, so
ist er die nichtsdestoweniger wie gedacht schuldig zu ge-
ben. Mögen dan die pfandt in stall auch nit gelangen, so
ist er schuldig auf den stadl zu gehen und zu geben heu,
ambtstroh und was auf dem stadl ist. Wan dan die fah-
rend pfand auch nit mehr gelangen mögen , so ist er schul-
dig, den besten ligenden boden zu geben. Und wan einer,
so da p f ä n d t e n lasst, umbligende g ü t h e r nach dem landts
brauch brief und sigl verlanget, und der waibel den
Schuldner darvon geboten, so soll es alsdan noch 4 Wo-
chen anstehen bleiben. Da aber der Schuldner solche
g ü t h e r in clenselbigen 4 wochen nit lösen w ü r d e , so mag
der glaubiger oder k läger v e r m ö g seiner erlangten brief
und siglen solch guth als sein verfallen pfand verkaufen,
verleichtern, versetzen und überal l darmit thuen und
handien, wie ihm füglich und lieb ist, so lang und vil , bis
er umb sein schuld mitsambt g e b ü h r e n d e r kosten oder
schaden ausgeheilt und bezahlt worden. So aber etwas
mehr oder weitheres, dan des k lägers schuld und ge-
b ü h r e n d e n schaden sich erlauft, daraus er lös t wurde, so
soll derselbe Überrest ihme, k lägern , nit, sondern dem je-
nigen, 4 5 , dessen die unterpfandt gewesen, als dem Schuld-
ner wider z u s t ä n d i g seyn und ü b e r a n d w o r t h e t werden.
Wo auch einer dem anderen ligende oder fahrende
pfandt ausschreyen oder auf der gandt verkaufen läßt und
diselbst zu seinen handen zeucht, so soll der Schuldner
seine vorgedachte güther, alldieweil der kläger solche
pfandt noch selbst inne hat und nit weither verhandlet
oder verkauft, widerumb zu lösen macht haben derge-
stalt, wo ihme der Schuldner sein a u s s t ä n d i g e haubt sum-
ma mitsambt g e b ü h r e n d e n züns , kosten und schaden er-
legte, soll er, kläger, ihme solche pfandt widerumb lassen.
Wan aber der k läger die nit mehr verkauft hätte, so soll er
nit schuldig sein, die widerumb lösen zu lassen, sondern
selbige pfandt sollen demjenigen, so die ab der gandt
kauft, bleiben.
Zudem wan ein Schuldner andere g ü t h e r fahrende
pfandt anderstwoher dan aus seinem haus für sein t h ü r
b r ä c h t e , ehe dan seine pfandt geschä tz t worden, so ist er
kläger dieselbige zu empfangen schuldig, wo sie auch an-
derstwo geschätz t , soll es bey dem selben bleiben, wo nit,
soll der waibel s c h ä t z e n nach landts brauch. Und wan
4 5 ; i einer geschä tz t fahrende pfandt bey den andern hätte
und dieselbige nit hinwegnehme in bestimmter zeit als
den benanten 4 wochen, so soll und mag ein waibel die-
selbige pfandt dem n ä c h s t e n Schuldner, der da kommt, in
die gandt geben.
Wo auch einer dem andern gefüther oder heu auf der
gandt gibt, so soll er ihm steg und weeg darzu geben, da
ers dannen ziehen oder führen könne. Oder wan er das
daselbsten ätzen wolte, so soll er ihme darzu tach und
gmach geben, daß er selbiges der nothdurft nach brau-
chen möge.
Desgleichen wan einer dem andern haus, Stadl und
gmach auf der gandt gibt, so soll er ihme auch steg und
weeg darzu geben, daß er die selbige gleichfalls nach
nothdurft brauchen möge.
Wan auch einer dem andern gelegen guth zu kaufen
gebe, so soll der kaufer dem verkeufer umb die halbe kauf
summa nach dem gemeinen landts brauch einen tröster
zu geben schuldig seyn. Und umb die andere halbe sum-
ma soll das guth sein pfandt und tröster seyn, so lang und
vil, bis er umb die gantze summa 4 r , : iausgericht und be-
zahlt ist.
Gleichfalls wan einer dem andern gelegen guth in die
gandt gebe, es wäre des guth wenig oder vil, so solle das
gantze stuckh guth sein pfandt seyn, bis er umb sein
schuld mitsambt gebührenden schaden und züns bezahlt
und ausgeheilt worden ist. Wan aber mehr Schuldner ver-
handen wären und nit mehr pfandt, so sollen dieselbige
auch auf das stuckh guth gewisen werden, sofern es die
pfändten erleiden mögen.
Item wan einer dem andern ein schuld oder anders
verbieten oder vertieften will, es sey gleich ein gottes
haus- oder herren wohnung, so soll er dem waibel einen
tröster geben, ob ers zu unrecht verbiete oder verlege.
Das ers zurecht wider kehren wolle. Und alsdan ist der
waibel schuldig umb seinen lohn denselbigen die schuld
oder anders zu verbieten oder zu verlegen.
Item lidlohn, gesprochen und baar geliehen gelt und
zörich soll fürohin nach gemeinen landtbrauch mit der
kurzen gandt ziehen und eingebracht werden.4"'4
Forma und verbahnung des malefiz gerichts umb
gefahr auf nachfolgend form und weis.
Die erste frag.
Ich frag euch des rechten bey dem eydt, ob ich bey rech-
ter oder bequember tag zeit zu gericht gesessen und ob
der täg an ihme selbst nit zu frühe oder zu spat noch zu
heilig oder zu schlecht, daß ich möge aufheben den stab
der gerechtigkeit und möge richten und urthln über leib,
ehr und guth, fleisch und bluth, gelt und gelds wehrt,
auch über alles, das auf heütigen tag für meinen staab ge-
bracht wird und das aus gnädigen geheiss und befehl und
nach freyheiten des hochwohlgebohrenen h[errn] Franz
Wilhelm zu Hohnembs, Gallara und Vaduz, herrn zu
Schellenberg p. als unseren allerseiths gnädigsten herrn
urtheilen darum, was euch recht dunckht.
100
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Die andere frag.
Ich frage euch des rechten bey dem eyd, ob das gegen-
wärthige gericht genugsamb mit richtern besezt seye, ob
ihr auch unter disen richtern möchtet erkennen oder wis-
sen haben, 4 r , r ,der nit ehrlich oder wer derhalben unbilli-
cher weis da sass, und das recht durch ihme verlezt wur-
de, den oder dieselben wollt ihr anzeigen bey besagtem
eydt.
Die 3te frag.
Ich frag euch rechtens, ob es auf heutigen tag sich zutrü-
ge, nachdem wür nider gesessen, daß man das hochwür-
dige heilU'r/e] sacrament fürüber trüg, ob ich macht hätte,
mit sambt euch richtern aufzustehen, demselben die ge-
bührende reverenz und ehr zu erzeigen und nach dem es
noch bey guter bequember tags zeit wäre, ob ich nicht
macht hätte, mit sambt euch allen wider nider zu sitzen,
zu richten und urtheilen, ob es den kaylserlichen] rechten
unnachtheilig.
Die 4te frag.
Ich frage euch des rechten, ob es sich zutrug, indem daß
wür zue gericht sassen, ein iermen, feind, feuer oder Was -
ser noth käme, oder wurde, ob ich macht hätte, mitsambt
euch aufzustehen,4r>,,solcher lermen und anders helfen,
retten und stillen und es noch bey guter tag zeit wäre, das
wür nidersässen, ob es den kaylserlichen] rechten nit ent-
gegen oder zuwider wäre.
Die 5te frag.
Ich frag euch des rechten und umb ein bericht, ob es sich
zutrug, indem daß ich zu gericht sitzen wurde, daß mich
gott der allmächtig mit einer unversehentlichen kranck-
heit angriffe, wie ich mich verhalten muß, damit es den
ka.y[serlichen] recht nicht nachtheilig wäre.
Die 6te frag.
Ich frag euch des rechten, ob sich zu trug, indem daß wür
zu gericht wurden sitzen, daß grosse wind, hagl oder un-
gewitter fürfiel, und ein stunde, dadurch dem gericht
buch schaden widerfahren möchte und dadurch mänig-
lich verhindert würde, ob ich nit macht hätte, mitsambt
euch richtern aufzustehen und unter ein obdach zu rich-
ten und sitzen, und ob ich macht hab 4 5 7das recht {gestri-
chen: hab] zu verbahnen wie hoch und theuer.
Nachdem nun die fragen geschehen, fragt der richter
aber einen urthlsprecher, der ihn darzu gefeit, dieweil
sich das recht so hoch und schwer anziehen will, ob ich
nit billich 2 biderman, die da unpartheyisch, auch ge-
schickt und tauglbx'A] zu seyn, zu mir nehmen, die bey
mir sitzen und bey mir hülflich und redlich seynd, damit
das recht desto ordentlicher und rechtlich an sein statt
gebracht werde.
Wan nun also die fragen nacheinander geschehen
seynd, so soll der waibel das gericht lauth der urthl öf-
fentlich verbahnen und ausrufen.
Wan die sachen zu recht gesezt, so befragt der richter
des klägers fürsprech umb ein urthl bey sein eydt und so
unsers gnädigen hlerrn] fürsprech dem richter umb an-
hörung angeredt. Und hernach die klag fürgebracht und
begehrt die urgichten zu erkennen und zu verlesen {ein-
gefügt; gestrichen: lassen]. Hirauf fragt der richter, ob es
nit billig sey, wan ers dan erkennt, und der landtschreiber
die urgichten verlesen. Voigt weither.
4 r , f iJezt schafft man den umbstandt abzutreten und zu
ruckhen die richter zusammen, dan haben sie rath der
urthl halber.
Nach ergangenen urthl ruckt man wider von einander
und sezt sich ein jeder wider an sein orth, wo er zu vor
gesessen ist.
Darauf fragt der richter den vorgesagten fürsprechen
auf sein eydt umb die urthl zu eröffnen und procedirt
man, wie in andern gerichtet!, und wan dan die urtl verle-
sen, so kommt und dringet sich der armen sünder für-
sprech ihr andwort und bitt fürzubringen, zum ersten,
andern und 3ten mahl, wird es dan mit jeder nach formb
des rechten fürzutragen wissen.
450) fol. 58v.
451) fol. 59r.
4521 fol. 59v.
453) fol. 60r.
454) fol. 6üv.
455) fol. 61 r.
456) fol. 61 v.
457) fol. 62r.
458) fol. 62v.
101
Klag auf die fürgestellte malefiz persohnen. Urthl.
Erstlich redt man den richter an umb anhörung, wie ge-
bräuchig. Als volgt die klag.
Des hochwohlgebohren herrn, herrn N.N. grafen zu
hochenembs p. meines gnädigen herrn 4 5 9des wohl edlge-
strengen herrn N.N. hochgedachter gnädiger herrsch[q/i!-
licher] rath und landtvogt beider graf- und herrschaften
Vaduz und Schellenberg laßt gerichtlich fürbringen, wie
daß N.N. vor eti[ichen] tagen in die gräfl[zc/ze] fron ve-
stung Vaduz in die gefangenschaft genohmen, darinen sie
etlich müssethaten sowohl gut als peinlich bekennt haben
mit bitt und begehren dieselben zu verlesen und an-
zuhören zu erkennen.
Hierauf fragt der richter, ob es nit billig seye, wan der
erkennte und der landtschreiber die urgericht verlesen.
Voigt weithers.
Wir anjezo mäniglich verstanden, daß dise arm fürge-
stellte menschen an gott verzweiflet sich mit leib und seel
an teufel ergeben, das einem Christen menschen nit ge-
bührt und andere mehr zauberischen und schädliche
stuckh begangen, auch schaden gethan haben deretwe-
gen bäte er zu erkennnen, daß sie das leben verwürckt
haben und sollen zehen hingericht werden nach käylser-
lichen] und des römischen reichs rechten vermög ihre
gräflf'cÄe] gnad wohl hergebrachter \öb\[icher] freyheiten
und Statuten, damit ihr scheulicher todt 4 f '°mäniglichen
ein abscheuen und vorbild seye.
Darauf redt der armen sünder fürsprecher und nach-
folgender red.
Voigt der kläger weither und erholt mit zwey worten
das vorige und bitt abermahlen mit urtl und recht, die be-
klagte an leben zu strafen. Dan replicirt der sünder für-
sprech. Der kläger aber für das 3te mahl sagt, er laßt es
bey dem vorigen bleiben und setzt es hirmit zu recht.
Formb wie man einen schuld brief einlegen soll.
Herr richter, wan ihr mich anhören von N.N. wegen. Er
befihlt mir, er habe da etlich brief und urkundten begehrt,
manns ihme vor eurem staab abhöre und verlese und setz
es derohalben zu recht, ob es nit billich besehene.
Jezt wird er um die urthl befragt.
Herr richter, so dunckt mich des recht, daß maus an-
höre und der h[err] landschreiber sie verlese, und wan
dan sie gehört und verlesen 4 6 1seyndt, so ding und behalt
einem jeden sein recht und 2 rath.
Wie man die brief wider heraus erkennen soll.
Herr richter, die brief seynd zwar verlesen, setz ichs wei-
ther zu recht, was recht darumb wäre.
Herr richter, so dunkt mich das recht, daß der waibel vor
gericht verhört werde, ob er den inhabern oder unter-
pfandten für gericht boten haben oder nit.
Herr richter, die weil der waibel das bot verricht hat,
so dunckt mich das recht, daß der gute freund warthen
soll, weil ihr h[err] richter und ein ehrsamb gericht sitze.
Khume jemands in der zeit und gebe andwort, sollen sie
angehört werden, womit soll er warthen 6 wochen und 3
täg, kumme jemands und erlege haubtguth sambt anstän-
digen zünsen und billigen kosten, soll er schuldig seyn zu
empfangen; wo nit, so erkenn ich ihm ein gandt brief, das
er möge ab disen einverleibten unterpfandten setzen nach
gandt und landts recht der grafschaft Vaduz bis 4 6 2 er auf-
gericht und bezahlt ist. Und wan der gandt brief geschri-
ben und gestellt ist, vermög ergangenen urthl, wie dan
der h[err] landtschreiber wohl stehlen kan, soll der h[err]
richter demselben schuldig seyn zu berichten, doch euch
und euren erben und dem ehrsamben gericht ohne scha-
den.
Herr richter, das dunckt mich recht.
Voigt hernach
Wie man die urthl aussprechen soll.
Herr richter, es haben sich eÜUcfie] rechts handl zugetra-
gen, so hat man auch verhört die klag und andwort, wie
auch verhörung der kundschaft und gethanen recht-satz,
setz ich zu recht was recht darumben werde.
Urthl.
H[err] richter, ich bin einer urthl befragt worden, dersel-
ben bin ich mit bedacht gewesen, ich hab auch rath be-
gehrt, es ist mir auch rath erfolgt worden. Es hat mir ein
jeder biderman gerathen, was sie billich und recht ge-
dunckt, so hat man sich etlicher urtheln bedacht 4 f , 3und
vereinbahret und verglichen, die seynd durch den h[erm]
landtschreiber ordentlich auf das papier verfaßt worden,
die soll der h[err] landtschreiber verlesen. Und wan dan
sie verlesen seynd, so soll es darbey verbleiben, es wäre
dan sache, daß sich einer oder der andere ab der urthl
beschwärte, daß derselbig wohl möge appelliren und zie-
hen nach formb der rechten für unseren hochwohlgeboh-
renen gnädigen herrn und nit weither, und die urthl von
richter mit silber und gold auslösen. Herr richter, das
dunckt mich recht.
102
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Wie man einen züns brief einlegen solle.
Herr richter, wan ihr mich anhören von wegen N. N.
Er befihlt mir, er habe brief und sigl, es seye ihrer ver-
mög derselben nit gezünst worden und begehrt, das man
diselben vor eurem staab anhören wolle. Setz es zu recht,
ob es nit billich beschehe. Es ist die urhtl, wie mit den
schuld briefen.4 f'4
Wie man den zünß brief heraus nehmen soll.
Herr richter, dieweil ich hör, das pot verricht hat der
waibl, so dunckt das recht, das er warthen soll, weil ihr
h[err] richter und ein ehrsamb gericht beysammen sitzen.
Kumme jemands und gebe zu rechten andwort, solle
sie angehört werden. Wo nit, soll er brief und sigl wider-
umb zu handen nehmen und warthen 6 wochen und 3
tag, [gestrichen: heune] neunte abgebe man ihme verlege-
ne züns und billige köstig, solle er schuldig seyn, diselbe
zu empfangen, wo aber nit, so erkenne ich ihme die vor
einverleibte unterpfandt, so in brief und siglen in ihren
bestimbten marckhen begriffen, heimb, daß er darmit
möge handien, schalten und walten, als mit anderen sei-
nen eigenen guth.
Die lezte urthl darauf.
Herr richter, wendt ihr mich weither hören.
4 f > 5Ich habe je und allweegen gehört, wan einer ein er-
gangene urthl habe, seye man ihme schuldig brief und
sigl, setze es zu recht, ob es nit billich geschehe.
Herr richter, mich dunckt recht, daß man ihme auf sei-
nen kosten brief und sigl von der ergangenen urthel gebe
und der landtschreiber schreibe, und der herr richter
ihme und seinen erben und einem ehrsamen gericht ohne
schaden besiglen, ihme zu handen stelle.
Der änderte titul.
Von kramern, beckhen, brod trägem, brandwein-
schenckhen und anderen, die ihre waaren unter
währenden gottes dienst feil haben werden.
Wür statuiren, ordnen, wollen auch, daß wan kramer,
beckhen, brodtrager, brandweinschenckhen und andere
wer die möchten seyn, mit ihren waaren des morgens un-
ter der mess oder predig feil haben und verkaufen '"'''wur-
den, da der oder diselbig durch unser ambtleuth des er-
sten mahls umb 10 fl, zum änderten mahl umb ein pfund,
und zum 3ten mahl mit gefängnus tag und nacht sollen
gestraft werden.
Vom verbot der sonn- und feuertägen.
Weil die sonn- und feuertägen von der christlich catholi-
schen kirchen zu heiligen und zu feuern aufgesezt, de-
menach so gebiethen wür hirmit ernstlich und wollen,
das die unterthanen an keinem sonn- noch anderen gebo-
tenen feüertag weder vor, noch nach mittag einige arbeith
thuen, sondern sich derselbigen bemüssigen sollen, aus-
genohmen Schmidt, wagner oder rädter macher, sattler,
seiler und dergleichen handwerckhs leuthe, die an der
landtstrassen gesessen seynd, die mögen denen durchrei-
senden persohnen, es seyen reithende, 4 6 7 sämer oder
fuhrleuth mit ihrer arbeith zu notdurften wohl fürständig
und verholfen seyn. Mit ihrem anfang.
Von gottes lästeren, fluchen und schwören.
Weil dan von gott, dem allmächtigen, unseren erschaf-
fern, heylandt und seeligmacheren in den zehen geboten,
die ein jeder mensch bey seiner seeligkeit zu halten schul-
dig, auch in der heilige«] christ catholischen kirche geor-
dert und in dem geschribenen geistlU'c/ie«] und welt-
\[ichen] rechten bey hochen pön und strafen gesezt verbo-
then ist, daß der göttlichen] hochgebenedeyten mutter
gottes Maria und alle lieben auserwählten heiligen] got-
tes nahmen durch kein menschen vergeblich, unnutzlich
üppich geführt, sondern alle gottes, Maria und der heili-
gen lästerung verhütet und vermeidt werden solle.
Wür aber leyder durch täg\[iche] erfahrung befinden,
daß solch gebot von vilen menschen, 4 6 s jung und alten,
manns- und frauen persohnen gott erbarms, vilfältig und
leichtfertig überschritten, dadurch dan der allmächtige
gott schwärlich beleidiget und auch wür armen menschen
hierin zeitlich und dort ewiglich seiner göttlU'c/zen] gna-
den beraubt und unwürdig worden, darzu auch ausser
solchen unchristlichen leben vil und mancherley theue-
rungen, hunger, krieg und miswachs, kranckheit, pesti-
lenz und andere kranckheiten und strafen oft entstanden
459) fol. 63r.
460) fol. 63v.
461) fol. 64r.
462) fol. 64v.
463) fol. 65r.
464) fol. 65v.
465) fol. 66r.
466) fol. 66v.
467) fol. 67r.
46S) fol. 67v.
103
seynd, dessen die he\\[ige] schritt; allenthalben voll ist und
würs noch stündlich und tägl[/c/j] scheinbahrlich vor äu-
gen haben und mit schaden erfahren.
Damit nun aber besserung folgen und dardurch göttli-
che allmächtigkeit widerumb versöhnet werden möchten,
so haben wür unseren lieben gethreuen unterthanen zur
seeligkeit nutz und guthen, auch dem gemeinen vater-
landt zum aufnehmen und aller Wohlfahrt dise nachfol-
gende Ordnung fürgenohmen.
4 W A l s erstlich sollen alle unsere gesessenen ordens
leuth. pfarrherren, caplän, frühe messer und gemeinig-
lich alle priester, wer die seyn, so den gottes dienst verse-
hen, und die pfrunten darumben nutzen, in ihren predi-
gen das volckh fleissig mahnen und ermahnen und ab-
wehren, daß sie die gräuliche gottes lästerung und bey
dem nahmen gottes, seiner heiligen mutter, wunden,
kraft, macht, creutz leiden, ohnmacht, leichnamb, bluth,
glidern und waffen des he\\[igen] leibs unsers herr jesu
Christ, den hochheiligen sacramenten, auch der Jungfrau-
en Maria oder den heiligen zu schwören, zu fluchen oder
verächtlich davon zu reden sich gäntzlich enthalten und
bemüssigen, auch sie priester selbst ihnen den pfaar kin-
dern hierinen ein feines ehrbahres exempl erweisen, ein
gutes rühmlich leben, handl und wandl vorführen, des-
gleichen die ambts und gerichts leuth und sonderlich alle
haus väter und müther, was Stands sie seyen, nit allein für
sich selbsten das sündtlich 4 7 0ergerlich leben, fluchen und
schwören verlassen, sondern auch bey ihren kindern,
dienst leuthen und mägdten ebenmässig zu besten verfü-
gen und zum guten ursach geben sollen.
Wo dan dise unsere und einer ehrwürdigen priester-
schaft vorgangene gutherzige erinnerung nit haben folg
und jemand, wer oder welche die seyen, gleich in- oder
ausländische mann oder weibs persohnen niemandts, die
zu ihren völligen verstandt und jähren ausgenohmen aus
eigener leichtfertigkeit oder ärger angenohmen beschaidt
darwider handien oder thuen, es sey an was immer
möchte seyn, so trunckhen oder nüchtern und also fre-
ventlich gott den allmächtigen, Marian die himmels köni-
gin und die auserwählte heiligen gottes in einem oder
dem anderen weeg als verstehet, schändten, schwächen,
verachten oder ihnen zu legen wurde, daß sich nit ge-
bührte, der oder diselben an leib und guet gestalt der Ver -
handlung gelegenheit und persohn erkandtnus des lebens
solten ge4 7 1straft werden, es wäre dan, daß etwan einen
aus zorn und keinen bösen ärgerlichen fueg und schwur,
daß doch nit seyn solte, entwischte und hernach dessen
widerumb augenscheinlich reue und leid hätte, mit deren
mag man und etwas dispensiren und gedult haben, doch
daß er ihnen fürnehme und verspreche, solches nimmer
zu thuen.
Die jungen aber, welche tag und nacht in würthshaus
ligen, üppig und leichtfertig leben, fluchen und schwören
ring achten, sich übermässig anfüllen und den leuthen
bösen bescheidt, auch auslauf, zankh und haader ursach
geben, die sollen gefänglich angenohmen, ihr gebühr
nach gestraft und bis sie wohl ernüchtert, mit wasser und
brod in thurm erhalten werden.
Wür wollen und gebiethen, auf daß jedweder unserer
unterthanen, er sey gleich wie er wolle, in oder ausser ge-
richt ein solchen leichtfertigen gast unser ober ambtleu-
then zu straf anzeigen, dan beschehe solches von einem
nit, hernach die Übertretung kundtbahr wurde, soll der
verschweiger 4 7 2des gotts lästern und unnutzen vogl gleich-
förmblich gestraft werden.
Wan aber die jugend umb und unter 12 jähren vileicht
aus mangel sie anders und böses von ihren eitern [gestri-
chen: hören] lehren oder hören, auch also leichtfertig und
freventlich den göttlich Maria und alle auserwählten heili-
gen nahmen entunehrten, verachten, verschmähen oder
in anderweeg der göttlichen, marylichen und dem himm-
lischen herren zuwider üppich schwören oder reden sol-
ten, wie dasselbig immer beschehen möchte, so sollen
desselbigen kindts vater, mutter, vogt oder nächsten ver-
wandten, wie es befohlen würdet, vor unseren ambt leu-
then oder ganz gesessenen gericht mit einer ruthen in
grosse einer henckers ruthen dermassen, einem anderen
zum exempl, darumben zichtigen und hauen, bis man ein
gutes begnügen hat.
Von zaubereyen, aberglauben und wahrsagen.
Dieweil zauberey, teufls beschwären, wahrsagen, spre-
chen und dergleichen ein greuel vor gott, 4 7 : ,als weiche
ding zu abgötterey nit wenig befürdrung thut auch in hei-
liger schrift, geist- und weltlichen rechten hoch und
starckh verboten.
Demnach ist unser ernstlicher befehl, daß alle ambt
und gerichts leuth unserer graf- und herrschaften auf sol-
che und dergleichen abergläubische leuth guth achtung
daraufgeben oder haben. Und da sie deren erfahren, die-
selben der obrigkeit nahmhaft machen sollen, dan wür
gedenkhen solche zauberey, teufels schwören, sprechen
und abgöttern keines weegs zu gedulten, sondern diesel-
bigen unsers landts aussondern und sie von solchen gotts
lästern nicht abstehen wurden, stracks ihnen zu verwei-
sen oder in fahl sie am leib und guth zu strafen.
Wür gebiethen auch, daß unsere unterthanen, welche
bishero aus aberglauben oder fürwitz zu solchen zau-
bern, wahrsagen, sprechen und seegnen in- oder ausser-
halb unsers gerichts gebieths gelaufen, sich dessen hin-
führe gäntzlich 4 7 4enthalten, in fahl aber darüber unge-
horsamb erfunden, es seyen manns- oder weibs persoh-
nen, dieselben nach gelegenheit ihres Übertretens mit
dem thurm oder sonst in andere weeg gestraft werden
solten.
104
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Von gastgeben, würthen und tafernen.
Die würth sollen auch jederzeit in Sonderheit die jenige,
welche an der gegenstrassen sitzen, mit frischen speisen
und tranckh versehen seyn, und bey unserer straf in
ihren küchen allzeit versehen seyn, daß sauber und wohl
gekocht und einem jeden gast nach seinem standt und be-
gehren, so gut mans hat und bekommen kan, auftragen,
und darzu keine alte verlegene unreine wein ausschen-
khen, und schmeckende speisen, noch unlauthere zäche
und kürnige wein gebracht werden.
Aus allerhand begebenden Ursachen befehlen wür
auch hirmit ernstlich und wollen, das hierführo die gast-
gebern ausserhalb beyder des morgens- und nachtmahls
in den hochzeitlichen schmückungen 4 7 5der einländischen
persohnen, besonders derjenigen, die in denen selbigen
orthen oder fleckhen und dörfern gesessen, dan mit de-
nen frembden und reisenden hat es eine andere gelegen-
heit, kein gekochte speis, sondern nur brod, kääs, obst
und dergleichen in denen zechen fürsetzen und auftragen
bey 1 pfund pfennig straf.
Dieweil wür dan vil liederliche leuth befunden, die zu
der selbes eigenen und ihren weibs und kindern endli-
chen verderben und Untergang, desgleichen ihrer glaubi-
gen zu grossem nachtheil mit dem läg\[ichen] prassen,
fressen, saufen sich bey denen in schulden steckhen, so
bieten wür hiermit ernstlich, daß hinlühro kein würth ei-
nen unterthanen, mann oder weibs persohnen, so [gestri-
chen: hat] haus und hof hat, wie reich dieselbigen gleich
seyen, des gantzen jahrs nit über 5 pfund borgen sollen,
besser wäre es, wan keiner ins vvürthshaus gienge er hät-
te dan zu vor sein zöch bey sich zu bezahlen, wan aber
ein würth ungefährlicher weis hierwider handlete. der
soll allweegen zu sambt dem unterthanen 4 7 ( ,mit gefängli-
cher verhaftgelt oder in allweeg nach gestalt der Sachen
gestraft werden. Und weil sich dan [gestrichen: doch]
nach dem gemeinen Sprichwort nit gebührt, die zöch
ohne den würth zu machen, als hingegen gebührt sich vil
weniger, daß ein würth solche ohne beyseyn und zuse-
hung des gasts seines gefahlens machen und aufschrei-
ben, derohalben so gebiethen wür ernstlich wollend,
Daß wan ein zöch gethan, der gast ehender aus der
herberg nit gehe, er habe dan zuvor mit dem würth or-
dentlich abgeraith. Er hätte dan nit gelegenheit, soll es
doch nit über den anderen morgen eingestellt werden.
Desgleichen soll sich auch der würth befleissen, den gast
nit von dan zu lassen, es seye die raithung beschehen.
Und hat der gast das gelt paar zu bezahlen, wo aber nit,
so solle der würth den tag, wie, wann und wievil der gast
von einer zeit zu der anderen verzehrt, fein verständlich
und unverschidlich in ein sonderbahres schuldbuch auf-
zuzeichnen und mit gülden oder häufen zusamben schrei-
ben, 4 7 7beyder bey straf des thurms.
Wür wollen auch hiermit geboten und verboten haben,
daß unsere gastgeber und inländische persohnen des
sommers nach 8 und winthers zeiten umb und nach 9 uhr
weder speis noch trankh mehr aufsetzen, sondern die
gäst fein gütlich heimb weisen, bey Strafeines pfundts, so
oft darwider gehandlet. Es wurde dan einer von etlichen
leuthen zu gast gebeten, so hat es darmit ein andere gele-
genheit.
Ferner gebiethen wür auch allen gastgeben bey ihren
pflichten und eyden, damit sie uns bewandt, daß sie nach
hinführo, wie bishero gebräuchlich gewesen, keine wein,
weder wenig noch vil, in ihren kellern zu ziehen oder zu
legen sie haben dan zuvor an umbgeltet durch die jedes
mahl darzu deputirten und verordneten aufschneider, vi-
sirer und umbgelter an die gewöhnliche körb höltzer auf-
schneiden lassen, welcher aber anders thätte, der soll als-
dan ein betrieger seiner obrigkeit mit allen Ungnaden dar-
urab gestraft werden mit ihrem anhang. 4 7 S
Von vollerey zu trincken.
Obgleich wohl der wein ein edles tranckh, gottes gaab
und an ihme selbs guth, so sieht erfahrt man aber doch,
wer den selbigen zu vil zusieht nimbt und misbraucht,
daß daraus ein unzimbliche trunckenheit und hernacher
widerumb aus derselbigen allerhand leichtfertigkeit, got-
tes lästerung, unfrid, todtschläg, hurerey, krankheit des
leibs und der seelen folgt demnachen auch, daß gott der
allmächtige Öftermahls theuerung und andere strafen
gehängt. Derne mit hülfe des allmächtigen zu begegnen,
lassen wür uns gefahlen und wollen, daß die Vorsteher
der kirchen und ihre prediger auf der cantzl allen laster
der trunkenheit, daß nemblich nach außweisung der
heüligen] schrift die voll 4 7 l ,saufer keinen theil am reich
gottes werden haben.
469) fol. 68r.
470) fol. 68v.
471) fol. 69r.
472) fol. 69v.
473) fol. 70r.
474) fol. 70v.
47.5) fol. 7 Ii:
476) fol. 71v.
477) fol. 72r.
478) fol. 72v.
479) fol. 73r.
105
Item, das die trunckenheit oft die heimblichkeiten, die
sonsten wohl möchten verschwigen bleiben, offenbahrt,
auch ein Ursprung allens Übels und also in gemeiner dar-
von zu reden den menschen nit allein an seiner seel und
seeligkeit, sondern auch an ehr, gunst, Weisheit und ver-
stand, Vernunft länger leben, mannheit zur schimpf,
ernst, schädlich und nachtheilig seye dem gemeinen
mann und einen jedweden nit allein ernst fürtragen und
zu erkennen geben solle, dan der vil befunden werden,
die tag und nacht in würthshaus ligen, schlemmen und
themen, von dannen nit weichen, alldieweil ihnen der
würth auftragt und borget, lassen auch ihre weib und kin-
der grosse armuth, hunger, kummer leider alle, die sol-
ches thun, seynd nit haus vater zu nennen, sondern üp-
pich, leichtfertige weinschleich 4 s o und volle zapfen, die
man weder zu gericht, recht, noch anderen ehrlichen
ämbtern beförderen, auch billig kein biderman einem sol-
chen verruckten tropfen sein eheliche tochter zu einem
weib verheurathen, sondern mäniglich sich diser gesel-
len, so vil möglich bemüssigen sollen.
Damit und aber solch übermässig fressen und saufen
abgestellt werde, demnach befehlen wür hirmit alles
ernsts, daß die tafernen und gastgeben keiner unser un-
terthanen des tags mehr nit als ein eintzige beschaidentli-
che zöch geben und borgen oder abnehmen und sonder-
lich die übel hausenden knaben oder wie mans nennen
möchte, der oben unter der rubric von gastgeben auch ge-
dacht nit von einer zöch zu der anderen sitzen lassn, vil
weniger soll einem, der voll und bezecht aus einem
würthshaus in das andere gienge, einige speis und
thranckh weder umb, noch ohne gelt gegeben werden,
bey straf 5 pfund pfening, bey dem gast und würth jeder
gleich unnachlässlich zu be 4 8 1zahlen, es wäre dan, so ei-
ner von ehrlichen leuthen in die herberg geladen oder von
seinen sonst verwandten oder bekandten alda gesucht.
Und als zu ferneren trunckh zu ehren dienste geursacht
wurden, solle der ga.stgeb in solchen und dergleichen fäl-
len sich aller discretion und beschaidenheit wissen zu
verhalten und sich fürsehen, das hinunter kein betrügli-
che gefahr gebraucht werde.
Wan einer auch den anderen zum trinckhen nöthigen,
oder sonst den trunckh wider eines guten willen mässen
und haben wolte, den jenigen, dem ers gebracht, solte
ihme gleich bescheid thun, das sollen die würth mit guten
worten abstellen, wan aber ein verdrunckhner wein zapf
damit nit zufriden oder gesättiget seyn wolte, soll der dar-
umb nach gestalt der sachen 1 lbd oder mit dem thurm
gestraft werden.
Es soll auch ein jeder gastgeb seine [gestrichen: zöch]
gäst und zöchleuth von dem laster der trunckenheit fleis-
sig abmahnen und wahrnen, dise unsere Ordnung erin-
dern und zu obberührten ungebührlichen zutrunckh kein
wein geben oder geben lassen, 482es sey zu was zeiten es
wolle, dann solte hierüber einige ungebühr oder rumor
fürgehen oder sonst sommers zeiten nach 9 uhren und in
winther nach 8 uhr in würthshäusern gehörter gestalt ge-
prasset und gezechet werden, so wollen wür den würth
mit sambt denen gästen an geld oder mit gefängnus stra-
fen lassen, und wan dan sich auch einer dermaßen ange-
füllt und übertruncken hätte, daß er nit aufrecht gehen
kunte, item so einem S: H. der nestel zu hals gebrochen
und geunwillet oder sich in allweeg ungebührlich gehal-
ten, darob sich die leuth ärgern möchten, der soll mit ei-
ner zimblichen geld straf belegt und so er dergleichen wi-
derumb thät, die büß jedes mahl geschärpft werden.
Auf das aber die bußfertigen diser straf nit entfliehen,
so setzen und wollen wür, daß alle diejenige, welche sol-
che übermässig trunckhenheit sehen oder darbey seyn
wurden und zu vor keine anmahnung helfen wollen, bey
ihren pflichten und eyden unseren ambt leuthen solche
weinschleichen und voll tropfen alsobalt nach beschehe-
ner ver 4 8 : iwahrung anzeigen, auf daß sie der gebühr nach
abgestraft werden, welches aber hierzu still Schwaigen,
solche zu trinckhen fürgehen lassen und mit abmahnen
nit wehren oder darvon seyn, die wurden gleichergestalt
wie oben die übertretene Verbots ihrer straf darumben
gewärthig seyn müssen.
Wo auch unzimblicher trunckhenheit eine übelthat be-
gienge, der soll dessen als ein vollsaufer desto weniger
gnad und entschuldigung haben, sondern noch umb so vil
höcher gestraft werden.
Und so einer des Vermögens nit wäre, die ihme aufer-
legte geld straf ohne nachtheil seines weibs und kinder zu
erlegen, soll er diselbigen auf jeden tag und nacht 5 ß ab-
bussen.
Von faulenzen und müssiggänger.
Wan dan der müssiggang ein thier und mutter böser la-
ster, daraus endlich nichts guts entstehet, 4 S 4demnach ist
unser ernstlicher befehl, will und meinung, daß die müs-
siggänger und faulentzer die sache in unseren gebiethen
ohne arbeith enthalten, es seyen inlandische, unbekand-
te, verheurath oder ledige persohnen, alle derhalben nie-
mand der nit seinen genugsamb versprechen hat ausge-
nohmen, für unsere ambt leuth sollen gefordert werden
und gerechtfertiget. Befinden sich dan solche müssigge-
hende faule tropfen, die von ihren eigenen gut, hand-
werkhen, herren diensten, handtirungen oder anderen
arbeithen nit zu leben haben und doch nichts desto weni-
ger bey gesunden vermöglichen leib der faulen handt und
müssiggang umbziehen, soll man ihnen nach gelegenheit
einer jeden persohn auferlegen, in ein, 2 oder 3 mona-
then sich zur handarbeith, ehrlichen handtierungen oder
herren diensten darbey und darvon sie ihre tä,g\[iche] auf-
enthaltung haben mögen und zu begeben, oder aber, wo
solches nit beschehen, nach verfliessimg der bestimbten
106
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
vermein oder zeit, da sie nachmahl ohne arbeith, gewerb
oder dienst seyn wurden, alsbalden von land und 4 8 5aus-
geschafft werden.
Damit nach ihrs künftige des müssiggangs desto weni-
ger gewohne, so gebieten wür hirmit alles ernsts, daß die
eitern ihre kinder, sobald dieselben [gestrichen: 7d] das
7te jähr erreicht, nit müssig gehen, noch auf der gassen
umblaufen lassen, sondern zur schulen zu biethen, zur
arbeith und anderen guten werckhen ziehen.
Wan aber die eitern oder in deren vogten nächsten
freund und bluths verwandten hierin an denen bemelten
kindern saumig oder hinterlässig seyn wurden oder ihren
selbst eigenen kindern diser unserer Ordnung zu wider
den müssiggang an denen werck tägen übersehen und ge-
statten wurden, sollen die durch ihre fürgesezte obrigkeit
jedes mahl erfordert, ihnen ihr ungehorsamb hierumben
untersagt, und wo zum anderen, dritten oder mehr be-
schehen, allweegen von denen eitern, vogten oder näch-
sten verwandten, deren die kinder zuvor sprechen sten-
de, ein gebührende geltstraf genohmen und so oft es wi-
derholet, diselbige gesteigert oder erhöchert werden.
4 8 6 Wo auch unnutzes gesünd befunden, es wäre mann-
oder fraun persohnen, jung oder alt, landt fahrende oder
heimbische, spilleuth, gaugier, Springer, singer, Sprecher,
hofirer oder andere dergleichen verdächtige pursch, wel-
che sich in die würthshäuser legen, schlemmen, demmen,
und dardurch anderen zue täglb'c/zem] prassen, verderb-
lich verschwendten auch anreitzung und ursach geben,
wurden diselben nit langer als ein tag und nacht beher-
bergen und folgends unverhinderiich hinweggeschickt
oder darumben mit gefängnus oder straf gegen deren auf-
haltenden und müssiggehenden lumpen leuthen verfah-
ren werden.
Von der austheilung
banckhen, rüstern und denen so sich fürsetzlich über ihr
vermögen zu schulden steckhen, nachmahlens von ihren
gütheren abtreten und vertriben werden.
Es gibt leider die tägliche] erfahrung zu erkennen,
daß vil heillose liederliche leuth dermassen ver 4 8 7thunlich
übel und hinlässlich hausen, daß sie leztlich gezwungen
werden, von haus und hof zu lassen. Doch das noch mehr
ist, mit ihrem haab und güthern bey würthen nichts zu
langen oder bezahlen mögen. Dadurch dan ihr glaubige
nit allein schädlich betrogen und zu schänden geführt,
sondern auch der priorität und Vorgangs halber, welche
unter ihnen die alten und bösen gerechtigkeiten zur be-
zahlung habe erst mit ferneren Unkosten vil und mererley
disputationen und einreden zu gebrauchen geursachet,
darumben nothwendtige erkandtnus beschehen muß,
durch [eingefügt] welches wür und unsere beambten nit
weniger molestirt und bemühet werden.
Damit und aber solch schändlich ansetzen und betrie-
gen hinführo gegen jedermäniglich eingesteht werde, so
wollen wür hiermit allen und jeden unseren unterthanen
gewöhrt, auch ihnen ernstlich und bey denen in kay[se/7z-
chen] rechten vorgesehener strafen auferlegt haben, daß
sich ein jeder alles urthunlichen haushalten und "^unor-
dentlicher verschwendtung, desgleichen auch unnutzli-
chen gelt aufnehmens, schulden machens und gemeinig-
lich alles dessen, so in dem seinigen und anderer ins
künftig zum nachtheil und schaden reichen möchten,
gäntzlich enthalten und also ein jeder, was ihm nutzlich
und fürständig, mit. fleiß und ernst bedenckhen solle.
Wan dan disen zugegen gehandlet und also durch sein
wissentlich bös arglist und muthwillig verschwendten und
übel haushalten die leuth ansetzen und so weit kommen
wurde, daß er nit zu bezahlen hätte, so all anderen zu ei-
nem exempl, alsbald der von obrigkeits wegen über sein
haab und gut die hände geschlagen und er die glaubiger
nach eines jeden recht und gerechtigkeiten, so weit es
langen mag, ausgetheilt und er als ein leichtfertiger ver-
schwendter stracks aus unserem gebieht verwisen und so
lang nit mehr eingelassen werden, bis auf unser begnädi-
gung, und er alle seine glaubiger, die uns zu klag kom-
men, 4 S 9bey heller und pfennig bezahlt und uns dessen ge-
nugsamben schein angezeigt hat.
Wan auch solche Schuldner, die also ausgeschafft wor-
den, oder für sich selbsten gereichen und von uns, daß nit
leichtlich beschehen wurde, widerumb eingelassen und
begnadet werden, schon hernach über kurz oder lange
zeit widerumb zu hausheblich Wohnungen und vermögen
kommen wurden, sollen sie die in ewigkeit nimmermehr
zu ehrlichen dignitäten und ämbtern genohmen, sondern
von mäniglich threu, ehr und wehrlos gehalten werden.
So aber jemand aus unversehentlichen zustand, un-
glückh oder Widerwärtigkeit das beschehen möchte, ohne
sein verschulden in solche armuth käme, daß er seinen
gläubigem nit zu bezahlen hätte, so soll er doch alle seine
güther lediglich cediren und abtreten, auch ferner schul-
480) fol. 73v.
481) fol. 74r.
482) fol. 74v.
483) fol. 75r.
484) fol. 7.r>v.
485) fol. 76r.
486) fol. 76v.
487) fol. 77r.
488) fol. 77v.
489) fol. 78r.
107
dig seyn auf begehren der gläubigem mit dem eyd zu be-
stätigen, das hierunter kein gefahr oder betrug gebraucht,
nichts verändert noch auch sonsten weithers nichts in sei-
nen gewalt habe, zu welchem 4 9 0beneficio cessionis bo-
norum unsere beambten in und ein jeden, der also ohne
sein verursacht schulden gerathen, solle kommen lassen.
Doch mit disem ausdrücklichen anfang, daß ein jeder,
der wie jezt gehört, seiner güther cedirt und abgetreten,
an eydts statt geloben und versprechen soll, wo er mit der
zeit widerumb zu einem vermögen kommen wurde, daß
er seinen gläubigem das jenige, so ihnen vormahls ab-
gangen, redlicher weis widerumb entrichten wolt, wo er
änderst über seine zimbliche nahrung von neu erworbe-
nen oder ererbten haab und gütheren, so vil vermacht
und entrathen alles nach sag der rechten.
Von unnutzen haushalter, prodigis und
verschwändter ihrer güther.
Nachdem durch das täglU'c/ze] fressen, saufen, spilen und
andere leichtfertigkeit ihrer vil sich selbsten, auch ihrer
weib und kinder in das äusserste verderben und an bettl-
staab richten, solchen schändtlich laster und übel abzu-
begegnen und der 4 9 1 armen unschuldigen weib und kin-
der hierunter zu verschonen und von nachtheil so vil
mögliich] zu verhüten, so ist hiemit unser ernstlicher wil
und meynung, daß alle unsere ambtleuth, des gleichen
waiblen, geschworne, auf solche und dergleichen ver-
thräuliche haußhalter, verschwendter und prodigi ihr son-
derbahr und fleißig aufmerkhen haben, und da sie einen
erfahren, der anfange, seines und seines weibs güther
also leichfertiger weis zu verschwendten, denselben als-
balden für das ambt bringen, also soll ihme von unseren
beambten sein höchst sträfliches und ungebührliches ver-
halten mit ernst untersagt und darbey bethreuet werden,
wo er von solchen seinen unzimblichen fürnehmen und
verthunischen Weesen nit abstehen, sich bessern, ihme
selbst, auch seinem weib und kindern forthin wie es sich
gebührt nutzlich und ehrbahrlich haushalten, sich be-
schaidentlich, weesentlich erzeigen, sein und seines
weibs güther, wie einem gethreuen haushalter gebührt
und wohl anstehet, auch vor gott und der 4 9 2welt schuldig
ist, aufrecht, redlich verwalten, sondern des ortbs in
künftig ferner mangel erscheinen wurde, daß er alsdan
gewislich seiner haushaltung gantz und gar entsezte,
mandat gemacht und ihr über sein und seiner hausfrauen
haab und güther vogt und pfleger verordenet werden und
darzu von uns gestraft werden.
Wo dan auf solches erstes betrachten sich einer nit
bessern, sondern in seinem üppichen und sträflichen ver-
schwendten fortfahren wird, soll er widerumb zur stund
und als zum anderen mehr bescheiden, ihme seine frevel
zur übermüthigen verhaltung zum allerhöchsten angezo-
hen und darauf 14 tag lang ins gefängnus geworfen wer-
den, mit wasser und brod oder sonsten geringen speisen,
nach beschaffenheit der persohn, enthalten und von da-
nen nit gelassen werden, er habe dan zuvor angelobt und
geschworen, fürohin sein leichtfertigkeit, ärgerlich und
verthuenisch leben in besserung und wohlhaus zu verän-
dern und ohne vorwissen, gutachten und bewilligung in-
spection 4 9 3 z u sehen oder pflegern, die ihme von obrig-
keits wegen gesezt werden sollen, von seines und seines
weibs ligenden und fahrenden güthern nichts mehr, we-
der wenig noch vil, zu verwendten noch verkehren.
Es sollen auch diejenige, welche von der obrigkeit also
zu inspectoren, administratoren geordnet seynd, ihn ge-
threu fleissig aufsehen und achtung auf des verschwend-
ters haushaltung tragen, gleich bey sonderbahr geliebt,
die sie darumben thun, sollen auch zu ihren selbst eige-
nen geschäften und wan bey ihnen ein unfleiß gespührt,
und sie vileicht das ihrig dadurch daheimb versaumben
möchten, sollen unsere beambte ihnen für ihre mühe und
arbeith von des verschwendters haab und guth /: ihrem
verdienst, gelegenheit und vermögen nach :/ eine zimbli-
che belohnung schöpfen und geben lassen.
Wan aber der verschwendter obgehörte massen, die
ihme von obrigkeits wegen geordnete inspectores, admi-
nistratores oder mit ihrem rath, wissen und willen in sei-
nen angefangenen 4 9 4verthuenischen und nichtigen Wee-
sen nachmahls eigenes kopfs fortfahren wurde, so sollen
nit allein die gedachten verordnete, sondern auch ambt-
man, vögt und gerichts leuth, auch alle andere geschwo-
rene befehl haben, bey ihren pflichten und eyden schuldig
seyn, solches unser oberambts leuthen alsbalden anzu-
bringen, darauf diselben unverlängt wider nach dem un-
gehorsamben verschwendter greifen, inne für gericht,
darunter er gesessen, fürstellen und von obrigkeits wegen
durch den waibel oder anderen geschworenen man zu
ihme klagen und begehren lassen, denselben nichtigen
oder ungehorsamben verthunischen, leichtfertigen mann
seiner Prodigalität halber von administration und Verwal-
tung aller seiner und seiner hausfrauen haab und güther
mit gericht und recht öffentlich zu entsetzen und ein man-
dat zu sprechen, auch ihme, sein weib und kinder und al-
len, der haab und güthern curatores, vögt und Vormünder
zu setzen.
Auf welche klagen und begehren, wan der beklagte
4 9 5seiner Prodigalität und sträflichen verschwendtens hal-
ber vorangeregter massen überwisen, sollen die richter
und urthl Sprecher eines jeden gerichts schuldig seyn,
ihme alsbald der obberührten administration zu entsezen
und munadt zu richten oder zu erklären, auch auf ihme
sein weib, kinder entweder die zwey vorgegebene oder
sonst nach gut ansehen richter und gerichts zwey und an-
dere männer zu curatores und vögten verordnen, die sol-
len sich darinen erzeigen und verhalten, wie ehrlichen
Vormündern gezimbt und wohlanständig, dessen hinoben
108
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
auch gedacht und hernacher unter dem titul der Vor-
mundschaft Ordnung weither meidung geschehen würdet.
Es sollen auch hievor dise urthl und öffentliche gethaue
erkandtnus an nothwendigen orthen publicirt und ausge-
rufen werden, auf daß mäniglich dessen Wissens und ein
jeder sich mit disen munadten vernichtigen mann zu con-
trahiren und zu handien hätten möchte.
4 % Dann alles, was über dises mit dem selben munad-
ten /-. ohne seinen gesezten curatore expresslich vorwis-
sen und bewilligung :/ contrahirt oder in ander weeg, wie
das immer beschehen möchte, ihme sein weib, kindern,
haab und güthern zum nachtheil gehandlet, das wurde
für ein nullität und nichtigkeit geachtet und auch weder
kraft noch macht haben solle, vil weniger vor unseren ge-
richten etwas daraufgehalten und erkennet werden.
Und dan weil die armen unschuldigen weib und kinder
bisweilen mit schmerzen und bedauern zusehen müssen,
wie üppich und schändlich ihr mann und vater das seinig
und ihres verschwendtet und darüber sie aber alle hunger
und kummer mit heissen zähern und thränen gegen him-
mel schreyen möchten, demnach so wollen wür densel-
ben zu gnaden und guten auch ferner dis gesezt und ge-
ordnet haben, daß wo der mundate man von der ersten
hiroben angezeigten wohnung und übel hausen anzurich-
ten 4 9 7 von seines weibs zugebrachten oder ererbten ligen-
den und fahrenden haab und güthern vil oder wenig un-
nutzlich veränderte oder hingegen hätte, daß zu jederzeit
des weibs ihre kinder oder selben curatores dieselbigen
an einigen entgeltung oder abgang frey widerumb zu for-
dern und zu vindiciren macht und gewalt haben, darumb
auch unsere ambtleuth, richter und gericht schuldig seyn
sollen, ihnen so sie darumben angelangt werden, nach al-
ler billigkeit in- und ausserhalb rechtens darzu verhelfen,
damit der, so diser haab und güther also wider recht und
ungebührlich an sich gebracht, anderen ein verwahrnung
und exempl bey sich umbzusehen, was und mit wem ein
jeder handien solle.
Beyneben ordnen wür auch, daß der mann gehörter
massen mandat gemacht, ihme auch sein weib und kin-
dern die nothwendig gebührliche Unterhaltung aus ihren
haab und gut, nachdem 4 9 Sdasselbig beschaffen, auch vil
und wenig verhanden ist, durch die curatores, gericht
und alle jähr darzwischen, so oft man begehrt, darumben
Reissig raithung geben werden.
Wan auch in gemeinen kaylserlichen] rechten die wei-
ber ihrer heurath güther halber vor anderen ihren män-
ner glaubwürdigen vilerley privilegia und freyheiten ha-
ben und so dan einer ohne seines weibs hülfe zu thun und
verursachten in obgehörten schulden-last verderben und
abgang kommen wurde, wollen wür dasselbige weib an
ihne selbst recht und billig bey solchen Privilegien gelas-
sen geschützet und gehandt habt werden.
Doch aber ein weib ihrem mann geholfen verschwen-
den und schulden machen, es wäre geschehen mit hof-
fart, füllerey, prassen, zechen, geld aufnehmen oder in
ander weeg und solches auf sie kundtlich erwisen wurde,
dieselbig soll ihrer freyheiten, wie jezt gehört, vor ande-
ren ihres mannes gläubigem mitnichten gemessen, son-
dern ihre forderung unter die gemeinen unbestreyten
gläubigem gezehlt und ihr 4 9 9also einiger vortheil, weder
in- noch ausserhalb rechtens nichts zuerkandt oder ver-
stattet werden.
Es macht sich auch ein weibs persohn dermassen
verthuenisch, üppich, schandlich und leichtfertig halten,
wür wurden gegen ihr gleichmässig oder andere strafen,
wie oben ihre persohn unseren gefallen und gutachten
nach vernehmen, darumb wollen mäniglich darvon ge-
wahrnet seyn.
Item diejenigen, welche sich ehrlichen zusammen ver-
leibt, sollen den hei\[ige?i] ehestandt, warumben derselbig
eingesezt, ein gute betrachtung nehmen und nit wider
gottes gebot, zucht und alle ehrbarkeit, denselben mit
ihren unzüchtigen zusammen schlupfen beschlafen, son-
dern bis sich aufsein zeit der christlichen einsatzung rein
und zichtig gegen einander verhalten, wie oben unter
demjenigen articul von dem leichtfertigen beywohnen
und hurerey auch befohlen worden, dan solte änderst be-
schehen und sich ein unzichtige Schwängerung oder
kindts5 0 0geburth befinden, oder in anderweeg, wie jetzt
gesezte puncten gehandlet werden, so wollen wür die un-
brichigen ungehorsamben mann- und weibs persohn mit
gefängnus oder auf andere weis und weeg nit ungestraft
lassen.
490) fol. 7Sv.
491) fol. 79r.
492) fol. 79v.
493) fol. 80r.
494) fol. 80v.
495) fol. Str.
496) fol. 81 v.
497) fol. 82r.
498) fol. 82v.
499) fol. 83r.
500) fol. 83v.
109
Policey Ordnung. 5 0 1
Abstellung der tauf suppen, kindermahl und
schänkungen.
Wür wollen auch hinführo den unnothwendigen kosten,
der bey der tauf suppen und kindtsmahlen aufgangen,
hiermit ganz und gar verboten, auch abgestellt und dis
verordnet haben, daß den jenigen weibern, so in kindts
nöthen bey einer frauen gewesen und derselben kind bet-
terin nächste bluths verwandten auch denen, so zu geva-
ter erbeten und die jugend zu der christlichen tauf be-
stätiget, deren alle nit über ein tisch voll sein sollen, ein
zimbliche mahlzeit, nachdem diselbige haushaltung be-
schaffen, in 3 oder 4 trachten geben und daraus kein
überfluss gebraucht werden.
Desgleichen wollen wür auch, daß einem kind oder
kindbetherin von einer persohn, die zu gevater erbeten,
nit über einen halben gülden oder ein halben cronen aufs
höchst soll verehrt werden, wohl aber weniger.
5 0 2 Und dan andere weiber, so nit gevätterig seyn, die
kindbetherin besuchen, solle keine mehr als 2 batzen
wehrt, es seye an wein, geld, brod, hun, eyer oder ander
mit ihnen tragen und verehren, wo aber haus arme
bettlhafte kindbehterin wäre, die ohne das das almosen
bedürfen, das solle jedermäniglich gevatter und andere
erlaubet seyn, ihnen aus barmherzigkeit christliche hülf
und handreichung ihren besten vermögen nach und gele-
genheit mit zu theilen, aber sonst alle andere schänckun-
gen, mahlzeiten, pangeten und dergleichen Unkosten wol-
len wür bey 3 pfunden jeder verbrechender persohn ab-
zunehmen hirmit aufgehabt haben.
Von todten-mahlen, besingnussen, sibenden, dreyßigsten
und jähr zeiten.
Es ist an etlichen orthen unseres gebieths ein schändli-
cher brauch aufkommen, darab wür ein grosses missfal-
len haben, als nemblich wan ihr mann mit todt abgangen,
da man solte in leid seyn, und für einen ein mitleiden
5 0 3haben, hat man dargegen mit grossen überflüssigen
Unkosten deren armen erben nit zum geringen nachtheil,
todtenmähler und ladschaften bey der besingnus, siben-
den und dreyßigsten anstellen und halten müsse, darbey
sich weder geistlich noch weltlich geschämt zu finden.
Disem greul und todten gefräss aber zu begegnen,
schaffen wür hirmit ernstlich bey 10 pfund pfennig einen
jeden verbrechenden und der sich darbey befinden wur-
de, unnachlässlich zu entrichten, daß hinführo durchaus
in unseren gantzen gebieth, kein orth ausgenohmen, eini-
ge todten mähler mehr gehalten werden, vil weniger je-
mand darzu berufen oder gehalten, sondern die begräb-
nus, besingnussen, sibenden und 30igsten mit gebühren-
den christlichen gottes dienst wie bey dem catholischen
alten herkommen celebrirt und verriebt werden.
Den geistlichen, die von anderen orthen also darzube-
rufen, solle man ungefehr so vil an gelt präsent verordnen
oder heimbzutragen geben, also ungefehr 5 0 4 zur selbigen
zeit ein zimbliche mahlzeit gilt und nit mehrers, dabey es
endt bleiben.
Dan aber jemand den seinigen ein jähr zeit halten und
ausser diser Ordnung die priesterschaft und eheliche
freund, die er dazu geladen und gerufen, möchte selbst
speisen oder an einen würth verdingen, und nit das mahl-
zeit geld darfür geben wolte. so lassen wür solches hier-
mit aber an oberzehlten tägen nit zu.
Desgleichen der gemeinen bruderschaft, was die sel-
ben eingangen oder gegen und mit ein ander auf und an-
genohmen, wollen wür nit Ordnung geben haben.
Wo dan etliche persohnen versterben und deren ver-
lassenschaft oder erb güther willen ein freundschaft zu-
sammen kommen muß, welches gemeiniglich auf den
dreyßigsten beschicht, das lassen wür wohl zu, d a ß eine
bescheidentliche mahlzeit möge gehalten werden, aber
darbey soll sich niemand anderer befinden als die jeni-
gen, welche anspruch zu erben haben und die nothwen-
diglich darbey seyn 5 0 5 müssen, so aber jemand darwider
thäte, soll gebührende straf dargegen fürgenohmen und
darunter niemand verschonet werden.
Die gemeine anniversaria oder jahrtäg betreffend, wie
selbige gestift, also sollen sie gehalten werden, wo aber
von keiner mahlzeit meidung beschicht, so solle man dem
priester und anderen, denen es gehörig, weil sich sonsten
bey denen mahlzeiten allerley gesindl zuschlägt und ein
grosses aufgehet, das gelt darfür geben das mögen sie
hernach verzöhren oder heimblich heimbtragen, ihres ge-
fallens, wo dan änderst beschicht, sollen die kirchen pfle-
ger darumb gestraft und in ihren rechnungen nit passirt
werden.
Von kirch-weyhungen.
Dieweil bishero in haltung der christlichen catholischen
kirchtägen ein grausambe Unordnung geführt und darob
nit allein mit aufwendtung überflüssiger proviant und
5 0 f iein grosses verzöhrt, sondern auch durch solche fülle-
rey und andere leichtfertigkeit auch schand und laster be-
gangen und geübt worden, demnach haben wür hierunter
nachfolgende Ordnung und mit ernst darob zu halten ge-
sezt, also
erstlich wan ein kirchweyung einfällt oder gehalten
wurde, soll mäniglichen die kirchen und gottes dienst
fleissig besuchen, ehe und zuvor sich derselbige des mor-
gens geendet, niemand weder speis noch tranckh gege-
ben werden.
110
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Es solten auch weder kramer, beckhen, brodträger,
brandweinschänckher noch andere vor vollendtung des
gottes dienst feil haben, bey straf wie oben bey den ande-
ren titul auch geboten.
Und dan findet man unverschambte gesellen, die ihren
verwandten zu haus und hof laufen und sich an einer
zimblichen mahlzeit nit sättigen lassen, sondern gar bis in
den anderen, ja wohl auch ihren bis auf den 3ten tag ob
dem ligen und 5 0 7 überlästig seynd, dadurch weib und kin-
dern die nothwendige leibsnahrung geschmälert und
noch darzu bisweilen unmässigste besten zeiten an ihren
obligenden feld und haus arbeith verhindert und in gros-
sen kosten gebracht werden.
Demnach wollen wür, daß hinführo keine weder weibs
persohnen auf einige kirchtags mahlzeiten ziehen, sie
seyn dan sonderlich darzu berufen und erbeten, wo dan
jemand ungeladen sich bey einer solchen mahlzeit ein-
tringen wolte, welches gleichwohl hirmit einem jeden ver-
boten seye, soll man doch denselben sitzen noch kommen
lassen bey straf 4 pfund pfennig.
Und welcher unterthan kirchtag halten wolte, die soll
aufs höchst 6 oder 8 speisen nit darzu laden, welcher
aber über dise anzahl laden wird, der soll von jeder per-
sohn straf 1 lbd bezahlen.
Wür ordnen auch, das forthin auf einer kirchweyhung
den geladenen gästen mehr nit als ein mahlzeit von 4
richten und dan die nachtrachten, 5 0 setwan ein sultz,
kiechlein, milch, obst, kaäs oder dergleichen aufgestellt
werden und darbey auf das allerlängst anderthalb oder
zwey stund sitzen, nachmahls mögen sie ein weil spatzie-
ren gehen und gegen abend, wan sich die gäst wider nach
haus begeben, solle ihnen noch ein trunckh mit Verrich-
tung überblibener speis, kaäs oder obst so lang als bey
der mahlzeit fürgestellt und enä\[ich] darbey gelassen
werden.
Wie die nach kirchtägen oder nach weil durch dieselbi-
gen bishero nit nur allein überflüssige Unkosten aufgan-
gen und verbraucht, sondern auch der gemeine man bey
den so langen schlemmen und thremen an seiner arbeith
mercklich verhindert worden, wollen wür hirmit gantz
und gar aufgehebt und abgethan haben, wurde sich aber
jemand unterstehen, ferners einigen nach kirchtag zu hal-
ten, der soll umb 10 lbd unnachlässlich gestraft wer-
den. 5 0 9
Von der faßnacht, ascher-mittwoch, mumerey und
ansingen.
Nachdem wür auch vernohmen, daß der gemeine mann
umb die heil[/r/e] weinachten, neue jähr und der heiligen]
3 könig oder ostertag durch die ansinger und Sternen
bettler mächtig beschwärt und überloffen werde, daher
wollen wür den bishero eingewurtzleten mißbrauch des
umb- und ansingens gehen unseren Untertanen oder aus-
ländischen zu beschehen hirmit abgeschafft und verboten
haben, daß wo fürohin dergleichen faulentzen, stern bett-
ler in unser gebieth kommen wurden, daß sie von ihren
umbstreifen abgewöhnen und ihnen von denen untertha-
nen nichts gereicht werden soll, doch hierdurch denen ar-
men schulern zur erlangung ihres aufenthaltens und täg-
licher nahrung jedes orths gebrauch nach nichts beneh-
men seyn.
Und dan weil das übermässig fressen und saufen, 5 1 0
auch umblaufen, vermummen, stummen und verbutzen
in der fasnach und aschermittwoch, mit gefangen in die
brunen werfen und ander dergleichen bestialischen heid-
nischen mißbräuch nit allein gottes Ordnung, sondern al-
ler christlichen züchten ehrbarkeiten zuwider, demnach
so wollen wür ebenmässig, daß hinfüro keiner den ande-
ren weder fangen, in brunen werfen weder sonst mit hal-
tung des fasnacht küchleins beschwären, noch anlaufen,
er seye dan ordentlich darzu berufen und obgleich solche
ladung beschehen, so solle sie doch länger nit getischt
werden, als oben die zeit bey denen kirchtägen gesezt,
und das butzen sonderlich die sich da mann und frauen in
manns- und weibs kleider verstellen, darumb vil unzucht
und laster fürlaufen, wie auch die verdeckten und ver-
mummten angesichter solle alles bey straf des thurms
verbothen seyn.
Aber sonsten geben wür zu, daß die unterthanen den
aschermittwoch, neuen jähren, faßnachten und andere
gemeinen jähr täg mit beschaidenheit 5 1 !freund und nach-
barn nach alten gebrauch zusammen kommen, ein zimb-
liche zöch thun, lustig und frölich seyn mögen.
Von unordentlicher kleidung und tractation.
Wan dan der jüngste anno 1577 zu franckhforth neuen
reformation policey Ordnung und nothwendiglich verse-
501) fol. 84r.
502) fol. 84v.
503) fol. 85r.
504) fol. 85v.
505) fol. 86r.
506) fol. 86v.
507) fol. 87r.
508) fol. 87v.
509) fol. 88r.
510) fol. 88v.
511) fol. 89r.
111
hen und einer jeden obrigkeit bey nahmhaften poenen
auferlegt, der landts Ordnung und unterthanen gelegen-
heit nach eine gute beständige Ordnung zu machen und
darob wie sich gebührt, zu halten und sich nur durch die
tägl[ic/ie] erfahrung erscheinet, wie in allen dingen, son-
derlich aber in kleidung, feder hüthen und anderen ge-
schmuckh ein unumbzimblicher und übermässig köstli-
cher Überfluß gebraucht und angewandt, dadurch die
hoffarth und leichtfertigkeit in das junge gesündl gepflant-
zet, gott der allmächtige zum zorn bewegt und das landt
an geld und gut erstattet wurde.
5 l 2 Disem verderben- und übelstandt abzugegnen set-
zen, ordnen und wollen wür, daß insgemein alle und jede
unsere unterthanen, drinner angehörige und verwandten
ein jede persohn sich ihrem stand gemäss zimblich und
überflüssig, noch unordentlich, wie bishero in disen land-
ten üblich gewesen und herkommen bekleiden sollen.
In Sonderheit sollen sich die geistliche, wie es die ehr-
barkeit ihr stand geistlichen rechten nach erfordert, in
ihren kleidungen ehrbahrlich und geistlich halten und alle
unzimbliche köstlichkeiten aus arglichen handel und
wandl vermeiden.
Wo aber ein geistlicher aus bosheit seinen priesterli-
chen habit oder tonsur verändern, weltliche kleider an-
ziehen und darinen betreten wurde, der soll alsobald
nach ausweisung in anno 1630 auf dem reichstag zu
augsburg gemachten vermeinung gefänglich genohmen,
gebührlich bestrafen oder zu thun seinem ordinario über-
schickt werden.
s u W a s dan unsere leuth, beamten, secretarien und
canzley verwandten betreffe: die sollen sich in ihren klei-
dungen und gezierden ein jeder nach seiner dignität und
würd, wie bey anderen höfen ihres gleichen erzeigen und
erhalten. Aber unsere unterthanen auf dem landt, sie Sey-
en jung oder alt, ledig oder verheurath, sollen keine
frembde ausländische köstliche gewandt und tücher als
sammet, atlas, seiden, welches englisch, niderländisch
und dergleichen getuch, dessen eilen bis auf ein cronen
oder 2 fl kommt, ihnen machen lassen, hüth, mantl noch
kleid mit sammet, seiden, atlas, goldenen noch silbernen
borten, schnüren noch verbremen lassen, sondern die ge-
richts leuth sich aufs allerhöchst des luidischen tuen, die
übrigen aber vil mehr der anderen guten inländischen
starckhen tüchern, die wahrhaft und ins wether guth
seynd, unzerstochen und unverschnitten gebraucht wer-
den sollen.
5 1 4 Es sollen auch keine unserer unterthanen, die sich
mit dem pflueg oder handarbeith ernähren müssen, ein
jederley feder tragen, es habe dan zuvor einer einen zug
in krieg getan und dessen sein redliche passeporten auf-
zuweisen, ausgenomen in umbziehen, musterungen oder
wurde einem sonsten zu tragen erlaubt, alles bey unserer
unnachlässücher straf, was aber kriegsleuth seynd, die in
denen stürmen, feld schlachten, auf anschlagen ehrlich
tapfer thaten vollbracht und etwas darbey bekommen,
denen erlauben wür anzuhaben und zu tragen golden
ring, sambt, atlas, seiden und dergleichen, so wird sich
ihr kriegs vermögen und beuthe tragt nit weniger, wo von
einigen oder einigsten potentaten, fürsten, grafen und
herren- oder frauen persohnen in kriegs- oder hofsdien-
sten botschaften oder in anderweeg von ihren ehrlichen
thaten gethreuen diensten oder geschicklichkeiten wegen
von kleidern, goldenen ringen oder andere wie das nah-
men haben möchte, was verehret 5 1 5 würdet , das mag die-
selbige persohn den verehrten zur gedächtnus wohl an-
tragen, doch gefahr darin ausgestanden. Neben denen
wollen wür auch die onnothwendige pangeten und lad-
schaften, in Sonderheit aber die frembden köstlichen spei-
sen und tränckhen von confect, zuckherwerckh, gewürtz,
süssen wein, mulvasir und dergleichen, das dem gemei-
nen mann nur zu grossen Untaten und verderben hülft,
auch nit über 4 gekochte speisen neben kaäs und obst zu
geben hiermit bey höchster straf verbothen haben.
Von bettleren.
Nachdem das landt mit teutschen und welschen bettleren
sonderlichen und anderen dergleichen umbschweifenden
stötzen überlofen, welches dan nit allein unseren armen
unterthanen ein merckliche beschwärung und überbürd-
te, sondern auch den inländischen haus armen leuthen,
die das almosen nit entrathen können, an ihren nothwen-
digen ^''Unterhaltung ein grosser abbruch wäre, derohal-
ben gebiethen wür hiermit alles ernsts und wollen, daß
nunführo alle ausländische bettler, sonder siechen und
andere landtstürzer, die hin und wider von einem landt in
das andere streifen, in unserm gebieht fernes zu bettlen
keines weegs gestatten, auch an gräntzen und posten nit
ein- oder durchgelassen werden, sondern allenthalben
mit ernstlicher trachtung aus- und abgeschafft werden
sollen.
Wo sich aber über dis unser gebot einige ausländische
starcke bettler, sonder siech- oder landstraifer heimlich
oder öffentlich in unserm gebieth einschleichen wurden,
denen sollen unsere unterthanen nichts mittheilen bey
straf eines Orths des gülden in das pfendt säckl zu legen.
Und wo dan über erstgethane ausschaffung für bettler
oder bettlerinnen an offenen freyen jahrmärckten, ho-
chen festen, kirchweyhen oder sonst erfunden oder betre-
ten wurden, die sollen gefänglich angenohmen und nach
gelegenheit gestraft, auch von Stetten nit entlassen wer-
den, sie haben sich dan verurphedet, die S 1 7täglich ihres
lebens in unser grafschaft und herrschaften nit mehr
kommen zu bettlen.
Dieweil auch unter dem schein des bettlens vil und
mancherley betrüglichkeiten mitlaufen, oft unter dem fau-
len häufen, Schelmen, dieb, mörder, brenner und andere
112
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
übelthäter erfunden werden, so sollen demnach unsere
ambt und gemeine unterthanen auf solche bueben desto
fleissiger achtung geben, wo einiger verdacht oder arg-
wöhn verhanden, mit nothwendiger Versprechung und in
anderweeg nach ansehen und gestalt der sachen gegen
ihnen verfahren.
Was dan die inländische recht wissentlich armdürftige
leuth seynd, die sich alters, kranckheit oder andere ge-
brechlichkeit halber ohne das almosen nit erhalten mö-
gen, denen soll allein in unseren gebieht, sonderlich aber
mehreren theils an denen [gestrichen: er] ärben alle 5 1 8sie
gebohren und erzohen, auch etwan lange zeit wohnhaft
gewesen seynd, oder sonst andersten in der frembde zu
bettlen gestattet werden.
Es sollen auch commun, gemeindt und dörfer ihre ar-
men leuth selbsten erhalten, damit andere leuth mit ihnen
nit beschwärt werden und da die spendt nit so vil einkom-
mens, so sollen alle sonntäg durch den prediger der ar-
men auf der cantzl gedacht werden und die darzu verord-
nete spendtmeister ein schüssle aufgestellt, und was nach
eines jeden guten willen und vermögen dareingelegt, Reis-
sig und ordentlich nach derselbigen gemeindt gut anse-
hen unter die hausarmen, mangel- und presshaften aus-
getheilet werden.
Der ungezweifelten Zuversicht, gott der allmächtige,
als der uns die armen hoch anbefilcht, werde einem jeden
sein ausgelegtes almosen lOfältig ersetzen.
5 "Und so dann in einem fleckhen so vil arme presshaf-
te leuthe wären, die von derselbigen gemeindte nit erhal-
ten möchten werden, so soll ihnen in anderen unseren
dörfern zu bettlen erlaubt seyn. Doch daß sie dessen
schein haben und zu wissen, welch bey ihrer gemeinde
nit erhalten werden können.
Wür wollen aber uns vertrösten, die Ordnung zur U n -
terhaltung der armen weder bey ihren jeden commun
dermassen angestellt, daß diejenigen andere leuth nit be-
schwären und anzulaufen ursach haben.
Aber die inländischen manns- und weibs persohnen,
jung oder alt, die gerad und stark bey denen kundtlich ist,
da sie sich mit ihrer arbeith wohl ernähren und des bett-
lens entrathen mögen, soll weder zu bettlen gestattet noch
etwas gegeben werden.
5 2 0Ebenfahls soll auch den inländischen haus armen
leuthen nit zugelassen werden, ihre kinder, so alters und
gesundtheit halber ihr mues und brod gewinen kunen
und mögen bey sich zu behalten und in bettl zu ziehen,
sondern soll ihnen mit ernst auferlegt werden, ihre kinder
zur arbeith zu ziehen, oder auf befundenen ungehorsam
beydens jung und alts des landts zu verweißen.
Also beschlüsslichen mit kurzen verstandt, daß fremb-
de bettler nit passirt, vil weniger ihnen von unseren un-
terthanen etwas gereicht und gegeben werden solle.
Es wäre dan, daß ungefähr ein armer presshafter bett-
ler oder bettlerin gegen nacht in unseren gebieth käme
oder geführt werde, die von diser Ordnung nichts wissen,
dieselben mächt speisen, tränckhen und eine nacht be-
herbergen, aber nit länger, bey straf eines pfunds, so oft
hierwider gehandlet wurde, mit ihrem anfang. 5 2 1
Von spiler und spileren.
Dieweil aus dem spilen allerhand unrad und haaß und
neid, muthwillen, zankh und hader, gotts-lästerung, fremb-
den guths und andere Untugenden erwachsen, demnach
so befehlen wür, daß unsere unterthanen sich alles unge-
bührlichen schwören, spilen gäntzlich enthalten und kei-
ne änderst als etwan umb kurzweil weder mit karten,
würfeln noch andere dergleichen auf ein tag nit über 3
batzen aufs allermeist verspilen solle, bey straf 1 lbd. Die
würth und andere, die solch ungebührlich spilen wissent-
lich gestatten, unterschleipf und herberg darzugeben, sol-
len gleichmässig darumben gestraft werden.
Wurde auch jemandt sich falschen spilens unterste-
hen, die würfeln knipfen, falsche oder in anderweeg be-
trüglichkeit auf dem spil gebrauchen, der soll dieselbige
falsche spil gebrauchen, der oder dieselbige falschen spi-
ler 5 2 2 soüen, wo sie betreten, gefänglich und peinlich nach
unseren gutachten gestraft werden.
Das keglen, blatten schiessen, ballen und dergleichen
kurzweil spil, die zu Übung des leibs dienen, dem schies-
sen ohne gewöhnlichen zilstatten, ohn übermässiges auf-
setzen soll unverboten seyn.
Hieneben wollen wür die gefährlichen und arglistigen
geweth auch in Sonderheit verbothen haben, wan einer
auf borg was verspilt, daß unser beambten keine bezah-
lung darumben gestatten sollen.
512) fol. 89v.
513) fol. 90r.
514) fol. 90v.
515) fol. 91 r.
516) fol. 91 v.
517) fol. 92r.
518) fol. 92v.
519) fol. 93r.
520) fol. 93v.
521) fol. 94r.
522) fol. 94v.
113
Von kupplen und heimblichen endhalt.
Nachdem das kupplen vor gott und der weit ein unver-
antwortlich, schädlich, ärgerlich und böß laster, also ist
hiermit unser ernstlicher befehlch, daß die kuppler und
kupplerin, welche durch ihre hin und wider tragende bot-
scbaf't und weickhel, die 5 2 3sonst anderweeg wohl fromb
und redlich bliben, zu unzucht und hurerey verursacht,
auch diejenigen, so solchergestalt ihr haus und hof darlei-
hen und darumben Wissens tragen, mit gefängnus 14 tag
lang in mit wasser und brod oder auf andere weeg nach
gelegenheit der personen und Übertretung sollen gestraft
werden.
Und wan gleichwohl das kupplen zu den ehren diente,
aber doch solches hinterrücks oder ohne vorwissen der
eitern oder in mangel deren des geordneten vogts und ei-
ner ehrlichen freundschaft beschehen, die soll nichtsde-
stoweniger in gefängnus neben entrichtung 10 lbd straf
darüber büssen. Dan niemandt gebührte einen anderen
wider geheiss und willen, seine kinder zu verkupplen. Wo
dan vater und mutter, vogt und verwandte ihre ehrliche
kinder und nächste bluths 5 2 4freundschaft selbsten zu den
Unehren verkupplen wurden, die sollen mit urthl und
recht am leben gestraft werden.
Von leichtfertiger beywohnung und hurerey.
So unsere graf- und herrschaften zwey oder mehr persoh-
nen erfunden, die in Unehren beyeinander sässen, die sol-
len unseren oberambtleuthen also bald angeben, von ih-
nen beschickt und zu dem heil[igen] ehestandt angewisen
oder auf den verweigerten fahl stracks fort aus dem landt
hinweggeschickt werden. Wan auch von einer ledigen
tochter oder wittfrauen ein ärgerlich leben geführt und
kundtbar, sollen unsere beamte solche persohn für sich
beschicken und sie darvon alles ernst wahrnen, wo sie
aber darüber von ihren schandtlosen leben nit abstehen
wurden, sondern ferner ungebührlich zugangen, von ihr
vermerckt und dessen überwisen wurde, soll sich gleich-
fahls des 5 2 5landts verwisen werden.
Sodan weithers, weil die hurerey und bueberey unter
dem ledigen gesindl je länger je mehr über hand nimbt
und bereits leider so weit gerathen, daß sie solches dan-
noch für kein sünd mehr achten, denen aber fürzukom-
men und auf das solche und dergleichen schändtliche
muthwillige nit etwan mehr unverträglich ärgerliches le-
ben bey gott dem allmächtigen nit etwan mehr straf und
unheil bey Sodoma und Gomora über ein gantzes landt
verursacht, demnach so setzen und wollen wür, daß wo
hinführo zwey ledige persohnen in öffentlicher hurerey
mit- und beyeinander vergriffen oder sich fleischlich ver-
mischt und solches kundtbahr, soll die manns persohn 8
und das weibs-bild 4 tag und so vil nächt darumben in ge-
fängnus mit wasser und brod geleget oder in anderes
nach unser Ordnung gestraft werden.
Es begibt sich wohl etwan auch, daß die leichtfertigen
tochter zu treibung oder hurerey steg 5 2 6 und weeg suchen
und machen ihnen gedanckhen, ob sie gleich geschwän-
gert, seye es nur umb ein tragen und kindt bringen zu
thun, dem vater gebühr alsdan das kindt zu sich zu neh-
men, damit seyn sie wider glatt und ledig, auf ein solches,
damit dergleichen lasterhafte schleppsäckh ihres Vorha-
bens und meinung nit vergwüst, behalten wür uns bevor
nach befindtung und gestalt der sachen, dem vater oder
mutter das kindt zuzusprechen.
Wan auch zwey leedige persohnen sich ehelichen zu-
sammen verglüht, sollen sie sich bis auf die ordentliche
einführung zichtig und ehrbahr gegeneinander erzeigen
und nicht strackhs also schändlicher unzüchtiger weiß
zusammen schlupfen, wie bey vilen bishero beschehen
ist, oder wür wurden anderen zu einem exempl mit stren-
ger gelt- und thurms-straf gleich denen die öffentliche hu-
rerey treiben, gegen denen procediren und verfahren las-
sen.
5 2 7 So sich dan zutrug, daß einer eine geschwängert
hätte und wolte das kindt mit guten willen nit annehmen,
sondern ließ die gebährende persohn zum eydt kummen
und sonst kein andere darhinter steckt, daß er umbson-
sten kein anderer rechter vater seye, der soll umb 10 lbd
gestraft werden.
Von ehebruch, hurerey und nothzwang.
So dan ein ehegemacht, weib oder mann an einander
brüchig und dessen überwisen wurden, das solle zum er-
sten mahl gefänglich angenohmen, der mann in den
thurm an boden und das weib in ihr gebührliche gefäng-
nus 14 tag lang eingelegt und darin mit wasser und brod,
es wurde dan des weibs gelegenheit änderst erfordern,
gespeist und daraus nit gelassen werden, es habe sich
dan dieselbe persohn auch umb die gelt straf mit der ob-
rigkeit gebührlich verglichen, es solle 5 2 Sdarzu der mann
zu keinen dignitäten gericht oder recht gebraucht, son-
dern aber danzumahl deren rund entsezt und dan die
weibs persohn zu vorgesezter straf zu keiner hochzeit öf-
fentlich tantzen, zöchen noch anderen ehrlichen gesell-
schaften nimmermehr geladen, sondern ob sie aus über-
sehen oder unbedacht dahin berufen und anderen ehrli-
chen weibs persohnen nit gedultet oder aber von unseren
ambt und gerichts leuthen oder anderen uns mit eyd be-
wandten befelchs leuten alsbalden mit ernst abgestraft
werden bey unserer straf.
Wo aber ein eheman oder eheweib zum änderten mahl
überwisen, soll diselbe brüchige persohn widerumb ge-
fänglich angenohmen, ein monath lang mit wasser und
brod enthalten, der mann auch sowohl das weib allen
114
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
ehrlichen gesellschaften entsezet und allweeg doppelt so
hoch als das erstmahl gestraft werden.
5 2' JWurde dan wider alle Zuversicht einige ehepersohn
über ausgestandenen zwey strafen noch zum 3t mahl an
dem laster des ehebruchs ergriffen und nochmahls ent-
weder unseren gefallen und gutachten auf beschaffenheit
der persohn neben der geldstraf des landts verwisen wer-
den.
Als aber ein solche persohn, so des landts verwisen,
von uns oder unsrigen wider zu gnaden aufgenohmen
und eingelassen, noch über die übrigen ausgestandenen
strafen an dem laster des ehebruchs zum 4t mahl ergrif-
fen, die soll von leben zum todt gericht werden.
Wan auch ein lediger man oder gesell mit einem ehe-
weib, auch ledige frau mit einem eheman in werckh der
verbotenen unkeuschheit zu schaffen hätte, die von des-
wegen sollen gleich denen eheleuthen gestraft werden
und aus der ursach ist des weibs ehebruch schwärlicher
und sträflicher zu achten als des manns.
5 3 0Dieweil sie von einem anderen man geschwängert
werden und also ihrem rechtmässigen mann einem un-
rechtmässigen erben zubringen und ob sich zutragen, daß
ein ehegemächt gegen den anderen gefährlicher und un-
aussetziger weis mittl und weeg suchen wurde, desselbig
zum fahl zu bringen und dadurch die eheschädigung zu
erlangen, item wan zway ehe persohnen in solche blind-
heit fielen, daß sie wissentlich und geschwächt von ein
ander die ehe brechen oder die unkeuschheit treiben, die
beyde oder die eine so schuldig erfunden, sollen für recht
gestellt werden und am leben gestraft werden.
So dan auch zwey persohnen der ehe halber, in wel-
cherley das beschehe, misverständtig und ein ander für
den geistlichen richter citieren wurden, soll aus allerhand
bewegender Ursachen der verlustige theil umb 10 lb je-
derzeit unnachlässig gestraft werden.
5 3 1 Ferner ordnen wür auch, wan einer dem anderen
sein weib und tochter, sie seye jederzeit redlich, ehrlich
und Wohlgestalt, sambt ihrem gut und paarschaft ohne
sein des manns oder der eitern wissen und willen hin-
weggeführt hätte, daß der mit dem schwerdt an leben ge-
straft werden solle.
Item wan ein mann 2 weiber und ein weib 2 männer
genohmen und ihr jedes mit den beyden schon hochzeit
gehalten, es seye beschehen an was endten und orthen es
wolle, sie sollen dem todt, nemblich der mann das
schwerdt und das weib zu vertränckhen verschuldt ha-
ben.
Welcher auch eine frau oder jungfrau nothzwängt und
ihr als wider ihren willen und ohne einig gegebener ur-
sach die ehr mit gewalt abgenohmen, der soll dem wasser
anbefohlen und ertränckt werden. 5 3 2
Von muthwilligen gesellen, die tag und nacht auf der
gassen handl anstellen.
Wür wollen hiermit ernstlich gebiethen, daß sich jeder-
mäniglich, jung und alt, was standts oder Weesens die
seyn, auf der gassen bey tag oder nacht fein zichtig und
still verhalten, auch einer den anderen zu friden lassen
und nicht bolteren, zanckhen, jauchzen, schreyen und
pleren, wie das unvernünftige thier oder vieh, auch keine
schädliche gedichte oder gottlose lieder weder sprechen
noch singen, die sich aber dessen nit enthalten, sondern
hirwider dis unser gebot sträflich erzeigen werden, die
sollen von allen unseren unterthanen in nächsten und
zum besten gefänglich angenohmen und hierwider nie-
mand verschont werden.
Auf daß aber solches desto weniger beschehe, so
würdt in Sonderheit umb so vil voneten seyn, 5 3 3 d a ß die
eitern ihre kinder von jugendt auf davon genohmen und
also in aller unzucht und leichtfertigkeit umblaufen lassen
oder wür wurden geursacht, gegen die eitern destwegen
starckhen einsehen zu thun.
Das zwischen bösen und guten ein unterschidt gehalten
werde.
Damit dan mäniglich vor laster und Untugenden sich de-
sto mehr verhüte und dargegen den jenigen, so sich eines
ehrbahrlichen wandel und handels beflissen, in allweeg
vor anderen geehrt und befördert werden, so wollen wür
dannoch, daß die jenigen persohnen, welche unehrliche
thaten und handlungen überwisen oder gründtlicher
schandt und laster halber öffentlich diffamirt und ver-
läumbt wären, bey anderen ehrlichen leuthen an den ge-
meinen zusamben 5 3 4kunften, jahr-tägen, tafelen, gaste-
523) fol. 95r.
524) fol. 95v.
525) fol. 96r.
526) fol. 96v.
527) fol. 97r.
528) fol. 97v.
529) fol. 98r.
530) fol. 98v.
531) fol. 99r.
532) fol. 99v.
533) fol. lOOr.
534) fol. lOOv.
115
reyen oder dergleichen orthen nit gelitten, vil weniger zu
einigen ehrlichen ämbtern gebraucht oder zugelassen
werden sollen.
Als wollen wür auch des unehrlichen pastard und pfäf-
fen kindern sich anderen ehrlich gebohrenen nit fürbre-
chen oder gleichmachen, sondern etwas zuruckhen und
hinter sich gehalten, dan thätten sie solches nit, wolten
entweders anderen Vorsitzen, gehen, stehen, reithen oder
fahren, sollen sie mit spott davon abgewisen werden.
Nit weniger sollen auch diejenigen, welche laster und
thaten halber gestraft werden, sich gegen andere ehrli-
chen unberichtigen leithen etwas beschaiden und ein-
gezogen als andere verhalten. Auch sich nit oben aufset-
zen oder fürziehen, änderst wurden sie gleichfalls mit
schimpf davon abgewisen.5 3 5
Von Hecht- und gunckel häusern.
Dieweil wür befinden, daß aus der nächtlichen versamb-
lung licht- und gunckhel Stuben nichts änderst als aller-
handt Unzuchten, tantzen, spilen, mumereyen, fressen,
saufen, hurereyen und endlich volle bäuch erfolgen, als
manchem ehrlichem mann sein tochter und gesündt nit
allein spott und schand, zu dem es vor gott ein greul, ge-
führt, sondern auch solche leichtfertigkeit, schlemen und
tremmen das seinig heimblich gehaltener weiß abgetra-
gen würdet, demnach so wollen wür dise unnothwendige
Hecht- und gungelstuben gantz und gar abgethan, verbo-
then und uns gegen die Übertreter, auch denen so ferner
haus, hof und unterschlaipf darzu geben wurden, mit gelt
und thurmstraf zu verfahren vorbehalten haben.
5 3 f 'Wo dan ehrbahre leuth mit ihren gesündl umb er-
spahrung holtz und liecht zu ihren nachbahrn oder ver-
wandten zur stuben mit ihren gespünst oder anderer ar-
beith gehen wollten, das soll ihnen ohnverwehrt, aber
doch ihnen hirmit alle leichtfertigkeit, gesang und un-
züchtige wort verboten haben.
Von hochzeiten und schänkinen.
Bishero ist bey den gehaltenen hochzeiten und schänckhi-
nen ein merklicher überflüssiger Unkosten an speis und
tranckh, daraus dan beschwerliche theuerung folgt, ange-
fangen, damit gleichwohl denen hochzeitleithen ganz und
gar nit gedient und doch mancher säckel dardurch leer
worden und hätte vileicht der mehrere theil das verzöhrte
geld wohl sonsten daheimb in anderweeg zu haus noth-
dürftig.
5 3 7Demnach nun fimzukommen, ist hirmit unser ernst-
licher befehl, will und meinung, daß man hinführo, wo
zwey persohnen zu der heiligen] ehe greifen und nit über
200 fl zue kirchgang, damit solche ehrlicher vollzochen
werden, oder doch zur mahlzeit nit über 12 persohnen la-
den und setzen mögen, es wurde ihnen dan die hochzeit
von ihren eitern oder sonst guten freunden gehalten und
von unseren ober ambtleuten ein mehrers vergunt, bey
straf einer persohn 1 lbd, so der bräutigamb und würth
jeder halb unnachlässlich bezahlen sollen.
Und so reiche vermögliche leuth hochzeit halten, sol-
len dieselbe nit mehr als 30 oder 40 persohnen des mei-
stens aber vor 4 tisch laden bey vorgesezter straf, und
dan nach gelegenheit der zeit bey den würthen kein
manns persohn theurer aber wohl weniger als umb .5.
und ein weibs-persohn 4 batzen eingedingt oder sonsten
von denen hochzeitlichen 5 3 Spersohnen nit weither darzu
geschossen werden, alles bey straf 5 lbd beydes die hoch-
zeitleuth und würth halben theil zu bezahlen.
Welche dan armuth und Unvermögens halber nur sol-
che schlechte örther oder pfennig wehrts hochzeit anstel-
len und demselbigen solle keinesweegs gestattet werden,
die obbestimbte anzahl, sondern allein etliche ihre näch-
sten bluths verwandten zu laden, auch dis fahls nit über
ein oder aufs allermeist zwey zöchen zu halten vergundt
haben.
Es soll auch fürohin umb vil unnothwendige kosten zu
vermeiden kein hochzeit zum längsten über anderthalb
oder zwey tag wehren und die nach oder gesellen täg, wie
die mögen genannt werden, hiemit ganz und gar abge-
stellt seyn bey straf 5 lbd eine jede übertretende persohn
anzulangen.
Und dieweil auch bishero an denen hochzeiten mit den
geschänkhen und Verehrungen 5 3 < 'ein grosser mißbrauch
gewesen, solchen nun abzuschaffen ordnen wür und wol-
len, daß hinführo ausserhalb vater und mutter ein
schwächer und schwiger, bruder und schwester, denen
wür hirinen ihren freyen willen lassen, niemand, weder
verwandte noch bekandte, welche gleich diselbige seyn,
die in unseren graf- und herrschaften wohnhaft seyn,
weither oder mehr nit schenckhen sollen, dan das söhn
eitern persohn ein gülden auch aufs höchst, ein eintzige
persohn, wittiber oder witwen ein patzn 6, 7 oder 8, ein
junger gesell, ein jungfrau 3, 4 oder 5 batzen des meistens
bey straf 5 lbd.
Wür wollen ebenmässig bey jezt gedachter straf, unse-
ren unterthanen zum nutzen, wohlfarth und guten hirmit
geboten und verboten haben, daß hinführo weder weibs-
noch manns persohnen, weder reiche noch arme aus ei-
ner herrschaft in die andere oder aus 5 4 0einem fleckhen in
den anderen, so zu denen zöchen oder schänckhungen
ziehen sollen, es seyen dan ihnen dieselbige persohn von
dem hochzeiter oder hochzeiterin unter obstehender zahl
geladen oder an selbigen orth, alda die hochzeit gehalten,
wohnstatt, denen soll es ohnverboten seyn.
Was aber das jung ledige gesündl betrifft, ob dieselbi-
gen ein öffentlichen ehrlichen züchigen tantz, den unsere
ambtleuth erlauben möchten und mit dem trunckh oder
116
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
unzucht zu gefallen in dem nächsten fleckhen auf ein virtl
oder halbe meil weegs nachziehen, sich alda züchtig und
beschaidentlich halten, denen wollen wür solches nit ab-
geschlagen haben, aber andere winckhel üppich und
leichtfertige neben denen sollen beym thurm und anderer
straf hiermit allerdings abgestellt und verboten werden.
r > 4 lFerners setzen und wollen wür hirmit ernstlich, daß
keiner unserer unterthanen an unser oder unsere ober-
ambtleuth Verweisung und bewilligung beschehen, auch
ehender nit zu bürger oder einwohner auf und angenoh-
men werden, dieselbige persohnen haben sich dan zuvor
bey ihren herren oder leibaigenschaft ledig und dargegen
uns, wie andere unsere leibaigen unterwürfig gemacht,
daran wür kommen und content seyn mögen.
Von denen gartknechten.
Es gibt die tägliche erfahrung und der schaden selbst zu
erkennen, wie hoch unsere unterthanen und arme leuth
von denen umbstraifenden müssig gehenden garth-
knecht und herren losen knechten zu berg und thal son-
derlich an den eintzigen orthen mit abnehmung des ihri-
gen beschwert, angriffen und beschädiget werden, denen
noch fürzukommen, befehlen wür hirmit ernstlich und
wollen, daß 5 4 2keiner unserer unterthanen hinführo eini-
ge garth- oder herren lose knecht, die dem samblen, hin-
terfangen und bettlen nachziehen, ausserhalb der ge-
wöhnlichen würthshäuser, welches doch auch über ein
nacht nit beschehen soll, beherbergen, noch änderst hal-
ten bey straf 1 lbd von jedem verbrachten zu entrichten.
Es wäre dan, wo ein abgedanckter knecht, der sich
verzöhrt oder sonst kranckh wäre und nit vil zum besten,
aber doch seinen redlichen passport aufzuweisen hätte,
uns durch unser gebieht zuge, dem es auf sein demüthi-
ges gebührliches bitten mag ein jeder nach seinem freyen
willen und guten gefallen etwas mittheilen, es seye ein
stuckh brod, heller, pfennig oder was anders, aber die
übrige faul tropfen, handwerkhs- oder andere werckhlose
leuth, so sich nur auf garten legen, soll man an allen or-
then erstlich mit guten, wo solches nichts verfangen
möchte, als 5 4 3dan mit gewalt ausschaffen und keinem
nichts geben.
Wird sich aber einer damit nit ab- oder ausweisen,
sondern die leuth damit hochmächtigen tringen, zwingen
oder ängstigen, denselben sollen unsere unterthanen ge-
sambter handt, darumben ja ein nachbar dem anderen
an straf 10 lbd beyspringen soll, gefänglich annehmen
und uns überandworten, wür wollen nach gestalt der Sa-
chen mittl und straf gegen ihme vorzunehmen wissen.
Solte sich aber einer zur wehr stellen und nit wollen
gefangen geben, und derselbig frevler darüber durch sein
verursachen und gegenwehr, in Sonderheit wan er sich
auf vorgehend von unsertwegen gethans versprechen und
ermahnen, in die gehorsamb nit gehen wolte, von denen
unsrigen beschädiget oder gar endtlich entleibet wurde,
dessen sollen sie kein endtgelt r , 4 4habon noch in unguten
darumb angelangt werden.
Wür gebiethen auch ferner unseren ambtleuthen und
unterthanen, daß sie alle jähr zu unterschidlichen mahlen
unverwahrneten Sachen, so oft. sie solches für ein noth-
durft achten, mit ihren nachbarn dises losen gesündls
halber auf dem landt, in wäldern, heuhäusern und ande-
ren dergleichen verdächtigen orthen besuchung thun und
anstellen, und in fall dan solcher gestalt argwöhnische
persohnen betreten wurden, sollen sie oder er, wie sie mit
tauf- und zunahmen heissen, wessen landts sie seynd,
weme sie zustenden, von wann sie ziehen, was ihr thun
und lassen, wohin sie wollen, was sie an disem orth zu
schaffen und gemeiniglich was ihr intent und vorhaben
seye mit allen umständen ernstlich befraget und was un-
wichtiges befunden, dieselben umb ferner inquisition 5 4 5 i n
verhaft genohmen, die übrigen aber mit scharpfen betro-
hungen, wan sie mehr der enden angriffen, mit gefängnus
oder in ander weeg gegen sie zu verfahren aus dem landt
gewisen werden.
Von denen zigeunern.
Demnach auf etliche unterschidliche gehaltenen reichs ta-
gen und sonderlich durch jüngst in anno 77 zu franckh-
furth erneuerte reichs policey Ordnungen geboten, be-
schlossen, und fürsehen worden, keine zigeuner in dem
reich teutscher nation zu gedulten.
Also befehlen wür hirmit allen und jedem unseren un-
terthanen, fordist unseren ober- und unter ambtleuten,
das sie gemelte zigeuner weder manns- noch weibs per-
sohnen noch ihren anhang in- und durch 5 4 < ,dis unser
535) fol. l O l r .
536) fol. lOlv .
537) fol. 102r.
538) fol. 102v.
539) fol. 103r.
540) fol. 103v.
541) fol. 104r.
542) fol. 104v.
543) fol. 105r.
544) fol. 105v.
545) fol. 106r.
546) fol. 106v.
117
landt ziehen, zu handien oder zu wandlen und noch vil
weniger kurtz oder lang darinnen sich aufzuhalten gestat-
tet, sondern von dannen hinweeg weisen, und mit ernst
darabhalten und sie daran weder passporten noch ande-
res, so sie aufweisen möchten, nit hinterlassen.
Wo aber sie sich nit abweisen lassen, sondern hierüber
in- und durch dis landt ziehend betreten werden, solten
sie von den unsrigen gefängüch angenohmen und gelifert
und alles, was bey ihnen befunden, es seye an pferdten,
püxen, währen, kleider, paarschaften oder anderen zum
halben theil unter diejenigen, so sie beygefangen und ge-
lifert, ausgetheilet werden.
Wan auch jemand etwas gegen solchen 5 4 7zigeunern,
die nur auffahren und verräther der Christenheit, sondern
auch ehrliche leuth mit zauberey bestelen, beluigen und
betrügen, wie sie immer kundten, mögen mit der that
handien oder vornehmen wurde, der soll daran nit gefref-
let noch unrecht gethan haben.
547) fol. 107r.
118
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
REGISTER.
Der erste ütul fol.
von erbschaften in absteigender linie
Erstlich, wie die eitern in ihrer eiteren
luckhen stehen 1
Was und wie kinder erben sollen, wan ihr vater
allein und vor der mutter stirbt 2
Wie und welcher gestalt die hinterlassenen kinder
erben sollen, wan ihr mutter vor dem vater
stirbt 4
Wie es hernacher, so der in leben verblibene vater
oder mutter unverändert auch abstirbt, der
theilung halber mit denen kindern gehalten
werden soll 5
Von erbnehmung deren kindern und kindts kindern. . . 6
Wie es mit künftigen erbschaften gehalten soll
werden, wan sich in obigen fahlen der in leben
verblibene vater oder mutter widerumb geän-
dtert und aus nachfolgender ehe auch kinder
verlasset 7
Von erbnehmung der kindts kinder allein, da keine
kinder, sondern kindts kinder allein verhanden. . . . 9
Daß in des ehnls oder ahnls erbnehmung die enickhl
den urehnl oder uhrahnl, ohngeacht sie in grad
näher, allerdings ausschliessen 9
Von unehelichen und legitimirten oder geehlichten
kindern und derselben erbgerechtigkeit 10
Von erbschaften in aufsteigender linie.
Wie vater und mutter allein oder zugleich ihre
kinder erben 11
Wan ehnl und ahnl erben sollen 12
Wan ehnl und ahnl beyderseiths von vater und
mutter verhanden, wie die erben sollen 12
Wan die persohnen aufsteigender linie in unglei-
chen grad seynd, wie sie erben sollen 13
Wan beyderseiths ehnl und ahnl in ungleicher zahl
seynd, wie sie miteinander erben sollen 14
Wie die rechte geschwisterige an einander erben
sollen und vater und mutter, die gleichwohl in
leben, davon ausschliessen 15
Wan neben vater und mutter und geschwisterig
auch geschwisterich kinder zu beyden bandten
verhanden 15
Wie ehnl und ahnl oder deren eines sambt des
verstorbenen rechten geschwisterigen oder
deren kindern erben oder ausgescblossen
werden sollen 16
Wie man erben soll, wan beyderseiths von mutter
und vater ehnl und ahnl neben den verstor-
benen enickhls geschwisterigen verhanden 17
Daß die kinder von ihrem vater oder mutter
enickhln von ihrem ehnl und ahnl allein geerbt
werden, wan sie von einem bandt geschwiste-
rige oder deren kinder verlassen 18
Von erbschaften in der beyderseiths oder zwerch linie.
Wie rechte geschwisterige oder derselben kinder
erben, daß die rechte geschwisterig allein
miteinander in die stäm 19
oder häupter erben sollen 20
Wie es mit des bruders erbnehmung gehalten soll
werden, wan rechte geschwisterige auch ein
halbe geschwisterige verhanden seynd 21
So etwas verlassen, so zuvor ein halbe geschwis-
terige mit einander geerbt haben 22
Das geschwisterige kindts kinder so ihr vater
noch in leben, von ihres ehnls bruders oder
schwester erbschaft außgeschlossen werden 23
Daß bruder oder schwester kinder von beyden
bandten ihres vaters oder mutter stief brüder
oder schwester auch ausschliessen 24
Von erbnehmung der stiefgeschwisterigen allein
und derselben kindern 25
Wan stief-geschwisterige kinder allein noch in
leben, das solche in die häupter und nit in die
Stämme erben sollen 26
Wan zumahl keine geschwisterige noch geschwis-
terig weder von einem bandt noch zum ande-
ren verhanden, wer alsdan erben soll 27
Wan enickhl ohne leibs erben absterben, wohin
das von ihrem ehnl und ahnl ererbte guth hin-
fallen soll 27
Wie vater und mutter ihre enickhl und kinder
erben sollen 28
Von erbnehmung deren ehelcithen.
Wie und was die eheleithe, so eines verhanden,
ohne erzeigte eheliche kinder mit todt abgehet,
von einander erben sollen 30
Wie eheleuth aneinander erben, wan keine bluths
verwandten innerhalb der zehenden sippzahl
verhanden 32
Von erbschaften der eheleith, die gleichwohl keine
kinder beyeinander erzeugt, der mann aber
aus vorgehender ehe erzeigte kinder verläßt 33
Von erbnehmung, so das verstorben weib aus
voriger ehe kinder verläßt 33
120
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
Wan beyde eheleuth kinder aus vorigen ehen
haben, wie es mit der erbschaft gehalten wer-
den soll 34
Wie in vorigen fällen verstanden werden soll 36
Von erbnehmung der obrigkeit, so derselben
zuständig, und in 8 fahlen sich begreift 36
Von testamenten, lezten willen, vermächtnussen,
übergaaben und anderen geschäften von todts
wegen, so sich in 9 fahlen begreift 39
Erstes mittl und formb zu testiren vor gericht 46
Formb eines testaments zweyer eheleithen die
aneinander zu erben einsezen 48
Formb eines offenen testaments 49
Formb eines anderen testaments 52
Formb eines heimblichen oder öffentlichen
testaments, so von der hohen obrigkeit aufzu-
richten ist 53
Formb durch einen kaylserlichen] notarium zu
testiren 54
Formb eines anderen testaments 54
Wan und was ein landts- oder gerichtsschreiber
über aufrichtung der testamenten und lezten
willen sich verhalten und schwören soll 55
Verzaichnus der gandt 57
Formb und verbahnung des malefiz-gerichts 61
Klag auf die fürgestellte malefiz persohn 62
Formb eines schuld briefs 63
Formb wie man die brief wider heraus begehen
soll 64
Folgt wie man die urthl sprechen soll 64
Wie man einen zünß brief einlegen soll 65
Von kramern, beckhen, brod tragern, brandwein-
schenckhen und anderen 66
Von verbot der sonn- und feuertäg 66
Von gotts lästern, fluchen und schwören 67
Von zauberey, wahrsagen und aberglauben 69
Von gastgeben, würthen und tafernen 70
Von allerley zu trinckhen 72
Von faulnutzen und müssiggänger 75
Von austheilung, banckhen, rüsten und denen so
sich fürsätzlich über ihr vermögen in schulden
steckhen 76
Von unnutzen haushalter. 78
Von abstellung der tauf suppen und kindermahl 84
Von todtenmahlen und besingnussen 84
Von kirchweyhungen 86
Von der fasnacht und ascher mittwoch 88
Von unordentlicher köstlicher kleidung 89
Von bettlern 91
Von spilen und spilern 94
Von kupplen und heimblichen endthalt 94
Von leichtfertiger beywohnung und hurerey 95
Von ehebruch, hurerey und nothzwang 97
Von muthwilligen gesellen, die tag und nacht auf
der gassen handl anstellen 99
Das zwischen bösen und guten ein unterschid
gemacht werden soll 100
Von liecht und gunckel häusern 101
Von hochzeit tägen und schänckinen 101
Von denen gart knechten 104
Von zigein ern 106
121
Anhang
SACHERKLÄRUNGEN
Vgl. dazu auch das nach-
folgende Abkürzungsver-
zeichnis
abraithen
Abrechnen. Jutz, Bd. 1,
S.28; GW, Bd. 1, S. 85.
aufschneider
Beamter für die Getränke-
steuer. DRWB, Bd. 1,
S.942.
bidermann
Unbescholtener Mann.
Lexer, S. 21.
deckhe beschlagen
Beschreiten. «Bei feierli-
chen Hochzeiten wurden
Braut und Bräutigam in
das Schlafgemach ge-
bracht entkleidet und
mußten das Bett bestei-
gen, worauf das Zimmer
verschlossen und andern
tags wieder aufgeschlos-
sen wurde». GW, Bd. 1,
S.1573.
dreyßigster
«Der dreißigste Tag nach
der Beerdigung eines
Verstorbenen. An diesem
Tage ward ehemals der
letzte Seelengottesdienst
für den Verstorbenen
gehalten». GW, Bd. 2,
S. 1394.
ehehaft
Recht, gesetzmässig.
Lexer, S 36.
fahrnis
Sachen, die ohne Verände-
rung ihres Wesens von Ort
zu Ort bewegt werden
konnten. HRG, Bd. 1,
S. 1050.
frühe messer
«Ein von der Stiftung zu
einer Messe, die er am
frühen Morgen täglich zu
lesen hat, lebender
Geistlicher». GW, Bd. 4
1/1, S. 318.
gant
Der im Rahmen der
Zwangsvollstreckung
vorgenommene öffentliche
Pfandverkauf. HRG, Bd. 2,
S. 1384.
geschiff
Coli, zu schiff in seiner
ursprünglichen Bedeutung
«gefäss». GW, Bd. 4 1/2,
S.3885.
gesuchtes und ungesuch-
tes gut
Sowohl das, was man
bereits hergestellt und
erworben hat, als auch
das, was man noch weiter
sollte herstellen und
erwerben können. GW,
Bd. 4 1/2, S. 4285.
geunwillet
Abstossend. Jutz, Bd. 1,
S. 1171.
geweth
Genosse, ein gleicher.
Lexer, S. 71.
gunckelhäuser
«Haus, in welchem abends
nach Abrede einige
Töchter zusammenkamen,
um an der Kunkel zu
spinnen, und wo sich dann
auch die Jünglinge zu
Spiel und Scherz einfan-
den». In weiterer Folge
Haus, in dem es liederlich
hergeht. Id., Band 2,
S. 1709.
halsherr
Leibherr, als Herr über die
Hals- oder Leibeigenen; in
verallgemeinderter Bedeu-
tung unumschränkter
LIerrscher überhaupt. Id.,
Band 2, S. 1531. Dem
Halsherren gehört die
Ausübung der obersten
Gerichtsbarkeit, er ist
Inhaber des Halsgerichts.
GW, Band 4/11, S. 263.
hauptsumme
Kapital; im Gegensatz zum
Zins. Id., Band 7, S.973.
Hauptsächliche Summe
einer Schuld, Kapital. GW,
Bd. 4/11, S.634 f.
kürnig
Körnig. GW, Bd. 5,
S.2814.
leibsnahrung
Lebensmittel, aber auch
Lebensunterhalt, Leibge-
dinge. DRWB, Bd. VI 11/7,
8, S. 1107.
lichtstuben
Siehe gunckelhäuser
lidlohn
Lohn eines Dienstboten,
soweit er in Geld besteht.
HfH, S. 395.
malefiz
aus dem Lateinischen
maleficium übernomme-
nes Rechtswort, das von
einem peinlichen Gericht
zu ahndende Verbrechen
bezeichnet. GW, Bd. 6,
S. 1500.
malelizisch
Der peinlichen, hohen
Gerichtsbarkeit zugehörig,
verfallen. Id., Bd. 4,
S.167.
notdurft
Notwendigkeit, Bedürfnis.
Jutz, S. 557; Bedürfnis;
das notwendig Bedurfte
und Unentbehrliche; der
Bedarf an notwendigen
Dingen, besonders zum
Leben. GW, Bd. 7, S. 924.
ohnverändert
Unverheiratet, ohne zu
heiraten. Id., Band 1,
S. 310.
passierlich
Erträglich, annehmbar.
Id., Band 4, S. 1660.
presthaft
Mangelhaft, gebrechlich.
GW, Bd. 2, S. 373.
raithung
Siehe abraithen.
rüster
Gerüstemacher. Lexer,
S. 174.
sämer
Samenaere: einer, der
Geld einsammelt als
Einnehmer. Lexer, S. 176.
schleppsäckh
Liederliche Weibsperson,
Hure; im abgeschwächten
Sinn leichte scherzhafte
Schelte; Id., Bd. 7, S. 639.
Schelte auf einen Men-
schen, der etwas Dummes
gemacht hat, nachlässig
ist. Faul, unordentlich,
schlampig. GW, Bd. 9,
S.649.
solennität
Feierlichkeit, feierliche
Handlung, id., Bd. 7,
S. 782.
stötzen
Einfältiger, ungelenker
Mensch, dummer Kerl. Id.,
Bd. 11, S. 1864.
tafernen
Aus ital. taverna, Schenke,
Wirtshaus. GW, Bd. 11
1/1, S. 25.
taubsucht
Sinnlosigkeit, Anfall von
Geistesstörung, mit Wüten
verbunden, Tobsucht. Id.,
Bd. 7, S. 284.
122
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERG ER-ROGL
themmen
Schlemmen, schwelgen,
im Rausch leben, wo Sinn
und Verstand zugedämmt,
eingehüllt oder verdunkelt
sind. Gewöhnlich mit
schlemmen verbunden.
GW, Bd. 2. S. 709.
übelhausen
Schlecht haushalten. GW,
Bd. 11/2, S 38.
umbgelt
Verbrauchs- und Umsatz-
steuer im Marktverkehr
und an den Grenzen
(Stadttoren). Speziell war
das Umbgelt gelegt auf
geistige Getränke, zu-
nächst auf Wein, dann
auch auf Branntwein und
Most. Vormals war es eine
(Gewerbs-) Steuer auf die
Wirte, nicht auf Private,
und ursprünglich eine
bloss städtische Ver-
brauchssteuer, die dann
aber auch auf das Land
ausgedehnt wurde. Id.,
Bd. 2, S. 241.
urgicht
Geständnis. In der Rechts-
sprache scheint urgicht
mit der Einführung des
römischen Rechts und der
Folterung die verengte
Bedeutung erhalten zu
haben, a) das Geständnis
mit und ohne Folter, b) die
Aufzeichnung des Ge-
ständnisses. Urgicht ist
eine summarische Be-
schreibung aller Verbre-
chen eines Delinquenten.
Ungenau wird der gesamte
mit der Vernehmung und
dem Geständnis verbunde-
ne Hergang als urgicht
bezeichnet. GW, Bd. 11,
S.2425.
verding
Verpflichtender Vertrag
Jutz, Bd. 1, S. 806.
vergewüst
Verbürgt. Jutz, Bd. 1,
S.817.
verheften
Vorenthalten, zurückhal-
ten. Lexer, S. 271.
visirer
Eichmeister. Lexer, S. 290.
weinschleich
Schlauch zum Abziehen
und Überleiten des Weins.
Jutz, Bd. 2, S. 1573.
Säufer, Trinker, häufig im
16. Jahrhundert, später
seltener. Zwei Vorstellun-
gen gehen durcheinander
«Einer, der viel Wein
verschlingt», anknüpfend
an die eigentliche Bedeu-
tung von Schlauch,
«Fresser, Schlemmer» und
«einer, der mit Wein
gefüllt ist wie ein Wein-
schlauch». GW, Bd. 14 1,
S. 989 f.
würfeln knipfen
Beim Spiel betrügerisch
behandeln. GW, Bd. 5,
S. 1435.
zwerchlinie
Quer- oder Seitenlinie
einer Verwandtschaft. Id.,
Bd. 3, S. 1285.
ABKÜRZUNGEN
Bd.
Band
DRWB
Deutsches Rechtswörter-
buch (Wörterbuch der
älteren deutschen Rechts-
sprache) Hrsg. von der
Preußischen Akademie der
Wissenschaften. 8 Bände,
Weimar, 1914-1932.
fl .
Gulden
GW
Grimm, Jakob und Wil-
helm: Deutsches Wörter-
buch. Hrsg. von der deut-
schen Akademie der Wis-
senschaften Berlin.
16 Bände, Leipzig,
1854/1954.
HfH
Eugen Haberkern, Joseph
Friedrich Wallach: Hilfs-
wörterbuch für Historiker.
8. Auflage, Basel, Tübin-
gen, 1995.
HRG
Handwörterbuch zur
deutschen Rechtsgeschich-
te. Hrsg. v. Adalbert Erler
und E. Kaufmann. 4 Bän-
de. Berlin, 1971 ff.
Id.
Schweizerisches Idiotikon.
Wörterbuch der schwei-
zerdeutschen Sprache.
Frauenfeld, 1881 ff.
JBL
Jahrbuch des Historischen
Vereins für das Fürsten-
tum Liechtenstein
Jutz
Jutz, Leo: Vorarlbergisches
Wörterbuch mit Ein-
schluss des Fürstentums
Liechtenstein. Wien, 1960.
LB
Landsbrauch
lbd
Pfund Pfennig
Lexer
Lexer, Matthias: Mittel-
hochdeutsches Taschen-
wörterbuch. 32. Auflage,
Stuttgart, 1966.
LLA
Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz
LUB
Liechtensteinisches
Urkundenbuch
RA
Registratur A (Akten des
Fürstlichen Oberamts, bis
1808)
SchäU
Schädler Urkunden
vergleiche
zit.
Zitiert
123
QUELLEN
UNGEDRUCKTE
QUELLEN
LLA Landsbrauch 1667,
Abschrift Johann Georg
Wolf von Vaduz.
LLA Landsbrauch 1682,
Abschrift Basilius Hoop.
LLA Landsbrauch 17.
Jahrhundert: «Umbfragen
und verbanung deß
malefiz gerichts wie
solches in der grafschaft
Vaduz üblich».
LLA RA CXLIII, ohne
Datum: «Des richters ayd
über das blut zurichten»,
«urtlsprecher ayd»,
«Schre ibers ayd».
LLA RA 1/16/6, Policey-
und Landtsordnung des
Reichs-Fürstenthums
Liechtenstein 1732.
LLA RA 02/6/01, 1571.
LLA RA 02/6/02, 1666.
LLA RA 02/6/04, 1695.
LLA RA 02/6/05, 16. und
17. Jahrhundert.
LLA RA 02/6/06,1718.
LLA RA 02/6/07, 1720.
LLA RA 02/6/08, 1726.
LLA RA 02/6/09, 1727.
LLA RA 02/6/10,1798.
LLA RA 143/36, ohne
Datum: «Verbannung des
malefiz gerichtes geschieht
ungefähr uff hernach
folgender formb und
weis».
LLA 146/021, 1650.
LLA SchäU 24, 14. Mai.
1509.
LLA SchäU 26, 1. August
1509.
LLA U57, 1589.
GEDRUCKTE QUELLEN
Büchel, Johann Baptist:
Regesten der Herren von
Schellenberg. In: JBL 1
(1901), S. 177-268.
Burmeister, Karl Heinz
(Hrsg.): Vorarlberger
Weistümer. 1. Teil (Blu-
denz - Blumenegg - St.
Gerold). Wien, 1973.
Liechtensteinisches
Urkundenbuch (LUB), 1.
Teil: Von den Anfängen bis
zum Tod Bischof Hart-
manns von Werdenberg-
Sargans, 1416; Band 1
und 2: Bearbeitet von
Franz Perret. Vaduz, 1973;
Band 3: Bearbeitet von
Benedikt Bilgeri. Vaduz,
o. J.; Band 4: Aus den Ar-
chiven des Fürstentums
Liechtenstein. Bearbeitet
von Georg Malin. Vaduz,
1963-1965.
Ospelt, Joseph: Landam-
männer-Verzeichnis und
Landammänner-Siegel. In:
JBL 40 (1940), S. 37-67.
Ritter, Rupert: Die Brandi-
sischen Freiheiten. In: JBL
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Aebi, Hans Georg: Lands-
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Rechtsquellen im St. Galler
Rheintal. Diss. Zürich,
1974.
Aichhorn, Ulrike: Die
Rechtstellung der Frau im
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Wien, 1992. (Dissertatio-
nen der Universität
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Bader, Karl Siegfried:
Studien zur Rechtsge-
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Dorfgenossenschaft und
Dorfgemeinde. Wien,
1974.
Beck, Wilhelm: Eheliches
Güterrecht und Ehegatten-
recht nach unseren
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(1917), S. 107-124.
Borgolte, Michael: Ge-
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Alemanniens in fränki-
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1984. (Vorträge und
Forschungen. Sonder-
band 31).
Borgolte, Michael: Die
Grafen Alemanniens in
merowingischer und karo-
lingischer Zeit. Sigmarin-
gen, 1986. (Archäologie
und Geschichte. Band 2).
Brunner, Otto: Land und
Herrschaft. Grundfragen
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1965.
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Geschichte der Herren von
Schellenberg. In: JBL 7
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che Rechtsquellen. Proble-
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Peter Blickle. 1. Auflage.
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Burmeister, Karl Heinz:
Caspar von Capal (ca.
1490-1540), ein Bündner
Humanist und Jurist.
Sonderdruck aus: Festga-
be zum 65. Geburtstag von
Claudio Soliva. Zürich,
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Burmeister, Karl Heinz:
Die Vorarlberger Lands-
bräuche und ihr Standort
in der Weistumsforschung.
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Burmeister, Karl Heinz:
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schichte Vorarlbergs. In:
Montfort 39 (1987),
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Burmeister, Karl Heinz:
Probleme der Weistums-
forschung. In: Deutsche
Ländliche Rechtsquellen.
Probleme und Wege der
Weistumsforschung. Hrsg.
Peter Blickle. 1. Auflage.
Stuttgart, 1977, S. 74-86.
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126
«LANDTS BRAUCH, ODER ERBRECHT»
KARIN SCHAMBERGER-ROGL
BILDNACHWEIS
S. 13: Paul Vogt, Brücken
zur Vergangenheit. Vaduz,
1990, S. 29
Alle übrigen Abbildungen:
LLA A M 5. Landsbrauch
1667
Aufnahmen: Heinz Preute,
Vaduz
ANSCHRIFT DER
AUTORIN
Dr. Karin Schamberger-
Rogl
Santnerweg 58
A-5301 Eugendorf
127
ZWISCHEN M A R K T
UND E L F E N B E I N -
T U R M - VOLKS-
K U N D E H E U T E
H E R M A N N BAUSINGER
Seit zirka 1830 sind solche
Herzchen belegt, mit de-
nen die besten Milchkühe
bei der Alpabfahrt im
Frühherbst ausgezeichnet
werden. Diese farbigen
Holzherzen werden den
Tieren auf die Stirn gebun-
den. So kehren die über-
dies mit Blumen und Glo-
cken geschmückten Tiere
vom Berg ins Tal zurück.
Der Bauer, dessen Tiere
dergestalt ausgezeichnet
werden, sammelt diese
Herzen und nagelt sie an
die Aussenwand seines
Viehstalls. Dieses Brauch-
tum ist ein Spezifikum des
Liechtensteiner Oberlands.
Früher wurden die Alpab-
fahrtsherzen von den Hir-
ten selbst aus Schindeln
und dünnen Brettchen ge-
schnitzt, mit dem Mono-
gramm Jesu (JHS) verse-
hen und so für die Prämie-
rung vorbereitet. Heute
jedoch werden diese Her-
zen industriell gefertigt.
Die Vielfalt in Grösse,
Form und Farbe ist dem-
nach einer standardisier-
ten Einheitsform gewi-
chen.
130
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
Wieviel Liechtensteiner braucht es, um eine Glüh-
birne auszuwechseln? Ich unterstelle, dass einer
genügt. Wird die Frage auf die Ostfriesen bezogen,
denen man in Deutschland gerne die Rolle moder-
ner Schildbürger zuweist, so lautet die Antwort:
Drei - einer hält die Birne, und zwei drehen die
Leiter. Die gleiche Frage wurde auch für Volks-
kundler gestellt,1 und hier lautete die Antwort: Acht
- einen, der die Birne einschraubt, und sieben, wel-
che die Terminologie und Theorie ausarbeiten.
Im Programm für diese Tagung in Balzers 2 sind
sieben Referentinnen und Referenten angeführt;
ich hoffe und denke aber, dass sich jene scherzhaf-
te Antwort trotzdem nicht auf die Tagung anwen-
den lässt. Doch es ist etwas Richtiges dran an die-
ser spöttischen Bemerkung - wie an den meisten
Boshaftigkeiten. In der akademischen Volkskunde
wurde und wird tatsächlich viel Energie und Zeit in
Anstrengungen investiert, vernünftige Begriffe zu
finden und theoretische Zugänge zu erschliessen.
Die Kritik am (Elfenbeinturm) liegt nahe; aber bei
näherem Zusehen zeigt sich, dass solche Investitio-
nen - mindestens in manchen Phasen einer Wis-
senschaft - ganz unvermeidlich sind.
Es gibt Wissenschaften, bei denen man ziemlich
genau weiss, wo man dran ist. Dazu gehört bei-
spielsweise die Medizin. Natürlich gibt es auch dort
vielerlei Richtungsstreit - mancher geht sogar töd-
lich aus -, und natürlich gibt es auch Abgrenzungs-
fragen, etwa im Blick auf Formen der sogenannten
Alternativmedizin. Man streitet also beispielsweise
darüber, ob Akupunktur zu dem Fach gehört oder
ob sie nicht in den Bereich der Laienmedizin ver-
wiesen werden muss. Aber im Ganzen weiss man
doch, woran man ist; Medizin ist zentriert um Pro-
bleme von Gesundheit und Krankheit, und sie ist
legitimiert durch eine praktische Profession, durch
das ärztliche Handeln.
Volkskunde als Beruf - das ist, wenn man vom
akademischen Bereich absieht, ziemlich selten.
Volkskunde als Berufung gibt es häufiger, aber mit
sehr verschiedenartigen, weit auseinanderlaufen-
den Interessen. Die Frage- und Forschungsrich-
tung des Fachs ist keineswegs eindeutig. Das mag
sich merkwürdig anhören, denn die Gegenstände
und Gebiete des Fachs scheinen ja bereits sprach-
lich vordefiniert: VbMrspoesie, Vb/£smärchen, Volks-
sage, Volkslied, Vo/£sglaube, Vo/£sfrömmigkeit,
Vo/A:skunst, Vb/£ssprache, Ko/£sbrauch, Vö/£stracht.
Schaut man aber genauer hin, so erweist sich gera-
de dieses Ordnungsprinzip als Falle. Es gibt Ver-
bindungen mit dem Bestimmungswort Volk, die
nicht oder kaum ins Fach einbezogen sind. Schon
bei Volkswagen steigen die meisten Volkskundler
im allgemeinen aus. Und auch Bereiche wie Volks-
schule, Vo/£shochschule, Vo/A:sempfänger, Volksab-
stimmung sind keine eigentlichen volkskundlichen
Domänen. Wichtiger aber ist etwas anderes, das
man als Volksparadox bezeichnen könnte. Der
Schweizer Volkskundler Eduard Strübin hat einmal
festgestellt, wenn etwas mit dem Etikett Volks- ver-
sehen sei, könne man davon ausgehen, dass es
nicht volkstümlich, nicht populär sei. Dies stimmt
so nicht ganz: Volksmusik ist zum Beispiel sehr po-
pulär, und Volksmusikabende oder Volksmusik-Hit-
paraden erreichen in Funk und Fernsehen hohe
Einschaltquoten. Aber diese Art der Darbietung
mögen die Volkskundler auch wieder nicht so
recht; wenn sie könnten, würden sie diesen Veran-
staltungen die Bezeichnung Volksmusik am lieb-
sten verweigern.
Was also nun? Es zeigt sich, dass sich aus sol-
chen an der Sprache orientierten Beobachtungen
keine verbindliche Theorie, keine klare Handlungs-
anweisung für Volkskundlerinnen und Volkskund-
ler ableiten lässt. Im Gegenteil: Die Dinge und Be-
züge geraten ins Schwimmen. Aber eben diese
Lockerungsübung scheint mir deutlich zu machen,
dass es sich lohnt und dass es mitunter ganz unver-
meidlich ist, sich grundsätzlichere Gedanken zu
machen.
Mein Thema heisst: Volkskunde heute. Ich fasse
das nicht so auf, dass von mir eine allgemeine Be-
i l Bei einer Konferenz in den USA.
2) r- inführungsreferat von Hermann Bausinger, gehalten anlässlich
der öffentlichen Tagung «Zwischen Markt und Elfenbeinturm -
Volkskunde heute» vom 21. November 1998. Die Tagung wurde vom
Arbeitskreis für Regionale Geschichte organisiert.
131
Standsaufnahme mit bibliographischen Auflistun-
gen erwartet wird, und erst recht nicht eine Bilan-
zierung der liechtensteinischen Volkskunde. Ich
habe mich zwar bemüht, ein bisschen mit Liech-
tenstein und mit dem hiesigen Volksleben vertraut
zu werden, und ich werde ab und zu einen einhei-
mischen Farbtupfer anbringen, damit das Angebot
nicht zu exotisch wird. Aber auf einen Überblick
zum Stand der liechtensteinischen Volkskunde
kann ich schon deshalb verzichten, weil Herbert
Hübe dazu vor kurzem einen umfassenden Über-
blick gegeben ha.t.3
Volkskunde heute - diese Themenstellung zielt
weniger auf einen Querschnitt als auf die Frage,
was die neuen Akzente, die neuen Fragestellungen
und eventuell auch die neuen Methoden im Fach
sind. Allgemeiner formuliert: Wo und wie kontra-
stiert die heutige Volkskunde mit der von gestern
und vorgestern? Wenn ein solches Kontrastbild
entworfen wird, ist die Versuchung gross, das Bis-
herige, das Vergangene recht dunkel zu malen, da-
mit das Neue möglichst strahlend herauskommt.
Lessing hat in diesem Sinn einmal von den Rezen-
senten gesprochen, die ihren Objekten die Krätze
andichten, um sie besser jucken zu können. Um
dieser Versuchung zu entgehen, will ich gleich sa-
gen, dass Liechtenstein, was die volkskundliche
Forschung und was die volkskundlichen Publika-
tionen anlangt, im Vergleich mit anderen Regionen
wahrhaftig nicht schlecht dasteht. Nicht nur, aber
vor allem dank dem 1986 erschienenen Buch von
Adulf Peter Goop: Brauchtum in Liechtenstein.4
Dieses Buch unterscheidet sich von vielen anderen
Brauchtums-Enzyklopädien durch eine grosszügige
Ausfächerung. In die Kapitel über den Jahreslauf
und den Lebenslauf ist bei Goop vieles einbezogen,
was nicht in jedem Brauchkalender steht, und aus-
serdem gibt es bei ihm einige kurze Kapitel, die
sehr nahe am Alltag bleiben: Kapitel zu Essen und
Trinken, Kleiden, Wohnen, zu gängigen Formen
der Kommunikation und der Geselligkeit und zu re-
ligiösen Äusserungen und Verhaltensformen. Diese
Kapitel enthalten verschiedentlich Hinweise auf die
neuere Entwicklung der Volkskultur. So ist bei-
spielsweise vom Niedergang der herkömmlichen
Kleidungsnormen die Rede; das Wort Freizeitklei-
dung taucht auf; das Eindringen und auch die Aus-
breitung von Fertiggerichten werden erwähnt; und
bei den Geselligkeiten wird nach den traditionellen
Kartenspielen auch Bezug genommen auf neue
Computerspiele. Diese neuen Entwicklungen wer-
den registriert, und es wird keine moralische Sua-
da dagegen aufgefahren; eigentlich fällt kein böses
Wort. Aber an der Gewichtung und an einzelnen
Formulierungen wird doch deutlich, dass diese
Phänomene unter dem Aspekt Brauchtum Rander-
scheinungen sind, dass sie nach der Meinung von
Adulf Peter Goop nicht zur eigentlichen Volkskultur
gehören. Diese ist charakterisiert im Sinne der von
Richard Weiss ausgearbeiteten Grundbegriffe,5
charakterisiert als geprägt durch Tradition und Ge-
meinschaft. Es handelt sich um eine wesentlich aus
bäuerlichen Wurzeln stammende Volkskultur. Na-
türlich weiss Adulf Peter Goop, dass diese Volkskul-
tur brüchig geworden ist, überfremdet von Erschei-
nungen der Moderne - eben deshalb sieht er die
Volkskunde aufgerufen, gegenzusteuern. Die Trach-
tenbewegung, die ja in Liechtenstein besonders
stark ist, kann als eine solche Gegensteuerung ver-
standen werden, und das ganze traditionelle Kon-
zept der Volkskultur ebenso.
Wolf Huber hat dazu kritisch angemerkt: «Wenn
ein Dienstleistungs- und Industriezentrum wie
Liechtenstein ... heute noch eine vorwiegend aus
der vorindustriell-bäuerlichen Welt stammende
Identität pflegt, so ist möglicherweise gerade das
als Identitätsverlust zu beurteilen». 6 Der Aufsatz
von Wolf Huber ist mir nicht zugänglich; ich ent-
nehme das Zitat dem Buch von Ralph Kellenber-
ger.7 Wenn ich nur von diesem einen Satz ausgehe,
dann drängt sich mir (obwohl ich mich im allge-
meinen auf der selben kritischen Linie befinde) die
Frage auf, ob hier nicht zu direkt und zu einseitig
argumentiert wird.
Ich habe vorher Richard Weiss erwähnt. Er hat
mehr als einmal (am eindringlichsten wohl in dem
Aufsatz «Alpiner Mensch und alpines Leben in der
Krise der Gegenwart»)* darauf hingewiesen, dass
die Schweiz als ganzes sich als alpine Nation ver-
steht, dass die Bergbauern (deren Anteil an der Be-
132
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
Mit Versatzstücken aus
benachbarten «alpinen»
Kulturen versuchte man,
eine liechtensteinische
Volkskultur zu konstru-
ieren. Dieses Bild entstand
vor der Kulisse der liech-
tensteinischen Bergwelt auf
Gnalp, oberhalb von Trie-
senberg. Es ist ein Werbefo-
to für das ländlich-alpine
Liechtenstein um 1950.
Das Bild kann vordergrün-
dig als Kitsch abgetan
werden. Andererseits hat
diese Darstellung auch eine
emotionale Kraft. Es wird
zwar eine Klischeewelt
dargestellt, die mit dem
Alltag der Bevölkerung nur
wenig gemeinsam hat. Die
hier dargestellte «Volkskul-
tur» ist - wie Kultur insge-
samt - auch Kompensation
für verloren Gegangenes:
für den Verlust an Gebor-
genheit, ja generell für die
verschwundene «heile
Welt», die es in der darge-
stellten projizierten Form
aber wohl nie gegeben hat.
völkerung nie höher als 5 Prozent war) bis heute
die Imagelieferanten nicht nur für die Tourismus-
werbung, sondern auch für das Selbstverständnis
der Schweizer sind. Das lässt sich zwar trefflich
ironisch kontrastieren mit den betuchten Aktenköf-
ferliträgern, deren Zahl vermutlich höher ist als die
der Bergbauern, und doch handelt es sich nicht
einfach um eine Lüge. Die Bedeutung von Symbo-
len darf nicht unterschätzt werden, und der in sol-
chen Zusammenhängen naheliegende Begriff der
Kompensation sollte nicht als Hieb- und Stichwaffe
verwendet werden. Schliesslich ist die Fähigkeit
zur Kompensation eine sehr respektable menschli-
che Eigenschaft - Kultur hat immer kompensative
Elemente; ja man kann mit einigem Recht sogar ge-
radezu sagen: Kultur ist Kompensation.
3) Hübe. Herbert: Volkskundliche Forschung in Liechtenstein. In:
Historiographie im Fürs ten tum Liechtenstein. Hrsg. von Arthur
Brunhart. Zürich. 1996. S. 127-136.
4) Goop, Adulf Peter: Brauchtum in Liechtenstein. Vaduz. 1986.
5) Weiss, Richard: Volkskunde der Schweiz. Erlenbach-Zürich, 1946.
6) Huber, Wolf: So/.ialräumliche Identität und kulturelle Vielfalt. In:
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Identität - eine sozio-kulturelle Dimension in der Raumplanung?
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7) Kellenberger, Ralph: Kultur und Identität im kleinen Staat. Das
Beispiel Liechtenstein. Bonn, 1996.
8) Weiss, Richard: Alpiner Mensch und alpines Leben in der Krise
der Gegenwart. In: Schweiz. Archiv für Volkskunde 58 (19621.
S. 232-254.
133
Aber - und nun nähere ich mich doch der Kritik
von Huber - was als Volkstumspflege bezeichnet
wird und in den Augen optimistischer Pfleger und
Sachwalter die alte Volkskultur bewahrt und rettet,
ist eine Veranstaltung und nicht der Alltag, eine
Inszenierung und nicht das Gegebene, und selbst
wo der zahlenmässige Anteil dieser Volkstumspfle-
ge an den Erscheinungen der Volkskultur beträcht-
lich ist, gilt doch das Urteil, dass diese Bestrebun-
gen nicht unbedingt populär sind. Eduard Strübin
hat dies im Baselbiet untersucht. Der «Einfluss der
Heimatbewegung», so formuliert er vorsichtig, sei
«schwer abzuschätzen». Aber dann wagt er doch
das Resümee, «dass zwar viele Einzelne Freude
und innere Bereicherung erleben» durch die Mass-
nahmen der Volkstumspflege, dass «aber das Volk
in seiner grossen Mehrheit nicht tiefer berührt
wird». 9
Im Klartext heisst das: Auch wenn man über den
Stellenwert, über das Ausmass der Wirkung sol-
cher Pflege streiten kann - es gibt jedenfalls unter
dieser Glasur etwas ganz anderes, einen neuen Zu-
schnitt von Normen, Formen und Aktivitäten, de-
nen man zwar oft den Namen Volkskultur verwei-
gert, der aber zur Signatur unserer Zeit gehört und
nicht einfach im toten Winkel der Wissenschaft
bleiben sollte.
Ich komme später darauf zurück. Zunächst
möchte ich der Meinung entgegentreten, erst die
allerjüngste Entwicklung habe die traditionelle
volkskundliche Blickweise und das herkömmliche
Instrumentarium obsolet oder unzureichend ge-
macht. Der eingeschränkte Blick ist ein Erbstück,
man kann auch sagen: ein Taufgeschenk der Volks-
kunde. Seit man von Volkskunde sprechen kann,
wurden ihre Vertreter mit dieser Sehweise ausge-
stattet, so, wie man gelegentlich im Kino bei be-
stimmten Filmen eine 3-D-Brille verpasst be-
kommt. Mit dem Unterschied allerdings, dass der
Blick auf einen Teilbereich der kulturellen Wirk-
lichkeit fixiert und andere Teilbereiche ausge-
schlossen wurden.
Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu ver-
deutlichen. Theodor Fontane erinnert sich in ei-
nem Brief vom März 1886 (gerichtet übrigens an
Moriz Lazarus, einen der Begründer der Völker-
psychologie und auch der Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde) an einen Freund, mit dem er sich
in England über das Verhältnis von Kunstlied und
Volkslied unterhalten hat. Dieser Freund zitierte
ein volkstümliches Lied und verglich es mit den an-
spruchsvolleren, aber auch auf Popularität zielen-
den Versen des Lyrikers Johann Wilhelm Ludwig
Gleim. Das Urteil: «Gleim ist vergessen. Volk, Volk,
alles andere ist Unsinn». 1 0 Das hören die Volks-
kundler natürlich gerne. Fontane aber bezieht die-
se Äusserung nun auf ein Lied, das damals in Ber-
lin die Runde machte: «Mutter, der Mann mit dem
Koks ist da ...». Fontane schreibt zu diesem Gas-
senhauer: «Er wird zwar nicht 100 Jahre leben,
auch nicht 100 Tage, aber es ist doch immer was,
einer Millionenstadt auf vier Wochen hin ein be-
stimmtes Wort oder Lied in den Mund gelegt zu ha-
ben». Fontane täuschte sich mit seiner Prognose:
das Lied gab es auch noch nach 100 Tagen, und
auch nach 100 Jahren ist es noch bekannt. Ganz si-
cher aber hatte er recht mit dem Hinweis auf die
Volkstümlichkeit des Liedes - «Volk, Volk; alles an-
dere ist Unsinn». Aber - hier ist offenbar ein ande-
res Volk gemeint als das der Volkskunde, in deren
grossen Volksliedsammlungen jenes Lied nirgends
auftaucht.
Es gab Ausnahmen, aber im allgemeinen war
die Vergabe des Etiketts Volk an bestimmte Voraus-
setzungen gebunden. Es musste etwas Altes sein,
möglichst etwas Uraltes, es musste aus der Region
kommen, und es musste im allgemeinen aus dem
bäuerlichen Milieu stammen. Damit waren nicht
nur die Gassenhauer ausgeschlossen, die ja keines-
wegs nur in den Grossstädten verbreitet waren,
sondern auch vieles andere. Ein paar Andeutungen
dazu:
- Die Volkskundler haben im letzten Jahrhundert
damit begonnen, Märchen und Sagen zu sammeln
aus der mündlichen Überlieferung, und sie haben
versucht, die Verbreitung von Märchen und Sagen
literarisch durch zahlreiche Editionen abzusichern.
Schon im 19. Jahrhundert dürfte es mehr gedruck-
te als erzählte Sagen und Märchen gegeben haben.
Die Volkskunde ignorierte die populären Lesestoffe
134
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
1 1
HE SERAFW!
DARF /CH VI/?
0 \ I i
/
von der christlichen Beispielgeschichte bis hin zum
Räuberroman, obwohl gerade diese Lektüren im
19. Jahrhundert einen ungeheuren Auftrieb hatten.
Erst in jüngster Zeit hat sich die Volkskunde diesem
Bereich zugewandt; ich nenne in diesem Zusam-
menhang den Namen von Rudolf Schenda, der auf
diesem Gebiet sehr viel gearbeitet hat."
- Volkskundlerinnen und Volkskundler waren im-
mer wild auf den Nachweis abergläubischer Vor-
stellungen - aber eigentlich nur dann, wenn sich
darin archaische Bilder spiegelten. Erst sehr spät
ist man darauf aufmerksam geworden, dass auch
moderne, halbwissenschaftliche Wissensbestände
in den Aberglauben Eingang gefunden haben.
Eduard Strübin wies beispielsweise auf hygieni-
sche und psychologistische Vorstellungen hin; 1 2
und für unsere Zeit muss in diesem Zusammen-
hang an die esoterischen Zirkel erinnert werden,
die ihr Wissen und ihre Rituale ja nicht von den al-
ten Germanen oder Waisern oder Rätoromanen ha-
ben, sondern eher aus China oder aus Indien. Eso-
9) Eduard Strübin: Baselbieter Volksleben. Sitte und Brauch im
Kulturwandel der Gegenwart. Basel, 2 1967, S. 285 f.
10) Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. München, 1980.
Abt. IV. 3. Nr. 435.
11) Hingewiesen sei vor allem auf die grosse Studie: Volk ohne Buch.
Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910.
Frankfurt a .M., 1970.
12) Strübin (wie Anm. 9), S. 263.
Die Sage von der «Gusch-
ger Sennpuppe» hat Er-
zähltes zum Inhalt, das in
ähnlicher Form auch in
anderen (alpinen) Sagen
auftaucht. Hirten basteln
auf ihrer Alphütte eine
weibliche Puppe und trei-
ben daraufhin allerhand
Schabernack mit ihr. Die
Puppe wird dabei auch als
Objekt für die Projektion
von sexuellen Phantasien
missbraucht. Grundmotiv
ist der sexuelle Hunger
inmitten der alpinen Ein-
samkeit. Die Berghütte
bietet hier andererseits
den idealen abgeschirmten
Raum, in dem die Hirten
der Kontrolle durch die
Dorfgemeinschaft weitge-
hend entzogen sind. Am
Ende der Weidezeit auf
der Alp wird die Puppe
plötzlich lebendig, sehr
zum Schrecken der Hirten.
Die Puppe tötet daraufhin
den Hirten, von welchem
sie besonders malträtiert
wurde. Als Zeichen der
Abschreckung wird die
Haut des Hirten auf dem
Dach der Hütte ausge-
spannt. Die Sage ist in
dieser Überlieferung ein
moralisierendes Lehr-
stück, das die Hirten an-
mahnt, auch inmitten der
abgeschiedenen Bergwelt
ein tugendhaftes und «gott-
gefälliges» Leben zu führen.
Das Bild zeigt einen Aus-
schnitt aus dem 1997 ver-
öffentlichten Comic von
Sabine Bockmühl. Sie hat
die Sage von der «Gusch-
ger Sennpuppe» in einer
eindrucksvollen Bilderfol-
ge dargestellt und inter-
pretiert. Der Autorin gelingt
so eine aktuelle und unkon-
ventionelle Annäherung an
dieses volkskundliche The-
ma. Hier gezeigt wird die
Szene, in der die Hirten
ihre selbst gebastelte Senn-
puppe dem Hüttenchef
vorstellen. Der skeptische
Blick des Hüttenchefs
offenbart eine leise Vorah-
nung des noch Kommen-
den, währenddem die Hir-
ten eine sorglose, ja gar
frivole Ausgelassenheit an
den Tag legen. In dieser
bildlichen Darstellung wird
gar nicht erst versucht, eine
heile Welt darzustellen.
135
terische Formen und Inhalte werden allerdings nur
zum Teil in den Bereich des Aberglaubens verwie-
sen; sie gelten auch als neue Möglichkeiten des
Glaubens.
- Die Volkskunde hat sich immer dem bäuerlichen
Brauch, der bäuerlichen Lebensweise zugewandt.
Dass auch Arbeiter eine sehr spezifische Form der
Lebensbewältigung und der Kultur hatten, ist ei-
gentlich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts deutlich geworden, nicht zuletzt dank Ru-
dolf Braun, der im Zürcher Oberland detaillierte
sozial- und kulturhistorische Untersuchungen an-
stellte.13
- Ein letztes Beispiel: Seit langem gibt es in der
Volkskunde die Sparte Volksmedizin. Dafür wurde
Jahrzehnte lang nur gesammelt und aufbereitet,
was an Heilmitteln und Heilmethoden angeblich
unbeeinflusst von medizinischem Wissen in Famili-
en und Nachbarschaften tradiert wurde. Nur gele-
gentlich wurde der Zusammenhang mit früheren
Phasen der Schulmedizin hergestellt, und erst sehr
spät wurde deutlich gemacht, dass auch die Kon-
frontation mit der heutigen wissenschaftlichen Me-
dizin zu den populären Umgangsformen mit
Krankheit und Gesundheit gehört. Zu den ersten,
die in dieser Richtung gearbeitet haben, gehört die
Schweizerin Margarete Möckli-von Seggern, die die
Einstellung von Industriearbeitern zur Medizin un-
tersuchte.14 In Tübingen entstand später eine empi-
rische Arbeit «Kranksein im dörflichen Alltag», 1 5
und vor kurzem kündigte ein junger Volkskundler
und Historiker ein Seminar unter dem Titel «Jen-
seits der Volksmedizin» an, um neue Fragen zu
thematisieren.
Vergegenwärtigt man sich die alten Verkürzungen
und Verbiegungen der Realität durch die Volkskun-
de, dann wird es einigermassen verständlich, dass
das Fach eine sehr bewegte kritische Phase durch-
machen musste, in der es fast nur darum ging, Hy-
potheken abzubauen, ideologische Lasten abzu-
werfen. In Deutschland war diese Tendenz beson-
ders ausgeprägt, und natürlich gibt es dafür einen
einleuchtenden Grund: Der Nationalsozialismus
hatte die volkskundlichen Blickweisen übernom-
men und verschärft, und es gab nicht wenige Volks-
kundler, die in der Zeit des Nationalsozialismus
den inhumanen Vorstellungen von Blut und Boden,
von germanischer Prägung und rassischer Überle-
genheit auf den Leim gegangen waren. Aber die
Kritik blieb keineswegs auf Deutschland be-
schränkt. Paul Hugger hat in dem grossen Schwei-
zerischen Handbuch ein Kapitel überschrieben:
«Ein deutsches Beben hat seinen Nachhall in der
Schweiz». 1 6 Dieser Nachhall war unvermeidlich,
denn bestimmte Voraussetzungen und Vorurteile
hatten - wenn auch in weniger absoluter und weni-
ger militanter Form als in Deutschland - auch die
Volkskunde in anderen Ländern geprägt. Ja man
kann sagen, dass geradezu weltweit ein gewisser
Dekonstruktionsprozess einsetzte; selbst in der
amerikanischen cultural anthropology und im fol-
klore and folklife research gab es Revisionsbestre-
bungen, die parallel zu den deutschen liefen.
Eine Zeitlang - ich denke an die 1960er- und
1970er Jahre - wurde sehr viel Energie in diese
kritische Auseinandersetzung investiert. Das war
die Zeit, in der einer die Glühbirne hielt und sieben
dazu eine Theorie ausarbeiteten - einfach deshalb,
weil jene Glühbirne immer noch heiss war und weil
sich am Gewinde sehr viel Rost angesetzt hatte.
Aber ich möchte betonen, dass es falsch wäre, die-
se Phase unter der Flagge «Volkskunde heute» se-
geln zu lassen. Es handelt sich um eine Anstren-
gung von gestern, welche die vorgestrige Blickwei-
se ablöste und die Basis für neue Fragestellungen
und Arbeitsweisen schaffte.
Sicherlich hat man damals mit der Kritik übers
Ziel geschossen; vorsichtiger gesagt: Man hat neue
Zusammenhänge entdeckt, ist aber nicht immer
der Gefahr entgangen, diese Zusammenhänge zu
isolieren und zu verabsolutieren. Ich möchte das
an drei Beispielen verdeutlichen, und ich werfe da-
bei auch einen Seitenblick auf die Geschichtswis-
senschaft, die vor ähnlichen Problemen stand:
- Für Peter Kaiser, den bekanntesten älteren His-
toriographen Liechtensteins, war - in der an den
Forschungen von Volker Press orientierten Formu-
lierung von Arthur Brunhart 1 7 - das Volk «das Sub-
jekt der Geschichte, nicht die Landesherrschaft».
136
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
Aber es muss dann gleich eingeschränkt werden,
dass zum Volk für Kaiser eigentlich nur die Besitzer
und die Hausväter zählten; von den wirklichen Un-
terschichten (und auch von den Frauen) ist bei ihm
nicht die Rede. Erst in jüngster Zeit wurden ver-
mehrt Anstrengungen unternommen, die Perspek-
tive umzupolen zugunsten einer «Geschichte von
unten», wie es schlagwortartig genannt wurde.
Dass die entsprechenden Forderungen noch nicht
abgegolten sind, zeigt beispielsweise die Skizze, die
der Vaduzer Norbert Haas zum Thema Auswande-
rung vorgelegt hat. 1 8 Er schreibt in diesem Zusam-
menhang: «Es müsste von sozialen Ausgrenzungen
die Rede sein, von moralischen Verdikten, vom
Umgang mit dem sogenannten Abnormalen».
Dieser Appell charakterisiert auch die kritischen
Tendenzen der historischen Volkskunde in der Ge-
genwart. Die alten Schilderungen der Dorfgemein-
schaft hatten die obrigkeitlichen Reglementierun-
gen weithin ignoriert; von den unterbäuerüchen
Schichten war kaum die Rede-, Spannungen und
Widerstände wurden beiseite geschoben zugunsten
des Bilds einer ausgewogenen Gemeinschaft. Die-
ses Bild wurde in den 1960er und 1970er Jahren
auseinandergenommen und sehr prinzipiell wider-
legt. Jetzt war die Rede vom Not- und Terrorzu-
sammenhang im Dorf. 1 9 Das war ein Pendelaus-
schlag nach der anderen Seite; inzwischen ist die-
ses kritische Bild ergänzt worden durch den Hin-
weis auf beträchtliche Kollektivleistungen und auch
Kollektivrücksichten im alten Dorf, wie sie bereits
in Arnold Niederers Buch «Gemeinwerk im Wallis»
geschildert werden. 2 0
- Entsprechende Kritik und Gegenkritik hat es
auch in anderen Bereichen gegeben. Mit Recht
wurde beispielsweise kritisiert, dass im Bereich
der Volkslieder zwar das Lob der Heimat und auch
das Lob der Herrschaft herausgestellt wurde, nicht
oder kaum dagegen die Stimmen kritischen Pro-
tests;21 dass in Volkssagen zwar die Verbindungen
zu übersinnlichen Glaubensvorstellungen gesucht
wurden, nicht aber die Aussagen über die Not und
auch den Widerstand der Untertanen. Das ist eine
neue Fragerichtung - und sie ist keineswegs über-
holt; Ursula Brunold-Bigler hat gerade in ihren
jüngsten Publikationen noch einmal auf diese sozi-
alkritische Seite der Sage hingewiesen;2 2 und in
Liedarchiven wurde auf dem Feld der Protestlieder
eine reiche Ernte eingefahren. 2 i
Überzogen wurde hier insofern, als ein Teil der
Wissenschaftler die Bezeichnung Volkskultur für
die Protestkultur reservierte.2 4 Damit war auch
eine neue Einseitigkeit begründet. Volksbrauch war
13) Braun. Rudolf: Industrialisierung und Volksleben. Zürich.
Stuttgart. 1960. - ders.: Sozialer und kultureller Wandel in einem
ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des
Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich,
Stuttgart, 1965.
14) Möckli-von Seggern, Margarete: Arbeiter und Medizin. Zur
Einstellung des Zürcher Industriearbeiters zur wissenschaftlichen
und volkstümlichen Heilkunde. Baden, 1965.
15) Dornheim, Jutta: Kranksein im dörfl ichen Alltag. Soziokulturelle
Aspekte des Umgangs mit Krebs. Tübingen, 1983.
16) Hugger. Paul: Zu Geschichte und Gegenwart der Volkskunde in
der Schweiz. In: Handbuch der Schweizerischen Volkskultur. Hrsg.
von Paul Hugger. Zürich, 1992, Band 1, S. 15-33; hier S. 26.
17) Brunhart, Arthur: Peter Kaiser 1793-1864. Erzieher, Staatsbür-
ger, Geschichtsschreiber. Facetten einer Persönlichkeit. Vaduz, 1993
S. 198-200; vgl. Volker Press: Peter Kaiser und die Entdeckung des
liechtensteinischen Volkes. In: Geiger, Peter (Hrsg.): Peter Kaiser als
Politiker. Historiker und Erzieher. Vaduz. 1993, S. 53-73.
18) Haas, Norbert: Ich wüss te gerne mehr von Aline Alber. In:
Allmende 18. Jahrgang (1998) Heft 58/59, S. 1 I 3-115; hier S. 114.
19) Ilien. Albert; Jeggle, Utz: Leben auf dem Dorf. Zur Sozialge-
schichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner.
Opladen. 1978. S. 36.
20) Niederer. Arnold: Gemeinwerk im Wallis. Bäuerliche Gemein-
schaftsarbeit in Vergangenheit und Gegenwart. Basel, 1956.
21) Steinitz. Wolfgang: Volkslieder demokratischen Charakters aus
sechs Jahrhunderten. 2 Bände. Berlin. 1954 und 1962.
22) Brunold-Bigler. Ursula: Die Armut, die Krankheit und das
«Leide» Wetter. Zur narrativen Bewältigung des Passionalen in
alpinen Sagen. In: Brunold-Bigler, Ursula. Bausinger. Hermann
(Hrsg.): Hören Sagen Lesen Lernen. Bausteine zu einer Geschichte
der kommunikativen Kultur. Bern etc., 1995. S. 117-131. - Brunold-
Biegler. Ursula: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Historischer
Alltag in alpinen Sagen. Bern etc., 1997.
23) Klüsen. Ernst: Das sozialkritische Lied. In: Brednich. Rolf W.:
Röhrig, Lutz; Suppa, Wolfgang. (Hrsg.): Handbuch des Volkslieds.
Band 1. München, 1973, S. 737-760.
24) Dies gilt nicht nur für die deutsche und deutschsprachige
Volkskunde; vgl. etwa Muchembled, Robert: Kultur des Volkes,
Kultur der Eliten. Stuttgart. 1982.
137
IMHIHil^H^HMRflHH^HqHI^HI^HDSHMHNHH
«Volkskunde heute» in
Liechtenstein muss sich
zwangsläufig mit Verän-
derungen auseinanderset-
zen, welche das Land in
den vergangenen Jahr-
zehnten vom Agrarland zur
Industrie- und Dienstlei-
stungsgesellschaft verwan-
delt haben. Landwirtschaft
und Viehzucht existieren
zwar weiterhin, wurden
aber von der stetig gewach-
senen Mobilität aus dem
Blickfeld gedrängt. Die
Tiere beanspruchen zeit-
weise - völlig legitim -
trotzdem Platz auf der
Strasse, beispielsweise auf
dem Weg von der Weide in
den Stall. Dies verlangt
von den übrigen Verkehrs-
teilnehmern einerseits Ge-
duld, verschafft ihnen an-
dererseits einen Moment
des Innehaltens und der
Besinnung. Welten begeg-
nen sich.
Nicht nur die grösser ge-
wordene Mobilität, son-
dern auch politische und
wirtschaftliche Ereignisse
und Entwicklungen be-
wirkten eine grössere
Durchmischung der Bevöl-
kerung. Auch in Liechten-
stein. Kulturen sind sich
geographisch näher ge-
kommen. Die moderne
Telekommunikation er-
möglicht es, jederzeit Ge-
spräche rund um den Glo-
bus zu führen und dafür
auch ständig erreichbar zu
sein. Ob dies zu einem bes-
seren Verständnis der Men-
schen und Kulturen unter-
einander beiträgt, bleibt
eine offene Frage.
nun - zugespitzt gesagt - nur noch die Katzenmu-
sik gegen unliebsame Vorgesetzte, dagegen nichts
mehr, was ohne Protestcharakter war. Die Korrek-
tur: Beides gilt - zur Volkskultur gehört in der Tat
vieles, das früher im toten Winkel blieb, also vieler-
lei Formen des Protests, aber eben auch die Fron-
leichnamsprozession oder die Fürstenfeier, auch
wenn diese von oben initiiert und organisiert ist.
- Ein drittes: In jener kritischen Phase wollte die
Volkskunde nicht mehr nur beschauliche Bilder
und Beschreibungen liefern, sondern sie wollte ein-
greifen. Es galt nicht nur wissenschaftliche Proble-
me am Schreibtisch zu lösen, sondern über die
Wissenschaft soziale Probleme anzupacken. Wie-
derum ist festzuhalten, dass dies kein falscher Ak-
zent war und dass es sich nicht um ein überholtes
Anliegen handelt. Aber es stellte sich heraus, dass
es keineswegs leicht ist, an praktischen Lösungen
mitzuwirken; oft reichten die wissenschaftlichen
Mittel nicht aus.
Ich versuche das zu verdeutlichen am Problem der
Minderheiten in Deutschland. Bekanntlich gab es
seit den 1960er Jahren in Deutschland und auch in
den umliegenden Ländern eine kräftige Zuwande-
rung von Arbeitsmigranten und -migrantinnen aus
138
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
Ml M-
den südeuropäischen Ländern. Man sprach von
Gastarbeitern in der Erwartung, dass sie bald wie-
der zurückwandern würden. Man entwickelte Ro-
tationsmodelle, die aber nicht funktionierten, nicht
funktionieren konnten. Einige Volkskundler er-
kannten das schnell und traten nun für die Integra-
tion der Zugewanderten ein. Aber was heisst Inte-
gration? Es ging um Chancengleichheit - aber
zwang das zum Verzicht auf die kulturelle Eigenart
in der Religion, der Sprache, den Sitten, der Le-
bensweise? Bald machte das Schlagwort von der
kulturellen Identität oder der ethnischen Identität
die Runde: die ethnische Identität müsse bei allen
unvermeidlichen Zwängen zur Anpassung bewahrt
werden. Einige Zeit schien das die Lösung, bis
deutlich wurde, dass damit neue Probleme verbun-
den waren. Die Feststellung von Identität ist immer
auch eine Machtfrage. Wer definiert ethnische
Identität? Wird Identität national codiert, so kann
dies die Missachtung der Kultur von Minderheiten
bedeuten (man denke an die Unterschiede zwi-
schen Türken und Kurden). Und wie verhält es sich
mit Angehörigen der zweiten oder dritten Generati-
on, also mit jungen Menschen, die streng genom-
men keine Türken mehr sind, aber auch noch kei-
ne Schweizer oder keine Deutschen. Für sie ist die
ethnische Identität oft ein Gefängnis und keine Ent-
lastung. Vollends deutlich wurde das Dilemma, als
im ehemaligen Jugoslawien im Zeichen ethnischer
Identität die schlimmsten Bluttaten begangen wur-
den. Das Thema ist nicht vom Tisch; das Problem
verlangt weiterhin wissenschaftliche Reflexion und
fundierte Hilfeleistungen - aber vom Tisch war die
aus der Kritik geborene Selbstsicherheit, mit der
man glaubte, Patentlösungen parat zu haben.
Dieses letzte Beispiel zeigt freilich auch, dass der
Wandel in der Volkskunde nicht nur durch eine
Reinigung von Perspektiven zustande kam, nicht
nur durch einen Blickwechsel. Die Volkskunde
musste sich auch verändern, weil sich die Realität
veränderte. Als ich die ersten Überlegungen zu die-
sem Referat anstellte, sass ich in einem Zugabteil
irgendwo in Norddeutschland. In meinem Wagen
gab es Geschäftsreisende mit dem Laptop auf dem
Schoss und dem Handy in der Tasche; einer war
dabei, der das Abteil kontinuierlich damit unter-
hielt, dass er seiner Frau oder seiner Freundin Po-
sitionsmeldungen durchgab: «Wir sind jetzt in Göt-
tingen, nein, keine Verspätung». «Ja, jetzt sind wir
in Hannover; ja ja, hier regnet es auch». Aber auch
jugendliche Touristen waren im Abteil, mit Ruck-
säcken, die so gross waren, dass - bedenkt man
139
das alternative Bekenntnis zu sparsamem Kleider-
wechsel - wohl mehrere Wochen Urlaub ins Haus
standen. Zwei ältere Ehepaare waren im dem Wa-
gen, die mit einem Wochenendticket in ihr Ferien-
domizil fuhren und die ihre Ferienerfolge im Stil ei-
nes Börsenberichts vortrugen: «Lanzarote fünf
Tage, vier Sterne, 670.- DM mit Bad und WC». Dar-
auf - im Tonfall <Das ist noch gar nichts) - das geg-
nerische Paar: «Slowakei, Karpaten, tiptop, vier
Übernachtungen unter 500.- DM mit Frühstücks-
büfett und allem drum und dran». Schliesslich
sass, auf meiner Höhe, aber auf der anderen Seite
des Gangs, eine Frau mit zwei Kindern, mit denen
sie sich sehr laut auf deutsch unterhielt und die sie
noch lauter auf türkisch zurechtwies. Der ältere
Junge war still, er hatte ein Computerspiel in der
Hand. Die jüngere Schwester quengelte so, dass ich
mich während der ganzen Fahrt gestört fühlte.
Aber diese Störung und das ganze Ambiente
war zugleich ein volkskundliches Lehrstück. Darf
die Volkskunde vor solchen Phänomenen die Augen
verschliessen, nur weil sie ihr geheiligtes Gerüst
ins Wackeln bringen und weil sie in keine der her-
kömmlichen Schubladen passen? Solche Ballungen
von Mobilitätserscheinungen sind ein Teil unserer
Kultur, und es gehört zu den Aufgaben und Mög-
lichkeiten volkskundlicher Arbeit, solche Szenen zu
beobachten, zu vermessen und zu interpretieren.
Szenen, bei denen die Beteiligten wechseln, die
aber doch gewisse Strukturen und gewisse Domi-
nanten erkennen lassen. Die Szenerie kann eine
Disco sein, ein Supermarkt (auch Einkaufen ist ge-
normtes kulturelles Verhalten),2 5 ein Strandab-
schnitt am Meer, 2 6 eine Altstadtkneipe, ein Bahn-
hofsplatz. Das von Ueli Gyr und seinen Kollegen
angebotene Projektseminar «Filmethnographische
Recherchen im Zürcher Hauptbahnhof» gehört in
diesen Zusammenhang.
Damit soll nun nicht gesagt sein, dass Volks-
kundliches nur auf Reisen, nur noch in der Bewe-
gung, nur noch in den charakteristischen Aus-
drucksformen einer mobilen Gesellschaft zu fassen
wäre. Auch wenn ich mich auf die Kultur einer Re-
gion oder sogar eines Orts konzentriere, muss ich
als Volkskundler die traditionellen Grenzen über-
schreiten, die herkömmlichen Sparten oft zurück-
lassen. Ich habe die beiden Liechtensteiner Zeitun-
gen eines einzigen Tages (Montag, 9. November
1998) durchgesehen und möchte den Befund, der
sich daraus für mich ergeben hat, skizzieren:
Es ist ganz erstaunlich, was an dem vorausge-
henden Wochenende an Kulturellem geboten wur-
de. Die Klage, mit der Kultur gehe es bergab, zielt
zumindest an den quantitativen Gegebenheiten
vorbei. Noch nie hat es so viele kulturelle Aktivitä-
ten und Angebote gegeben. Das ist keine liechten-
steinische Besonderheit; Ähnliches lässt sich auch
anderswo feststellen.
Volkskundliches im engeren, im herkömmlichen
Sinn lässt sich eigentlich nur an einem, allerdings
bedeutsamen Ereignis festmachen. Adulf Peter Goop
stellte an jenem Wochenende sein neues Buch über
die Ostereier im Zarenreich vor, aufgrund seiner
einmaligen Sammlung. Das ist ein Stück Volkstums-
pflege (um diesen Begriff noch einmal aufzuneh-
men) - in diesem Fall aber nicht auf das eigene
Volk bezogen: auch die traditionelle Volkskunde
bleibt also von Globalisierungstendenzen nicht un-
berührt. Abgesehen von diesem einen Ereignis war
in den Zeitungsberichten entlang der kanonischen
volkskundlichen Einteilung kaum etwas abzuha-
ken. Aber wenn man eine vorsichtige Etagentren-
nung zwischen Hochkultur und Volkskultur vor-
nimmt (mit einem Zwischenstockwerk, in dem
<Hoch> und <Volk> ineinander übergehen), kann sehr
vieles der Volkskultur zugerechnet werden. Der Gi-
tarrenzirkel veranstaltete ein Konzert mit einem
kubanischen Gitarristen in der Pfarrkirche Ben-
dern; der Handharmonikaclub Schaan hatte sein
Jahreskonzert, der Schweizer Verein seine Jahres-
versammlung; ein Kurs für Seidenmalerei wurde
angekündigt, ein Frühstückstreffen für Frauen
wurde angezeigt, und eine Zusammenkunft von Ju-
gendunion und Senioren fand in Mauren statt.
Aber auch die Aktivferien auf dem Trisunahof mit
dem «Turnikantenstadel» (der Anklang ans Fern-
sehen ist unverkennbar) gehören dazu. Und auch
kommerziell angetönte Ereignisse wie die Weih-
nachtsausstellung der Papeterie müssen erwähnt
werden, und jedenfalls auch die internationale Kat-
140
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / H E R M A N N BAUSINGER
Die Volkskunde befasst
sich auch mit Fragen des
Tourismus. Welche liech-
tensteinische Wirklichkeit
nehmen Touristinnen und
Touristen bei ihrem zu-
meist kurzen Aufenthalt
im Fürstentum wahr? Was
für Bedürfnisse können die
Gäste in Liechtenstein
befriedigen? Vermutlich
handelt es sich bei den
hier in Vaduz fotografier-
ten Japanerinnen um Rei-
sende, die nur wenige
Stunden in Liechtenstein
verweilen. Will Liechten-
stein den oberflächlichen
Tagestourismus noch ver-
mehrt fördern oder eher
auf einen qualitativen Tou-
rismus setzen, der Gäste
anzieht, welche einige Ta-
ge im Fürstentum verwei-
len und dabei Land und
Leute besser kennenlernen
wollen?
zenausstellung in Vaduz (beispielsweise als Teil ei-
ner volkskundlichen Untersuchung über die Haus-
tier-Konjunktur und deren soziale und psychologi-
sche Hintergründe). Schliesslich: Auch alle Nach-
richten, die mit dem Tourismus zu tun haben, sind
einzubeziehen; auch Touristen sind Volk. Und
wenn gefordert wird, die Volkskunde müsse sich
um die Einheimischen kümmern, ist darauf hinzu-
weisen, dass diese Einheimischen - ob sie wollen
oder nicht - sich auf die Touristen einstellen.
In einem Roman von Kurt Weiss steht der fol-
gende kleine Passus: «Vaduz ist ein ruhiger Fleck.
Sicher im Winter. Sicher am frühen Morgen. Unru-
25) Welz, Gisela u.a.: Einkaufen. Ethnographische Skizzen. Konsu-
mentenkulturen in der Region Tübingen. Tübingen, 1996.
26) Vgl . Bausinger, Hermann: Nouveaux terrains, nouvelles täches,
nouvelles methodes. In: Chiva, Isac; Jeggle, Utz (Hrsg.): Ethnologies
en miroir. Paris, 1987, S. 315-331.
141
he geht schnell vorüber. Sie kommt in Bussen, ab
neun Uhr, hundertfünfzig an einem schönen Som-
mertag, jeder mit achtzig Leuten, die ein Bedürfnis
haben, die Ansichtskarten kaufen, Zigaretten und
Schokolade, die Kaffee trinken und wieder abfah-
ren. Vaduz ist ein ruhiger Fleck». 2 7 Unruhe geht
schnell vorüber ... - aber den Tag über bestimmt
sie das Leben in Vaduz, und es ist gewiss ein Stück
Heimatkunde oder Volkskunde, wenn gefragt wird,
was sich hier abspielt, warum die Tagesgäste kom-
men, was sie sehen wollen und was sie tatsächlich
sehen. Welches Bild - vielleicht sollte man in die-
sem Zusammenhang eher sagen: welches Image
wird ihnen präsentiert, und was bedeutet der
Fremdenverkehr für die liechtensteinische Iden-
tität? Sicher, man kann warten, bis die Fremden
wieder weg sind. Aber vielleicht bleibt dann gar
nicht mehr so viel übrig, und jedenfalls ist auch das
Leben ohne die Fremden nicht unverändert - und
sei es nur, weil ein autochthones, ein stilles Kon-
trastprogramm aufgebaut wird zu dem saisonalen
Trubel.
Ein junger amerikanischer Ethnologe legte vor
kurzem eine kleine Untersuchung vor über die
Fastnacht in Elzach, einem kleinen Ort im
Schwarzwald. Er gab der Studie eine Überschrift,
die den Charles-Dickens-Titel «A Tale of Two Ci-
ties» variiert: «A Tale of Two Carnivals». 2 8 In
Elzach gibt es den alten Brauch des Taganrufens
am Morgen des Fastnachtsmontags, gegen vier
oder halb fünf Uhr, vor Eintritt der Dämmerung.
Das ist so früh, dass Fremde um diese Zeit noch
nicht im Dorf sind; aber auch tagsüber sind am
Montag Fremde in den Wirtschaften des Dorfs
nicht zugelassen, jedenfalls nicht gerne gesehen -
und es gibt wirksame Mittel, sie das merken zu las-
sen, so dass sie schnell wieder aus den Lokalen
verschwinden. Aber es gibt auch eine Fastnacht für
die Fremden. Seit der Zeit um den Ersten Weltkrieg
wird am Sonntagmittag die Fastnacht ausgerufen,
und der ganze Fastnachtssonntag dient eigentlich
dazu, den fremden Besuchern etwas vorzuführen,
bis hin zu einem abendlichen Fackelzug. Der Eth-
nologe zeigt nun, dass beides eine wichtige Funkti-
on für die Elzacher hat, nicht nur der interne
Brauch am Montag, sondern auch die vorausge-
hende Aussendarstellung. Ich weiss nicht, ob es in
Liechtenstein Parallelen gibt - aber auch wenn dies
nicht der Fall ist, möchte ich daran festhalten, dass
auch der Fremdenverkehr ein Stück Liechtenstei-
ner Volksleben ist.
Es war mir wichtig, wenigstens an der einen oder
anderen Stelle konkret zu werden, also anzudeu-
ten, wo das Neue konkret zu suchen und zu finden
ist. Um dies nun aber nicht in eine endlose Liste
münden zu lassen, möchte ich abschliessend etwas
prinzipieller fragen, wie sich die neuen Akzente in
der heutigen Gesellschaft charakterisieren lassen.
Ich stelle dazu vier Beobachtungen heraus:
1. Die alte Volkskunde ging von einer relativ homo-
genen Gesellschaft aus. Kulturräumliche Unter-
schiede waren wichtiger als die sozialen. Heute da-
gegen haben wir es mit einer früher unbekannten
142
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
sozialen Ausdifferenzierung zu tun. Damit ist nicht
nur gemeint, dass es eine Vielzahl differenter Be-
rufsbilder gibt, sondern auch, dass wir mit ständig
neuen, immer wieder anderen sozialen Situationen
konfrontiert sind. Mit Georg Simmel, einem Kultur-
soziologen aus der Zeit um die Jahrhundertwende,
könnte man von «einer Vielzahl sich durchkreu-
zender sozialer Kreise» reden. Simmel hat dies da-
mals auf die entstehenden Grossstädte bezogen;2 9
heute gibt diese Vielzahl sich durchkreuzender so-
zialer Kreise auch ländlichen Gebieten bis zu ei-
nem gewissen Grad das Gepräge.
2. - und das hängt eng mit der ersten Beobachtung
zusammen: Jeder und jede Einzelne ist heute in
vielerlei Kreise einbezogen. Der sozialen Ausdiffe-
renzierung entspricht die Vielfalt der Rollen, die
jede einzelne Person spielen muss. Es gibt nicht
mehr die konzentrische Einlagerung in Familie,
Nachbarschaft, Dorf, Region (eines auf das andere
bezogen), sondern es gibt viele auseinanderstre-
bende Orientierungen. Daraus entsteht Unsicher-
heit; übergreifende Normen fehlen oder werden
nicht ohne weiteres akzeptiert. Umso wichtiger
werden die Normen kleiner Gruppen und die Bin-
Fastnachtsbrauchtum in
Liechtenstein: Guggenmu-
sik am Kinderumzug in Va-
duz. Die Guggenmusik ist
ein im späteren 20. Jahr-
hundert aus der Schweiz
übernommenes Kulturgut.
Die Guggenmusik-Gruppen
suchen sich jedes Jahr ein
neues Motto aus. Sie ent-
werfen dementsprechend
jeweils neue Kleider für
ihre Auftritte bei Fast-
nachtsumzügen im In- und
im Ausland. Die Guggen-
musik ist zu einem festen
folkloristischen Element
geworden, das mittlerweile
gezielt zur Werbung für
Liechtenstein eingesetzt
wird. Der Liechtenstein-
Tag an der Expo 2000 in
Hannover wurde von einer
eigens zusammengestellten
Guggenmusik aus dem
Fürstentum mitgestaltet.
Der von Schuljugendlichen
unter Anleitung eines
«Funkenmeisters» aufge-
baute Funken in Balzers
wird von der sogenannten
«Funkenhexe» überragt.
In allen liechtensteini-
schen Gemeinden werden
am ersten Sonntag in der
Fastenzeit solche Funken
abgebrannt. Mit diesem
Feuerzauber sollen die
Geister des Winters verjagt
werden. Dieses lokale
Brauchtum, verknüpft mit
einem Dorf- oder Quartier-
fest, stammt aus vorchrist-
licher Zeit und wird auch
heute noch gepflegt.
27) Weiss, Kurt: Tod in Vaduz. Vorabdruck eines Kapitels in:
Allmende 18. Jahrgang (1998), Heft 58/59, S. 38-42; hier S. 38.
28) Tokofsky, Peter: A Tale of Two Carnivals. Vorabdruck als Ms.
(1997).
29) Simmel, Georg: Die Grossstädte und das Geistesleben. In: Brücke
und Tür, Stuttgart, 1957, S. 227-242.
143
dung an sie. Bei Jugendlichen ist dies ganz deut-
lich; sie orientieren sich vor allem an ihren peer
groups, an ihren Cliquen. Aber es gilt auch für Er-
wachsene, die oft einen Verein, einen Freundes-
kreis oder ähnliches als eine Art Heimat betrach-
ten. Solche Bindungen sind oft nicht auf Dauer ge-
stellt - man könnte von einer Ad-hoc-Gesellschaft
reden, die natürlich schwerer zu fassen und zu ver-
stehen ist als eine in sich ausgeglichene und konti-
nuierliche Gesellschaftsstruktur.
3. Das Stichwort Ad-hoc-Gesellschaft reiht sich den
anderen Schlagwortbegriffen an, mit denen die
heutige Gesellschaft etikettiert wird: Risikogesell-
schaft, Freizeitgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, In-
szenierungsgesellschaft. Der Begriff Risikogesell-
schaft 3 0 verweist auf jene Verunsicherung im Nor-
mengefüge und in der Lebensplanung, die sich vor
allen Dingen auch in beruflichen Unsicherheiten
ausdrückt. Die anderen Begriffe zeigen, dass jen-
seits der Arbeit eine hektische Jagd nach positiven
Erfahrungen eingesetzt hat.
4. Diese Jagd wird angefeuert, die Erlebnissucht
wird angeheizt durch die Medien. Ich kann das
hier nicht im einzelnen verfolgen, ich möchte aber
doch festhalten, dass bestimmte Mentalitätsverän-
derungen direkt oder indirekt beeinllusst sind von
den äusseren Formen verstärkter Modernisierung:
die Medien werden ja nicht nur zum Zeitvertreib
verwendet, sondern sie setzen auch Massstäbe. An
einem Beispiel aus der traditionellen Volkskunde
verdeutlicht: die oft ziemlich öden Narrentreffen
wären vermutlich nicht so beliebt, wenn sie nicht
durch das Fernsehen in oft monotoner Weise popu-
larisiert würden. Natürlich hat die erhöhte Mobi-
lität auch mit der technischen Entwicklung zu tun,
und auch das Schlagwort der Globalisierung ist in
diesem Zusammenhang zu erwähnen. Einerseits
geht es um die Übernahme vieler Momente aus
fremden Kulturen, andererseits muss man festhal-
ten, dass die Wirkungen der Globalisierung und
der Mobilisierung nicht nur in eine Richtung gehen,
denn der weltweite Horizont provoziert auch ein
verstärktes Bedürfnis nach Eingrenzung. Ein
schwedischer Volkskundler hat das in einer schlag-
wortartigen Feststellung zusammengefasst: «More
global, more regional, more local». 3 1 Die Vermeh-
rung globaler Tendenzen verstärkt auch die Ten-
denz zur regionalen oder lokalen Identität.
Dies ist eine knappe Gegenwartscharakteristik, ein
Blick auf die jüngste Entwicklung, auf das Ergebnis
der neuesten Geschichte. Aber ich möchte darauf
hinweisen, dass solche neuen Dimensionen und
Akzente immer auch Aspekte der älteren kulturel-
len Entwicklung beleuchten, die vorher eher im
Dunkeln lagen. Die soziale Ausdifferenzierung von
heute legt beispielsweise die Frage nahe, ob die
Homogenität früherer Gemeinwesen nicht über-
schätzt wurde. Sie lenkt den Blick auch bei histori-
schen Untersuchungen auf die Abweichungen, auf
die Ränder. Die moderne Verunsicherung, die mit
den Problemen beruflicher Karrieren zusammen-
hängt, lässt uns erkennen, dass wir es früher erst
recht mit einer «Risikogesellschaft» zu tun hatten.
Die Monographien über bäuerliche Gemeinschaf-
ten - ich denke etwa an die vorbildlichen Arbeiten
über die ungarische Gemeinde Atany 3 2 oder den
schwäbischen Ort Kiebingen 3 3 - lassen erkennen,
dass die Leute damals ständig neu disponieren
mussten und dass sie in existenzieller Abhängigkeit
von Umständen lebten, die sie nicht zu beeinflus-
sen vermochten - beispielsweise in einer oft depri-
mierenden Abhängigkeit vom Wetter. Die neuen
Formen der Erlebnisangebote können den Blick
schärfen für die <Show>-Seiten früherer Bräuche
und früherer kultureller Veranstaltungen. Der frän-
kische Dichter und Volkskundler Konrad Weiss hat
einmal die Trachten als «heraldische Formen des
Volksdaseins» bezeichnet, als Zeichen, die nach
aussen gerichtet sind, die wie ein Wappen präsen-
tiert werden. Tatsächlich praktizierten die Men-
schen Bräuche ja auch früher nicht nur für sich
und untereinander - auch früher wurde vieles
nicht nur ausgeführt, sondern auch vorgeführt.
Schliesslich: der Begriff Medien weckt bei uns die
Assoziation des Fernsehens und neuerer Formen
der Vernetzung; aber auch früher wurde die Kultur
durch Medien mitgeprägt, durch Bilder und seit der
Alphabetisierung eines Grossteils der Bevölkerung
vor allem auch durch Bücher.
144
ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM -
VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER
Die kulturelle oder ethni-
sche Identität ist heute im
Wandel. Die relative Ho-
mogenität früherer Gesell-
schaften ist aufgebrochen,
Einflüsse von aussen sind
stärker geworden. Kinder
und Jugendliche suchen in
selbst gewählten Cliquen
eine Heimat auf Zeit. Si-
tuationen und Beziehun-
gen ändern sich perma-
nent. Der Ball wechselt
ebenso immer wieder sei-
ne Position, vom Men-
schen gesteuert.
Ein weites Feld also, in Bezug auf die Gegenwart
und auf die Geschichte, und dieses weite Feld tut
sich auch im kleinen Liechtenstein auf. Ja man
könnte sogar sagen, Liechtenstein sei ein beson-
ders lebendiges Laboratorium für die Volkskunde.
Vor kurzem hat die Schweizerische Gesellschaft für
Volkskunde ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert,
und ich durfte bei dieser Gelegenheit einen kleinen
Rückblick geben.3 4 Als Motto wählte ich ein Wort
von Gottfried Keller: «Wie kurzweilig ist es, dass es
nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern
dass es Züricher und Berner, Unterwaldner und
Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und
sogar zweierlei Basler». Diese Feststellung lässt
sich auch auf einen anderen Massstab übertragen,
und sie gilt dann auch für Liechtenstein mit dem
Walserdorf Triesenberg, mit den Orten, die der
Reichsherrschaft Schellenberg angehörten, und an-
deren, die zur Grafschaft Vaduz gehörten. Mit einer
Grenze, die Gemeinsamkeit schafft, die aber nicht
abschliesst; mit kräftigem Eigenwuchs und vielfäl-
tigen internationalen Beziehungen und Kontakten.
Die Tradition und der Eigen-Sinn sind so gut ein
volkskundlicher Gegenstand wie das Neue und die
Öffnung nach aussen.
30) Vgl . Beck. Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
Moderne. Frankfurt a .M. , 1986.
31) Löfgren, Orvar: Tagungsbeitrag (Ms.). Berlin, 1996.
32) Fei, Edit; Hofer, Tamäs : Proper Peasants. Traditional Life in a
Hungarian Village. New York, 1969.
33) Jeggle, Utz: Kiebingen - eine Heimatgeschichte. Tübingen, 1977.
34) Bausinger, Hermann: Gegen die Eintönigkeit ... In: Schweizer
Volkskunde, 87. Jahrgang (1997), Heft 1, S. 12-21.
145
BILDNACHWEIS ANSCHRIFT DES A U T O R S
S. 133: Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz (Foto.-
Baron Eduard von Falz-
Fein, Vaduz)
S. 130, 142 und 143:
Liechtensteinisches Lan-
desmuseum, Vaduz
Prof. Dr. Hermann
Bausinger, Emeritierter
Ordinarius für Volkskunde
an der Universität Tübingen
Ludwig-Uhland-Institut für
Empirische Kulturwissen-
schaft
Biesinger Strasse 26
S. 135: Sabine Bockmühl D-72070 Tübingen
(Anna Bolika): Die Senn-
puppe. Edition Fuchs &
Hase. Triesen, 1997
S. 138, 139: Nikolaus
Walter, Feldkirch
S. 141: Mathias Braschler,
Zürich
S. 145: Close up AG,
Roland Korner, Triesen
146
DIE VADUZER
HEXENPROZESSE
A M ENDE DES
16. JAHRHUNDERTS
MANFRED TSCHAIKNER
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Auszug aus der «Chronik
der Stadt Maienfeld», ver-
fasst vom reformierten
Pfarrer Bartholomäus An-
horn dem Älteren. Er be-
richtet darin über die Hin-
richtung von vier Hexen in
Vaduz, deren Todesurteile
im April 1597 vollstreckt
wurden. Es handelt sich
dabei um die ältesten bis-
lang gefundenen Nachwei-
se von Hexenprozessen in
der Grafschaft Vaduz.
148
DIE VADUZER HEXENPROZESSE A M ENDE DES
16. JAHRHUNDERTS / MANFRED TSCHAIKNER
Von den Hexenprozessen auf dem Gebiet des heuti-
gen Fürstentums Liechtenstein im ausgehenden
16. Jahrhundert scheinen keine schriftlichen Un-
terlagen mehr erhalten zu sein. Über die damaligen
Vorgänge waren wir bislang allein durch die aus-
führliche Wiedergabe einer wichtigen Quelle in der
«Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein» von
Peter Kaiser (1793-1864) informiert.1 Noch auf-
schlussreichere Angaben finden sich allerdings in
der «Chronik der Stadt Maienfeld», die vom refor-
mierten Pfarrer Bartholomäus Anhorn dem Älteren
(1566-1640) verfasst wurde. 2 Beide Überlieferun-
gen zusammen ergeben nachfolgendes Bild von
den Ereignissen am Ausgang des 16. Jahrhunderts.
Aus Anhorns Chronik erfahren wir, dass in Vaduz
nicht erst 1598, sondern bereits im Jahr davor He-
xenprozesse geführt wurden. Die entsprechenden
Ausführungen lauten:
Den 11. tag Aprell hat man zu Vadutz 4 unhol-
den mitt dem schwärt gericht und darnach ver-
brent. Weliches bißhar nitt breüchig gewäsen, dan
man hatt sy zu vor läbendig in das feür geworffen.
So habend all bekent, das der teüffel in eines
schönen, jungen gsellen gstalt sye zu inen komen,
ime selbs einen nammen gäben und um sy gebulet,
ouch inen gältz gnug versprochen zu gäben, wen sy
im zu willen werdind. Müssend aber zu vor gott ab-
sagen, iren touff widersprächen und ime in künfti-
gem, anhangen. Und als sy den willen darin gäben,
habend sy einen Unwillen gegen gott und dem men-
schen überkommen und vil leüt und vich verderbt,
weliche sy zu vor in ires bulen nammen angerürt
und angeblasen. Wen sy gält von im begärt, hatt er
inen weiswas gäben, welches geschinen wie rächt
gält. Wen sy es usgäben wellen, ist es loub gsin.
Ein schön, jung wyb under disen, als sy ge-
sächen, das sy vom bösen sye betrogen worden,
hatt sy ires versprächens gegen ime wellen abston
und sich widerum zu gott bekeren. Deren hatt der
Satan kein ruw gelassen und ihren uff ein zytt ein
schwären streich zwüschend die schulteren gäben,
das sy hernach kein gsunde stund mehr gehebt,
und usforcht denocht nitt hatt dörffen abston?
Anhorn überliefert uns also zunächst die Hinrich-
tung von vier «Unholden» am 11. April 1597. Nach
dem in Vaduz gültigen Gregorianischen Kalender
fand sie am 21. April statt. Wie aus dem dritten Ab-
schnitt des Textes hervorgeht, waren sämtliche Op-
fer weiblichen Geschlechts. Der Chronist betont die
ungewöhnliche Art ihrer Tötung, denn anders als
bei früheren Hexenprozessen waren die Verurteil-
ten nicht mehr lebendig ins Feuer geworfen, son-
dern vor der anschliessenden Verbrennung mit
dem Schwert enthauptet worden. Im Text bleibt da-
bei unklar, wann und wo man die «Unholde»
früher lebendig verbrannt hatte. Waren in Vaduz
vor 1597 schon Hexenprozesse geführt worden, die
mit Hinrichtungen dieser Art geendet hatten? Oder
meinte Anhorn, dass Hexen früher andernorts stets
lebendig verbrannt worden waren?
Die Genauigkeit der chronikalischen Ausführun-
gen - auch was vorgefallene Kriminalfäile betrifft -
spricht eigentlich dafür, dass eventuelle Hinrich-
tungen von Hexen in Vaduz in den Jahren vor 1597
vermerkt worden wären. Aber wir kennen An-
horns Kriterien für die Auswahl der Informationen
zu wenig. Galten für ihn die gegen Ende des 16.
Jahrhunderts vielerorts und häufig geführten He-
xenprozesse, wenn sie in Nachbarterritorien statt-
fanden, als nicht aufzeichnenswert? Darauf könnte
hindeuten, dass Anhorn eben bei der Erwähnung
der Vaduzer Ereignisse vom Apri l 1597 gleich ein-
leitend schon die ungewohnte Hinrichtungsweise
hervorhebt. Bildete diese den Grund dafür, dass die
Hexenprozesse in die Chronik der Stadt Maienfeld
aufgenommen wurden?
1) Tschaikner. Manfred: «Der Teufel und die Hexen müssen aus dem
Land ...». Frühneuzei t l iche Hexenverfolgungen in Liechtenstein. In:
Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs tentum Liechten-
stein. Band 96 (1998). S. 1-197. hier S. 12-14.
2) Zu seiner Biographie vgl. Stückelberger, Hans Martin: Kirchen-
und Schulgeschichte St. Gallens. Band 2: 1630-1750. St. Gallen.
1962, S. 55-57.
3) Aus Bar tholomäus Anhorns Chronik der Stadt Maienfeld. Bearb.
v. Anton von Sprecher. Masch. Man., o.O.. 1992, S. 273. Im Folgen-
den zitiert als: Anhorns Chronik.
149
Die Hinrichtung von Hexen durch das Schwert
mit anschliessender Verbrennung griff übrigens
etwa zur selben Zeit auch in den österreichischen
Herrschaften vor dem Arlberg Platz.4
Im zweiten Abschnitt der zitierten Darlegungen
macht uns Anhorn mit den öffentlich verkündeten
Endgeständnissen (Urgichten, Vergichten) bekannt.
Dabei erfahren wir, dass sämtliche Hexen den Ver-
führungskünsten des Teufels in Gestalt eines schö-
nen Jünglings, der jeweils einen bestimmten Na-
men führte, erlegen sein sollen und dass dieser
auch mit finanziellen Verlockungen seine Interes-
sen durchzusetzen vermocht habe. Die Frauen gal-
ten somit als Opfer ihrer Lüsternheit und ihrer ma-
teriellen Gier beziehungsweise Armut. Bemerkens-
wert erscheint in diesem Zusammenhang die An-
gabe, dass der Widerwille der Hexen gegen Gott
und die Menschen sich erst aus dem Teufelspakt
ergebe und nicht schon davor bestanden habe. Die
theologische Prägung des Hexenbildes zeigt sich
auch darin, dass der Teufelspakt mit dem Widerruf
der christlichen Taufe verbunden war.
Der im Auftrag des Teufels durchgeführte Scha-
denzauber soll ohne dingliche Hilfsmittel rein per-
sonal durch Berühren und Anblasen erfolgt sein.
Dass jemand, der sich mit dem Teufel einliess, im-
mer schon betrogen war, veranschauliche die Art
des Geldes, das seine Opfer von ihm jeweils erhiel-
ten. Es verwandelte sich, wenn man es ausgeben
wollte, stets in Laub.
Am Schluss führt Anhorn noch das Beispiel ei-
ner schönen jungen Frau an, die vergeblich ver-
sucht habe, ihren Teufelsbund wiederum rückgän-
gig zu machen. Der Leser der Chronik wird ge-
warnt, an eine solche Möglichkeit zu glauben, denn
im konkreten Fall bildete das einzige Ergebnis der
Bemühungen, dass die Frau einen schweren kör-
perlichen Schaden aufgrund der folgenden Miss-
handlung durch den Teufel erlitt und dass sie die-
sem weiterhin in Furcht Untertan bleiben musste.
Es ist nicht mehr zu klären, wie Anhorns Wahr-
nehmungsinteressen seine Darstellung der Hexen-
geständnisse beeinflussten. Möglicherweise hatte
er die Hinrichtungen des Jahres 1597 selbst mit-
erlebt.
Über die Fortsetzung der Hexenprozesse in Vaduz
unterrichten uns zwei weitere Eintragungen in An-
horns Chronik. Diejenige für das Jahr 1598 lautet:
Im Räbmonet [- Februar5] hatt man zu Vadutz 3
unholden mitt dem. schwärt gericht und darnach
verbrent. Dise habend sich von gott ihrem schöpfen
Christo ihrem erlöser, dem heiligen geist ihrem re-
gierer, vom touff und gmeinschafft der heiligen ab-
geworfen und dem teüffel ergäben.6
Wiederum betont Anhorn die für ihn ausserge-
wöhnliche Art der Hinrichtung durch das Schwert
mit anschliessender Verbrennung. Von den Verbre-
chen der Hexen erwähnt er jedoch nur mehr ihren
Abfall von Gott und dem christlichen Glauben.
Noch kürzer fasst sich der Chronist bei der Erwäh-
nung der Hexenprozesse des Jahres 1600:
Den 1. Septembris hatt man zu Vadutz vier un-
holden mitt dem schwärt gericht und darnach ver-
brent.7
Nun erscheint das Interesse Anhorns an den Ge-
richtsverfahren allein auf die Hinrichtungsart redu-
ziert. Bald dürfte diese aber auch für ihn nichts Be-
sonderes mehr dargestellt haben. Fanden in Vaduz
in den folgenden Jahren weitere Hexenprozesse
statt, die deshalb in der Maienfelder Chronik nicht
mehr angeführt wurden?
Die Verbrennung einer vermeintlichen Hexe bei
lebendigem Leibe in Zizers im Jahr 1602 erwähnt
Anhorn jedenfalls wieder: Im Augusto hatt man zu
Cicers ein unhold, die Walchinen genempt, läben-
dig in das feür geworffen und verbrent. Welche sich
von gott ihrem schöpfer, Christo ihrem heiland,
dem h. geist ihrem regierer abgeworffen, dem teü-
fel zu eigen ergäben, vil leüt und vich verderbt
hatt. Wenn er im Anschluss daran auch die Hin-
richtung eines Sodomiten in Chur anführt , 8 hängt
dies vielleicht ebenfalls damit zusammen, dass es
sich dabei eben um Gerichtsverfahren in Anhorns
Heimat, den Drei Bünden, handelte.
Die Maienfelder Chronik wirft ein neues Licht auf
die von Peter Kaiser angeführten Hexenverfolgun-
150
DIE VADUZER HEXENPROZESSE A M ENDE DES
16. JAHRHUNDERTS / MANFRED TSCHAIKNER
gen im Herbst 1598.'' Am 5. Oktober dieses Jahres
erhielten Geschworene aus verschiedenen Gemein-
den einen Audienztag vor dem Landvogt, den Land-
ammännern beider Landschaften und dem Land-
schreiber, wobei sie ihre Klagen über bestimmte
Personen vorbrachten, die bei ihnen der Hexerei
verdächtigt wurden.
Peter Kaiser schreibt zwar, dass im Anschluss
daran gegen die Angeklagten «der Prozeß eingelei-
tet» worden sei, verflüchtigt sich jedoch bei den
weiteren Ausführungen in zeittypische Gemeinplät-
ze. So scheint er die Verbrennung etlicher Hexen
nur daraus abgeleitet zu haben, dass es sehr
schwer war, «von einer solchen Anklage sich zu
Bartholomäus Anhorn der
Ältere erwähnt in seiner
Chronik, dass Hexenpro-
zesse in Vaduz im Februar
1598 drei weitere Todes-
opfer forderten.
4) Tschaikner, Manfred: «Damit das Böse ausgerottet werde» -
Hexenverfolgungen in Vorarlberg im 16. und 17. Jahrhundert. Bre-
genz, 1992 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 11).
S. 163.
5) Schweizerisches Idiotikon. Wör terbuch der schweizerdeutschen
Sprache. Band 4. Frauenfeld. 1901, Sp. 237.
6) Anhorns Chronik, S. 275.
7) Ebenda, S. 288.
8) «Den 9. Octobris hatt man zu Chur den Ch. Mal. , einen sodomit-
ten, mitt dem schwär t gericht und verbrent .» - Anhorns Chronik,
S. 303.
9) Kaiser, Peter: Geschichte des Für s t en thums Liechtenstein. Nebst
Schilderung aus Chur-Rätien's Vorzeit. Chur, 1847. Neu hrsg. von
Arthur Brunhart. Vaduz, 1989. Band 1, S. 386-388.
151
reinigen, weil die Behauptung der Unschuld und
das Läugnen für ein Werk des bösen Geistes ange-
sehen und alsbald die schrecklichen Qualen der
Folter angewendet wurden». Obwohl Kaiser be-
hauptet, dass «um diese Zeit» mehrere Personen
verbrannt worden seien, lassen seine Darlegungen
vermuten, dass ihm keine Akten von Hexenprozes-
sen vorlagen.
Anhorns Chronik kann wohl als Beleg dafür gel-
ten, dass im Herbst 1598 wirklich keine Hinrich-
tungen von Hexen erfolgten. Es ist schwer vorstell-
bar, dass zu dieser Zeit wieder Verbrennungen bei
lebendigem Leib vorgenommen wurden und der
Chronist sie deshalb nicht erwähnt. Die von Kaiser
angeführten Klagen der Geschworenen dokumen-
tieren somit allein den Verfolgungsdruck aus der
Bevölkerung, der damals nicht unmittelbar in Ge-
richtsverfahren mündete.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in
den Jahren 1597, 1598 und 1600 in Vaduz drei He-
xenprozesse geführt wurden, die insgesamt elf To-
desopfer forderten. Es ist nicht auszuschliessen,
dass man auch in den Jahren davor und danach
der Hexerei verdächtigte Personen gerichtlich ver-
folgte.
Da vor kurzem in einer Quelle des bischöflichen
Archivs in Chur ebenfalls drei Vaduzer Hexenpro-
zesse des Jahres 1667 neu entdeckt worden sind, 1 0
muss die Zahl der nachgewiesenen und erschliess-
baren Todesopfer bei den liechtensteinischen He-
xenverfolgungen auf nunmehr etwa 180 erhöht
werden.
BILDNACHWEIS A N S C H R I F T DES
A U T O R S
«Chronik der Stadt Maien-
feld», von Bartholomäus Dr. Manfred Tschaikner
Anhorn dem Ältereren, fol. Beim Kreuz 42
214r und fol. 215v A-6700 Bludenz
Fotos: Heinz Preute, Va-
duz, ab dem Originaldoku-
ment im Stadtarchiv
Maienfeld
10) Tschaikner, Manfred: Die Peldkircher Jesuiten, das nächtl iche
Landleben und die Hexenverfolgungen. In: Montfort 51 (1999).
S. 337-339, hier S. 338 f.
152
DIE LIECHTEN-
STEINISCHE
MIGRATIONS-
POLITIK
I M S P A N N U N G S F E L D N A T I O N A L S T A A T L I C H E R
I N T E R E S S E N U N D I N T E R N A T I O N A L E R
E I N B I N D U N G 1945 BIS 1981
C L A U D I A H E E B - F L E C K
V E R O N I K A M A R X E R - G S E L L
Inhalt
156 Begrifflichkeit und Fragestellung
159 Restriktive Zulassungspolitik auf der Basis
des Rotationsprinzips 1945 bis 1968
164 Erste Massnahmen zur B e s c h r ä n k u n g der
Zuwanderung von a u s l ä n d i s c h e n Arbei ts-
k r ä f t e n 1962/63
169 Erzwungene Z u g e s t ä n d n i s s e an das Nieder-
lassungsprinzip: die Liberal is ierung des
Familiennachzugs 1968
175 Die Entstehung des liechtensteinischen
Begrenzungssystems 1970
179 Die V e r s c h ä r f u n g der Zulassungsbestim-
mungen und die Aufhebung der Fre izügig-
keit mit der Schweiz 1980/81
183 Fazit
154
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA H E E B - F L E C K / VERONIKA MARXER-GSELL
V O R B E M E R K U N G Be im folgenden Ar t ike l handelt es sich u m Resulta-
te, die i m Rahmen eines schweizerischen National-
fondsprojektes vom Januar 1998 bis Dezember
2001 erarbeitet wurden. Die Gesamtuntersuchung
liegt in den liechtensteinischen Bibliotheken vor.
Arbeitsraum in der Zahn-
fabrik Ramco in Schaan,
um 1947
155
Begrifflichkeit und Fragestellung
Bauarbeiter, 1993
156
Migrat ionspoli t ik w i r d nach klassischer Manier in
zwei Politikbereiche unterteilt: i n den Bereich der
Zulassungspolitik und i n jenen der Integrationspo-
litik. Be i der Zulassungspolitik geht es u m die F ra -
ge, wieviel und welche A u s l ä n d e r i n n e n sich f ü r wie
lange und mit welchen Rechten ausgestattet i m na-
tionalen Terr i tor ium aufhalten d ü r f e n . Bei der Inte-
grationspolitik geht es u m Massnahmen zur gesell-
schaftlichen Eingl iederung der i m Lande anwesen-
den A u s l ä n d e r i n n e n . Diese k ö n n e n sehr unter-
schiedlich ausgestaltet sein und reichen von
Beratungsangeboten bis zur Erleichterung der E i n -
b ü r g e r u n g .
In Liechtenstein wurden bezügl ich der Integrati-
on der A u s l ä n d e r i n n e n i m vorgegebenen Zei t raum
zwar Anstrengungen unternommen. So stand z u m
Beispiel die Erleichterung der E i n b ü r g e r u n g f ü r
l a n g j ä h r i g a n s ä s s i g e A u s l ä n d e r i n n e n seit den 50er
Jahren immer wieder in Diskussion. Zu konkreten
Ergebnissen k a m es jedoch nicht. Migrat ionspoli t ik
heisst i m liechtensteinischen Kontext Zulassungs-
politik. Sie definiert, unter welchen Bedingungen
A u s l ä n d e r i n n e n zur Arbei tsaufnahme nach Liech-
tenstein e inwandern d ü r f e n respektive unter wel-
chen Bedingungen sie das Land zu verlassen ha-
ben. In engem Bezug zur Arbei tsmigrat ion steht als
zweiter Regelungsbereich der Famil iennachzug.
A R B E I T S M A R K T L I C H E V O R A U S S E T Z U N G E N
DER L I E C H T E N S T E I N I S C H E N ZULASSUNGS-
POLITIK
Das wesentlichste Charaker is t ikum der liechten-
steinischen Migrationspoli t ik ist deren enge B i n -
dung an die B e d ü r f n i s s e des Arbeitsmarktes. Die
Versorgung der liechtensteinischen Wirtschaft mit
a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n war und ist bis heute
auf dem Hintergrund eines strukturellen Arbeits-
k r ä f t e m a n g e l s die vorrangige zulassungspolitische
Zielsetzung. Liechtenstein standen i m vorgegebe-
nen Zei t raum d iesbezüg l ich verschiedene Möglich-
keiten offen, welche je nach politischer und/oder
wirtschaft l icher Situation unterschiedlich genutzt
wurden .
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
Als erstes ist in diesem Zusammenhang die Fre i -
zügigkeit mit der Schweiz zu nennen. Sie e r m ö g -
lichte bis 1981 eine u n e i n g e s c h r ä n k t e Rekrutie-
rung auf dem schweizerischen Arbei tsmarkt . 1981
wurde sie auf Betreiben Liechtensteins aufgeho-
ben, galt jedoch weiterhin fü r G r e n z g ä n g e r i n n e n
aus der Schweiz.
E i n zweiter, die Zulassungspolitik bestimmender
Faktor bestand in der Möglichkeit , der wir tschaft l i -
chen Nachfrage nach A r b e i t s k r ä f t e n mit der Bewi l -
ligung von G r e n z g ä n g e r i n n e n aus dem benachbar-
ten Vorarlberg zu begegnen. Die Zuwanderung von
sogenannten D r i t t a u s l ä n d e r i n n e n , das heisst von
A u s l ä n d e r i n n e n , die nicht Schweizer B ü r g e r i n n e n
waren, konnte aufgrund dieser Voraussetzungen
trotz hohem wir tschaf t l ichem Bedarf relativ re-
striktiv gehandhabt werden.
Ü b e r die herausragende Bedeutung des Grenz-
g ä n g e r w e s e n s sowie der Zuwanderung aus der
Schweiz geben die untenstehenden beiden Tabel-
len Auskunf t .
Zur oberen Tabelle ist zu bemerken, dass die Zu-
nahme der a u s l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g nicht
allein auf die Arbei tsmigrat ion und den Famil ien-
nachzug z u r ü c k z u f ü h r e n ist. Sie w i r d auch noch
von anderen Faktoren wie zum Beispiel dem n a t ü r -
l ichen B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m oder dem Heirats-
verhalten bestimmt.
GESAMTBESCHÄFTIGUNG UND AUSLÄNDISCHE ERWERBSTÄTIGE
1941 BIS 1990
Gesamt-
Jahr beschäftigung Ausländerbeschäftigung Total
Grenzgängeranteil
absolut in Prozent in Prozent
1941 4 161 676 16,2 1,4
1950 6 338 2 007 31,7 11,9
1960 9 096 3 893 42,8 43,7
1970 11 569 6 240 53,9 40,9
1980 14 840 8 212 55,3 40,1
1990 19 905 11 933 59,9 57,7
GESAMTBEVÖLKERUNG UND AUSLÄNDISCHE WOHNBEVÖLKEBUNG
NACH HERKUNFTSKATEGORIEN 1941 BIS 1990
Gesamt-
Jahr bevölkerung Ausländerinnen Total
Schweizer- Drittauslän-
innen derinnen
absolut in Prozent in Prozent in Prozent
1941 11 094 1 785 16,1 32,7 67,3
1950 13 757 2 751 20,0 43,3 56,7
1960 16 628 4 143 24,9 37,1 62,9
1970 21 350 7 046 33,0 35,7 64,3
1980 25 215 9 302 36,9 43,6 56,4
1990 29 032 10 909 37,6 40,9 59,1
157
R E C H T L I C H E V O R A U S S E T Z U N G E N
DER LIECHTENSTEINISCHEN ZULASSUNGS-
POLITIK
Die liechtensteinische Zulassungspolitik orientierte
sich i m wesentlichen an der schweizerischen, war-
tete jedoch auch immer wieder mit eigenen Lösun-
gen auf. Rechtlich basierte sie auf der schweizeri-
schen A u s l ä n d e r g e s e t z g e b u n g (ANAG) 1 , die 1941
mit der E i n f ü h r u n g der Fre izügigkei t zwischen
Liechtenstein und der Schweiz auch in Liechten-
stein zur Anwendung k a m . 2 Liechtenstein nahm in
fremdenpolizei l ichen Belangen die Stellung eines
Schweizer Kantons ein, war also bei der Regelung
des Aufenthaltsrechts von D r i t t a u s l ä n d e r i n n e n
nicht autonom. A u c h in der Zulassungspolitik wa-
ren die liechtensteinischen B e h ö r d e n an die fü r die
Schweiz geltenden fremdenpolizei l ichen und ar-
beitsmarktlichen G r u n d s ä t z e gebunden. Trotz die-
ses eng gesteckten gesetzlichen und institutionellen
Rahmens entwickelte sich in Liechtenstein ein eige-
nes A u s l ä n d e r r e c h t . Dieses schlug sich am ausge-
p r ä g t e s t e n in den Verordnungen zur Begrenzung
der Zuwanderung nieder.
Im folgenden sollen die wesentlichsten Etappen
in der Herausbi ldung des liechtensteinischen Be-
grenzungssystems dargestellt werden. Besonderes
Augenmerk gilt dabei den liechtensteinischen Spe-
z i f ika i m Vergleich zur Schweiz. Neben den rechtli-
chen Besonderheiten interessieren die spezifisch
liechtensteinischen Verhä l tn i s se , die die e igens t än -
dige Entwicklung b e g r ü n d e t e n und in Gang setz-
ten. U m einen Einbl ick i n den migrationspolit i-
schen Gestaltungsprozess zu g e w ä h r e n , werden zu
a u s g e w ä h l t e n Problemstellungen die Positionen
der involvierten Akteure dargelegt. Dies sind i m
vorgegebenen Zei t raum: die liechtensteinische Re-
gierung, die liechtensteinische Fremdenpol izei , das
Arbeitsamt, der Arbei ternehmerverband, die Indu-
str iekammer und die Gewerbegenossenschaft.
1) Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer
vom 26. März 193t (ANAG).
2) In diversen Vereinbarungen zwischen Liechtenstein und der
Schweiz über die Regelung der fremdenpolizeilichen Beziehungen
festgehalten. LGB1. 1941 Nr. 4. LGB1. 1948 Nr. 11, LGB1. 1963 Nr. 38
und 39.
158
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA H E E B - F L E C K / VERONIKA MARXER-GSELL
Restriktive Zulassungspolitik auf
der Basis des Rotationsprinzips
1945 bis 1968
J E N N Y , S P O E R R Y & CIE.
TELEPHON NO. 4.16.06
Z I E G E L B H Ü C K B , DEN 9. J u l i 1947-
BANTON G
CJ/e;
An die
Hohe Fürstliche
Liechtensteinische Regierung
V a d u z
Hochgeehrter Herr Regierungschef!
Hochgeehrte Herren Regierungsrate!
Wir beziehen uns auf verschiedene Unterredungen des Unter-
zeichneten und unseres Direktors, Herrn J. Wild mit Herrn Vize-
Regierungschef Kigg bezüglich der Fremdarbeiterfrage, die endlich
einmal einen S c h r i t t vorwärts geben s o l l t e . Wir verlangen nicht mehr,
als üass man uns die Möglichkeit gibt, i n unserer Spinnerei Vaduz
im einschichtigen Tagesbetrieb v o l l arbeiten zu können, wozu uns et-
wa 10 Personen fehlen. Nachdem wir i n Vaduz und i n Triesen 225 Per-
sonen beschäftigen, i s t unser Begehren sehr massig. In der Schweiz
bew i l l i g t man ohne weiteres 10^ Fremdarbeiter vom normalen Arbeiter-
bestand. Wir würden i n Vaduz sehr gern mit einem T e i l des Betriebes
Schicht arbeiten, was aber auch nicht möglich i s t , weil der dann
benötigte elektrische Strom im Winter nicht erhältlich wäre. Wir ha-
ben 1939 i n Vaduz noch 130 Personen beschäftigt, z.Zt. sind es im
besten F a l l 90, und wir würden trachten, mit 100 Personen auazukom-
men, nicht eingerechnet die normalen Absenzen von etwa 6 - 8 Personen.
Herr Regierungs-Vize-Chef Nigg hat uns versprochen, Grenz-
gänger aus dem Vorarlberg zu beschaffen. Auf unsere heutige wieder-
ge-
holte Bemalte erh i e l t e n wir die Antwort, es s e i bis je t z t noch nicht
möglich gewesen, die diesbezüglichen Verhandlungen abzuschliessen.
Heute erh i e l t e n wir die Heimatscheine von 9 Oesterreicherinnen aus
der Steiermark, die wir gerne anstellen und anlernen möchten. Wir
sind aach i n der läge, für r i c h t i g e Unterkunft dieser Arbeiterin-
nen zu sorgen, und wir würden es sehr begrüssen, wenn die Hohe
Fürstliche Regierung es uns ermöglichen würde, diese Arbeiterinnen
kommen zu lassen, die, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt sich än-
dern s o l l t e , rasch wieder abgebaut werden könnten.
Als die weitaus älteste Industriefirma im Fürstentum
Liechtenstein, die auch i n Krisenzeiten ihre Arbeiterschaft grössten-
t e i l s durchgehalten hat, glauben wir, die Erfüllung unserer sehr
bescheidenen Forderung i n kürzester F r i s t erwarten zu dürfen, umso-
mehr als wir auf eine gewisse Anzahl weiblicher Arbeitskräfte, an
denen so starker Mangel herrscht, angewiesen sind, und wir die Beo-
bachtung machen können, dass für den Hausdienst nicht wenige I t a -
lienerinnen i n Liechtenstein beschäftigt werden.
Wir sehen Ihrer baldigen Antwort direkt an unsere Firma
i n Vaduz gerne entgegen und grüssen Sie
mit vorzüglicher Hochachtung:
Gesuch der Firmenleitung
der Spinnerei «Jenny,
Spoerry & Cie.» um Zulas-
sung von ausländischen
Arbeitskräften mit Aufent-
haltsstatus, 1947. Das
Ansuchen wurde von der
liechtensteinischen Regie-
rung abgelehnt.
159
Tunnelbau zwischen Gnalp
und Steg, Triesenberg,
1946/47
Stolleneingang für den
Tunnelbau im Steg,
1946/47
Charakteristisch f ü r die wirtschaftl iche Entwick-
lung Liechtensteins nach 1945 ist der rasante Wan-
del vom Agrar- z u m Industriestaat. Der wirtschaft-
liche Aufschwung basierte auf dem 1924 mit der
Schweiz abgeschlossenen Zollvertrag und einer Ge-
setzgebung, 3 die Liechtenstein als Standort f ü r U n -
ternehmen und Sitzgesellschaften p r ä d e s t i n i e r t e .
Die massive Industrialisierung ging mit einem
grossen Mangel an Fach- und F ü h r u n g s k r ä f t e n ein-
her, zu dem sich i n den 1950er Jahren ein steigen-
den Bedarf an niedrigqualif izierten A r b e i t s k r ä f t e n
gesellte. A u c h in der Land- und Hauswirtschaft so-
wie i m Gastgewerbe herrschte grosser Arbei t skräf -
temangel. Der Aufschwung rief nach einer g ros szü -
gigen Zulassung qualifizierter wie unqualif izierter
Arbe i t sk rä f t e , was von den Wirtschaftsvertretern,
der Liechtensteinischen Industriekammer und der
Gewerbegenossenschaft auch artikuliert wurde.
Ganz andere Anforderungen an die Zulassungs-
politik wurden von Seiten der organisierten Arbeit-
nehmerschaft gestellt. Aufg rund der b e s c h r ä n k t e n
A u s b i l d u n g s m ö g l i c h k e i t e n w a r das Qualifikations-
niveau der einheimischen A r b e i t s k r ä f t e relativ tief.
Der Rückgriff der Industrie auf Fach- und F ü h -
r u n g s k r ä f t e aus dem Aus land f ü h r t e in der Folge zu
einer Ü b e r s c h i c h t u n g a m Arbeitsplatz, die die E i n -
heimischen in eine schwierige Konkurrenzsi tuat ion
brachte. In den 1950er Jahren lautete die Haupt-
forderung des Arbei tnehmerverbandes an die Aus -
länderpo l i t ik deshalb: Sicherung des Arbeitsplatzes
und G e w ä h r l e i s t u n g von Aufs t i egsmögl ichke i t en
f ü r die liechtensteinische Arbei tnehmerschaft und
insbesondere f ü r die n a c h r ü c k e n d e Generation,
den « l i ech tens t e in i schen N a c h w u c h s » .
160
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
DIE G R E N Z G A N G E R B E S C H A F T I G U N G
ALS S T R A T E G I E
Die Zulassungspolitik der 1940er und 1950er Jah-
re versuchte, diesen unterschiedlichen B e d ü r f n i s -
sen Rechnung zu tragen. Die Nachfrage nach Fach-
und F ü h r u n g s k r ä f t e n konnte - zumindest in den
40er Jahren - g röss ten te i l s mit Schweizer innen ge-
deckt werden. Dem steigenden Bedarf der Indu-
strie nach niedrigqualif izierten A r b e i t s k r ä f t e n ver-
suchte man mittels einer l iberalen Zulassung von
G r e n z g ä n g e r i n n e n aus Vorar lberg zu entsprechen.
1947 hatte die Regierung der Forderung der In-
dustrie nach Hi l fskräf ten mit Aufenthaltsstatus eine
Arbeitsraum in der Firma
«Präzisions-Apparatebau
AG», Vaduz, gegründet
1944
3) Steuergesetz von 1923 sowie Personen- und Gesellschaftsrecht
von 1926.
161
klare Absage erteilt und darauf hingewiesen, dass
als « I n d u s t r i e a r b e i t e r » nur G r e n z g ä n g e r i n n e n be-
willigt werden. Die G r e n z g ä n g e r b e s c h ä f t i g u n g
wurde damit zu einem zentralen Bestandteil der
Arbeitsmarktpoli t ik, was sich auch auf die Zuwan-
derung auswirkte. Dank der Ausweichmögl i chke i t
auf G r e n z g ä n g e r i n n e n konnte sie auf relativ niedri-
gem Niveau gehalten werden.
Die G r e n z g ä n g e r b e s c h ä f t i g u n g erlaubte die A b -
s c h ö p f u n g von Arbei tskraf t ohne gesellschaftliche
Folgekosten, da die G r e n z g ä n g e r i n n e n die Infra-
struktur (Wohnungsmarkt) nicht belasteten und i m
damaligen Ver s t ändn i s auch nicht « ü b e r f r e m -
d u n g s w i r k s a m » waren. Entsprechend der Situati-
on auf dem liechtensteinischen Arbei tsmarkt konn-
ten G r e n z g ä n g e r i n n e n zudem zugelassen oder
durch Verweigerung der Arbei tsbewil l igung aus
dem Arbeitsprozess entfernt werden, ohne dass so-
ziale Kosten entstanden w ä r e n . Sie er fü l l ten damit
die Funktion eines « K o n j u n k t u r p u f f e r s » auf ideale
Weise.
Des weiteren orientierte sich die G r e n z g ä n g e r -
politik an G r u n d s ä t z e n , die fü r die einheimischen
Arbe i t sk rä f t e faktisch einer Arbeitsplatzgarantie
gleichkamen: G r e n z g ä n g e r i n n e n wurden nur zuge-
lassen, wenn keine einheimischen A r b e i t s k r ä f t e
zur Ve r fügung standen. Ferner durfte ein Betrieb
keine Liechtensteinerinnen entlassen, solange er
Grenzgänge r innen beschäft igte . Aufgrund dieser Zu-
g e s t ä n d n i s s e wurde die liechtensteinische Grenz-
gängerpol i t ik auch vom einheimischen Arbei tneh-
merverband weitgehend mitgetragen.
Trotz der liberalen Grenzgängerpo l i t i k und dem
freien Zugriff auf den schweizerischen Arbeits-
markt konnte die Nachfrage nach A r b e i t s k r ä f t e n
nicht gedeckt werden. In den 1950er Jahren nahm
deshalb die Zuwanderung besonders aus Deutsch-
land, Öster re ich und Italien zu. Im Unterschied zur
Schweiz, die unter ä h n l i c h e n arbeitsmarktl ichen
Voraussetzungen eine liberale Einwanderungspoli-
tik betrieb, hielt Liechtenstein jedoch nach wie vor
an einer restriktiven Zulassung von Aufenthal ter in-
nen fest.
Z U L A S S U N G VON D R I T T A U S L Ä N D E R / I N N E N
A U F DER G R U N D L A G E DES ROTATIONS-
PRINZIPS
Die Zuwanderung der D r i t t a u s l ä n d e r i n n e n erfolgte
in Liechtenstein wie in der Schweiz auf der Basis
des sogenannten Rotationsmodells. Dieses strebte
eine mögl ichs t grosse Rotation der a u s l ä n d i s c h e n
A r b e i t s k r ä f t e an, u m einen v o r ü b e r g e h e n d e n und
flexiblen Charakter des A r b e i t s k r ä f t e z u z u g e s zu ge-
w ä h r l e i s t e n . Mittels zeitl ich begrenzter Aufent-
haltsbewilligungen, hoher Wartefristen fü r die Nie-
derlassung und der Verweigerung des Fami l ien-
nachzugs sollten l änger f r i s t ige Aufenthalte oder
gar die dauerhafte Niederlassung von A u s l ä n d e r i n -
nen verhindert werden. Den wirtschaftstheoreti-
schen Hintergrund f ü r das Rotationsmodell bildete
die Annahme eines zyklischen Konjunkturverlaufs ,
in dem Aufschwung und Krise einander i n regel-
m ä s s i g e n A b s t ä n d e n folgen. A u s l ä n d i s c h e n A r -
b e i t s k r ä f t e n wurde in diesem Zusammenhang die
Funkt ion eines « K o n j u n k t u r p u f f e r s » zugeordnet. In
Phasen des konjunkturel len Aufschwungs sollten
sie zur Behebung von P r o d u k t i o n s e n g p ä s s e n einge-
setzt werden, in Zeiten eines Konjunktur- und Be-
s c h ä f t i g u n g s r ü c k g a n g s wieder abgebaut werden.
Hinter dem Rotationsmodell stand ferner die Vor-
stellung, dass die a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e
ihren Aufenthalt auch selber als v o r ü b e r g e h e n d de-
finierten, die Option der R ü c k k e h r also fester Be-
standteil ihres Arbeitsaufenthaltes i m Aus land war.
LIECHTENSTEINISCHE SPEZIFIKA
Die Rekrutierung a u s l ä n d i s c h e r A r b e i t s k r ä f t e auf
der Basis des Rotationsprinzips ist f ü r die schwei-
zerische wie die liechtensteinische Zulassungspoli-
tik bis in die 1960er Jahre charakteristisch. Liech-
tensteinisches Spez i f ikum ist einzig die besonders
rigide Umsetzung des Pr inzips . U m eine Zementie-
rung der Ü b e r s c h i c h t u n g zu verhindern, wurde
den a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n vor allem in der
Industrie nur eine Platzhalterfunktion zugestan-
den. Sie waren solange wi l lkommen, als sich keine
162
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
liechtensteinischen A r b e i t s k r ä f t e mit gleichen Qua-
lif ikationen f inden Hessen. Standen Einheimische
zur Ver fügung , waren die A u s l ä n d e r i n n e n soweit
als möglich wieder aus dem Arbeitsprozess zu ent-
fernen. Zur G e w ä h r l e i s t u n g der R ü c k w a n d e r u n g
der a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e bedienten sich die
liechtensteinischen B e h ö r d e n eines differenzierten
Instrumentariums:
Als erstes ist das N ich tve r l änge rn der Aufent-
haltsbewilligung zu nennen. Mi t dieser fremdenpo-
lizeil ichen Massnahme konnten A u s l ä n d e r i n n e n
auf relativ einfache Weise zum Verlassen des Lan-
des gezwungen werden.
U m ein Sesshaftwerden zu verhindern, e r h ö h t e
Liechtenstein die Niederlassungsfrist 1951 analog
zur Schweiz von fünf auf zehn Jahre. Potentiellen
A n w ä r t e r n konnte man sich auch in diesem Fal l
durch Nich tve r l änge rn der Aufenthal tsbewil l igung
entledigen.
Mit welcher Rigidität das Rotationsprinzip um-
gesetzt wurde, zeigt sich insbesondere in der Fort-
weisung a u s l ä n d i s c h e r Ehepaare nach der Heirat.
Mi t der Verhinderung der F a m i l i e n g r ü n d u n g in
Liechtenstein versuchte man, das n a t ü r l i c h e
Wachstum der a u s l ä n d i s c h e n Bevö lke rung so tief
als mögl ich zu halten.
Vor dieser Massnahme schreckte man auch
nicht zurück , wenn die Ehef rau eine Liechtenstei-
nerin oder eine Niedergelassene war. Das bedeute-
te, dass Liechtensteinerinnen, die einen A u s l ä n d e r
heirateten, indirekt des Landes verwiesen wurden .
Diese diskriminierende Praxis stiess ab Mitte der
1950er Jahre zunehmend auf Widerstand. Im
Blickfeld der Kri t ik stand in erster Linie die
Schlechterstellung der liechtensteinischen Frauen
g e g e n ü b e r den zugeheirateten A u s l ä n d e r i n n e n , die
bei Heirat mit einem Liechtensteiner automatisch
das liechtensteinische B ü r g e r r e c h t erhielten und
damit das Recht hatten, i m Land zu bleiben. Die
auf gesetzlicher Ebene angelegte geschlechtsspezi-
fische Diskr iminierung, auf die der Verlust der
S t a a t s b ü r g e r s c h a f t bei Heirat mit einem A u s l ä n d e r
letztlich z u r ü c k g i n g , 4 kam in Liechtenstein mit sei-
nen tief verwurzelten patriarchalen Strukturen nur
am Rande zur Sprache.
Als letztes ist zu e r w ä h n e n , dass Liechtenstein
D r i t t a u s l ä n d e r n bis 1968 keinen Famil iennachzug
e rmögl i ch te . Ausgenommen davon waren hoch-
qualifizierte A r b e i t s k r ä f t e und reiche Privatiers. Im
Unterschied dazu g e w ä h r t e die Schweiz den Fami -
l iennachzug in der Regel nach drei Jahren.
4) Ab 1974 konnten Liechtensteinerinnen bei Heirat mit einem
Ausländer ihre S taa tsbürgerschaf t beibehalten.
163
Abwertung unserer
völkischen Substanz und Eigenart,
Abwertung unserer
kulturellen und weltanschaulidien Werte
Die routinierte Einbürgerungspraxis derDreißiger-
jahre trägt nun reichlich Früchte und ruft nach neuen
Problemen und Lösungen. Diese Früchte^ die gutbe-
stallte Agenten und Advokaten auf geheiligter Hei-
materde züchteten, kommen uns nun teuer zu stehen.
Wir bezahlen diese Schuld mit dem Erbe unserer
Väter, das wir übernommen haben, um es treu zu
verwalten und unversehrt weiterzugeben. An mah-
nenden Stimmen hatte es nie gefehlt; sie wurden aber
als Scharlatane und Volks verhetzer abgetan. Die kom-
mende Generation, die einmal die „Geschichte Liech-
tensteins im 20. Jahrhunden" schreiben wird, über-
schreibt dieses Kapitel mit dem Ausdruck „Kollektiv-
schuld unserer Väter".
Eine weitere Komponente, die unsere völkische
Substanz, Eigenart und Existenz unbarmherzig
liquidiert, ist die hemmungslose Überindustrialisie-
rung unseres geliebten Vaterlandes. Hat es einen
Sinn, daß wir würdige Objekte unter Denkmalschutz
stellen, ein Walserhaus aufzukaufen und subventio-
nieren, Gelder in ein Museum stecken und im selben
Moment unsere völkische Eigenart und analog unsere
Existenz als Volk aufgeben? Das Wörtchen „völkisch"
ist bei uns verpönt und wird als verfluchte Import-
ware abgetan. Dieses Wörtchen hat aber seine große
Berechtigung im Lexikon eines jeden einzelnen
Volkes. Entwickelt einmal die Gedanken „Einbürge-
rung und Überfremdung" weiter und stellt euch her-
nach die Frage: Was ist aus Liechtenstein nadi 100
Jahren geworden? Die Antwort fällt vernichtend
aus! Aber gerade diese vernichtende Antwort muß
für uns, die wir in unserer Heimat ein heiliges Erbe
unserer Väter sehen, größte Verpflichtung sein.
Und so fällt — nach meiner Ansicht — in den
Aufgabenkreis des Arbeiterverbandes nicht nur die
Wahrung der Arbeiterinteressen, sondern auch in
vermehrtem Maße die Reinerhaltung der liechten-
steinischen Volksseele und damit die Erhaltung un-
serer geliebten Heimat an sich.
Die Überfremdung ruft nach Anerkennung ande-
rer Religionsgemeinschaften. Dieses Problem hat
heute leider seine Berechtigung, ist aber zugleich ein
zweischneidiges Schwert. Einmal müssen wir die
Humanität als Leitstern unseres Handelns nehmen
und Toleranz üben. Anderseits sind die Gefahren,
die aus falsch verstandener Humanität und Toleranz
erwachsen, nicht zu verkennen. Zum mindesten ist
dieses Problem ein gordischer Knoten, den diejenigen
mit dem zweischneidigen Schwert durchschneiden
mögen, die ihn geknüpft haben. Unsere Devise lau-
tet: Liechtenstein, Vaterland, du köstliche Perle am
Alpenrhein, dich halten wir vor fremdem Einfluß
rein!
Es ist gut, wenn sich der hohe Landtag mit solchen
Fragen befassen muß. Das Thema „Überfremdung"
gewinnt dadurch an Aktualität. Warten wir ruhig
ab, was für ein Kostüm der Landtag zurechtschnei-
det. Jedenfalls gehört das „Gesetz über die Anerken-
nung anderer Religionsgemeinschaften" dem Volk
zum Entscheid vorgelegt. Wenn durch die Presse
Erste Massnahmen zur
Beschränkung der Zuwanderung
von ausländischen Arbeitskräften
1962/63
Trotz der g r u n d s ä t z l i c h restriktiv ausgerichteten
Einwanderungspol i t ik und der starken Inanspruch-
nahme des G r e n z g ä n g e r w e s e n s nahm in Liechten-
stein in den 1950er Jahren die a u s l ä n d i s c h e Bevöl-
kerung in ä h n l i c h e m Mass zu wie in der Schweiz.
Von 1950 bis 1960 stieg der A u s l ä n d e r a n t e i l an der
W o h n b e v ö l k e r u n g von 20 auf 25 Prozent an . 5 Die
A u s l ä n d e r b e s c h ä f t i g u n g betrug 1960 rund 43 Pro-
zent. Diese Entwicklung wurde von zunehmenden
Ü b e r f r e m d u n g s ä n g s t e n begleitet und einer zuneh-
mend kri t ischen Haltung bezügl ich des strukturel-
len Wandels. Im Zentrum der Kr i t ik stand dabei
das starke Wachstum des industriellen Sektors. Das
Gewerbe, das von einer starken Abwanderung von
A r b e i t s k r ä f t e n Richtung Industrie betroffen war,
f ü r c h t e t e um den Verlust der « h a r m o n i s c h e n Wirt-
s c h a f t s s t r u k t u r » . A u f seiten der liechtensteinischen
Arbei tnehmerschaft erblickte man in der wachsen-
keine allgemeine Brunnenvergiftung vorgenommen
wird, so dürfte die Antwort des Volkes einhellig,
klar und unmißverständlich ausfallen. Und dem ist
gut so.
Der große deutsche Dramatiker und Literatur-
historiker Lessing sagt so treffend in einem seiner
bekanntesten Werke: „Als mir die Schuppen von
den Augen fielen . . ."
Also wollen wir mit Lessing einig gehen und mit
schuppenfreien Augen der nahen Zukunft entgegen-
sehen.
Ein Mitglied des Liechten-
steinischen Arbeitnehmer-
verbandes spricht sich im
verbandseigenen Mittei-
lungsblatt gegen die Ein-
bürgerung von Auslände-
rinnen und Ausländern
aus. August 1959
164
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
den a u s l ä n d i s c h e n Bevö lke rung eine Gefahr f ü r
«Volk und He ima t» . Anfangs der 1960er Jahre er-
k lär te der Arbei tnehmerverband die « Ü b e r f r e m -
d u n g » zum Problem Nummer 1. Der Tribut, den
Liechtenstein der Industrialisierung und Modern i -
sierung zolle, sei zu hoch, die wirtschaftl iche Ent-
wicklung liefe den Volksinteressen entgegen. A u c h
die B e h ö r d e n hielten die «Grenzen des Wachs-
t u m s » fü r erreicht. Der Zweck der Industrialisie-
rung wurde in der Schaffung von ausreichenden
Arbe i t smögl i chke i t en f ü r die einheimische Arbei t -
nehmerschaft gesehen. Eine industrielle Entwick-
lung ü b e r dieses Ziel hinaus war i m damaligen
Wirtschaftskonzept nicht vorgesehen.
Dies ist der Hintergrund, auf dem die Industrie-
kammer 1961 mit der Forderung nach einer gross-
züg ige ren Zulassungspolitik auf den Plan trat. K o n -
kret ging es um die Bewil l igung von «Hi l f skrä f ten»
mit Aufenthaltsstatus. Anfangs der 1960er Jahre
erwies sich die Rekrutierung von G r e n z g ä n g e r i n -
nen als zunehmend schwierig. Das Potential war
gröss ten te i l s abgeschöp f t , das Qualif ikationsniveau
oft unzureichend, die Fluktuation hoch. Im Gegen-
satz zu dieser Entwicklung stand das wachsende
Interesse der Industrie an l änge r f r i s t igen Arbei ts-
ve rhä l t n i s sen . Die in diesem Kontext plausible For-
derung der Industr iekammer nach Aufenthal ter in-
nen stiess bei den ü b r i g e n Interessenvertretern,
der Gewerbegenossenschaft und dem Arbei tneh-
merverband, auf klare Ablehnung. F ü r die Behör -
den war dies der Zeitpunkt, die Weichen i n der Zu-
lassungs- und Wirtschaftspolit ik neu zu stellen.
DIE V E R O R D N U N G ÜBER DIE
B E S C H R Ä N K U N G DER Z U W A N D E R U N G
A U S L Ä N D I S C H E R A R B E I T S K R Ä F T E
V O M 7. O K T O B E R 1963
Ende Dezember 1962, das heisst zwei Monate vor
dem schweizerischen Bundesrat , 6 v e r füg t e die
liechtensteinische Regierung erste Massnahmen
zur E i n s c h r ä n k u n g der Zuwanderung von Drittaus-
l ä n d e r i n n e n . Im Januar folgten Vorschrif ten zur
Plafonierung des G r e n z g ä n g e r b e s t a n d e s . Die Be-
st immungen wurden i m Oktober 1963 in F o r m ei-
ner Verordnung publiziert , die i m formalen A u f b a u
an das schweizerische Vorb i ld erinnert. Inhaltlich
stellte sie jedoch eine weitgehend e igens t änd ige
Lösung dar. Sie soll i m folgenden kurz p r ä s e n t i e r t
werden.
Der erste Ar t ike l legt einen Begrenzungsmecha-
nismus f ü r die Zuwanderung respektive i m Falle
der G r e n z g ä n g e r i n n e n die Beschä f t i gung von aus-
l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n fest und formulier t
gleichzeitig die Bedingungen f ü r Ausnahmen. In
der Regel werden Aufenthalts- und G r e n z g ä n g e r -
bewill igungen f ü r a u s l ä n d i s c h e A r b e i t s k r ä f t e nur
noch «im Rahmen des Wegzugs a u s l ä n d i s c h e r A r -
be i t sk rä f t e aus L iech tens te in» erteilt. Damit ist der
fü r das liechtensteinische Zulassungssystem cha-
rakteristische Begrenzungsmechanismus bereits
1963 definiert, auch wenn er sich dazumal noch
ausschliesslich auf die A r b e i t s k r ä f t e bezieht.
Z U W A N D E R U N G «IM R A H M E N D E S WEGZUGS»
Zuwanderung «im Rahmen des Wegzugs» bedeute-
te einen generellen Marschhalt . A u f die Bedü r fn i s -
se der Industrie bezogen hiess das ein klares Nein
zu jeder weiteren Expansion mittels zusä tz l i cher
a u s l ä n d i s c h e r A r b e i t s k r ä f t e . Ausnahmebewil l igun-
gen wurden e i n g e r ä u m t , doch galten sie in erster
Linie f ü r das Gewerbe. Von den B e s c h r ä n k u n g s -
massnahmen gänz l ich ausgenommen waren land-
wirtschaftl iche Betriebe, private Haushaltungen,
das Gastgewerbe sowie Spi tä ler und Heime. Es
handelte sich hierbei grossteils u m Arbeitsberei-
che, aus denen sich die Einheimischen aufgrund
der inattraktiven Arbeitsbedingungen längs t zu-
r ü c k g e z o g e n hatten, die a u s l ä n d i s c h e n Arbeits-
k r ä f t e also auch nicht als Konkurrenten auftraten.
Die Unterschichtung hatte in Liechtenstein zudem
auch in Zeiten von Arbeitslosigkeit Tradit ion, was
5) In der Schweiz im selben Zeitraum von 5,9 auf 9.3 Prozent.
6) Bundesbeschluss über die Beschränkung der Zulassung
aus ländischer Arbei tskräf te vom 1. März 1963.
165
Maschinenhalle in der
Firma «Jenny, Spoerry &
Cie.» in Vaduz, 1979
Arbeiterinnen in der
Zahnfabrik Ivoclar (ehe-
mals: Ramco) in Schaan
mit e rk lä r t , dass dieser Ar t von Zuwanderung trotz
der viel zitierten « Ü b e r f r e m d u n g » k a u m Wider-
stand erwuchs.
B E D I N G T E S R E C H T A U F FAMILIENGRÜNDUNG
Im zweiten Ar t ike l geht es darum, die schlimmsten
A u s w ü c h s e des Rotationssystems zu beseitigen.
Aufenthalter, die eine Liechtensteinerin oder eine
Niedergelassene heiraten, werden nicht mehr zum
Verlassen des Landes gezwungen. Sie erhalten un-
a b h ä n g i g von ihrer berufl ichen Qualif ikation das
Recht, in Liechtenstein eine Famil ie zu g r ü n d e n .
Grundsä t z l i ch verboten bleibt nach wie vor der Fa-
mil iennachzug, dies trotz einer zunehmenden Libe-
ral is ierung in den umliegenden L ä n d e r n .
Lassen w i r die einzelnen Massnahmen noch ein-
ma l Revue passieren, so handelte es sich bei der
Verordnung von 1963 u m den Versuch, mittels der
E i n f ü h r u n g eines einfach zu handhabenden Steue-
rungsmechanismus ' (Zulassung i m Rahmen des
Wegzugs) den Bestand der a u s l ä n d i s c h e n Arbeits-
k r ä f t e aus dem Drit tausland zu stabilisieren und
trotz des bedingt g e w ä h r t e n Rechts auf Fami l ien-
166
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
g r ü n d u n g das n a t ü r l i c h e Wachstum der a u s l ä n d i -
schen W o h n b e v ö l k e r u n g so gering als mögl ich zu
halten. In diesem Zusammenhang stand auch das
g rundsä t z l i che Verbot des Famil iennachzugs.
Neben diesen a u s l ä n d e r p o l i t i s c h e n Zielsetzun-
gen diente die Verordnung jedoch auch dazu,
Strukturpolitik zu betreiben. Ziel war die E i n d ä m -
mung der industriellen Expansion, das Mittel eine
V e r s c h ä r f u n g der Bewill igungspraxis g e g e n ü b e r
der Industrie. Den Industriebetrieben wurden nicht
nur die benö t ig t en Aufenthal ter innen verweigert.
Mit der Plafonierung des G r e n z g ä n g e r b e s t a n d e s
wurde auch die Expansion ü b e r das G r e n z g ä n g e r -
wesen unterbunden. Die Folge dieser b e h ö r d l i c h e n
Massnahmen war ein arbeitsmarktl icher Notstand,
der die Industrie letztlich zur Verlagerung von Be-
triebsteilen ins Aus land zwang. Zwischen 1963
und 1968 wurden von liechtensteinischen Unter-
nehmen i m Ausland 17 Zweigniederlassungen ge-
g ründe t , die z i rka 1600 A r b e i t s k r ä f t e beschä f t i g -
ten.
Liechtenstein und die Schweiz waren in den
1960er Jahren die einzigen e u r o p ä i s c h e n Länder ,
die trotz einer starken Nachfrage nach Einwande-
rung diese zu begrenzen suchten. Die Entstehungs-
bedingungen f ü r die ersten B e s c h r ä n k u n g s m a s s -
nahmen waren in beiden L ä n d e r n ähn l i ch und
doch verschieden. In Liechtenstein war das Haupt-
motiv die Angst vor einem unkontroll ierten Wachs-
tum der Industrie und der damit einhergehenden
« Ü b e r f r e m d u n g » . Die schweizerischen B e s c h r ä n -
kungsmassnahmen standen h a u p t s ä c h l i c h i m In-
teresse der K o n j u n k t u r d ä m p f u n g . Sie waren ein
Versuch, mittels der B e s c h r ä n k u n g der bis dahin l i -
beralen Zulassung von a u s l ä n d i s c h e n Arbei t skräf -
ten der K o n j u n k t u r ü b e r h i t z u n g und der damit ein-
hergehenden Begleiterscheinungen wie Inflation
und Kostensteigerung entgegenzuwirken.
Neben der wir tschaft l ichen Situation spielten je-
doch auch noch andere Faktoren eine Rolle. Innen-
wie aussenpolitisch nahm die Kr i t ik an der bundes-
rä t l i chen Zulassungspolitik anfangs der 1960er Jah-
re stark zu. Der ä u s s e r e Druck kam von Seiten Itali-
ens, das, die zunehmenden Rekrutierungsschwie-
rigkeiten der Schweiz ausnutzend, eine rechtliche
Besserstellung seiner in die Schweiz ausgewander-
ten B ü r g e r i n n e n forderte. Im Innern machte die or-
ganisierte Ü b e r f r e m d u n g s b e w e g u n g , die 1961 mit
der G r ü n d u n g der Nationalen Akt ion auf den Plan
trat, Druck.
167
Familienzuzug für auslän-
dische Arbeitskräfte?
Welchen Wirbel diese Frage in der Schweiz ausge-
löst hat und immer noch auslöst, ist wohl zur Genüge
bekannt. Bei uns bildet sie ebenfalls mehr oder we-
niger das Tagesgespräch, auch wenn sie in der Presse
nicht diesen Niederschlag gefunden hat. Schon des
öftern wurde aus Kreisen der Arbeiter gewünscht, es
solle im Mitteilungsblatt, des L A V zu dieser Frage
Stellung bezogen werden. Im September wurde von
einigen Arbeitern ein diesbezügliches „Eingesandt"
eingereicht, das in der Septemberausgabe des Mit-
teilungsblattes auch veröffentlicht wurde. Eine offi-
zielle Stellungnahme des Verbandes blieb bis anhin
jedoch noch aus. Es sprachen auch verschiedene
Gründe für dieses Zuwarten. Doch nun wollen wir
vom Verband aus zu dieser Sache Stellung nehmen.
Dank der jahrelang anhaltenden Hochkonjunktur
erfreute sich auch die liechtensteinische Wirtschaft
einer stets zunehmenden Prosperität wie sie niemand
vorausgeahnt und zu sagen gewagt hätte. Es ent-
standen immer mehr Unternehmen und Betriebe, die
sich im Sog der Entwicklung dementsprechend auch
vergrößerten. Dies führte schon lange dazu, daß der
Bedarf an Arbeitskräften bei weitem nicht mehr mit
der einheimischen Arbeitskraft gedeckt werden
konnte. Es mußten also ausländische Arbeitskräfte
zugezogen werden und der Zustrom der Fremd-
arbeiter begann.
Schon gleich am Anfang, wurden nicht nur aus
Arbeiter- sondern aus verschiedenen Kreisen Beden-
ken gegen diesen Zustrom laut. Man verlangte
größtmöglichste Zurückhaltung zu üben. Eine be-
sondere Gefahr sah man in der Gewährung von
Daueraufenthalten. Um Daueraufenthalte nach
Möglichkeit zu vermeiden, ging man dazu über,
auch einem ausländischen Arbeiter, der eine Liech-
tensteinerin heiratete, den Daueraufenthalt zu ver-
weigern. Einige Liechtensteinerinnen wurden von
dieser Maßnahme schwer betroffen, denn sie mußten
das Heimatland verlassen. Andere, die das Glück
hatten, einen Ausländer zu heiraten, der vom Arbeit-
geber als unabkömmlich erachtet wurde, konnten
bleiben. Es soll diese Bemerkung jetzt nicht als bös-
willig aufgefaßt werden, sondern einfach als Hin-
weis darauf, daß im Prinzip gesehen solche Unter-
schiede einfach nicht gerechtfertigt sind.
Trotz aller Bedenken und der getroffenen zurück-
haltenden Maßnahmen ging die Entwicklung weiter
und der Zustrom der Fremdarbeiter wuchs von Jahr
zu Jahr Eine teilweise Stagnation oder gar rück-
läufige Tendenz zeigte sich lediglich bei den Grenz-
gängern also gerade in jener Kategorie, die an und
lur sich keine Überfremdungsgefahr für uns bedeutet.
Durch den dauernden Anstieg der Zahl der Fremd-
arbeiter, sah s.ch die Regierung im März i963 ver-
anlaßt den Fremdarbeiterstand zu plafonieren.
Diese Regelung der Regierung ist auf den 31. De-
zember 1964 befristet und es darf wohl in nächster
Zeit einer Besprechung zwischen den Wirtschafts-
verbanden und der Regierung und nach unserer Auf-
fassung einer Erneuerung und Verlängerung dieser
Flatonierung.
Nun aber zur Frage des Familienzuzuges. Mas
man sich zu dieser Sache stellen wie man will, als
erstes gilt jedenfalls die Überlegung, ob eine Mög-
besteht, ohne daß der Lebensraum und die Existenz
des eigenen Volkes gefährdet wird. Um in dieser
Beziehung für uns ein ungefähres Bild zu geben,
seien folgende Vergleiche angeführt:
Bundesrepublik Deutschland einschließlich
Westberlin
Wohnbevölkerung zirka 5 5 Millionen
Flächenmaß zirka 248 000 km 2
Fremdarbeiter zirka 900 000
ergibt Fremdarbeiter zur Wohnbevölkerung i,fJo
ergibt Fremdarbeiter auf den km 2 3,6
Schweiz
Wohnbevölkerung zirka j Millionen
Flachenmaß zirka 4 , o c o km 2
Femdarbeiter zirka 7 J O o o c
ergibt Fremdarbeiter zur Wohnbevölkerung 15%
ergibt Fremdarbeiter auf den km 2 18
Liechtenstein
Wohnbevölkerung zirka 18 000
Flächenmaß 157 km 2
Fremdarbeiter zirka 4000
ergibt Fremdarbeiter zur Wohnbevölkerung 11 fn
ergibt Fremdarbeiter auf den km 2 25
Diese Zahlen bieten nicht Gewähr für absolute
Genauigkeit. Es sind die Grenzgänger aus der
Schweiz und Vorarlberg nicht inbegriffen. Auch sind
die hier niedergelassenen Ausländer ausgeklammert.
Man kann die Berechnung anstellen wie man will,
das Ergebnis ist immer ein bedenkliches und eines ist
sicher, Liechtenstein steht in der Überfremdungsge-
fahr an der Spitze.
Wenn wir also dieLebensbelange des eigenen Volkes
nicht in Frage stellen wollen, so ist für uns ein
Familienzuzug nicht gegeben. Liechtenstein ist zu
klein, als daß wir auch nur im ausgeglichenen pro-
zentualen Verhältnis mit anderen Staaten diese Zu-
wanderung mitmachen könnten. In Wirklichkeit
stehen uns ja nur zirka 70 km 2 Wohnraum und
wirtschaftlich nutzbare Fläche zur Verfügung — der
übrige Teil sind Berge und Wald. Diese 70 km 2
braucht die jetzige Bevölkerung zu ihrem Lebens-
raum, da ja auch noch der natürliche Bevölkerungs-
zuwachs miteingerechnet werden muß.
Wir wissen nicht genau, wieviele Familien es im
jetzigen Zuzug wären, aber wir wissen, daß es im-
mer mehr würden. Wer einmal A sagt, muß auch B
sagen, das hat noch jede Erfahrung gelehrt. Es könn-
te dann wohl auch kein Unterschied zwischen der
Staatszugehörigkeit gemacht werden. Und so ist es
wohl keine übertriebene Annahme, daß in wenigen
Jahren mehrere hundert Familien zuziehen würden.
Die Folgen, die ein solcher Zuzug für unser kleines
Ländchen haben würde, sind im voraus nicht ganz
abzusehen. Es müßten für diese Familien Wohnun-
gen zur Verfügung gestellt werden. Wer übernimmt
das? Der Unternehmer? Wenn ja, soll dann etwa der
Liechtensteiner, in einer Mietwohnung ausziehen
oder eine nicht aufzubringende Miete bezahlen müs-
sen? Oder sollen Neubauten erstellt werden, was
höchstwahrscheinlich im Gefolge hat, daß noch mehr
Fremdarbeiter benötigt werden? Steht Bauland für
die Erstellung dieser evtl. zusätzlichen Wohnungen
zur Verfügung? Wenn ja, ist es richtig, wenn dieses
Land zur Erstellung von Wohnungen für Fremde
benützt wird und mancher liechtensteinische Arbeiter
kaum oder gar nicht mehr die Möglichkeit hat, sich
einen Bauplatz aus privatem Besitz zu erwerben?
Familien brauchen eine ganz andere Betreuung als
einzelne Personen. Es müßten für die Kinder auch
Schulräume zur Verfügung gestellt werden. Haben
wir für fremdsprachigen Schulunterricht Lehrperso-
nal zur Verfügung? Wir glauben es müßte welches
beigezogen werden evtl. auch mit Familie. Für die
religiöse Betreuung der Fremdarbeiter — zumal der
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
Erzwungene Zugeständnisse
an das Niederlassungsprinzip:
die Liberalisierung des Familien-
nachzugs 1968
DRUCK VON AUSSEN
Die Schweiz und i n der Folge auch Liechtenstein
wurden aufgrund ihrer restriktiven Aus l ände rpo l i -
tik von Italien in den 1960er Jahren stark unter
Druck gesetzt. In der Schweiz kam es nach z ä h e n
Verhandlungen (1961-1964) zum Abschluss eines
Einwanderungsabkommens, das der Schweiz weit-
gehende Z u g e s t ä n d n i s s e abverlangte. A l s die be-
deutendsten sind zu nennen: die Mögl ichkei t des
Familiennachzugs f ü r Jahresaufenthalter nach 18
Italiener — ist unseres Wissens etwas gesorgt. Fami-
lien brauchen aber eine vermehrte religiöse und auch
soziale Betreuung. Auch dazu wieder höchstwahr-
scheinlich fremdsprachiges Personal.
Dies sind, wie gesagt, nur einige Konsequenzen,
die sich aus dem Familienzuzug ergeben würden. In
der Praxis kämen noch etwelche dazu, die jetzt nicht
vorauszusehen sind. Die Sache würde also gleichsam
zu einem Perpetuum mobile, das im Endeffekt zur
weitgehenden Auflösung der liechtensteinischen
Substanz führen würde.
Nach unserer Auf fassung wäre das Obel auch nicht
behoben, wenn die Unternehmer die volle Verant-
wortung für die Fremdarbeiter und deren Familien
auf sich nehmen würden. Der fremde Familienvater
hat nicht den geringsten Kredit, er muß also das
ganze Jahr beschäftigt werden. Was würde der liech-
tensteinische Bauarbeiter sagen, wenn er im Winter
unter Umständen zu Hause bleiben müßte und der
Fremdarbeiter beschäftigt würde, ja beschäftigt wer-
den müßte. Wir haben keine Arbeitslosenversiche-
rung, die in einem solchen Falle einen Ausgleich
schaffen könnte. Und so gäbe es unliebsame Dinge
noch und noch.
Man wird uns vorwerfen, wir hätten für den
ausländischen und gar den fremdsprachigen Kollegen
kein Verständnis. Wir fühlten ihm gegenüber kerne
christliche und moralische Verpflichtung. Dem ist
nicht so. Wir wissen, daß es schwer ist fern der Hei-
mat in einem anderssprachigen Land das Brot ver-
dienen zu müssen. Es ist hart, sehr hart, für einen
Familienvater die längste Zeit des Jahres von der
Familie getrennt sein zu müssen. Aber sind wir
schuld an ihrem bitteren Los? Können wir es beseiti-
gen? Nein. Aber lindern können wir es, indem den
Fremdarbeitern eine entsprechende Unterkunft ge-
boten wird, indem sie am Arbeitsplatz als dienst-
tuende Menschen und nicht als unliebsame Fremd-
linge behandelt werden, indem ihnen der gerechte
Lohn zuteil wird, kurzum indem ihnen in jeder Be-
ziehungeine menschen würdige Behandlung zukommt.
Dieses Entgegenkommen werden die Fremdarbeiter
bestimmt dankend anerkennen und sie werden wie-
der kommen.
Ein Familienzuzug ist für unser kleines Ländchen
jedoch nicht tragbar, weil dieser in seiner Konse-
quenz zur teilweisen Selbstaufgabe führt und eine
solche kann von uns billigerweise nicht verlangt
werden.
Monaten, vordem drei Jahre; der Ansp ruch auf
V e r l ä n g e r u n g der Aufenthal tsbewil l igung nach fünf
Jahren bis zur Erre ichung der Niederlassung (zehn
Jahre) und der Ansp ruch der Saisonniers auf die
Umwand lung ihrer Bewil l igung i n eine Jahresauf-
enthaltsbewilligung nach 45 Monaten Saisonarbeit
innert fünf Jahren bei gleichzeitiger Famil iennach-
zugsmögl ichke i t . Insbesondere die E i n f ü h r u n g von
R e c h t s a n s p r ü c h e n stebte f ü r die Migran t innen eine
entscheidende Verbesserung ihrer Rechtsstellung
dar. A u f Druck Spaniens wurden diese Vergünst i -
gungen 1967 auch auf die spanischen A r b e i t s k r ä f t e
und in der Konsequenz auf die anderen e u r o p ä i -
schen Staaten exklusive Osteuropa ausgedehnt. Die
in der Schweiz erfolgte Liberal is ierung erzeugte in
Liechtenstein einen grossen Anpassungsdruck. Die
Angst, ebenfalls zu unliebsamen Z u g e s t ä n d n i s s e n
gezwungen zu werden, war a l lgegenwär t ig , die
Verhinderung eines ähn l i chen Abkommens vorran-
giges Ziel .
A b 1966 setzte Italien Liechtenstein ü b e r den
italienischen Konsu l i n St. Gal len auch direkt unter
Druck. Im Vergleich zur Schweiz bewegten sich die
Forderungen jedoch in einem bescheidenen Rah-
men. Sie b e s c h r ä n k t e n sich auf die Aufhebung des
Familiennachzugsverbots f ü r Hilfs- und Facharbei-
ter und eine Verbesserung der sozialen Sicherheit
der Einwandernden. F ü r die liechtensteinische M i -
grationspolitik stellte der Druck Italiens und dessen
innenpolitische Implikat ionen jedoch eine grosse
Herausforderung dar.
Im Mitteilungsblatt des
Liechtensteinischen Ar-
beitnehmerverbandes
wird im Dezember 1964
Stimmung gemacht gegen
die Gewährung von Auf-
enthaltsbewilligungen von
ausländischen Arbeitskräf-
ten.
169
Zeichensaal in der Firma
Hilti AG in Schaan, um V O L L Z U G S N O T S T A N D IM INNERN
1966
A u f dem Hintergrund des Einwanderungsabkom-
mens mit Italien und der s ich innerhalb der Eu -
r o p ä i s c h e n Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) her-
ausbildenden Fre izügigke i t i m Personenverkehr
wandelte sich das S e l b s t v e r s t ä n d n i s der a u s l ä n d i -
schen Arbeitnehmer. Der Famil iennachzug wurde
zunehmend als Recht begriffen, das den a u s l ä n d i -
schen Arbei tnehmern zustehe. Dies hatte zur K o n -
sequenz, dass immer mehr a u s l ä n d i s c h e Arbei ts-
k r ä f t e ein Gesuch auf Famil iennachzug stellten,
auch wenn sie nicht i n die Kategorie der Hochqua-
lif izierten fielen. Oder sie zogen ihre Famil ie ein-
fach nach. Die Angst vor aussenpolitischen Reak-
tionen v e r u n m ö g l i c h t e es den B e h ö r d e n , die Gesu-
che abzulehnen oder die illegal anwesenden Fami -
l i e n a n g e h ö r i g e n auszuweisen. Die Folge w a r ein
Vollzugsnotstand, der die B e h ö r d e n zunehmend
unter Handlungsdruck setzte.
DIE POSITIONEN DER EINZELNEN A K T E U R E
Die Interessenvertretungen der Industrie und des
Gewerbes forderten seit Jahren eine moderate L i -
beral is ierung des Famil iennachzugs. Das Gewerbe
170
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
sah sich immer wieder damit konfrontiert , dass be-
w ä h r t e A r b e i t s k r ä f t e aufgrund des strikten Fami l i -
ennachzugsverbots f ü r «Berufs - und Hi l f sa rbe i t e r»
abwanderten. Die Industriekammer hielt eine mo-
derate Liberal is ierung des Famil iennachzugs ange-
sichts der e u r o p ä i s c h e n Entwicklung fü r u n e r l ä s s -
l ich. Sie b e f ü r c h t e t e , dass sich die restriktive Fami -
lienzuzugspraxis l änger f r i s t ig zu einem Standort-
nachteil auswachsen und die ohnehin schwierige
A r b e i t s k r ä f t e r e k r u t i e r u n g zusä tz l ich erschweren
könn t e .
Gegen jegliche Liberal is ierung Front machte der
Arbei tnehmerverband. E r vertrat die Auffassung,
dass eine Öf fnung des Famil ienzuzugs eine «Exi-
stenzbedrohung fü r Volk und He ima t» darstelle, die
es im «na t i ona l en In te resse» zu verhindern gelte.
Der h a r t n ä c k i g e Widerstand des Arbei tnehmer-
verbandes, der nicht nur als Gewerkschaft , son-
dern g e m ä s s seinem S e l b s t v e r s t ä n d n i s auch im Na-
men des liechtensteinischen Volkes auftrat, blo-
ckierte die B e h ö r d e n ü b e r Jahre hinweg. Obwohl
der prinzipielle Entscheid f ü r eine Liberal is ierung
des Familienzuzugs bereits 1965 gefallen war,
konnte in dem auf Konsens angelegten politischen
System Liechtensteins das Problem ohne Einver-
s t ä n d n i s des Arbei tnehmerverbandes keiner Lö-
sung z u g e f ü h r t werden. Dies um so mehr als von
Seiten der Arbei tnehmerschaft mit einer Volks-
initiative gegen die generelle E i n f ü h r u n g des F a m i -
liennachzugs gedroht wurde. Erst auf dem Hinter-
grund des zunehmenden aussen- und innenpoli t i -
schen Drucks signalisierte der Verband 1968 seine
Bereitschaft zum Einlenken. E r machte zum glei-
chen Zeitpunkt auch klar, dass er eine allfällige
Volksinitiative gegen eine Regelung des Fami l ien-
zuzugs nicht u n t e r s t ü t z e n werde.
DIE G E S E T Z L I C H E R E G E L U N G
DES FAMILIENZUZUGS
A m 1. A p r i l 1968 erliess Liechtenstein die Verord-
nung betreffend die Ertei lung von Fami l ienbewi l l i -
gungen an a u s l ä n d i s c h e Arbeitnehmer. Sie schuf
die Möglichkeit des Famil iennachzugs f ü r Drittaus-
l ä n d e r u n a b h ä n g i g von Qualif ikation und Nationa-
lität nach einer Frist von fünf Jahren. A u c h Saison-
niers wurden in die Regelung des Famil ienzuzugs
mit einbezogen und konnten analog nach 45 Mona-
ten Saisonaufenthalt innert fünf Jahren eine Fami -
l ienbewill igung beantragen. Die Privilegierung der
Hochqualif izier ten und der landwirtschaft l ichen
A r b e i t s k r ä f t e wurde ü b e r Ausnahmebest immun-
gen zur Herabsetzung der Nachzugsfrist weiterhin
gewähr le i s te t . Verheiratete Dr i t t aus l ände r innen hat-
ten keinen Ansp ruch auf Famil iennachzug, f ü r ledi-
ge, verwitwete und geschiedene Müt te r waren Aus-
nahmen vorgesehen.
Im internationalen Kontext war die liechtenstei-
nische Regelung des Famil ienzuzugs sehr restriktiv.
Die f ü n f j ä h r i g e Fris t war ä u s s e r s t hoch, der Kreis
der Nachzugsberechtigten, der sich auf die Ehef rau
und die Kinder unter 18 Jahren b e s c h r ä n k t e , eng
gefasst. Schon in der Schweiz lagen die Fristen we-
sentlich tiefer: F ü r Migranten aus West-, Nord- und
S ü d e u r o p a betrugen sie seit 1967 eineinhalb Jahre,
f ü r alle ü b r i g e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n drei Jahre. In
den EWG-Staaten bestand fü r EWG-Angehör ige kei-
ne Nachzugsfrist , f ü r die ü b r i g e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n
gab es je nach Land unterschiedliche Regelungen,
die aber alle weit l iberaler als die liechtensteinische
Gesetzgebung waren . A u c h der Kreis der Nachzugs-
berechtigten war wesentlich grösser .
Im liechtensteinischen Kontext stellte die Ver-
ordnung ü b e r den Fami l ienzuzug eine fortschrittli-
che Lösung und einen grossen Schritt dar. Sie be-
deutete den Bruch mit dem Rotationsprinzip und
auf formaler Ebene die Anerkennung des Nieder-
lassungsprinzips. Sie definierte klare Vorausset-
zungen f ü r den Famil iennachzug und behandelte
vom Grundsatz her alle D r i t t a u s l ä n d e r u n a b h ä n g i g
ihrer Qualif ikation und Nat iona l i t ä t gleich. Sie er-
mögl ich te nicht nur Jahresaufenthaltern, sondern
auch Saisonniers einen dauerhaften Aufenthalt und
ein Famil ienleben.
Im Gegensatz z u m Einwanderungsabkommen
zwischen Italien und der Schweiz g e w ä h r t e die
Verordnung von 1968 jedoch keinerlei Rechtsan-
s p r ü c h e . Letztl ich h ing also alles von der f remden-
polizeil ichen Praxis ab.
171
DIE F R E M D E N P O L I Z E I L I C H E PRAXIS D I S K R I M I N I E R U N G N A C H G E S C H L E C H T
Zwischen den formalrechtl ichen Best immungen
ü b e r den Famil ienzuzug und der fremdenpolizei l i -
chen Praxis bestand eine grosse Diskrepanz. Ver-
waltungsintern hatte man schon vor Inkrafttreten
der Verordnung eine Kontingentierung der Fami l i -
enbewilligungen beschlossen. In der Folge wurde
die Höchs t zah l auf 30 Bewill igungen pro Jahr fest-
gelegt. Mit der Kontingentierung wurde das Unter-
laufen der Verordnung bewusst in Kauf genom-
men, da vorauszusehen war, dass mehr Gesuche
eingereicht w ü r d e n als Bewill igungen zu vergeben
waren.
D I S K R I M I N I E R U N G N A C H NATIONALITÄT
Die Kri ter ien, die bei der Ausscheidung der Gesu-
che angewandt wurden, b e g r ü n d e t e n eine nach
Nat ional i tä t diskriminierende Bewill igungspraxis.
Im Widerspruch zur Verordnung, die bezügl ich der
Herkunft der Antragsteller keine Vorgaben machte,
be rücks ich t ig te man in der Praxis nur Gesuche von
Ös te r re i che rn , Deutschen, Italienern und Spaniern.
S t a a t s a n g e h ö r i g e aus « e n t f e r n t e r e n L ä n d e r n » wur-
den vom Famil iennachzug ausgeschlossen. 7 A b
1971 wurde ihnen zwar die Möglichkeit des Fami -
liennachzugs zugestanden, doch verlangte m a n
eine doppelt so lange Wartefrist, also zehn Jahre.
Arbe i t sk rä f t e aus « e n t f e r n t e r e n L ä n d e r n » wur-
den jedoch nicht nur beim Famil iennachzug, son-
dern auch bezügl ich der Zulassung diskriminiert .
Generell zugelassen wurden nur Hochqualif izierte.
Unqualifizierte Arbe i t sk rä f t e erhielten ausschliess-
l ich f ü r die Landwirtschaft , f ü r Spitäler, Heime, A n -
stalten oder das Gastgewerbe eine Bewil l igung.
Diese Zulassungspraxis entsprach der schweizeri-
schen und basierte auf einem Kreisschreiben vom
März 1964. Sie wurde an der UNO-Konferenz ge-
gen Rassismus und Rassendiskr iminierung 1978
scharf kritisiert. W ä h r e n d die Schweiz sich dem
Druck beugte und die diskriminierende Zulas-
sungspraxis aufgab, hielt Liechtenstein a u s d r ü c k -
l ich daran fest.
Was beim Famil iennachzug besonders deutlich
wi rd , ist die geschlechtsspezifische Diskr iminie-
rung, der Frauen i m A u s l ä n d e r r e c h t ausgesetzt
waren. Famil ie wurde nur i n Bezug auf das m ä n n -
liche Famil ienoberhaupt wahrgenommen. Entspre-
chend dieser patr iarchalen Grundhal tung schloss
die Verordnung von 1968 verheiratete A u s l ä n d e -
r innen explizit vom Famil iennachzug aus. Ledige,
verwitwete und geschiedene A u s l ä n d e r i n n e n er-
hielten in A u s n a h m e f ä l l e n die Bewil l igung zum
Nachzug ihrer Kinder. Die geschlechtsspezifische
Diskr iminierung f ü h r t e besonders g e g e n ü b e r ledi-
gen Müt t e rn zu unmenschlichen H ä r t e n . Ledige
A u s l ä n d e r i n n e n , die in Liechtenstein ein K i n d zur
Welt brachten, erhielten f ü r dieses keine Aufent-
haltsbewilligung. Es musste aus dem Land geschafft
werden. Erst 1980 wurde diese Praxis aufgehoben
und das in Liechtenstein geborene aussereheliche
K i n d mit der Geburt in die Aufenthaltsbewil l igung
der Mutter einbezogen. Die Gleichstellung der Frau-
en bezügl ich Famil iennachzug erfolgte auf Geset-
zesebene 1989.
D R E I S T U F I G E S Z U L A S S U N G S M O D E L L
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die f rem-
denpolizeiliche Praxis die Einwandernden in ver-
schiedene Nationengruppen einteilte, die bezügl ich
Zulassung und Rechtsstellung unterschiedlich be-
handelt wurden. Es lassen sich drei geografische
Gruppen unterscheiden. Zur ersten, privilegierte-
sten g e h ö r e n die Schweizer innen, die aufgrund der
Fre izügigkei t von 1941 bis 1981 keinerlei Be-
s c h r ä n k u n g e n unterworfen waren. Sie waren auf
dem Arbei tsmarkt den I n l ä n d e r i n n e n gleichgestellt
und konnten ihre Famil ie jederzeit nachziehen. Zur
zweiten Gruppe z ä h l e n die traditionellen Rekrutie-
r u n g s l ä n d e r Ös te r re ich , Deutschland, Italien und
am Rande Spanien. F ü r A r b e i t s k r ä f t e aus dieser
Nationengruppe schuf m a n 1968 die Möglichkei t
des Famil iennachzugs nach fünf Jahren. Aufg rund
der Kontingentierung der Famil ienbewil l igungen
172
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA H E E B - F L E C K / VERONIKA MARXER-GSELL
konnte jedoch nur eine begrenzte A n z a h l von Be-
rechtigten die Famil ie nach der gesetzlich vorgege-
benen Frist nachziehen. Zur dritten Gruppe schliess-
lich g e h ö r e n alle ü b r i g e n Staaten, in erster Linie
die « e n t f e r n t e r e n L ä n d e r » . A n g e h ö r i g e dieser Staa-
ten wurden in der Regel nur zugelassen, wenn sie
hochqualifiziert waren oder aber in inattraktiven
Branchen und Berufen arbeiteten. Den Fami l ien-
nachzug verwehrte man ihnen z u n ä c h s t generell,
s p ä t e r wurde er in der Regel mit der Niederlassung
g e w ä h r t .
Die Bevorzugung der Schweizer innen war poli-
tisch b e g r ü n d e t und s tü tz te sich auf das Fre izügig-
keitsabkommen von 1941. Die unterschiedliche Be-
handlung der D r i t t a u s l ä n d e r wurde mit ihrer kultu-
rellen Andersart igkeit und der damit postulierten
schwierigen «Ass imi l i e rbarke i t» legitimiert und be-
ruhte damit letztlich auf einem rassistischen K o n -
zept.
ZULASSUNGSPOLITIK ALS NISCHENPOLITIK
Die Famil ienzuzugsverordnung von 1968 war ein
aussenpolitischer Erfolg. Im Unterschied zur Schweiz
war es Liechtenstein gelungen, g e g e n ü b e r den Re-
k r u t i e r u n g s l ä n d e r n die Autonomie i n der Gestal-
tung der Aus länderpo l i t ik zu wahren. Die aus
staatlicher Sicht negativen Erfahrungen, die die
Schweiz mit Italien und Spanien gemacht hatte,
konnten so weitgehend vermieden werden. Der
Druck von aussen zwang zwar zu Konzessionen.
Liechtenstein definierte jedoch seine Fami l ienzu-
zugsregelung ohne konkrete Einflussnahme der
Rekru t i e rungs l ände r , bestimmte also autonom, in
welchem Rahmen sich die Liberal is ierung bewegte.
Der Erfo lg der 1968 getroffenen Lösung lag ferner
darin, dass sie trotz ihrer vergleichsweisen Restrik-
tivität von Italien als ausreichende Anpassungslei-
stung akzeptiert wurde. Weitere Druckversuche
blieben aus, obwohl Liechtenstein Ende 1970 die
Möglichkeit des Famil iennachzugs f ü r Saisonniers
bereits wieder aufhob. A b 1971 mussten Saison-
niers zusä tz l ich zu den 45 Monaten Saisonaufent-
halt eineinhalb Jahre als Jahresaufenthalter nach-
weisen, wobei sie keinerlei Anspruch auf Umwand-
lung der Saisonbewil l igung hatten.
Als Quintessenz läss t sich festhalten, dass sich
Liechtenstein i m Bereich der Migrat ionspoli t ik ä u s -
serem Druck mit Erfo lg entziehen konnte. Fü r die
H e r k u n f t s l ä n d e r war das Auswanderungsvolumen
nach Liechtenstein zu unbedeutend, als dass sich
staatliches Engagement gelohnt beziehungsweise
a u f g e d r ä n g t hä t t e . Wenn dennoch, wie i m Falle Ita-
liens, Druck a u s g e ü b t wurde, blieb er vergleichs-
weise gering. Die Kleinhei t e rmög l i ch t e Liechten-
stein in migrationspoli t ischen Belangen eine N i -
schenpolitik, die es erlaubte, weitgehend den eige-
nen Interessen nachzuleben. Der Fre i raum, der
sich infolge der Bedeutungslosigkeit i m aussenpoli-
tischen Kontext ergab, wurde auch bewusst ge-
wahrt. Liechtenstein verfolgte i m Bereich der M i -
grationspolitik die Strategie, mögl ichs t nicht aufzu-
fal len und sich nicht festzulegen. Es war ein e rk lä r -
tes Ziel , keine zwischenstaatl ichen Verpflichtungen
einzugehen, also konkret den Abschluss von Nie-
d e r l a s s u n g s v e r t r ä g e n und Einwanderungsabkom-
men wenn mögl ich zu vermeiden.
7) Zu den «ent fern teren Ländern» gehör ten gemäss schweizeri-
schem Kreisschreiben vom 16. März 1964 alle Staaten Asiens und
Afrikas sowie die europäischen Staaten Griechenland, Malta. Portu-
gal, Türkei, Zypern und die Oststaaten inklusive Jugoslawien.
173
Erscheint Dienstag,
Plädoyer für einen eigen-
ständigen Weg in der Aus-
länderinnen-Frage. Liech-
tensteiner Vaterland, Mai
1970
Liechtenstein und
die Schwarzenbach-Initiative
von Berthold Konrad, Vaduz
Am 6.11. Juni werden die Stimmbürger der Schweiz entscheiden, ob die so sehr diskutierte
Schwarzenbach-Initiative, die einen massiven Abbau des Ausländer-Kontingents in unserem
Nachbarland vorsieht, angenommen wird oder nicht. Ist eine Annahme der Initiative möglich?
Welche Auswirkungen hätte die Annahme der Schwarzenbach-Initiative für unser Land? —
Diese und weitere Fragen beschäftigen auch unsere Bevölkerung, was sehr zu begrüssen ist,
denn auch wir müssen uns in Liechtenstein in naher Zukunft für eine neue Fremdarbeiter-
Hegel ung entscheiden. Darauf werden wir jedoch in einem separaten Aufsatz eingehen.
Heute soll ,nur kurz auf einige Probleme eingegangen werden, die uns mit oder ohne Schwar-
lenbach-Initiative beschäft igen müssen.
Was will die Initiative?
In einem Vortrag hat Hr. Schwarzenbach kürz-
lich gesagt: «Auch wenn unsere Initiative vom
Schweizervolk nicht angenommen wird, so ha-
ben wir wenigstens erreicht, dass sich der Bun-
desrat ernstlich mit dem Problemkreis der
Ueberfremdung befasst.» In der Tat kann man
heute feststellen, dass die Schweiz gewisser-
massen von der Problem-Lawine überfahren
worden ist.
«Unter dem Druck des zweiten Volksbegeh-
rens gegen die Ueberfremdung schlägt heute
der Bundesrat eine Stabilisierung der ausländi-
schen Erwerbstätigen vor und drängt im übri-
gen auf vermehrte Anstrengungen zur Assimi-
lation und zur erleichterten Einbürgerung»,
meint Herr Schwarzenbach. Und weiters: «Es
steht ausserhalb jeder Diskussion, dass die Ini-
tianten nicht nur im Rahmen der ihnen durch
die Bundesverfassung gewährleisteten Rechte
handeln, sondern dass sie sich zum Ziel gesetzt
haben, das «Besondere» des Schweizertums zu
pflegen, nämlich nach alt schweizerischer Tra-
dition und überdies bundesrätlicher Instruktion
«unser Leben, unser Zusammenleben auf unse-
rem Raum so einzurichten, wie es uns passt, in
einem Land, das auch unsern Kindern Heimat
sein wird». Ganz so unrecht hat Schwarzenbach
in der Annahme ja auch nicht, «dass die Tau-
sende von Südländern nicht aus Liebe zur
Freiheit und Demokratie und den gesellschaft-
lichen Institutionen in die Schweiz eingereist
sind, sondern um des Verdienstes willen; dass
die Arbeitgeber die südländischen Arbeitskräf-
te weder a u s g r ü n d e n der Humanität, noch der
christlichen Nächstenliebe, sondern zur Steige-
rung ihrer Produktion in die Betriebe gerufen
haben. Menschenfreundlich wäre es gewesen,
die Maschinen zu den Menschen zu bringen und
nicht die Menschen zu den Maschinen zu ver-
frachten».
Kein Schwarzenbach bei uns,
aber dennoch...
Auch wenn wir Liechtensteiner mit der
Schwarzenbach-Initiative nicht einiggehen, so
müssen wir uns doch Gedanken darüber ma-
chen, wie wir in Zukunft das Problem der
Ueberfremdung an die Hand nehmen. Die An-
nahme der Schwarzenbach-Initiative in der
Schweiz dürfte uns auf keinen Fall veranlassen,
die Ventile zu öffnen. Auf der anderen Seite
können wir es uns auch nicht leisten, eine Re-
striktion der Fremdarbeiter hinzunehmen. Was
wir jedoch unbedingt müssen ist: die Anzahl
der ausländischen Erwerbstätigen auf dem heu-
tigen Stand zu halten, und nur evtl. parallel
zur Bevölkerungszunahme eine Erhöhung dul-
den. Auch hier drängt sich auf, dem Saisonar-
beiter und dem Grenzgänger mehr Beachtung
zu schenken. Eine Lockerung bei der Zulassung
von Grenzgängern wird unumgängl ich sein. Im
Interesse einer annehmbaren Fremdarbeiterpo-
litik wird es jedoch künftighin unerlässlich
sein, den Familienzuzug' bei Saisonarbeitern zu
stoppen, hingegen die vermehrte Zulassung von
Saisonarbeitern zu befürworten, da ja dadurch
keine grössere Ueberfremdung entstehen kann.
Einem Saisonnier ist doch zuzumuten, sich oh-
ne Familie hier aufzuhalten. Unseren Vätern
ist es früher auch zugemutet worden!
Der kleine Mann und die Initiative
Müsste der Liechtensteiner nächste Woche
über eine Schwarzenbach-Initiative abstimmen,
so wäre es sicher genauso fraglich, ob sie ange-
nommen würde oder nicht. Gerade in letzter-
Zeit machen sich immer mehr Stimmen be-
merkbar, die für einen Stop von Zulassungen
sind. Einmal wird besonders die Knappheit an
erschwinglichen Wohnungen ins Feld geführt.
Tatsächlich werden heute Wohnungen gebaut,
deren Miete für einen durchschnittlichen Ar-
beiter unerschwinglich sind. Sfr. 400.— bis
sfr. 600.— für eine grössere Wohnung ist heute
an der Tagesordnung. Die teuren Wohnungen
werden von «besseren», d. h. finanziell höher
gestellten Ausländern gemietet und die billi-
gen Wohnungen von bewilligten ausländischen
Arbeiterfamilien «gestürmt». Wo bleiben also
die erschwinglichen Wohnungen? — Im weite-
ren dürfen die Auswirkungen des Streiks in
Genf und der Kundgebungen in Zürich nicht
unterschätzt werden. In einem Land, wo
Streiks ja praktisch verboten sind, zeugt das
«auf-die-Strasse-gehen» der Ausländer nicht
unbedingt von grossem Assimilationswillen.
Ueberdies wären Schweizer wahrscheinlich ein-
gesperrt worden, wenn sie das gleiche getan
hätten. Diese Vorkommnisse und das gewisse
«Du-musst-ja-stimmen» von oben wirkt sich
bestimmt nicht sehr positiv auf die kommende
Abstimmung in der Schweiz aus. Auch das
müssen wir in Betracht ziehen und die genann-
ten Situationen bei uns vorstellen. Wie würde
der Liechtensteiner reagieren? Nicht derjenige,
der uns ohnehin verkaufen würde (so etwas
soll es auch geben), sondern der echte, konser-
vative Liechtensteiner! Schon Prof. Karl Hilty
hat 1892 geschrieben: «Es steht ein starker und
tapferer Kern von Menschen dazwischen . . . —-
Und endlich wird man nie in grossen Ueber-
gangszeiten, wie die unsrige, den Menschen mit
Materialismus über alle Schwierigkeiten hin-
weg täuschen können.»
Eine Ueberlegung wert...
Solange wir unsere Eigenstaatlichkeit noch be-
haupten wollen (und können), müssen wir un-
sere eigenen Lösungen für uns gestellte Proble-
me suchen. Wenn wir uns nur ein bisschen Mü-
he geben, vom Egoismus einen Teil abzustos-
sen, dann sind wir fähig, für unser Land eine
Lösung zu finden, die auch von den Schweizern
respektiert wird.
174
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
Die Entstehung des liechten-
steinischen Begrenzungssystems
1970
Die gröss te Zuwanderung fand i n Liechtenstein wie
in der Schweiz i n den 1960er Jahren statt. Trotz
der B e s c h r ä n k u n g s m a s s n a h m e n nahm die Aus l än -
d e r b e s c h ä f t i g u n g erneut zu und erreichte 1970
schliesslich 53 Prozent. Im Unterschied zu den
1950er Jahren ging der B e s c h ä f t i g u n g s z u w a c h s
nun jedoch mit einer hohen Zunahme der a u s l ä n d i -
schen W o h n b e v ö l k e r u n g einher, die bis Ende 1970
auf einen knappen Drittel der G e s a m t b e v ö l k e r u n g
anwuchs. Was waren die Ursachen dieser Entwick-
lung? Was die Faktoren, die ein Unterlaufen des
bereits 1962 formulierten Stabilisierungsziels er-
mög l i ch t en?
Als erstes ist die wirtschaft l iche Entwicklung zu
e r w ä h n e n , die f ü r die 1960er Jahre mit den Stich-
worten « H o c h k o n j u n k t u r » und « B a u b o o m » cha-
rakterisiert werden kann. Der Konjunkturboom
ging mit einer starken Nachfrage nach Arbei t skräf -
ten einher, die vom einheimischen Arbei tsmarkt
schon lange nicht mehr s und vom regionalen zu-
nehmend weniger befriedigt werden konnte. Das
Potential an G r e n z g ä n g e r i n n e n war weitgehend
abgeschöpf t , die Rekrut ierung von a u s l ä n d i s c h e n
Arbe i t sk rä f t en auf zunehmend entlegenere A r -
b e i t s m ä r k t e angewiesen. Die Folge davon war eine
starke Zunahme der Zuwanderung, was sich in ei-
nem ü b e r d u r c h s c h n i t t l i c h hohen Zuwachs der aus-
l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g niederschlug. Die
v e r ä n d e r t e n Rekrutierungsbedingungen sind aus
der untenstehenden Statistik gut ablesbar.
A u f eine Fo rme l gebracht läss t sich die migrat i-
onspolitische Situation der 1960er Jahren folgen-
dermassen beschreiben: je s c h w ä c h e r die Grenz-
gängerbeschäf t igung ausfiel, desto notwendiger wur-
de der Zuzug von Aufenthal ter innen. Unter der
Voraussetzung einer konstanten Nachfrage läss t
sich dieser Satz nicht nur verallgemeinern sondern
auch umkehren: je e i n g e s c h r ä n k t e r die Beschäf t i -
gung von Aufenthal ter innen desto notwendiger der
Rückgriff auf G r e n z g ä n g e r i n n e n . Dies wurde in
den 1950er und w i r d erneut i n den 1980er Jahren
deutlich, i n denen die G r e n z g ä n g e r b e s c h ä f t i g u n g
nach Aufhebung der Fre izügigke i t mit der Schweiz
um mehr als das Doppelte zunahm.
8) In den 1950er Jahren betrug der Anteil der Aus länder innen am
Beschäf t igungszuwachs 68,4 Prozent, in den 1960er Jahren sogar
95 Prozent.
9) Nur Jahresaufenthalterinnen und Niedergelassene. 1960 beziehen
sich die Angaben auf die gesainte aus ländische Wohnbevölkerung.
STÄNDIGE AUSLANDISCHE WOHNBEVÖLKERUNG NACH NATIONALITÄTEN9
Staatsangehörigkeit
Öster- Deutsch- **Portu- Grie- Jugo-
Jahr Total Schweiz reich land Italien Spanien gal chenland slawien *Türkei Andere
1960 4 143 1 563 1 184 836 376 184
1970 6 719 2 429 1 858 1 165 707 149 - 69 101 241
1980 9 246 4 141 2 029 1 095 880 122 - 88 293 307 291
1990 10 218 4 426 2 122 1 021 858 193 161 95 385 554 403
** Bis 1989 unter «Andere» enthalten. * Bis 1979 unter «Andere» enthalten.
175
Neben der wirtschaft l ichen Nachfrage liegen die
Ursachen f ü r die in den 1960er Jahren ü b e r d u r c h -
schnittlich starke Zunahme der a u s l ä n d i s c h e n
W o h n b e v ö l k e r u n g jedoch auch in der damaligen
Zulassungspolitik. Die Z u l a s s u n g s b e s c h r ä n k u n g e n
von 1963 waren als kurzfristige Massnahmen kon-
zipiert und wiesen deshalb einen relativ geringen
Konkretisierungsgrad auf. Dies machte es den Zu-
l a s s u n g s b e h ö r d e n schwer, dem Druck von sehen
der Arbeitgeber auf Dauer standzuhalten. Die 63er
Verordnung enthielt zudem eine Reihe von Aus-
nahmebestimmungen, die Zuwanderung ü b e r den
Ersatzanspruch hinaus e rmögl i ch ten , ja in einem
gewissen Sinn sogar erforderten. A n erster Stelle
sind hier die den B e s c h r ä n k u n g s m a s s n a h m e n
nicht unterstellten Erwerbszweige wie zum Bei-
spiel die Landwirtschaft oder das Gastgewerbe zu
nennen, denen aufgrund ä u s s e r s t schwieriger Re-
krutierungsbedingungen dem Bedarf entsprechend
a u s l ä n d i s c h e A r b e i t s k r ä f t e zugesprochen wurden.
Eine bevorzugte Behandlung erfuhr jedoch auch
das Gewerbe, das insbesondere bei der Err ichtung
neuer Betriebe mit Ausnahmebewil l igungen rech-
nen konnte. So hatten zum Beispiel neukonzessio-
nierte Betriebe des Bauhauptgewerbes Ansp ruch
auf ein Mindestkontingent von drei a u s l ä n d i s c h e n
Arbe i t sk rä f t en , das in den folgenden Jahren noch
u m je eine Person aufgestockt werden konnte.
Von den B e s c h r ä n k u n g s m a s s n a h m e n ausgenom-
men waren aufgrund der Fre izügigkei t auch die
Schweizerinnen. Obwohl sich ihr Ante i l an der aus-
l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g aufgrund der in den
1950er und 1960er Jahren ve r s t ä rk t erfolgten Zu-
wanderung von D r i t t a u s l ä n d e r i n n e n verringerte,
lässt sich auch fü r die 1960er Jahre eine nicht
unerhebliche Zuwanderung aus der Schweiz fest-
stellen. Die ausserordentliche Zunahme der aus-
l änd i s chen Bevö lke rung in den 1960er Jahren geht
also auch zu einem guten Teil auf den freien Zuzug
der Schweizer innen zurück .
E i n weiterer Faktor war die 1968 e i n g e f ü h r t e L i -
beralisierung des Familienzuzugs. Obwohl die Fa -
milienbewill igungen kontingentiert wurden, ist ein
Teil des a u s l ä n d i s c h e n Bevö lke rungszuwachses
auch auf diese Massnahme z u r ü c k z u f ü h r e n .
Die hohe A u s l ä n d e r b e s c h ä f t i g u n g sowie die mas-
sive Zunahme der a u s l ä n d i s c h e n Wohnbevö lke -
rung bedeuteten fü r Liechtenstein eine gesell-
schaftliche Herausforderung ersten Ranges. Die
Ü b e r f r e m d u n g s d i s k u s s i o n schlug hohe Wellen, der
Ruf nach einer Kehrtwende war a l lgegenwär t ig .
DER IMPULS AUS DER SCHWEIZ
In einer ä h n l i c h e n Lage befanden sich auch die
schweizerischen B e h ö r d e n . 1965 war die erste
Ü b e r f r e m d u n g s i n i t i a t i v e , 1969 die zweite, die so-
genannte Schwarzenbach-Initiative, lanciert wor-
den. Beide Volksinit iat iven forderten eine massive
Reduktion der a u s l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g ,
was bei einer Annahme zu einem volkswirtschaft l i -
chen Desaster g e f ü h r t und die Schweiz auch inter-
national unter Druck gesetzt hä t t e . A u f diesem H i n -
tergrund waren i n der Schweiz seit 1965 Bestre-
bungen i m Gange, die Zulassungspolitik auf eine
neue Basis zu stellen. Konkret ging es darum, die
bis anhin auf betrieblicher Ebene erfolgte Plafonie-
rung der a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e (Betriebspla-
fonierung) durch eine gesamtwirtschaftliche Plafo-
nierung auf nationaler Ebene zu ersetzen (Gesamt-
plafonierung). Aufg rund des starken Widerstandes
von Seiten der Industrie sowie von strukturschwa-
chen Kantonen konnte der Systemwechsel jedoch
erst unter dem massiven Druck der Schwarzen-
bach-Initiative umgesetzt werden. E r erfolgte i m
M ä r z 1970, zwei Monate vor der Abs t immung ü b e r
die Initiative.
Die B e m ü h u n g e n der Schweiz um ein griffiges
Zulassungssystem wurden in Liechtenstein mit
grossem Interesse verfolgt: Ende Dezember 1970
wurde unter Kri t ik von sehen der Wirtschaftsver-
treter, jedoch ohne nennenswerten Widerstand,
schliesslich ebenfalls auf die Gesamtplafonierung
umgestellt.
Der Systemwechsel war in Liechtenstein mit
zwei Neuerungen verbunden: einer gesamtwirt-
schaftlichen Betrachtung der Zulassungsfrage und
der Ausdehnung des Begrenzungsmechanismus'
auf die a u s l ä n d i s c h e W o h n b e v ö l k e r u n g .
176
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
DIE G E S A M T P L A F O N I E R U N G
G e m ä s s dem neuen System ging man i n der Frage
der Zulassung von a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n
nicht mehr vom einzelnen Betrieb aus sondern von
der gesamten Volkswirtschaft . Die Regierung legte
jähr l ich die H ö c h s t z a h l e n f ü r die Ertei lung von
erstmaligen Aufenthaltsbewill igungen fest. Aus län -
dische Arbe i t sk rä f t e wurden nur noch i m Rahmen
dieser H ö c h s t z a h l e n zugelassen. Die Bewil l igung
von a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n erfolgte g e m ä s s
einem feststehenden Pr io r i t ä t enka ta log , der soge-
nannten « P r i o r i t ä t s o r d n u n g » . Diese war auch f ü r
die Beschä f t i gung von G r e n z g ä n g e r i n n e n , deren
Bestand ebenfalls plafoniert war, massgebend.
A u c h die aktuelle Zulassung von Saisonniers war
an Höchs t zah l en gebunden. Die Zuteilung an die
einzelnen Betriebe erfolgte i m Baugewerbe nach be-
stimmten Kri ter ien wie zum Beispiel den i m vergan-
genen Jahr i m Lande a u s g e f ü h r t e n Arbei ten, dem
vormaligen Bestand an S a i s o n a r b e i t s k r ä f t e n etc.
Im Kern beinhaltete die Gesamtplafonierung die
Begrenzung der Zuwanderung mittels der Festle-
gung von H ö c h s t z a h l e n fü r Neubewill igungen. Der
Systemwechsel zielte denn auch in erster Linie dar-
auf ab, die Zuwanderung i n den Gr i f f zu bekom-
men. Neben dieser zulassungspolitischen Zielset-
zung ging es jedoch auch darum, den der Betriebs-
plafonierung i n h ä r e n t e n Branchenprotektionismus
abzubauen und die W e t t b e w e r b s f ä h i g k e i t der Wirt-
schaft zu s t ä r k e n .
DER REGRENZUNGSMECHANISMUS
W ä h r e n d sich Liechtenstein in der g r u n d s ä t z l i c h e n
Ausrichtung des Zulassungssystems an das schwei-
zerische Vorbi ld hielt, ging es bezügl ich der Verfah-
r e n s m o d a l i t ä t e n sowie der zulassungspolitischen
Zielsetzungen eigene Wege. Die j äh r l i che Festle-
gung der H ö c h s t z a h l e n fü r erstmalige Aufenthalts-
bewill igungen erfolgte nach einem eigenen Begren-
zungsmechanismus, der g e m ä s s Ar t ike l 2 der Be-
grenzungsverordnung von 1970 folgendermassen
definiert war:
«Die neu erteilbaren Aufenthaltsbewill igungen
werden auf Grund der Zahl der Aus länder , die
Liechtenstein verlassen (Ausreise), und unter Be-
rücks i ch t i gung des Verhä l tn i s ses zwischen den i m
Lande wohnhaf ten liechtensteinischen und aus l än -
dischen S t a a t s a n g e h ö r i g e n fes tgese tz t .»
Das Verhä l tn is zwischen den liechtensteinischen
und a u s l ä n d i s c h e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n setzte die
Regierung mit Erlass der Verordnung auf einen
Drittel der G e s a m t b e v ö l k e r u n g fest, das heisst, der
A u s l ä n d e r a n t e i l durfte nicht mehr als 33 Prozent
betragen.
Das Einwanderungsvolumen ergab sich durch
die Inbezugsetzung der beiden Parameter: j äh r l i -
che Ausreisen und A u s l ä n d e r a n t e i l von max ima l
33 Prozent. A u f dieser Basis setzte die Regierung
die jeweil igen H ö c h s t z a h l e n fü r Neuzulassungen
fest. Dies i m Unterschied zur Schweiz, wo die
Höchs t zah l en zwischen den B e h ö r d e n und den «in-
teressierten Kre i sen» j äh r l i ch neu ausgehandelt
wurden.
DIE F E S T L E G U N G DER « D R I T T E L S G R E N Z E »
Das liechtensteinische Begrenzungssystem unter-
schied sich jedoch nicht nur i m Verfahren, sondern
auch in der Entschiedenheit, mit welcher das Sta-
bil is ierungsziel verfolgt wurde, von der schweizeri-
schen Lösung. Es ist hier die bereits e r w ä h n t e Fest-
legung des A u s l ä n d e r a n t e i l s auf einen Drittel der
G e s a m t b e v ö l k e r u n g , die sogenannte «Dri t te l sgren-
ze», angesprochen. Angesichts der nach wie vor
stark expandierenden Wirtschaft handelte es sich
um einen k ü h n e n Schritt, der der E r k l ä r u n g be-
darf.
Die Idee, die Zuwanderung vom A u s l ä n d e r a n t e i l
der W o h n b e v ö l k e r u n g a b h ä n g i g zu machen und
diesen auf einen Drittel zu begrenzen, kam von Sei-
ten der Industrie. Die Industr iekammer beteiligte
sich aktiv an der Suche nach einem f ü r Liechten-
stein geeigneten Zulassungsmodell und machte
diesen Vorschlag i m Rahmen eines Konzepts, das
sie der Regierung i m A p r i l 1970 vorlegte. Dass der
Vorschlag von dieser Seite kam und nicht, wie viel
177
Vorfreude auf den Feier-
abend. Arbeiter beim
Verlassen des Geländes
der Firma Hoval AG in
Vaduz, 1994
eher zu erwarten gewesen w ä r e , von Seiten der A r -
beitnehmerschaft, erstaunt i m ersten Moment. Bei
genauerer Betrachtung sowie der Berücks i ch t igung
der gesellschaftlichen Z u s a m m e n h ä n g e ist das Vor-
gehen der Industriekammer jedoch durchaus ver-
s tändl ich .
Z u m Vorschlag selbst: Die Festlegung des Aus-
l ände ran t e i l s auf einen Drittel der Gesamtbevö lke -
rung orientierte sich am A u s l ä n d e r b e s t a n d vom
31. Dezember 1969, der damals 30,8 Prozent be-
trug. E r bedeutete also - i m Unterschied zu den
ähn l i ch gelagerten Bestrebungen der schweizeri-
schen Ü b e r f r e m d u n g s b e w e g u n g - keine Reduktion
der a u s l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g , sondern be-
inhaltete eine Wachstumsreserve von ü b e r zwei
Prozent. Zusä tz l i chen Spiel raum erhoffte m a n sich
von einer Revision der E i n b ü r g e r u n g s g e s e t z g e -
bung . 1 0
Der Vorschlag der Industriekammer kam zu ei-
ner Zeit, in der die Abst immungskampagne zur
Schwarzenbach-Initiative auf vollen Touren war.
Diese forderte die Reduktion der a u s l ä n d i s c h e n
W o h n b e v ö l k e r u n g auf zehn Prozent der Gesamtbe-
vö lke rung und zwar pro Kanton. A u f diesem Hin -
tergrund und des auch i n Liechtenstein bestehen-
den Handlungsbedarfs stellt sich das Vorpreschen
der Industriekammer als Flucht nach vorne dar. Es
ging darum, Schlimmeres zu v e r h ü t e n .
Vom bedeutendsten Wirtschaftsvertreter einge-
bracht, stellte der Vorschlag ein ernst zu nehmen-
des Verhandlungsangebot dar, auf das schliesslich
auch die Arbeitnehmervertretung einschwenkte.
A u c h wenn nach Auffassung des Arbei tnehmerver-
bands ein A u s l ä n d e r a n t e i l von einem Drittel « d a s
wi rk l i ch h ö c h s t e noch tragbare Mass» bedeutete,
war mit der Festlegung eines H ö c h s t w e r t e s doch
Entscheidendes gewonnen.
Die «Dr i t t e l sg renze» wurde in der Folge zum
massgebenden Kr i t e r ium wie auch zum Marken-
zeichen der liechtensteinischen Zulassungspolitik.
Sie definierte die Zuwanderung nicht nur i m quan-
titativen Sinne sondern auch qualitativ. Je mehr
Schweizer innen zuwanderten - auch diese z ä h l t e n
zur a u s l ä n d i s c h e n W o h n b e v ö l k e r u n g - desto res-
triktiver gestaltete sich die Zulassung von Drittaus-
l ä n d e r i n n e n . Ähn l i ches läss t sich auch bezügl ich
der Zulassung von e r w e r b s t ä t i g e n und nichter-
w e r b s t ä t i g e n D r i t t a u s l ä n d e r i n n e n feststellen. Je l i -
beraler die Zulassung von e r w e r b s t ä t i g e n Aufent-
hal ter innen war, desto restriktiver f ie l die Zulas-
sung von N i c h t e r w e r b s t ä t i g e n aus. Dies w a r neben
den Ü b e r f r e m d u n g s ä n g s t e n der Hauptgrund f ü r
die ä u s s e r s t restriktive Handhabung des Fami l ien-
zuzugs. Es e r k l ä r t damit auch ein Stück weit die
Repress iv i t ä t des liechtensteinischen A u s l ä n d e r r e -
gimes.
178
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA H E E B - F L E C K / VERONIKA MARXER-GSELL
Die Verschärfung der Zulassungs-
bestimmungen und die Aufhebung
der Freizügigkeit mit der Schweiz
1980/81
Trotz der systematischen Begrenzung der Zuwan-
derung und der R ü c k w a n d e r u n g von mehreren
Hundert a u s l ä n d i s c h e n A r b e i t s k r ä f t e n w ä h r e n d
der Rezession (1974-1976) lag der A u s l ä n d e r a n t e i l
mit Ausnahme des Jahres 1976 konstant ü b e r dem
vorgegebenen Drittel. 1980 erreichte er knapp 37
Prozent. Den g r ö s s t e n Zuwachs hatte dabei die
schweizerische Bevö lke rung erfahren, die sich von
1970 bis 1980 fast verdoppelte. In Liechtenstein
waren 1980 a n n ä h e r n d die Hälf te der A u s l ä n d e r i n -
nen schweizerischer Nat ional i tä t . A u c h die Aus l än -
d e r b e s c h ä f t i g u n g war, besonders i m letzten Drittel
der 1970er Jahre, stark angestiegen. 1980 wurden
55 Prozent der Arbe i t sp l ä t ze von A u s l ä n d e r i n n e n
eingenommen.
Die massive Ü b e r s c h r e i t u n g der «Dr i t te l sgren-
ze» sowie die v e r s c h ä r f t e Konkurrenz ie rung durch
a u s l ä n d i s c h e A r b e i t s k r ä f t e stiessen bei der organi-
sierten Arbei tnehmerschaft auf steigenden Unmut.
Dieser gipfelte schiesslich in einem Ant rag an die
Regierung, i n welchem eine restriktivere Handha-
bung der Zulassung und eine Reduktion des Aus -
l ä n d e r b e s t a n d e s gefordert wurde. Der Antrag, der
im März 1978 von der Delegiertenversammlung
des Arbei tnehmerverbands einst immig verabschie-
det worden war, drohte d a r ü b e r h i n a u s mit der
Lancierung einer Volksinitiative, sollte i m G e s p r ä c h
mit der Regierung kein Erfolg erzielt werden.
Das provozierende Auftreten der organisierten
Arbeitnehmerschaft hatte seine Ursache in der seit
der Rezession v e r ä n d e r t e n Arbeitssituation. Ob-
wohl der B e s c h ä f t i g u n g s r ü c k g a n g in den Rezessi-
onsjahren gröss ten te i l s auf Kosten a u s l ä n d i s c h e r
Arbe i t sk rä f t e ging, waren auch Einheimische da-
von betroffen. Z u Unmutsbezeugungen kam es in
der liechtensteinischen Arbei tnehmerschaft beson-
ders dann, wenn einheimische A r b e i t s k r ä f t e ent-
lassen wurden, w ä h r e n d m a n a u s l ä n d i s c h e weiter-
beschä f t ig t e oder gar neu einstellte. Die Rezession
hatte zum Verlust des bis anhin gesicherten Pr iv i -
legs eines garantierten Arbeitsplatzes ge füh r t . U n d
der 1977 einsetzende Wiederaufschwung, der mit
einem starken Zuwachs der A u s l ä n d e r b e s c h ä f t i -
gung einherging, v e r s c h ä r f t e die Konkurrenz u m
die Arbe i t sp lä tze zusä tz l ich . E i n Teil der e inheimi-
schen Arbei tnehmerschaft füh l t e sich zunehmend
in die Ecke getrieben und a b g e d r ä n g t .
Die Regierung beantwortete die ultimativen For-
derungen von sehen der Arbei tnehmerschaft mit
einer V e r s c h ä r f u n g der Zulassungsbestimmungen
und der Aufhebung der Fre izügigkei t mit der
Schweiz.
DIE U N T E R M I N I E R U N G DER R E C H T S -
S T E L L U N G DER D R I T T A U S L Ä N D E R / I N N E N
1980 wurde das Begrenzungssystem mit « b e s o n d e -
ren M a s s n a h m e n » ausgestattet, die es der Regie-
rung erlaubten, bei Ü b e r s c h r e i t e n der «Drit tels-
g r e n z e » das kodifizierte Recht in wesentlichen
Punkten ausser Kraf t zu setzen. Übers t i eg der Aus-
l ä n d e r a n t e i l 33 Prozent, konnte die Frist f ü r den
Famil iennachzug, die g e m ä s s Gesetz fünf Jahre be-
trug, auf unbestimmte Zeit v e r l ä n g e r t werden. Eine
weitere Massnahme war die E r h ö h u n g der Frist f ü r
den Berufsbranchenwechsel von drei auf fünf Jah-
re. Sie zielte darauf ab, die Abwande rung a u s l ä n d i -
scher A r b e i t s k r ä f t e aus strukturschwachen Bran-
chen wie z u m Beispiel der Landwir tschaf t oder
dem Gastgewerbe e i n z u s c h r ä n k e n und dadurch
Neuzulassungen vorzubeugen. Eine weitere Mass-
nahme w a r die V e r l ä n g e r u n g der Fris t f ü r die U m -
wandlung von Saisonbewill igungen i n Aufenthalts-
bewill igungen. Mi t der vorgesehenen Fristerstre-
ckung von den gesetzlich festgelegten 45 Monaten
innert fünf Jahren auf mindestens 90 Monate in -
nert zehn Jahren wurde letztlich jedoch nur die seit
1971 üb l iche fremdenpolizei l iche Praxis bes tä t ig t .
A u c h die Ausdehnung der Frist f ü r den Famil ien-
10) Im gleichen Jahr, in dem die Begrenzungsverordnung in Kraft
trat, reichte der Landtagsabgeordnete und Sekretär der Industrie-
kammer, Herbert Kindle, ein Postulat zur Erleichterung der Einbür-
gerung der «al te ingesessenen Aus länder innen» ein. Erstes und ein-
ziges Resultat der anfangs der 1970er Jahre intensiv geführ ten Dis-
kussion war die Erleichterung der Rückbürgerung von ehemaligen
Liechtensteinerinnen, die mit einem Ausländer verheiratet waren,
sowie die Möglichkeit, bei Heirat mit einem Ausländer die liechten-
steinische S taa t sbürgerschaf t beizubehalten. Beide Massnahmen
wirkten sich auf den Ausländerante i l senkend aus.
179
Die vom Schweizer-Verein
in Liechtenstein organi-
sierte 1. August-Feier auf
Dux in Schaan, 1956.
Es spricht als Festredner
Divisionskommandant
Edgar Schumacher.
nachzug d ü r f t e angesichts der Kontingentierung
der Famil ienbewil l igungen einer eingespielten Pra-
xis entsprochen haben. Als letztes sei noch die
Massnahme e r w ä h n t , die Zah l der A u s l ä n d e r i n n e n
nach Betrieben und Na t iona l i t ä t en zu begrenzen.
Insgesamt läss t sich feststellen, dass die ve r s t ä rk -
ten B e m ü h u n g e n , die Zuwanderung e i n z u s c h r ä n -
ken, auf Kosten der bereits i m Land anwesenden
A u s l ä n d e r i n n e n gingen, deren ohnehin schwach
ausgebildete Rechtsstellung (keine R e c h t s a n s p r ü -
che) zusä tz l ich beschnitten wurde. Ferner gilt z u
be rücks i ch t igen , dass der A u s l ä n d e r a n t e i l konstant
ü b e r einem Drittel lag, die « b e s o n d e r e n Massnah-
m e n » also keine Ausnahmeregelung darstellten,
sondern die fremdenpolizei l iche «Norma l i t ä t» wie-
dergaben.
180
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA H E E B - F L E C K / VERONIKA MARXER-GSELL
Neben der E i n f ü h r u n g der « b e s o n d e r e n Mass-
n a h m e n » wurden 1980 auch Korrekturen am Sys-
tem selbst vorgenommen. Das bis anhin privi le-
giert zugelassene a u s l ä n d i s c h e Personal fü r Schu-
len, Spitäler, landwirtschaft l iche Betriebe etc. wur-
de nun ebenfalls den Begrenzungsmassnahmen
unterstellt, das heisst i n die H ö c h s t z a h l e n mitein-
bezogen. Damit wurde die letzte Lücke des Systems
geschlossen.
DIE EINDÄMMUNG DER Z U W A N D E R U N G
AUS DER SCHWEIZ
Die g röss te zulassungspolitische Herausforderung
war in den 1970er Jahren jedoch eindeutig die un-
kontrollierbare Zuwanderung aus der Schweiz.
Dass man an diesem Punkt anzusetzen habe, wol l -
te man die «Dr i t t e l sg renze» weiterhin aufrechter-
halten, war bei allen migrationspoli t ischen Akteu-
ren unbestritten. Nach mehreren A n l ä u f e n einigte
man sich schliesslich mit den schweizerischen
B e h ö r d e n auf eine teilweise Aufhebung der seit
1941 bestehenden Freizügigkei t . Dieser Schritt er-
mögl ich te es Liechtenstein ab November 1981,
auch die Schweizer innen dem Begrenzungssystem
zu unterstellen. Freien Zugang hatte nur noch ein
e i n g e s c h r ä n k t e r Personenkreis, der in erster Linie
Studierende, Personal f ü r öffent l iche Institutionen
wie zum Beispiel das Schul- oder Gesundheitswe-
sen sowie F a m i l i e n a n g e h ö r i g e von sich bereits in
Liechtenstein aufhaltenden Schweizer Staatsan-
gehör igen umfasste. Al le ü b r i g e n Aufenthaltsgesu-
che fielen nun ebenfalls unter die von der Regie-
rung festgesetzten Höchs t zah l en . Das einzige Pr iv i -
leg, das die Schweizer innen bei der Zulassung
noch genossen, war die Bevorzugung g e g e n ü b e r
Dr i t t aus län d er lnnen.
Von jeglichen B e s c h r ä n k u n g s m a s s n a h m e n aus-
genommen waren nach wie vor die schweizeri-
schen G r e n z g ä n g e r i n n e n . Ihr Ante i l an der A u s l ä n -
d e r b e s c h ä f t i g u n g stieg nach Aufhebung der Fre izü-
gigkeit denn auch massiv an. 1990 arbeiteten fast
doppelt so viele G r e n z g ä n g e r i n n e n aus der Schweiz
i n Liechtenstein wie 1981. Das Anwachsen der
Mitglieder des Türkischen
Vereins in Liechtenstein,
1994
181
A u s l ä n d e r b e s c h ä f t i g u n g konnte mit der Aufhebung
der Fre izügigkei t nicht verhindert werden. Was
stattfand, war eine Verlagerung von der Kategorie
der Aufenthalter auf jene der Grenzgänge r . Das
Problem der Konkurrenzierung durch a u s l ä n d i s c h e
Arbe i t sk rä f t e , auf das die Ü b e r f r e m d u n g s d i s k u s s i -
on der s p ä t e n 1970er Jahre letztlich zu rückg ing ,
wurde mit den getroffenen Massnahmen also nicht
gelöst. Was in den 1980er Jahren jedoch erreicht
wurde, war die Stabilisierung der a u s l ä n d i s c h e n
W o h n b e v ö l k e r u n g , auch wenn sie sich auf einem
relativ hohen Niveau von gut 37 Prozent bewegte.
Der von der Regierung demonstrierte Handlungs-
wille sowie der w ä h r e n d des Konjunktureinbruchs
1982/83 eingetretene R ü c k g a n g der A u s l ä n d e r b e -
schä f t i gung f ü h r t e schliesslich auch zu einem A b -
flauen der Ü b e r f r e m d u n g s d i s k u s s i o n .
Das Begrenzungssystem wurde 1989/90 noch-
mals den v e r ä n d e r t e n Bedingungen angepasst, das
heisst, auch die Zulassung von G r e n z g ä n g e r i n n e n
wurde v e r s t ä r k t reglementiert. Eine g r u n d s ä t z l i c h e
Umorient ierung fand erst mit dem Beitritt z u m
E W R statt, auf Druck von ä u s s e r e n Gegebenheiten.
Errungenschaften nur fü r E W R - S t a a t s b ü r g e r l n n e n
und mit geringen E i n s c h r ä n k u n g e n f ü r Schweizer
S t a a t s a n g e h ö r i g e gelten. Personen aus Drittstaaten
sind i n ihren Rechten nach wie vor stark einge-
s c h r ä n k t . 1 1
A N G L E I C H U N G A N E U R O P Ä I S C H E
R E C H T S S T A N D A R D S A U F G R U N D WIRT-
S C H A F T L I C H E R EINRINDUNG
Die Einbindung i n den e u r o p ä i s c h e n Wirtschafts-
raum erforderte auch i m A u s l ä n d e r r e c h t eine A n -
gleichung an e u r o p ä i s c h e Standards. Dies hatte
eine massive Verbesserung der Rechtsstellung der
A u s l ä n d e r i n n e n zur Folge. Als Beispiel sei an die-
ser Stelle nur der Famil iennachzug e r w ä h n t . E W R -
Angehör ige , auch Saisonniers, sind jederzeit be-
rechtigt, ihre F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n nachziehen zu
lassen. Es existiert keine Wartefrist mehr. Eine Ver-
besserung stellt auch die Erwei terung des zum
Nachzug berechtigten Personenkreises dar. Die
g rundsä t z l i che Errungenschaft besteht jedoch dar-
in , dass es sich beim Famil iennachzug nunmehr
um einen unabdingbaren Rechtsanspruch handelt,
der auch q u o t e n m ä s s i g nicht reglementiert werden
kann. Als letztes ist zu e r w ä h n e n , dass die obigen
182
DIE LIECHTENSTEINISCHE MIGRATIONSPOLITIK
CLAUDIA HEEB-FLECK / VERONIKA MARXER-GSELL
Fazit
Die liechtensteinische Migrationspoli t ik bewegte
sich in einem komplexen Kräf tefe ld , das sich the-
matisch auf drei Bereiche reduzieren lässt : die
enge Bindung an die Schweiz, die starke wirt-
schaftliche Nachfrage nach a u s l ä n d i s c h e n Arbeits-
k r ä f t e n und der Schutzanspruch der liechtensteini-
schen Arbei tnehmerschaft vor a u s l ä n d i s c h e r K o n -
kurrenz.
Neben diesen gesellschaftlichen Krä f t en wurde
sie jedoch auch von ideellen Kategorien bestimmt.
Gemeint sind nationalistische, rassistische und pa-
triarchale Denkmuster, die kaum hinterfragt wur-
den. Ihnen allen ist ein M e r k m a l gemeinsam, n ä m -
lich die Betonung von Ungleichheit und daraus ab-
geleitet das Recht auf Ungleichbehandlung.
Kennzeichnend f ü r den nationalistischen Ansatz
ist der Anspruch der liechtensteinischen Arbei t -
nehmerschaft auf Privilegierung. Im Sinne eines
«na t i ona l en Rechts» verstanden, bedurfte er keiner
weiteren Legitimation. Genau so wenig wie die
Funktionalis ierung der a u s l ä n d i s c h e n Arbe i t skräf -
te als « K o n j u n k u r p u f f e r » einer Rechtfertigung be-
nöt igte .
Die « Ü b e r f r e m d u n g s i d e o l o g i e » definierte das
Fremde oder den Fremden generell als Gefahr: i n
einem biologistisch-rassistischen Sinne fü r das
« l iech tens te in i sche E r b g u t » , auf kultureller Ebene
als G e f ä h r d u n g der « l i ech tens te in i schen E igena r t» .
Neben nationalistischen und rassistischen Mot i -
ven spielten patriarchale Denkmuster eine zentrale
Rolle. Sie b e g r ü n d e t e n zum einen die Diskr iminie-
rung der a u s l ä n d i s c h e n Frauen, die bis 1989 kei-
nen Anspruch auf Famil iennachzug hatten. Z u m
andern waren sie f ü r die s k a n d a l ö s e Behandlung
der eigenen B ü r g e r i n n e n verantwortl ich, die bei
Heirat mit einem D r i t t a u s l ä n d e r bis anfangs der
1960er Jahre aus dem Land gewiesen wurden.
Insgesamt f ü h r t e n diese Faktoren zu einer ü b e r
den ganzen Zeitraum hinweg restriktiv ausgerich-
teten Zuwanderungspolit ik, die i m Falle der Dritt-
a u s l ä n d e r i n n e n mit einer ä u s s e r s t schwach ausge-
bildeten Rechtsstellung einherging.
Die liechtensteinische Migrationspoli t ik bewegte
sich in einem starren Korsett, das den B e h ö r d e n
wenig Spielraum liess. Dennoch ü b e r r a s c h t , mit
welcher H ä r t e insbesondere gegen unterprivile-
gierte A u s l ä n d e r i n n e n und A u s l ä n d e r (Saisonniers,
A u s l ä n d e r i n n e n aus « e n t f e r n t e r e n L ä n d e r n » , ledi-
ge Müt ter ) vorgegangen wurde. Insbesondere wenn
man bedenkt, dass Liechtenstein einen grossen Teil
seines Reichtums nicht nur a u s l ä n d i s c h e m Kapi ta l
sondern auch a u s l ä n d i s c h e r Arbei tskraf t verdankt.
11) Personenverkehrsordnung (PVO) vom 16. Mai 2000, LGB1. 2000
Nr. 99.
183
BILDNACHWEIS
S. 155, 156, 159, 160, 161,
166, 178, 180: Liechten-
steinisches Landesarchiv,
Vaduz
S. 164 und 168/169: Mittei-
lungsblatt des Liechtenstei-
nischen Arbeiterverbandes
(später: Arbeitnehmerver-
band), August 1959 und
Dezember 1964
S. 167, 170: Walter Wäch-
ter, Schaan
S. 174: Liechtensteiner
Vaterland, 21. Mai 1970
S. 181: Close up AG,
Roland Korner, Triesen
ANSCHRIFTEN
DER AUTORINNEN
lic. phil. Claudia Heeb-
Fleck
Im Wingert 16
FL-9494 Schaan
lic. phil. Veronika
Marxer-Gsell
Im Zagalzel 52
FL-9494 Schaan
184
R E Z E N S I O N E N
Inhalt
187 Grenzraum Alpenrhein
Rupert Quaderer
189 «So müssen die Industrien vermehrt
werden. . .»
Rupert Quaderer
190 Handbuch der Bündner Geschichte
Fabian Frommelt
195 Das Dekanat Liechtenstein 1970 bis 1997
Beatrice Sutter Sablonier
198 Angola. Mission, Salettiner und liechten-
steinische Entwicklungszusammenarbeit im
südlichen Afrika
Klaus Biedermann
205 «In schicksalsschwerer Zeit gelangen die Par-
teien an Euch...»
Werner Hagmanns Buch über Wirtschaft,
Not und Politik im Bezirk Werdenberg 1930
bis 1945
Peter Geiger
215 Ende des Nationalsozialismus und demo-
kratischer Wiederaufbau im Bezirk Feldkirch
Klaus Biedermann
221 Volkstheater
Pio Schurti
224 Beiträge zur liechtensteinischen Identität
Jürgen Schremser
228 La musica e finita?
Der Bildband «Licht und Schatten» stellt Land
und Leute in Liechtenstein vor
Gerolf Hauser
186
REZENSIONEN
GRENZRAUM ALPENRHEIN
Grenzraum Alpenrhein
RUPERT QUADERER
Die Publikation «Grenzraum Alpenrhein. Brücken
und Barrieren 1914-1938» enthält sechs überar-
beitete und ergänzte Referate des 1996 in Mä-
der/Vorarlberg vom Arbeitskreis für Regionale Ge-
schichte durchgeführten Symposiums zum gleichen
Thema. Dem Arbeitskreis gehören Organisationen
aus Vorarlberg, aus dem Bodenseegebiet, aus der
Ostschweiz und aus Liechtenstein an. Wie Heraus-
geber Robert Allgäuer im Vorwort bemerkt, war es
das Ziel dieses Symposiums, «verschiedenen Nach-
barschaftsfragen kleinräumig nachzugehen, und
zwar in einem kritischen Zeitraum unseres Jahr-
hunderts».
Gerhard Wanner behandelt das Thema «Vorarl-
bergs Beziehungen zur Schweiz während des Er-
sten Weltkrieges». Ausgehend von den regen grenz-
überschreitenden Beziehungen Vorarlbergs zur
Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg zeigt Wanner
die durch den Kriegsausbruch bewirkten ein-
schneidenden Veränderungen auf. Grenzbewa-
chung, Spionage, Schmuggel, Kriegsgefangene, E i -
senbahnverkehr und der kleine Grenzverkehr so-
wie der Fremdenverkehr sind Untersuchungsthe-
men dieses Beitrages. Ebenso zeigt der Autor auf,
wie der Krieg sich auf die Rheinregulierung und die
Bodenmelioration auswirkte und wie durch soziale
Massnahmen versucht wurde, das Schicksal ver-
wundeter Soldaten und bedürftiger Kinder zu ver-
bessern.
Heribert Küng untersucht in seinem Beitrag die
«Aspekte der sanktgallischen Grenzbeziehung in
der Zwischenkriegszeit» anhand der zwei ausge-
wählten Bereiche «Kleiner Grenzverkehr» und
«Wirtschaftliche Beziehungen». In Küngs Arbeit
werden vor allem die Schwierigkeiten während der
Kriegs- und Zwischenkriegszeit dargestellt, die sich
für den Personenverkehr und den für St. Gallen
und Vorarlberg wirtschaftlich bedeutenden Sticke-
rei-Veredlungsverkehr ergaben.
Peter Geiger geht im Beitrag «Niemandsland
Liechtenstein: Im militärischen Visier des Dritten
Reiches und der Schweiz 1938/39» der Frage nach,
was Liechtenstein für die deutschen Militärinteres-
sen bedeutete und welche schweizerischen M i -
litärüberlegungen eine Rolle spielten. Vor allem
Robert Allgäuer (Hg.)
Grenzraum Alpenrhein
Robert Allgäuer (Hg.):
Grenzraum Alpenrhein.
Brücken und Barrieren
1914-1938.
Chronos Verlag, Zürich,
1999. 236 Seiten, CHF 38,
ISBN 3-905312-97-2
187
nach dem Anschluss Österreichs wurde Liechten-
stein für die Schweiz ein militärisch wichtiger
Punkt. Im Falle einer Besetzung Liechtensteins
durch die deutsche Wehrmacht wäre die Festung
Sargans in hohem Masse gefährdet gewesen. Der
Ellhornhandel stellt ein anschauliches Beispiel für
diese angespannte Lage dar.
Werner Hagmann untersucht in seiner Arbeit
den «Einfluss von Faschismus und Nationalsozia-
lismus auf die politische Landschaft im St. Galler
Grenzbezirk Werdenberg». Hagmann geht der Fra-
ge nach, welche parteipolitischen Kräfte während
der Krisen- und Kriegsjahre 1930 bis 1945 im ge-
nannten geopolitischen Raum wirkten. Vor allem
die Bestrebungen der sogenannten «Frontenbewe-
gung», die Deutsche Kolonie und die neuen politi-
schen Gruppierungen sind Untersuchungsbereiche.
Adrian Gollenberg analysiert in «<Passstaat> und
<catena mediana). Zur geographischen und politi-
schen Konstruktion von Grenzen im zentralen und
östlichen Alpenraum» Raumordnungskonzepte,
welche vom Ersten Weltkrieg an in geographischen
Darstellungen entwickelt wurden. Die Verquickung
und Instrumentalisierung von geographischer Wis-
senschaft mit politischer Zielsetzung kommt in die-
ser Darstellung, sehr deutlich veranschaulicht
durch die zum Teil farbigen Kartenabbildungen,
zum Ausdruck.
Michael Fahlbusch widmet sich dem Thema «Die
Alpenländische Forschungsgemeinschaft 1931-1945:
Eine Brückerbauerin des grossdeutschen Gedan-
kens?» Fahlbuschs Abhandlung zeigt auf, wie die
in Österreich und in der Schweiz angesiedelte A l -
penländische Forschungsgemeinschaft (AFG) als
Teil der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaf-
ten (VFG) versuchte, kulturpolitischen Einfluss zu-
gunsten des Deutschen Reiches auszuüben. Der
Autor zeigt auf, mit welchen Mitteln und auf wel-
chen Wegen das wissenschaftliche Hauptziel der
AFG, nämlich die Arbeit über das «deutsche Volks-
tum» im Alpenraum zusammenzufassen, Kontakte
und Vermittlung von Wissenschaftlern zu fördern
und schliesslich auch die wissenschaftliche «Ab-
wehr» gegen die «Gegenseite» aufzubauen, ange-
strebt wurde. Die Ausführungen Fahlbuschs doku-
mentieren, wie die AFG die Wissenschaft instru-
mentalisierte, «indem sie Sprach- und Kulturräu-
me zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele defi-
nierte, um diese dem romanischen (italienischen
und französischen) Kultur- und Politikeinfluss zu
entziehen und sie für die deutsche Interessenpolitik
verfügbar zu machen».
Die Publikation als Ganzes macht deutlich, dass
Grenzen nicht nur «politische Phänomene [sind],
sondern auch soziokulturelle und mentale». Es ist
eine wichtige und lesenswerte Publikation, viel-
leicht gerade in Zeiten der Integration einerseits
und politisch-geographischer Neuformationen an-
dererseits.
188
REZENSIONEN / «SO MÜSSEN DIE INDUSTRIEN
VERMEHRT WERDEN ...»
«So müssen die Industrien
vermehrt werden.. .»
RUPERT QUADERER
Die knapp lOOseitige Broschüre hat sich zum Ziel
gesetzt, lexikonartig alle im untersuchten Zeitraum
produzierenden Betriebe von Schaan aufzulisten.
Wie in der redaktionellen Vorbemerkung von Eva
Pepic und Herbert Hübe vermerkt, soll lediglich ein
kurzer Überblick über die Firmen und Betriebe
vermittelt werden. Harald Wanger stellt in seinem
einführenden Beitrag «Schaan - vom Bauerndorf
zur Industriegemeinde» die Industriegeschichte
dieser Gemeinde abrissartig vor. Daran schliesst
sich die Darstellung der Schaaner Industriebetrie-
be in alphabetischer Reihenfolge an. Von «Addi-
mult AG» über «Datex AG» und «Riebolit AG» bis
«Zahnfabrik» werden diese Betriebe in kurzen
Kommentaren vorgestellt. Neben den Angaben zum
Gründungsjahr und eventuellen Betriebsschlies-
sungen werden die Art der Produkte, die Anzahl
der Angestellten sowie weitere ergänzende Anga-
ben gemacht. Die Texte werden jeweils auf der ge-
genüberliegenden Seite ergänzt durch Fotos von
Gebäuden, durch Faksimileabbildungen von Plan-
skizzen, Rechnungsformularen, Inseraten etc.
In einem Anhang werden Firmen aufgeführt,
welche nicht nachweisbar produzierten. Ein Litera-
tur- und Abkürzungsverzeichnis für den Bildnach-
weis sowie ein Verzeichnis der genannten Perso-
nen runden die Publikation ab.
Wer sich einen Überblick über die Industriege-
schichte Schaans verschaffen möchte, ist mit dieser
Broschüre gut bedient. Die fehlenden Hintergrund-
informationen zur Wirtschaftsgeschichte können
zum Teil in anderen Publikationen gefunden wer-
den oder bleiben als Desiderata offen, wie zum Bei-
spiel die Geschichte der Gewerbebetriebe der Ge-
meinde Schaan. Die Publikation ist auch als Ergeb-
nis der verdienstvollen Tätigkeit des Dorfmuseums
«DoMuS» in Schaan zu werten und lässt den Leser
und die Leserin auf weitere Produkte aus dieser
historischen Werkstätte hoffen.
Emanuel Wenaweser,
Harald Wanger: «So müs-
sen die Industrien ver-
mehrt werden...». Indu-
strie in Schaan von den
Anfängen bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts.
Verlag der Gemeinde
Schaan: DoMuS Schriften-
reihe Heft 3. Schaan,
2000. 99 Seiten. CHF 25.-.
ISBN 3-9521625-2-3
189
Handbuch der Bündner Geschichte
FABIAN FROMMELT
Handbuch
der Bündner
Geschichte Frühzeit
bis Mittelalter
Handbuch
der Bündner
Geschichte
Handbuch der Bündner
Geschichte. Hrsg. vom
Verein für Bündner Kultur-
forschung im Auftrag der
Regierung des Kantons
Graubünden. 4 Bände.
Verlag Bündner Monats-
blatt. Chur, 2000.
Band 1: Frühzeit bis
Mittelalter, 325 Seiten.
Band 2: Frühe Neuzeit,
289 Seiten.
Band 3: 19. und 20. Jahr-
hundert, 423 Seiten.
Band 4: Quellen und
Materialien, 421 Seiten
und CD-ROM.
Preis für alle vier Bände
zusammen: CHF 180.-.
ISBN 3-905342-04-9
(Gesamtausgabe)
Frühe
Neuzeit
Handbuch
der Bündner
Geschichte
tV-'-.~
Handbuch
der Bündner
Geschichte
\
Vor nunmehr bereits zwei Jahren erschien das
neue Handbuch der Bündner Geschichte. Es stellt
sich in eine Reihe mit anderen in letzter Zeit er-
schienenen Schweizer Kantonsgeschichten (zum
Beispiel Zürich 1994-1996, Schaffhausen 2001,
St. Gallen ist in Bearbeitung), denen besonders der
Einbezug neuer Fragestellungen und Forschungs-
ergebnisse ein Anliegen ist.
So markiert auch das vorliegende Werk eine be-
deutende Weiterentwicklung der Bündner Historio-
graphie, indem es in bewusster Absetzung von der
letzten einschlägigen Gesamtdarstellung - Frie-
drich Pieths Bündnergeschichte von 19451 - «nicht
auf die <Vorgeschichte> einer <bündnerischen Nati-
on) sondern konsequent auf die geschichtlichen
Zustände und Veränderungen in einer Region» ab-
zielt.2
Entsprechend liegt das inhaltliche Schwerge-
wicht nicht allein auf der Entwicklung von Staat und
Politik, sondern auf den vielfältigen Lebensberei-
chen, in denen sich die früheren wie die heutigen
Menschen bewegen: Landschaft und Umwelt, Wirt-
schaft und Gesellschaft, Verkehr und Kommunikati-
on, Geschlecht und Sprache, Glaube und Kirche, A l l -
tag und Mentalitäten, Architektur und Kunst und
anderes mehr - allerdings werden auch die Grenzen
deutlich, die der derzeitige Forschungsstand einem
solch umfassenden Ansatz setzt.
In manchen dieser Bereiche waren die Verhält-
nisse und Entwicklungen in den vielfältigen Regio-
nen Graubündens sehr verschieden, andererseits
zeigen sich viele Gemeinsamkeiten, auch mit den
angrenzenden Gebieten. Der regionale Ansatz
macht dieses Werk deshalb gerade auch für an
liechtensteinischer Geschichte Interessierte zur loh-
nenden Lektüre.
Das vom Verein für Bündner Kulturforschung im
Auftrag der Regierung des Kantons Graubünden
herausgegebene und von Dr. Jürg Simonett (Redak-
tion) sowie Prof. Dr. Roger Sablonier und Dr. Georg
Jäger (Projektleitung) betreute Handbuch versteht
sich als Nachschlagewerk, das interessierten Laien
Auskunft über Ereignisse, Prozesse und Strukturen
gibt und Fachleuten als erster Einstieg dient. An
diese Zielsetzung angepasst sind auch der Umfang
190
REZENSIONEN
HANDBUCH DER BÜNDNER GESCHICHTE
(in der Regel 20 bis 60 Seiten) und der flüssige
sprachliche Stil der 32 Beiträge, die von insgesamt
33 Autorinnen und Autoren verfasst wurden.
Diese Beiträge verteilen sich auf drei Bände, von
denen der erste Frühzeit und Mittelalter, der zweite
die frühe Neuzeit (1500-1800) und der dritte das
19. und 20. Jahrhundert behandeln. Ein vierter
Band enthält Quellen und Materialien zur Bündner
Geschichte, deren Reichhaltigkeit durch eine eben-
falls beiliegende CD-ROM noch erweitert wird.
Eine eingehende Besprechung aller Beiträge ist
hier nicht möglich. Es werden deshalb nur die be-
handelten Themen genannt und (auch unter einem
liechtensteinischen Blickwinkel) einzelne Punkte
herausgehoben.
Das Gebiet des heutigen Liechtenstein war (und ist)
mit Graubünden nicht nur kulturell, sondern von
der Frühzeit bis zum Spätmittelalter auch politisch-
herrschaftlich und bis 1997 kirchlich so eng ver-
bunden, dass gerade die Aufsätze von Band 1 für
die liechtensteinische Geschichte direkt relevant
sind. So haben etwa die in den Kapiteln zur Urge-
schichte (Jürg Rageth) und zur römischen Zeit (Ste-
fanie Martin-Kilcher und Andrea Schaer) zu fin-
denden alltags- und kulturgeschichtlichen Aussa-
gen zu Siedlung und Bauen, Essen und Trinken,
Kult und Glaube oder zu den wirtschaftlichen
Tätigkeiten jedenfalls über Graubünden hinausge-
hende Bedeutung. In der noch immer nicht sicher
klärbaren Frage der Lokalisierung des in der Peu-
tingerschen Tafel, einer spätrömischen Strassen-
karte, verzeichneten Magia - hier als römischer vi-
cus (Kleinstadt) interpretiert - wird Balzers ge-
genüber Maienfeld der Vorzug gegeben.
In Reinhold Kaisers Beitrag zum Frühmittelalter
findet sich neben dem Hinweis auf die Schaaner St.
Peterskirche mit Baptisterium als f rüher Beleg der
Christianisierung Churrätiens u.a. ein interessan-
ter Abschnitt zur Sozialstruktur der frühmittelalter-
lichen Bevölkerung, in dem die Unterschichtung
der Freien nach Besitz, Ansehen und politischer
Funktion sowie der Minder- und Unfreien nach ih-
rer rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung deut-
lich gemacht wird.
Neue Impulse erhielt die Bündner Bevölkerungs-
struktur im Hochmittelalter durch die Einwande-
rung deutschsprachiger Gruppen aus dem Ober-
wallis seit Ende des 12. Jahrhunderts. In Rezeption
der durch neuere Forschungen revidierten Sicht
des sogenannten «Walser Volkstums» weist Werner
Meyer aber darauf hin, dass sich «abgesehen von
der unbestreitbaren Sprachüberlieferung ... die
meisten Phänomene eines vermeintlichen, ethnisch
definierten <Walsertums> in Luft aufgelöst oder als
folkloristische Neuschöpfungen des 19./20. Jahr-
hunderts herausgestellt» haben.3 - Die rechtliche
Privilegierung der Walser entsprach durchwegs
den üblichen, von den Landesherren gewährten
Kolonistenprivilegien. Überhaupt muss die Walser-
wanderung im Rahmen der im hochmittelalterli-
chen Landesausbau erhöhten Mobilität auch ande-
rer, italienisch- und rätoromanischsprachiger Be-
völkerungsgruppen gesehen werden.
Gesellschaft und Wirtschaft des Spätmittelalters
und der frühen Neuzeit (Band 2) werden von Flori-
an Flitz (Spätmittelalter), Jon Mathieu (Ländliche
Gesellschaft) und Max Hilfiker (Handwerk und Ge-
werbe, Handel und Verkehr) dargestellt. Behandel-
te Iiiemen sind hier u.a. die Entwicklung von Um-
welt und Bevölkerung, Sozialstruktur und Standes-
verhältnissen wie der Leibeigenschaft, Mobilität
und Auswanderung, Arbeit und Ernährung, Ehe
und Familie, Geschlechterrollen und Lebensalter.
Im Bereich der Wirtschaft geht es um Verfügungs-
rechte über Grund und Boden (zum Beispiel die
Ausbreitung der Erbleihe), Bedingungen und For-
men alpiner Landwirtschaft wie der Alp- und Mai-
ensässwirtschaft, genossenschaftliche und indivi-
duelle Nutzungsformen, die Blüte des Transitver-
kehrs (Säumer und Porten), den bescheidenen Um-
fang des ländlichen Gewerbes sowie die auch in
1) Friedrich Pieth: Bündnergeschichte . Chur, 1945.
2) Roger Sablonier. Band 1, S. 11 (Vorwort).
3) Werner Meyer. Band 1, S. 174.
191
Graubünden verzögerte Entwicklung von Städten
und gewerblich-industrieller Wirtschaft.
Für die gesellschaftliche wie die politische Ge-
schichte Graubündens zentral war die Entwicklung
des Gemeindewesens: Wurden auch in Graubün-
den zu Beginn der Neuzeit die Gerichtsvorsitzenden
(Ammänner) in der Regel noch von den weltlichen
und geistlichen Herren eingesetzt, so «beschleunig-
te sich [im 16. Jahrhundert] die Vergesellschaftung
der persönlich-feudalen Herrschaftsgewalt». 4 Von
besonderer Bedeutung waren in diesem Prozess
die Ilanzer Artikel von 1526: Sie beförderten u.a.
die Verwirklichung kommunaler Selbstverwaltung,
Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Beseiti-
gung herrschaftlich-feudaler Rechte, Steuern und
Abgaben, die Befreiung des Bodeneigentums und
die Einführung des weiblichen Erbrechts, die Ab-
schaffung des Kleinen Zehnten und die Reduktion
des Grossen Zehnten, die Reduktion der Fronen,
den Übergang herrschaftlicher Regale an die Ge-
richtsgemeinden und des Weggelds an die Säumer-
genossenschaften (Porten) sowie die Entstehung
von Kirchgemeinden mit Pfarrwahlrecht - vieles
davon wurde in Liechtenstein erst im 19. Jahrhun-
dert (oder nie) verwirklicht.
Sichtbar werden aber auch die Kehrseiten der
Entwicklung vor Graubündens Integration in die
Helvetische Republik 1799: So die «aristodemokra-
tische» 5 Entartung des Gemeindeprinzips, die Par-
teienkämpfe, die grassierende Korruption, die Miss-
stände im Söldnerwesen und die Verwicklung in
die Machtkämpfe der europäischen Grossmächte.
Gesondert eingegangen wird auf diese und an-
dere Fragen der politischen Geschichte in den
Beiträgen von Roger Sablonier (Spätmittelalter),
Randolph C. Head (16. Jahrhundert), Silvio Färber
(17./18. Jahrhundert) und Martin Bundi (Aussen-
beziehungen). Trotz der eingangs erwähnten brei-
ten Fächerung der Fragestellungen fällt somit die
relativ starke Gewichtung von Politik und Staatlich-
keit für die Periode des Spätmittelalters und der
frühen Neuzeit auf. Allerdings zeigt sich, dass eine
moderne politische Geschichte weit über die Dar-
stellung staatspolitischer Ereignisse und verfas-
sungsrechtlicher Strukturen hinausgeht. Durch das
Aufzeigen des Wandels gesellschaftlicher Eliten
und deren politischer Strategien (Stichworte sind
etwa: Klientelismus, Heiratsstrategien, Repräsenta-
tion), des politischen Alltagshandelns und des ge-
sellschaftlichen Hintergrunds politischer Struktu-
ren und Ereignisse ist sie auch sozialgeschichtlich
angelegt. Um den Aufgaben eines Handbuchs ge-
recht zu werden, widmen Head und Färber den
bündisch-kommunalen Institutionen und den be-
wegten Ereignissen des 16. und 17. Jahrhunderts
(Bündner Wirren) dennoch breiten Raum.
Eine gewisse Spannung zeigt sich bei den Bei-
trägen Sabloniers und Heads hinsichtlich der Be-
wertung der Bündner «Gemeindefreiheit»: Sablo-
nier räumt mit dem in der Bündner Historiogra-
phie lange vorherrschenden Mythos des Übergangs
«vom Feudalismus zur Demokratie» 6 auf und sieht
in den Vorgängen des 15. und 16. Jahrhunderts in
erster Linie einen Herrschaftswandel von feudalen
zu kommunalen, sich ebenfalls nach unten zu einer
neuen Aristokratie abschliessenden Eliten. 7 Dem-
gegenüber betont Head in Anlehnung an Peter
Blickles Kommunalismus-Konzept8 stärker das Prin-
zip der Entfeudalisierung, bei der «die Botmässig-
keit einem Herrn gegenüber ... der Solidarität von
Bürgern [wich], welche als gleichberechtigte Glie-
der eines politischen Verbandes galten, nämlich
der Gemeinde». 9 Von besonderem Interesse ist in
diesem Zusammenhang auch Heads Überblick
über die politische Propaganda und Mythenbildung
der herrschenden Eliten.
Da die spezifischen kirchlichen Verhältnisse in
Liechtenstein bisher wenig untersucht sind, das
Gebiet aber zum Bistum Chur gehörte, ist der Bei-
trag von Ulrich Pfister zu Kirchen und Glaubens-
praxis vor 1800 sehr instruktiv, vor allem die Dar-
stellung der Katholischen Kirchenreform nach dem
Tridentinischen Konzil (1545-1563). Deren Durch-
führung erfolgte im ganzen Bistum spät und zag-
haft, trug aber zum Beispiel mit der Ersetzung der
üblichen General- durch die Individualbeichte zur
sozialen Disziplinierung der Pfarrkinder bei.
Die 15 Beiträge in Band 3 (19. und 20. Jahrhun-
dert) sind nach vier Hauptthemenkreisen grup-
192
REZENSIONEN
HANDBUCH DER BÜNDNER GESCHICHTE
piert: Landschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Poli-
tik. Die zeitgeschichtliche Arbeit von Bruno Fritz-
sche und Sandra Romer (Graubünden seit 1945)
deckt alle vier Bereiche ab.
Das Kapitel zur Landschaft von Urs Frey und
Jürg Simonett enthält neben der Beschreibung des
Natur- und Kulturlandschaftwandels auch einen in-
teressanten Abschnitt zur Entwicklung verschiede-
ner Wahrnehmungsweisen von «Landschaft»: Die
Autoren diagnostizieren, dass die seit Mitte des
19. Jahrhunderts durch alpenbegeisterte Alpinisten
und die Tourismusindustrie fremdgesteuerte Wahr-
nehmung der Bündner Landschaft als poetisch-ro-
mantische «heile» Welt und Freizeitspielplatz der
Städter allmählich auch von den Einheimischen
übernommen worden sei. Diese fremdenverkehrs-
gerechte Umdeutung des Lebens- und Arbeits-
raums Graubünden zum «Heimatmuseum» mit
Bergbauern als «Landschaftsgärtnern» habe - so
ergänzen Fritzsche/Romer - einen Identitätsverlust
der Bevölkerung bewirkt.
Entsprechend wird in den wirtschaftsgeschicht-
lichen Beiträgen von Urs Frey (Landwirtschaft),
Jürg Simonett (Verkehr, Gewerbe und Industrie) so-
wie Daniel Kessler (Tourismus) die Verschiebung
der wirtschaftlichen Ausrichtung von Landwirt-
schaft und Transportgewerbe zum Fremdenver-
kehr und die sich daraus ergebende Abhängigkeit
der Bündner Wirtschaft überdeutlich. Zu den Ver-
lierern dieser Entwicklung gehörten vor allem die
peripheren, kaum am Tourismus partizipierenden
Gebiete, in denen zur Mitte des 19. Jahrhunderts
ein «Entvölkerungsprozess» einsetzte, der sich im
20. Jahrhundert noch beschleunigte (Peter Bollier:
Bevölkerungswandel).
Eine «Entvölkerung» mussten vor allem nach
1950 im Zuge eines allgemeinen Säkularisierungs-
prozesses auch die Kirchen hinnehmen. Zwar sind
auch in der evangelischen Kirche fundamentalisti-
sche Strömungen vorhanden, in der katholischen
Kirche aber konnte sich der traditionalistische Flü-
gel mit der Wahl von Wolfgang Haas zum Churer
Bischof 1990 durchsetzen. Dessen restaurativer
Kirchenführungsstil belastete die in Graubünden
nach vier Jahrhunderten endlich angebahnte «kon-
fessionelle Öffnung und wachsende gegenseitige
Toleranz» zwischen Protestanten und Katholiken, 1 0
rief aber nicht eine protestantische, sondern vor al-
lem eine innerkatholische Opposition auf den Plan.
Die Krise fand mit der nach sieben Jahren vom
Papst diktierten Schaffung eines Erzbistums Vaduz
unter Erzbischof Haas eine «Lösung» (so Albert
Gasser in seinem Beitrag zu Kirchen, Staat und Ge-
sellschaft), die mit dem «stillschweigenden Einver-
ständnis des Landesfürsten Hans-Adam II.» erfolgt
sei, die aber «die nicht informierte Regierung, das
Parlament und de[n] Grossteil des Volkes sowie
ein[en] erhebliche[n] Teil des Klerus» in Liechten-
stein verletzt habe. 1 1
Hervorzuheben ist die Studie von Ursula Bru-
nold-Bigler zur Überlieferung von Sagen. Die hier
gebotene mentalitätsgeschichtliche Interpretations-
anleitung gibt interessante Anregungen zu einer
erneuten Lektüre auch der liechtensteinischen Sa-
gen. Sagen dienten nicht nur der «historische[n]
und gesellschaftliche[n] Verarbeitung und Bewälti-
gung von Wirklichkeit», 1 2 sondern wurden auch
zur Vermittlung kirchlicher Moralvorstellungen und
zur Ausgrenzung von Randgruppen wie Alten oder
sogenannten «Zigeunern» instrumentalisiert. Da-
mit sind sie gute Indikatoren von Mentalitäten und
Diskriminierungen.
Weitere Beiträge zur Gesellschaftsgeschichte des
19. und 20. Jahrhunderts befassen sich mit Sprach-
4) Jon Mathieu, Band 2, S. 51.
5) Silvio Färber, Band 2, S. 116.
6) Vgl. Peter Liver: Vom Feudalismus zur Demokratie in den
g raubündner i schen Hinterrheintä lern . In: Jahrbuch der Historisch
(-antiquarisch)en Gesellschaft von Graubünden 59 (1929), S. 1-138.
7) Vgl. Hoger Sablonier. Band 1. S. 287-290.
8) Vgl. Beter Blickle: Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip
zwischen Mittelalter und Moderne. In: Gesellschaft und Gesellschaf-
ten. Festschrift Ulrich im Hof, hrsg. von N . Bernard und Q. Reichen.
Bern. 1982, S. 95-113.
9) Randolph C. Head, Band 2. S. 92.
10) Bruno Fritzsche/Sandra Römer, Band 3. S. 365.
11) Alfred Gasser. Band 3, S. 245 f.
12) Ursula Brunold-Bigler, Band 3, S. 149.
193
kontakt und Gesellschaft (Barbara Tscharner) und
dem Schulwesen (Peter Metz jun.). Im Bereich der
politischen Geschichte sind je ein Kapitel der Zeit-
spanne der Helvetik 1798-1803 (Martin Leonhard),
den Bewegungen und Parteien (Adolf Gollenberg),
dem Thema Staat und Verwaltung (Peter Metz sen.)
und der Integration des Kantons Graubünden in
die Schweiz (Georg Jäger) gewidmet.
Speziell mit der Geschichte der Bündner Unter-
tanenlande und Südbündens beschäftigen sich
Arno Lanfranchi und Carlo Negretti (Die Bündner
Südtäler im Mittelalter, Band 1) sowie Guglielmo
Scaramellini (Die Beziehungen zwischen den Drei
Bünden und dem Veltlin, Chiavenna und Bormio,
Band 2). Kunsthistorische Beiträge befassen sich
mit Architektur, Plastik und Malerei von der Gotik
bis zum Rokoko (Marc Antoni Nay, Band 2) sowie
Architektur und bildender Kunst im 19./20. Jahr-
hundert (Leza Dosch, Band 3).
Band 4 schliesslich versteht sich als kulturge-
schichtliches Lesebuch und Nachschlagewerk. Die
hier präsentierten, jeweils mit Interpretationshin-
weisen versehenen Quellen und Materialien (Texte,
Bilder, Karten) illustrieren und vertiefen die Kapitel
der ersten drei Bände, ermöglichen es dem Leser
aber auch, sich in selbständiger Lektüre von ge-
schichtlichen Dokumenten seit der Römerzeit ein
lebendiges Bild der Vergangenheit zu machen.
Schade ist, dass einige wichtige Quellen wie zum
Beispiel der Ilanzer Artikelbrief von 1526 fehlen.
Hingegen finden sich nützliche Listen und Tabel-
len, etwa zu den in Bünden gebräuchlichen Mas-
sen, Gewichten und Währungen oder eine Zusam-
menstellung der kantonalen Volksabstimmungen
von 1854 bis 1998. Ausserdem schliesst der Band
einen Aufsatz von Lothar Deplazes über Schriftlich-
keit und Überlieferung im Mittelalter sowie einen
von Florian Hitz verfassten Überblick zur Ge-
schichtsschreibung in Graubünden mit ein.
Die hundert in Band 4 enthaltenen sowie fünfzig
weitere Quellen finden sich auch auf der bereits er-
wähnten CD-ROM. Neben den Text- und Bildquel-
len von Band 4 sind besonders die 25 auf der CD-
ROM enthaltenen Film- und Tondokumente von In-
teresse, da sie die spezifischen Vorteile dieses elek-
tronischen Mediums am besten nutzen: Die hier
zugänglichen Filmaufnahmen des Wildheuens der
Bergbauern in Tschiertschen 1946 einerseits, des
Badetourismus am Caumasee 1919 oder der Eröff-
nung des ersten Skibügelschlepplifts in Davos 1934
andererseits führen einem den allmählichen Unter-
gang der alten und die Anfänge einer neuen Welt
bildhaft vor Augen. Damit verbundene soziale Ver-
schiebungen werden zum Beispiel in der Erzählung
einer Engadiner Hotelangestellten der Zwischen-
kriegszeit deutlich.
Weniger gross ist der Nutzen zunächst bei den
schriftlichen Quellentexten, den Bildquellen sowie
dem Karten- und Tabellenmaterial: Hier ist die ge-
druckte Form noch immer leserfreundlicher. Aller-
dings bietet die CD-ROM einige Zusatzdienste, wie
zum Beispiel die Druckfunktion oder das Angebot,
sich im Transkribieren von Handschriften zu ver-
suchen. Die Navigation in den verschiedenen Quel-
len ist zum Teil etwas umständlich, der Bildaus-
schnitt der Filme etwas klein - schön ist dafür die
Möglichkeit, Photos, Bilder und Karten ganz oder
in Ausschnitten zu vergrössern.
Insgesamt bietet das Handbuch einen fundierten
Ein- und Überblick in beziehungsweise über die
Geschichte Graubündens. Behandelt wird ein brei-
tes Spektrum historischer Forschungsgebiete unter
modernem Blickwinkel und aktuellen Fragestellun-
gen. Wer sich nur knapp orientieren will, kann sich
mit der Lektüre der allen Artikeln beigefügten Kurz-
fassungen begnügen, wer sich weiter in die Proble-
me der historischen Forschung vertiefen möchte,
findet nach jedem Beitrag eine Diskussion des For-
schungsstands. Zur Verständlichkeit tragen in den
drei Textbänden Glossare bei, alle vier Bände ent-
halten ein Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und
Personenregister (aber leider kein Sachregister).
194
REZENSIONEN
DAS DEKANAT LIECHTENSTEIN 1970 BIS 1997
Das Dekanat Liechtenstein
1970 bis 1997
BEATRICE SUTTER SABLONIER
Die «Lösung» des langwierigen, mit der Person der
Bischofs verknüpften Konflikts im Bistum Chur
dürfte in breiten Kreisen noch in lebendiger Erin-
nerung sein: Ende 1997 errichtete der Vatikan im
Fürstentum Liechtenstein die Erzdiözese Vaduz
und erhob den umstrittenen Churer Bischof Wolf-
gang Haas auf den Erzbischofsstuhl. Im Bistum
Chur wurde von da an der Dialog wieder möglich,
im vom Bistum Chur ausgegliederten Dekanat
Liechtenstein hingegen fingen die Probleme an.
Der neue Erzbischof betrachtete das Dekanat nach
kanonischem Recht als aufgehoben und weigerte
sich, die von bisherigen Institutionen und Gremien
des Dekanats geleistete überpfarreiliche Arbeit
weiterzuführen.
Die Tage des Dekanats Liechtenstein schienen
gezählt, das Ende war absehbar. Deshalb begann
Klaus Biedermann im Sommer 1998 im Auftrag
des Administrationsrates des Dekanats und mit
Unterstützung einer engagierten Redaktionskom-
mission (Robert Allgäuer, Leo Büchel, Rösle Frick,
Ida Hasler-Beck, Annalies Jehle und Franz Nä-
scher) die rund 30-jährige Geschichte des Dekanats
zu dokumentieren und eine Dekanatschronik zu
verfassen. Entstanden ist das nun vorliegende, ein-
fach, aber sorgfältig gestaltete und ausserordent-
lich materialreiche, über 400 Seiten umfassende
Werk.
Das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechten-
stein gehörte seit der Christianisierung zur Diözese
Chur. Im Jahr 1850 erfolgte mit der Gründung des
Liechtensteinischen Priesterkapitels erstmals eine
ständige, landesweite und einem bischöflichen
Landesvikar unterstellte Vereinigung der Geistlich-
keit, aber erst am 1. Januar 1971 wurde Liechten-
stein im Zuge der Reformbewegung nach dem
Zweiten Vatikanischen Konzil und der Neugliede-
rung der Diözese Chur ein eigenes Dekanat. Und
zwar ein besonderes Dekanat, deckte sich doch
sein Territorium mit dem des Staates, in dem nota-
bene der römisch-katholischen Kirche als einziger
Religionsgemeinschaft ein öffentlich-rechtlicher Sta-
tus zukommt.
Die Schilderung der im neuen Dekanat geleiste-
ten Auf- und Ausbauarbeiten in ihrer Menge und
Klaus Biedermann: Das
Dekanat Liechtenstein 1970
bis 1997. Eine Chronik des
kirchlichen Lebens.
Schalun Verlag, Vaduz,
2000. 416 Seiten. CHF 35.-.
ISBN 3-908186-21-8
195
Die Mitglieder des Deka-
natsseelsorgerates und der
Fastenopfer-Kommission
auf Besuch bei Bischof Jo-
hannes Vonderach in Chur
am 17. Dezember 1977.
Von links nachts rechts:
Josef Braun, Rösle Frick,
Robert Allgäuer, Armin
Meier, der Balzner Kaplan
Franz Näscher, Maria
Gassner-Schurti, Bernadet-
te Brunhart-Biedermann,
der Triesner Pfarrer Georg
Schuster, Bischof Johannes
Vonderach, Ingeborg Mar-
xer, Marlen Jäger-Eberle,
der Dekan und Triesenber-
ger Pfarrer Engelbert Bu-
cher, Rosmarie Ritter-Has-
ler, Pater Walter Bühler,
Marie-Louise Eberle-Frick,
Ingrid Alaart-Batliner, Otto
Kranz, der Maurer Pfarrer
Markus Rieder sowie Hugo
Konzett.
Vielfalt beeindruckt. Es galt, neue Strukturen zu
schaffen, Laien in die Arbeit mit einzubeziehen,
bisher von Landesvikar und Priesterkapitel wahr-
genommene überpfarreiliche Aufgaben zu über-
nehmen, Institutionen für die Bewältigung neuer
Aufgabenbereiche einzurichten und schliesslich für
deren Finanzierung zu sorgen. Oberstes Gremium
war die Dekanatskonferenz beziehungsweise De-
kanatsversammlung mit allen im Dekanat wohn-
haften Diözesanpriestern, ab 1987 auch mit den
Diakonen und Laien, welche einen hauptamtlichen
Seelsorgeauftrag wahrnahmen. Sie befasste sich
vor allem mit Fragen des Dekanats und der Seel-
sorge grundsätzlicher Art, interner Weiterbildung
usw. Dem Dekanats- beziehungsweise Landesseel-
sorgerat, zusammengesetzt aus Priestern und Dele-
gierten der Pfarreiräte, oblagen die Planung und
Koordination der Arbeit vor allem in den Bereichen
Erwachsenenbildung, kirchliche Jugendarbeit, Ehe
und Familie, Öffentlichkeitsarbeit und Medien, Ca-
ritas, kirchliche Sozialarbeit und Fastenopfer. Da
die professionellen Dienste des Dekanats laufend
ausgebaut wurden, übernahm 1984 eine Finanz-
196
REZENSIONEN
DAS DEKANAT LIECHTENSTEIN 1970 BIS 1997
kommission - später zu einem Administrationsrat
erweitert - geschäftsführende Funktionen, ab 1990
unterstützt von einer Kanzlei.
Das Dekanat Liechtenstein war ein «blühendes»
Dekanat. Es ist unmöglich, hier alle Aktivitäten in
innerkirchlichen - etwa Glaubenskurse, Gastarbei-
terseelsorge, Wallfahrten - und auch allgemein ge-
sellschaftlich relevanten Bereichen - zum Beispiel
die Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung im Haus
Stein-Egerta in Schaan, die Sendungen in Radio L -
zu erwähnen. Als man sich 1998 darum bemühte,
die gewachsene Struktur des Dekanats zu erhalten
und allenfalls neue Träger für die einzelnen Ein-
richtungen zu finden, schrieb Dr. Markus Hofer
(Vorarlberg) in einem Gutachten von einem «ver-
netzten Familienbetrieb», einem «faszinierenden
und funktionierenden Organismus» (S. 335). Mit
der gesetzlichen Verankerung eines jährlichen Lan-
desbeitrags 1987 habe der Staat nicht etwa Verant-
wortung abgeschoben, sondern diese treuhände-
risch an die kirchlichen Gremien übergeben.
Klaus Biedermann nimmt nicht in Anspruch,
«angesichts der noch jungen Ereignisse ... eine ab-
gerundete kritische Würdigung der Dekanatszeit»
zu liefern. Er wollte lediglich versuchen, «das
kirchliche Leben im Dekanat in seiner Vielfalt zu
schildern und festzuhalten» (S. 411). Dafür war der
Autor als ein mit den Verhältnissen gut vertrauter
liechtensteinischer Historiker, Vaduzer Pfarreirat
und zeitweiliger Mitarbeiter der Redaktion des Kir-
chenblattes «In Christo» geradezu prädestiniert. In
sachlichem Ton und klar strukturiert stellt er auf-
grund seiner profunden Kenntnisse des Dekanats-
archivs das Geschehen der letzten drei Jahrzehnte
(inklusive «Aufräumarbeiten») dar, zum Teil histo-
risch weiter ausholend, um Entwicklungen verfol-
gen zu können, im Ganzen mit Analysen und Wer-
tungen sehr zurückhaltend. Die vielen Zitate aus
Originaldokumenten vermitteln dem Leser und der
Leserin aber doch ein farbiges Bild des kirchlichen
Lebens in Liechtenstein. Natürlich ist dieses kirch-
liche Leben aus der Sicht von Menschen geschil-
dert, die sich im Geist des Zweiten Vatikanischen
Konzils und der Synode 72 am «Aggiornamento»,
am Heutigwerden der Kirche beteiligten, im Stre-
ben nach religiöser Mündigkeit, Offenheit und Soli-
darität, in Freude und Hoffnung.
Die Chronik des Dekanats Liechtenstein liefert
nicht nur einen wichtigen und gewichtigen Beitrag
zu einer liechtensteinischen Kirchengeschichte. Als
zeitgenössische Darstellung weckt sie auch Gefüh-
le, besonders bei denjenigen Menschen, die sich als
Teil der katholischen Kirche fühlen, Gefühle der Er-
schütterung, Ohnmacht und Trauer, und sie fordert
zur Stellungnahme geradezu heraus. Denn die Zer-
reissprobe in der Kirche mit einerseits Traditionali-
sten, die teils mit sektiererischen Zügen im Glau-
ben an die streng gegliederte Hierarchie verharren,
und andererseits Menschen, welche den gemeinsa-
men Weg im Geiste des Zweiten Vatikanischen
Konzils weitergehen wollen, spielte und spielt sich
ja nicht nur in Liechtenstein ab. Tröstlich und viel-
leicht auch wegweisend und immer wieder wert,
gelesen zu werden, sind die Gedanken in einem
Brief von alt Dekan Franz Näscher, der am Ab-
schlussfest des Dekanats im Frühling 2000 verle-
sen wurde (S. 354 f f ) . Er spricht darin vom Freun-
deskreis Jesu, von der Freundschaft Gottes, die al-
len gilt, die uns lehrt, nicht auszugrenzen, sondern
das Gute im anderen anzuerkennen und über Feh-
ler hinwegzuhelfen. Er schliesst mit der Aufforde-
rung, einen Schlussstrich unter das ehemalige De-
kanat zu ziehen, aber nicht unter das Bild von Kir-
che, das alle Beteiligten geleitet hat und in zwei,
den Weg weisenden Worten aus der Zeit des Deka-
nats für immer festgehalten sein wird: «Aufbruch
zum Leben» (1985 zum Papstbesuch und zur
Volksmission) und «Miteinander auf dem Weg»
(1995 zum Dekanatstag).
197
Angola. Mission, Salettiner und
liechtensteinische Entwicklungs-
zusammenarbeit im südlichen
Afrika
KLAUS BIEDERMANN
Angola. Mission, Salettiner
und liechtensteinische
Entwicklungszusammen-
arbeit im südlichen Afrika.
Hrsg. LED - Stiftung
Liechtensteinischer Ent-
wicklungsdienst. Red.:
Arthur Brunhart, Balzers.
Vaduz, 2001. 334 Seiten.
CHF 45.-.
Mission. Salettiner und liechtensteinische
Entwicklunsszusammenarbelt Im
südlichen Afrika A M
Das vorliegende Buch ist in erster Linie eine Wür-
digung der Missionstätigkeit von Pater Josef Öhri,
von Bruder Marzellin Tschugmell sowie von Pater
Emil Frick. Diese drei Liechtensteiner Ordensper-
sonen wirkten viele Jahre in Angola im südlichen
Afrika. In diesem Buch wird zudem der langjährige
Einsatz von Bruder Stefan Frommelt in Südafrika
besonders hervorgehoben. Unmittelbarer Anlass
dieser Publikation ist indes das Goldene Priesterju-
biläum von Pater Josef Öhri im Jahr 2001. Seine
Lebensgeschichte und sein Wirken in Angola neh-
men einen grossen Raum im Buch ein. Pater Josef
ist auch auf dem Bild des Bucheinbandes zu sehen,
ein Kind auf dem Arm haltend.
Herausgeber dieses Buches ist der 1965 gegrün-
dete Liechtensteinische Entwicklungsdienst (LED).
In ihrem Vorwort schreibt deren Präsidentin Ma-
rie-Louise Eberle: «Mein erster Kontakt mit den
Missionen war das <Nicknegerle>, im Kindergarten.
Sr. Ludmilla hielt uns Kinder immer wieder an, Öp-
ferchen zu bringen und jeden Fünfer hineinzuwer-
fen. Als unser Nachbarkind infolge eines Blind-
darmdurchbruchs in Lebensgefahr schwebte, kauf-
ten wir mit Taufspenden von 25 Franken <Heiden-
kinden los. - Heute hingegen befassen wir uns mit
der Frage, ob es sinnvoller ist, gebrauchte Compu-
ter nach Afrika zu schicken oder im Land selber
neue zu kaufen» (S. 7).
M I S S I O N S T Ä T I G K E I T IM W A N D E L
Damit ist bereits der grosse Wandel angedeutet,
der in der Missionstätigkeit in den letzten 50 Jah-
ren stattgefunden hat. Ging es früher noch in erster
Linie darum, Heidenvölker zum Christentum zu be-
kehren, so stehen heute andere Aspekte wie Ent-
wicklungszusammenarbeit, die Milderung des Ge-
fälles zwischen Arm und Reich sowie die Bewah-
rung der Schöpfung und der Lebensgrundlagen im
Vordergrund. Das explizit Christliche ist dabei kei-
nesfalls in den Hintergrund getreten, tritt jedoch
nicht mehr mit der einstigen Arroganz der Koloni-
alherren, sondern mit wesentlich mehr Demut auf.
Massgeblich dazu beigetragen hat die Erklärung
198
REZENSIONEN
ANGOLA
des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965)
über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristli-
chen Religionen. Es wurde damit erstmals offiziell
zugegeben, dass auch Nicht-Christinnen und Nicht-
Christen ihren Platz in der Heilsgeschichte haben.
An die Stelle des Missionszeitalters ist heute das
Zeitalter der Solidarität getreten.
Der Ethnologe und Afrika-Kenner Hugo Huber
reflektiert in seinem Beitrag diesen Wandel
(S. 11-34). Obwohl früher die Missionare die «Her-
ren» waren und ein «europäisches Christentum»
predigten, so falle eine Bilanz ihres Wirkens doch
grundsätzlich positiv aus: «Bei all ihrer Fehlein-
schätzung der afrikanischen Kultur und manchem
Fehlverhalten gegenüber dem Afrikaner als
Mensch» waren es die christlichen Missionare,
«die schon am Anfang des [20.] Jahrhunderts Stan-
dardwerke über afrikanische Sprachen und positi-
ve Beiträge zur Erforschung ihrer Kulturen veröf-
fentlichten und durch die Gründung von Schulen
und Spitälern Pionierleistungen erbracht haben für
das afrikanische Volk auf seinem Weg zur Emanzi-
pation» (S. 24).
L I E C H T E N S T E I N E R MISSIONARE
IN S Ü D A F R I K A
Der Balzner Historiker und Ethnologe Arthur Brun-
hart, der die vorliegende Publikation auch redak-
tionell betreute, liefert einen geschichtlichen Über-
blick zur liechtensteinischen Missionstätigkeit in
Südafrika. Diese Missionstätigkeit begann mit der
Auswanderung der Nigg-Geschwister Franz, Flori-
an, Johann, Maria und Theodor nach Südafrika um
1880. Sie stammten vom Triesner «Meierhof» und
hatten Liechtenstein nach einem erbitterten Rechts-
streit den Rücken zugekehrt. Albert Eberle aus
Triesen, der selbst eine Zeitlang Entwicklungshel-
fer in Südafrika war, hat ihr Leben und Wirken auf-
gezeichnet. Sein Beitrag wurde im Jahrbuch des
Flistorischen Vereins, Band 95 (1998), publiziert.
Ebenfalls aus Triesen stammt Bruder Stefan From-
melt, der seit 1961 in Umtata (Südafrika) als
Schreinermeister wirkt und der in einem eigenen,
sehr lebendigen Beitrag in diesem Buch (S. 51-63)
über seine Erfahrungen als Missionar und Ent-
wicklungshelfer berichtet. Die zweite wichtige Pha-
se liechtensteinischer Missionsarbeit im südlichen
Afrika begann 1954 mit der Aussendung von Pater
Josef Öhri nach Angola. Ihm folgten 1955 Bruder
Marzellin Tschugmell und 1964 Pater Emil Frick.
Die dritte Phase dieser Missionsarbeit, so Arthur
Brunhart, begann 1965 mit der Gründung des LED,
welcher die Tätigkeiten der Liechtensteiner Missio-
nare und Entwicklungshelfer seither finanziell mit-
trägt. Auch das bereits angedeutete gewandelte
Missionsverständnis gewann seit den 1960er Jah-
ren immer mehr an Boden.
DIE S A L E T T I N E R UND DAS
PORTUGIESISCHE E R R E IN A N G O L A
Über das allgemeine Engagement des Salettiner-
Ordens in Angola berichtet Eduard Mäder (S. 105-
171). Die Salettiner, entstanden aus einer kleinen
Gemeinschaft, welche die Marienerscheinung von
La Salette (1846) bekannt machen wollte, fassten
um 1900 Fuss in der Schweiz. Sie gründeten später
in Mörschwil bei St.Gallen die «Missionsschule Un-
tere Waid» und führten von 1954 bis 1973 ihre
Schüler mit eigenen Lehrkräften am Lyzeum Gu-
tenberg in Balzers zur Matura. Die Schweizer Sek-
tion der Salettiner konnte zudem 1942 die portu-
giesische Kolonie Angola als Missionsgebiet über-
nehmen.
Angola kann auf eine 500-jährige portugiesische
Präsenzzeit zurückblicken. Im Jahr 1482 entdeck-
ten portugiesische Seefahrer ein Königreich an der
Kongomündung, welches weit in das heutige Ango-
la hineinreichte. Der Königsname N'gola wurde
später zum Namen des Landes. Die Portugiesen
hatten auch das Christentum mitgebracht, doch
gab es bis 1910 nur die Diözese «Angola e Congo».
Im Jahr 1940 wurde schliesslich die Erzdiözese
Luanda mit drei weiteren Bistümern gegründet.
Darunter befand sich das Bistum Huambo (Nova
Lisboa), in welchem die Salettiner ihr Wirkungsfeld
entfalteten. Währenddem 1940 noch alle Bischöfe
199
Häuptling mit zwei Frauen.
Die in Angola oftmals prak-
tizierte Mehrehe wider-
spricht dem christlichen
Gebot der Einehe. Die
Missionare waren daher
nur bereit, die Taufe zu
spenden, wenn ein Mann
sich darauf beschränkte,
eine einzige Frau als Ge-
mahlin anzuerkennen.
Geschmückte Frauen in
traditioneller Kleidung.
Besonders im ländlichen
Angola ist überliefertes
Brauchtum bis heute leben-
dig geblieben.
in Angola von Portugiesen gestellt wurden, waren
1975 nur noch drei von den mittlerweile neun
Bischöfen in Angola Portugiesen. Die Salettiner un-
terstützten diesen Prozess der «Afrikanisierung»
der Kirche. Bruder Marzellin Tschugmell war zum
Beispiel sehr stolz darauf, dass er seinen Schreine-
rei-Betrieb (mit über 60 Angestellten) noch kurz
vor seinem Tod 1987 einem Einheimischen zur Lei-
tung anvertrauen konnte.
Die Missionare von La Salette kamen in ein
fruchtbares und gut bewirtschaftetes Gebiet in Zen-
tralangola, und «sie wurden fast überall freundlich,
vielerorts herzlich, kaum je abweisend empfan-
gen» (S. 119). Sie bemühten sich, nicht nur Portu-
giesisch, sondern auch die wichtigste einheimische
Sprache, die Bantusprache Mbundu, zu lernen. Da-
durch wurde der Kontakt zur Bevölkerung enger
und die Missionare erhielten Einblicke in die poli-
tisch-soziale Wirklichkeit. Von der Verkündigung
des Christentums verlagerten sich die Aufgaben
immer mehr in soziale und karitative Bereiche. Da-
mit verbunden war das Engagement für die Alpha-
betisierung der Bevölkerung sowie der Einsatz für
die Rechte der Schwarzen. Bedingt durch das
Zweite Vatikanum wurden zunehmend Laienhelfe-
rinnen und Laienhelfer in die Missionsarbeit mit-
einbezogen.
« W E N N ZWEI E L E F A N T E N S T R E I T E N ,
WIRD DAS GRAS N I E D E R G E T R A M P E L T »
Die grosse Zäsur kam 1974, als in Portugal in der
sogenannten Nelkenrevolution das etablierte politi-
sche System zu Fall gebracht wurde. Dies bedeute-
te die baldige Entlassung der portugiesischen Kolo-
nien in die Unabhängigkeit. Der kommunistische
«Movimento Populär de Libertacäo de Angola»
(MPLA) übernahm im November 1975 nach erbit-
terten Kämpfen mit zehntausenden von Todesop-
fern die Macht in Angola. Die vordergründig be-
siegte (zweite) Befreiungsorganisation «Uniäo Na-
tional para a Independencia Total de Angola»
(UNITA) unter ihrem charismatischen Führer Jo-
nas Savimbi behauptete sich jedoch in abgelegenen
200
REZENSIONEN
ANGOLA
Gebieten und führte ihren Krieg, nunmehr gegen
die Zentralregierung in Luanda, weiter. Das erneut
einsetzende Kriegsgeschehen weitete sich zuneh-
mend auf das von den Salettiner-Missionen betreu-
te Gebiet aus.
Der Bürgerkrieg entwickelte sich zu einem Stell-
vertreterkrieg zwischen den zwei Grossmächten,
da Angola aufgrund seiner reichen Bodenschätze
grosse Attraktivität besass. Die international aner-
kannte MPLA-Regierung, von der Sowjetunion und
von Kuba aktiv unterstützt, misstraute den Missio-
naren und verdächtigte sie, mit der UNITA Savim-
bis gemeinsame Sache zu machen. Die UNITA ih-
rerseits wurde vom Westen und von Südafrika un-
terstützt. Anfangs der 1990er Jahre gab es «Silber-
streifen am düsteren angolanischen Horizont», da
sowohl die Sowjetunion als auch das weisse Apart-
heid-Regime in Südafrika zusammenbrachen (vgl.
S. 165). Allgemeine Wahlen bescherten 1992 der
Regierungspartei MPLA eine Mehrheit, doch die
UNITA akzeptierte dieses Ergebnis nicht. Der Bür-
gerkrieg flackerte mit neuer Brutalität wieder auf.
Innert eines Jahres gab es eine halbe Million Tote
und rund 200 000 Kriegsverletzte. Dass dadurch
die Missionsstationen in eine verzweifelte Lage ge-
rieten, belegt der nachfolgende Bericht:
«In Ganda machen die Soldaten nachts Jagd auf
Ochsen und Ziegen, tagsüber auf Bauern, welche
das Feld bestellen, und <in Lusaka beginnen Frie-
densgespräche>. Einigen weissen Missionaren, ob-
wohl erfahren, verging buchstäblich das Lachen.
Vieles, was sie aufgebaut hatten, war verwüstet,
menschenleer, zerstört. Sie sahen sich auf eine Art
Reservate zurückgedrängt und teilten diese mit
einheimischen Priestern, die ihnen gegenüber gele-
gentlich Vorbehalte hatten. Vor allem die Aussichts-
losigkeit der Situation machte ihnen zu schaffen.
Deshalb entschlossen sich auch zähe und altge-
diente Missionare, wenigstens für einige Zeit heim-
zukehren und bessere Zeiten abzuwarten ...»
(S. 167).
DIE L E B E N S G E S C H I C H T E
VON PATER JOSEF ÖHRI
Von diesen tragischen Ereignissen noch weit ent-
fernt war Pater Josef Öhri im Jahr 1954, als er zu-
sammen mit Pater Erwin Truffer in die Mission
nach Angola fuhr. In der neu errichteten Missions-
station in der Hanha, damals noch ohne Strom und
fliessendes Wasser, fand Pater Josef sein erstes
Wirkungsfeld: «Das Erlebnis dieser Einsamkeit im
Busch war etwas ganz Ungewohntes für mich», er-
zählt er in seiner Lebensgeschichte, abgedruckt im
Buch auf den Seiten 173 bis 236 (hier S. 181). Be-
ginnende Besuche bei den Gemeinden «im Busch»
sowie das allmähliche Erleben der Einheimischen-
Sprache Mbundu linderten jedoch die Einsamkeit.
Pater Josef berichtet über diese Anfänge:
«Im Evangelium lesen wir, wie Jesus durch die
Dörfer wanderte, die frohe Botschaft verkündete,
Kranke heilte und Tote auferweckte. Ich nahm im-
mer Medikamente mit, denn in fast allen Dörfern
fand ich Kranke. Wenn ich auch keine Toten aufer-
weckte, so habe ich vielleicht doch manchen Kran-
ken vom frühen Tod bewahrt und sein Leben ver-
längert. Vor meiner Abreise lernte ich bei Dr. Franz
Nägele in Eschen das Zähneziehen. Er schenkte
mir ein paar Zahnzangen, womit ich dann in all
den Jahren viele Hunderte von Zähnen gezogen
habe. Das war immer die letzte Arbeit vor der Ab-
reise ins nächste Dorf» (S. 185).
Dank finanzieller Unterstützung durch das Land
Liechtenstein konnte Pater Josef in der Hanha eine
Schule mit angeschlossenem Internat erbauen. Die-
se Schule, welche Platz bot für 100 Kinder, wurde
1965 eröffnet. Drei Jahre später konnte hier auch
eine Kirche eingeweiht werden.
Im Jahr 1973 erfolgte die Versetzung von Pater
Josef auf die Missionsstation von Caluquembe, eben-
falls ein Aussenposten der Salettiner in Angola. Im
Jahr 1980 zwang die kommunistische MPLA-Re-
gierung die Missionare zur vorübergehenden Räu-
mung von Caluquembe. Die Auswirkungen des an-
dauernden Bürgerkriegs werden von Pater Josef
ausführlich geschildert. Mehrere Missionare fielen
201
Gezeichnet von der Bruta-
lität des Bürgerkriegs:
junge Frau in Angola
Pater Josef Öhri auf einer
«Buschreise» in den
1950er Jahren
dem Krieg zum Opfer, so auch Pater Emil Frick, der
1988 von einem Militärlastwagen angefahren und
tödlich verletzt wurde.
Pater Josef kam einige Male für kurze Zeit nach
Liechtenstein zurück. Doch gerade die späteren
Heimaturlaube Hessen in ihm die Erkenntnis rei-
fen, dass Angola zu seiner neuen Heimat geworden
war und dass er nur noch nach Liechtenstein kam,
um Angehörige zu besuchen:
«Ich muss auch bekennen, dass ich mich in die-
ser Wohlstandsgesellschaft nicht mehr so wohl
fühle. Es ist ja schön, wenn man alles im Überfluss
hat. Aber ich finde, dass meine Armen in Angola
fröhlicher und dankbarer sind für das wenige, das
sie haben» (S. 213).
Gesundheitlich geschwächt blieb Pater Josef dann
ab 1993 für drei Jahre in Liechtenstein. Als er sich
im Mai 1996 wieder gestärkt fühlte, stellte er fest:
«Ich habe nur noch eine schwere Krankheit, näm-
lich das grosse Heimweh nach Angola» (S. 228).
B R U D E R M A R Z E L L I N T S C H U G M E L L
UND PATER EMIL FRICK
Thomas Spielbüchler stellt in zwei separaten Kapi-
teln das Wirken von Bruder Marzellin Tschugmell
sowie von Pater Emil Frick vor (S. 237-252 bezie-
hungsweise S. 253-270). Die beiden Balzner Or-
densleute sind neben Pater Josef Öhri aus Ruggell
die wichtigsten Liechtensteiner Missionare in An-
gola gewesen. Bruder Marzellin (verstorben 1987)
bereitete sich für seinen insgesamt 42 Jahre dau-
ernden Einsatz durch eine intensive Ausbildung
zum Schreinermeister vor. Auf der Missionsstation
Ganda in Angola festigte er ab 1955 seinen Ruf als
hervorragender Planer und Bauleiter. Bruder Mar-
zellin hatte auch noch andere Wirkungsstätten in
Angola, so in Cubal, in Caluquembe und in Catum-
bela. Thomas Spielbüchler berichtet über Bruder
Marzellins ständigen Kampf gegen Materialmangel
und bürokratische Hindernisse. Doch der Bau
mehrerer Kirchen sowie die Einrichtung einer
grossen Schreinerei in Catumbela stellen eine ein-
202
REZENSIONEN
ANGOLA
drucksvolle Bilanz von Bruder Marzellins Wirken
in Angola dar.
Mit der Ergreifung der Priester- und Missionars-
berufes erfüllte sich Emil Frick einen Kindheits-
traum. Der Salettinerpater wirkte von 1965 bis zu
seinem unfallbedingten Tod 1988 in Angola, vor-
erst als Verwalter in Caluquembe und später in der
Missionsstation von Ganda. Er widmete sich hier
nicht nur der eigentlichen Seelsorge, sondern
bemühte sich auch um die Durchsetzung von ver-
besserten Anbaumethoden in der Landwirtschaft.
Nach einem Heimaturlaub in Liechtenstein im Jahr
1971 erhielt Pater Emil ein neues Wirkungsfeld zu-
geteilt, und zwar in den Slums von Catumbela. Zu-
dem wurde er 1973 zum Regionalobern der Saletti-
ner in Angola gewählt. Auch inmitten der Bürger-
kriegswirren liess sich Pater Emil nicht von Fahr-
ten ins Landesinnere abhalten:
«Trotzdem muss ich sagen, dass sich der Besuch
eines Priesters in einem Gefahrengebiet wirklich
lohnt, da er ja das beste Zeugnis für einen selbstlo-
sen Einsatz darstellt und gerade den verlassenen
und ängstlichen Menschen immer wieder Mut und
neue Kraft durch den Glauben, das Wort Gottes
und die Sakramente geben kann» (S. 267).
Mut zum Durchhalten erhielt Pater Emil nicht zu-
letzt auch durch die stetige Unterstützung, die er
aus seiner Heimatgemeinde Balzers erhielt. Bereits
1964 wurde die «Missionshilfe Pater Emil» gegrün-
det. Die von Walter Gstöhl redigierte «Missions-
post» berichtete zudem regelmässig über den Ein-
satz von Pater Emil in Angola .
Bruder Marzellin Tschug-
mell bei Bauarbeiten auf
dem Dach der Kirche von
Cubal
Pater Emil Frick mit sei-
nem «Gepäck» im Hafen
von Lobito
V E R S T Ä R K T E S LIECHTENSTEINISCHES
E N G A G E M E N T IN A N G O L A
Aus eigener Feder stammen die Berichte von
Schwester Leonie Hasler sowie von Typograph
Hans Peter Gassner über ihre Tätigkeiten in Ango-
la (S. 271-275 respektive S. 276-283). Schwester
Leonie Hasler half von 1993 bis 1995 vor Ort mit,
die Wunden, die der Bürgerkrieg gerissen hatte, zu
lindern. Hans Peter Gassner war von 1971 bis
203
1973 im Auftrag des LED damit befasst, eine Quell-
wasseranlage sowie Wasserleitungen zu erstellen.
Ausserdem leitete er einen Druckereibetrieb auf
der Missionsstation Ganda. Seinen Bericht schliesst
Hans Peter Gassner mit dem Fazit: «Gelernt hatte
ich unter anderem, dass stures Festhalten an eu-
ropäischen Vorstellungen in anderen Weltgegenden
nicht viel nützt» (S. 283).
Ebenso lieferte Linus Batliner aus Mauren einen
eigenen Bericht über sein Wirken in Angola. Durch
Vermittlung von Bruder Marzellin Tschugmell
konnte Linus Batliner von 1995 bis 1998 im ango-
lanischen Cubal als Baumeister tätig sein. Er er-
hielt die Aufgabe zugeteilt, ein grosses Spitalzen-
trum zu errichten, welches termingerecht im De-
zember 1997 eingeweiht werden konnte und seit-
her von Ordensschwestern geführt wird.
RÜCKBLICK A U F DAS G E L E I S T E T E
Pater Higino Baptista Cumandala würdigt die von
den Salettinern geleistete Aufbauarbeit aus angola-
nischer Sicht. Er erläutert dabei den Wandel des
Missionsbegriffs im Laufe der Zeit und lobt die
Bemühungen der Salettiner, eine Verbindung zwi-
schen dem Christentum und den angolanischen
Traditionen schaffen zu wollen (vgl. S. 291-302).
Seine Ausführungen werden ergänzt durch den
Beitrag von Pater Lucas Segunda, ebenfalls eine
angolanische Stimme. Pater Lucas unterstreicht die
grossen Verdienste der Kirche in den Bereichen
Bildung und Caritas, und auch er plädiert für die
sogenannte «Inkulturation», für die Entwicklung
eines afrikanischen Christentums (S. 303-314).
Das Buch schliesst mit einer «Momentaufnah-
me» von Thomas Spielbüchler über die Situation in
Angola im August 2000 sowie mit einem Bericht
der Angola-Portugiesin Maria Elisa Fernandes da
Silva, die mit ihrer Familie - ebenso wie zahlreiche
andere Portugiesen in Angola - das bürgerkriegs-
geschüttelte Land im Jahr 1975 verliess und heute
in Liechtenstein lebt.
HOFFNUNG FÜR A N G O L A ?
Lassen wir am Schluss nochmals Thomas Spiel-
büchler zu Wort kommen, der eigens für dieses
Buch eine Reise nach Angola unternommen hatte
und über dieses faszinierende, aber kriegszerstörte
Land mit wenig Hoffnungen unter anderem folgen-
des berichtet:
«Positiv fällt neben der Landschaft auch das La-
chen der Kinder in den Provinzstädten auf. Sobald
man sich jedoch umsieht, wird klar, dass man sich
in einem Flüchtlingslager der UNO befindet, wo
nur jene lachen, die noch zu jung sind, um den
Ernst der Lage zu erkennen. Etwa 1,5 Millionen
Binnenflüchtlinge produzierte der Krieg in Angola.
Sie werden von den Kämpfen, Überfällen und der
Unsicherheit in die Städte getrieben. Hier sind die
Leute zu 100 Pozent von internationaler Hilfe ab-
hängig. Ganze 1800 Kilokalorien zusammengesetzt
aus Mais, Bohnen, Speiseöl und Salz ergibt die täg-
liche Ration pro Person, die vom Welternährungs-
programm, verteilt wird.» (S. 318 f.).
Thomas Spielbüchler schildert auch Beobachtun-
gen aus Angolas Hauptstadt, womit ich meine Be-
sprechung dieses inhaltlich sehr reichen, mit aus-
sagestarken Fotos illustrierten Buches abschliessen
möchte: «Der Pessimismus der Bettler, Schuhput-
zer und Kriegskrüppel in Luandas Strassen scheint
... berechtigt zu sein. Was bleibt ist die Hoffnung
auf Solidarität von aussen. In den Industriestaaten
können wir uns einer gewissen Verantwortung hier
unmöglich entziehen» (S. 320). Dass auch beherzte
Menschen aus Liechtenstein diese Verantwortung
wahrgenommen haben und aktiv vor Ort Hilfe lei-
steten und leisten, belegt dieses Buch eindrücklich.
204
REZENSIONEN / «IN SCHICKSALSSCHWERER ZEIT
GELANGEN DIE PARTEIEN A N EUCH ...»
«In schicksalsschwerer Zeit ge-
langen die Parteien an Euch ...»
WERNER HAGMANNS BUCH ÜBER
WIRTSCHAFT, NOT UND POLITIK IM BEZIRK
WERDENBERG 1930 BIS 1945
PETER GEIGER
Z E I T G E S C H I C H T E IN B E Z I R K UND
GEMEINDEN
Zeitgeschichte hat eine eigene Qualität. Sie ist noch
mit uns Lebenden verknüpft, der Gegenwart nicht
ganz entschwunden, von Erinnerungen der Zeit-
zeugen und von mündlicher Überlieferung farbig
belebt, episoden- und legendendurchtränkt, perso-
nenbezogen. Zeitgeschichte ist gerade in der Lokal-
geschichte und in der Region konkret und lebendig.
Und sie ist besonders spannend, wenn sie eine exi-
stentiell schwierige Zeitperiode beschlägt. Das alles
gilt für das im vergangenen Jahr 2001 publizierte
Buch des Historikers Werner Hagmann aus Seve-
len. Er hat seine bei Peter Stadler an der Univer-
sität Zürich abgeschlossene Dissertation dem Be-
zirk Werdenberg in der Krisen- und Kriegszeit von
1930 bis 1945 gewidmet.
Der st. gallische Bezirk Werdenberg umfasst im
oberen Rheintal auf der westlichen Rheinseite die
sechs politischen Gemeinden Wartau, Sevelen,
Buchs, Grabs, Gams und Sennwald. Mit damals
rund 19 000 Einwohnern war der Bezirk bevölke-
rungsmässig eineinhalbmal so gross wie Liechten-
stein. In Hagmanns Buch sind Gemeindegeschich-
te, Bezirks-, Kantons- und Schweizergeschichte
vereinigt. Hagmann untersucht auf der untersten
Ebene, etwa der Gemeinde Gams, zum Beispiel die
Anzahl der Arbeitslosen oder die Stärke einer Par-
tei und setzt die Ergebnisse dann ins Verhältnis zu
den weiteren Gemeinden des Bezirks, zum Kanton
sowie zur ganzen Schweiz. Daraus ergibt sich das
je Spezifische, sowohl für Gams wie für Bezirk,
Kanton und Bund.
Das Werk beruht auf vielfältigen Primärquellen.
Hagmann hat erstens die Archive der sechs poli-
tischen Gemeinden, einzelner Schul-, Orts- und
Kirchgemeinden sowie von Gemeinde-Ortsparteien
durchforstet, ebenso das Staatsarchiv St. Gallen und
Bestände der Bundesanwaltschaft und des Oberau-
ditorats im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern.
Zweitens hat er statistische Unterlagen und Publika-
tionen der damaligen Zeit, insbesondere zu Wahlen
in die Gemeindebehörden sowie zum Kantonsrat
und zum Nationalrat, ausgewertet. Drittens hat er
Werner Hagmann: Krisen-
und Kriegsjahre im Wer-
denberg. Wirtschaftliche
Not und Politischer Wan-
del in einem Bezirk des
St. Galler Rheintals zwi-
schen 1930 und 1945.
BuchsDruck und Verlag,
Buchs, und Chronos Ver-
lag, Zürich, 2001.
359 Seiten, CHF 38.-.
ISBN 3-905 222-93-0 und
ISBN 3-905 313-66-9
205
die damals im Bezirk Werdenberg bestehenden drei
Zeitungen durchkämmt, nämlich den freisinnigen,
bis heute bestehenden <Werdenberger & Obertog-
genburgeo (<W&0>, Buchs), den katholisch-konser-
vativen <Werdenberger Anzeiger) (als «Gamser
Blättli» bezeichnet) sowie die parteiunabhängigen
<Werdenberger Nachrichten) (Buchs). Und viertens
hat Hagmann die Oral History fruchtbar gemacht,
indem er 18 Zeitzeugen gezielt befragt hat. Die In-
terviews fanden zwischen 1985 und 1989 statt; in-
zwischen ist die Mehrzahl dieser Zeitzeugen schon
verstorben. Hagmanns Einbezug der Zeitzeugenbe-
fragung ist übrigens ein konkretes Beispiel dafür,
dass in der Schweiz die Oral History schon länger
wissenschaftliche Anwendung findet als dies eine
vor wenigen Jahren breit publizierte Meinung be-
hauptete.
ZWEI S C H W E R P U N K T E : W I R T S C H A F T S N O T
UND P A R T E I E N
Hagmanns Werk ist - entgegen dem breiten Ge-
samttitel «Krisen- und Kriegsjahre im Werden-
berg» - keine Gesamtdarstellung der Zeit. Vielmehr
sind zwei Bereiche unterschieden, eingegrenzt und
im Detail analysiert, nämlich zuerst die Wirt-
schaftskrise mit Arbeitslosigkeit, im Buch rund 80
Seiten umfassend, und als zweites die aus der wirt-
schaftlichen Not erklärte Veränderung der politi-
schen Parteienlandschaft, im Buch mit rund 200
Seiten umfangreicher ausfallend. Nach einer knap-
pen, gehaltvollen Zusammenfassung von 6 Seiten
bringt ein gut 50 Seiten umfassender Anhang Ta-
bellen zur Arbeitslosigkeit, zu Fürsorgeleistungen,
zur Arbeitsbeschaffung sowie zu Wahlen. Die Fuss-
noten geben auf jeder Doppelseite wohltuend kurz
die genauen Quellennachweise, sie und die Biblio-
graphie dienen der weiteren Forschung, auch über
die Bezirks- und Rheingrenze hinaus. Zurückhal-
tend sind im Buch 63 Abbildungen bislang unbe-
kannter Fotografien und Flugschriften, aus zahlrei-
chen Privatquellen zusammengetragen, verteilt.
Bilder haben eine eigene Qualität, sie führen man-
chen komplexen Zusammenhang unmittelbar vor
Augen, etwa mit der für den Kanalisationsbau auf-
gerissenen Buchser Bahnhofstrasse oder mit dem
Porträt des NS-Anhängers und Azmooser Pfarrers
Wirth. Die in der vorliegenden Besprechung wie-
dergegebenen Bilder mit Legenden entstammen
Hagmanns Buch (mit freundlicher Einwilligung von
BuchsDruck und Chronos).
Die Ostschweiz war nach dem Ersten Weltkrieg
schon von der Stickereikrise getroffen. Flinzu kam
ab Ende der 1920er Jahre die Weltwirtschaftskrise.
Dies schlug sich auch in der stagnierenden Bevöl-
kerungsbewegung nieder. Der Bezirk Werdenberg
zählte 1941 etwas weniger Einwohner als noch
1920. Wanderungsverlust und Geburtenrückgang
wirkten zusammen. Ärmste Gemeinde im Bezirk
war Gams - zu der auch Haag gehört - , es herrsch-
te «bittere Not». Gams war Stickerdorf und Klein-
bauerndorf, zugleich die einzige katholische Ge-
meinde im sonst überwiegend reformierten Bezirk.
1937 verschärfte sich die Lage noch durch den
«Sparkassenkrach», indem die Sparkasse Gams
wegen spekulativer Verfehlungen in Konkurs ge-
riet. Am andern Ende der Skala konnte sich Buchs
als Grenzbahnhof, Verkehrs- und Einkaufsort -
auch für Liechtensteiner - am ehesten halten.
Buchs wies 1935 im Vergleich zu den andern Wer-
denberger Gemeinden ein doppelt so hohes Steuer-
kapital pro Kopf auf, im Vergleich zu Gams ein fast
dreimal so hohes.
A R B E I T S L O S I G K E I T BIS Z U M K R I E G
Aufgrund der monatlichen Erhebungen des Kanto-
nalen Arbeits- und Sozialversicherungsamtes in
St. Gallen ist die Arbeitslosigkeit zwischen 1932 bis
1945 durchgehend statistisch belegt, für den Be-
zirk wie für jede Gemeinde. Auch für 1930 und
1931 liegen Daten vor. Hagmann verweist zurecht
auf die Problematik von Arbeitslosenzahlen, weil
nicht alle Betroffenen statistisch auftauchen, indem
etwa Resignierende - insbesondere Mädchen und
Frauen - oder Ausgesteuerte wegfallen, und weil
Teilarbeitslose unterschiedlich eingerechnet sind;
die letzteren wurden meist zur Hälfte mitgezählt.
206
REZENSIONEN / «IN SCHICKSALSSCHWERER ZEIT
GELANGEN DIE PARTEIEN A N EUCH ...»
Die Arbeitslosigkeit, schon vor 1930 bestehend,
traf die Bevölkerung von Werdenberg besonders
von 1930 bis 1940 schwer. Sie lag im Bezirk weit
über dem schweizerischen Durchschnitt, und sie
war auch die höchste unter den Bezirken des Kan-
tons. 1930 zählte man im Werdenbergischen 5,4
Prozent Arbeitslose (bezogen auf die aktive Bevöl-
kerung), das waren knapp 500 Arbeitslose, davon
rund 70 Frauen. In Gams war die Arbeitslosigkeit
1930 mit 10,5 Prozent der Erwerbsbevölkerung
fast doppelt so hoch wie im Gesamtbezirk. Wäh-
rend der ganzen Krisenzeit war aber Sevelen durch-
schnittlich nicht nur im Bezirk, sondern auch im
ganzen Kanton am stärksten von der Arbeitslosig-
keit betroffen, wegen der dortigen krisenanfälligen
Industrie. Während gesamtschweizerisch das Jahr
1936 den Zenit der Arbeitslosigkeit brachte, war
dieser im Bezirk Werdenberg schon 1933 erreicht,
mit insgesamt 546 Ganzarbeitslosen, das waren
6,2 Prozent, unter Einrechnung der Teilarbeitslo-
sen 7,4 Prozent. Danach verharrte sie etwa auf die-
sem Niveau. Die Frankenabwertung von 1936
brachte im Unterschied zur Gesamtschweiz für
Werdenberg kaum eine Erleichterung, weil der
Stickereiexport, der hätte profitieren können, be-
deutungslos geworden war.
Der Krieg veränderte alles. Schon das Jahr 1939
halbierte die Arbeitslosigkeit. Nach 1940 erreichte
sie in keiner Gemeinde mehr die 1-Prozent-Marke,
und bis 1945 verschwand sie praktisch ganz. Die
Männer wurden periodisch in den Aktivdienst ein-
gezogen. Rüstung, militärische Bauten - hier im
Bereich der Festung Sargans - , Kriegswirtschaft
und Mehranbau brachten vermehrt Beschäftigung.
Und nach dem Kriegsende trat die allgemein be-
fürchtete Nachkriegskrise nicht ein.
Es gab im Bezirk Werdenberg bereits eine Ar-
beitslosenversicherung durch öffentliche und pri-
vate Kassen, welche der Bund und der Kanton, ge-
stützt auf Gesetze der 1920er Jahre, subventionier-
ten. 1931 wurde im Kanton St. Gallen die Versiche-
rung für unselbständig Erwerbende obligatorisch.
Diese konnten aber die Mitgliedschaft in einer Kas-
se wählen, neben den öffentlichen Gemeindekas-
sen etwa in einer der privaten Arbeitslosenkassen
der Berufsverbände, der Gewerkschaften oder der
Parteien. Die Bezugsdauer war begrenzt und die
Auszahlungen waren nicht üppig. Immerhin schüt-
tete die öffentliche «Werdenbergische Arbeitslosen-
versicherungskasse», welche 1933 alle Gemeinde-
kassen des Bezirks ausser Buchs umfasste und
rund 550 Mitglieder (Versicherte) zählte, in jenem
Jahr 208 500 Franken an arbeitslose Mitglieder
aus. Waren bei Arbeitslosen die Taggelder ausge-
schöpft, wurden sie «ausgesteuert» und waren auf
öffentliche «Krisenhilfe» sowie auf einmalige «Aus-
serordentliche Winterhilfe» angewiesen. Danach
fielen sie der Armenfürsorge anheim, welche bis
ins Armenhaus führen konnte. Dieses nannte man
einfühlend «Bürgerheim», weil es für Ortsbürger
reserviert war. Die Zahl der Bürgerheiminsassen
stieg in den Krisenjahren an, so in der Gemeinde
Wartau um ein Drittel, von 30 Bewohnern im Jahre
1930 auf 40 im Jahre 1938.
Die Lampenfabrik Temde,
1933 in einem ehemaligen
Stickereigebäude in Seve-
len eröffnet
207
N O T S T A N D S A R B E I T E N ALS « P R O D U K T I V E
A R R E I T S L O S E N F Ü R S O R G E »
Um der Not zu steuern, wollte man nicht in erster
Linie Taggelder auszahlen, sondern Arbeit und da-
mit Verdienst schaffen. Dies nannte man «produk-
tive Arbeitslosenfürsorge». Zahlreiche öffentliche
«Notstandsarbeiten» wurden ab 1930 durchge-
führt, Projekte, welche man unter normalen Um-
ständen nicht oder nicht so früh realisiert hätte.
Hagmann zeigt anschaulich, wie sowohl der Bund
als auch der Kanton Arbeitsbeschaffung betrieben
oder durch Subvention anregten und wie insbeson-
dere die einzelnen Werdenberger Gemeinden zahl-
lose Projekte in Angriff nahmen. Bundesprojekte
betrafen Arbeiten im Bereich der Eisenbahn, etwa
die Elektrifizierung der Rheintalstrecke 1934, so-
wie im Bereich der Landesverteidigung, hier den
Bau der grossen, auf Wartauer Gemeindegebiet ge-
legenen Festung Magletsch ab 1939. Der Kanton
St. Gallen liess zur Arbeitsbeschaffung Kanalisa-
tionsprojekte sowie eine Rheindammerhöhung vor-
nehmen, dazu viele Strassenkorrektionen, so zwi-
schen Gams und Wildhaus. Ebenso wurde 1938 bis
1940 ein Erweiterungsbau des kantonalen Kran-
kenhauses in Grabs erstellt, hierbei fanden insge-
samt gut 350 Arbeiter aus allen Gemeinden des Be-
zirks zeitweilig Verdienst.
Die meisten Notstandsarbeiten Hessen Gemein-
den und Korporationen durchführen, Hagmann
zählt über 100 solche realisierte Projekte im Bezirk.
Zahlreiche Strassen und Wege wurden gebaut oder
verbessert, Gewässer korrigiert, Wildbäche ver-
baut, Bodenmeliorationen vorgenommen, Kanali-
sationen verlegt, so jene durch die Buchser Bahn-
hofstrasse. Nach Möglichkeit legte man die Arbeiten
ins Winterhalbjahr. Anfangs der 1930er Jahre wur-
de auch die neue evangelische Kirche von Buchs ge-
baut. Von 1937 bis 1940 wurden von Bund, Kanton
und Gemeinden Subventionen an private Umbauten
und Renovationen geleistet.
T R A D I T I O N E L L E UND N E U E P A R T E I E N
Krise und Krieg mit Not, Orientierungssuche und
Verzweiflung fanden Niederschlag auch in der poli-
tischen Landschaft der neutralen Schweiz, des
Grenzbezirks Werdenberg und jeder Gemeinde.
Hagmann unterscheidet für den Bezirk Werden-
Bau der Kanalisation in
der Buchser Bahnhof-
strasse um 1930. Diese
Notstandsarbeit leistete
einen wichtigen Beitrag
zur Arbeitsbeschaffung.
208
REZENSIONEN / «IN SCHICKSALSSCHWERER ZEIT
GELANGEN DIE PARTEIEN A N EUCH ...»
berg «etablierte Parteien», «neue Parteien und Be-
wegungen», «politische Randgruppen» sowie eine
«überparteiliche Gruppierung». Systematisch kar-
tographiert er gewissermassen die politische Land-
schaft im Bezirk Werdenberg, indem er jede Partei
oder Bewegung analysiert, und zwar jeweils nach
Ausgangslage und Entstehung, nach Zusammen-
setzung der Gefolgschaft, nach Programmatik und
ideologischer Ausrichtung, nach dem Verhältnis zu
andern Parteien, nach Wähleranteilen, nach politi-
schen Mandaten auf Gemeinde-, Kantons- und
Bundesebene sowie - was als Lackmustest am mei-
sten interessiert - nach der Haltung gegenüber
Frontismus und Nationalsozialismus. Der Autor
stellt jede Partei in den kantonalen und schweizeri-
schen Zusammenhang.
Diesem Parteien-Teil des Buches geben ausführ-
liche Schilderungen etlicher bedeutender Persön-
lichkeiten einige Farbe, so des freisinnigen Natio-
nal- und Regierungsrats und Bauernpolitikers Jo-
hann Jakob Gabathuler (1883-1958) aus Weite, des
freisinnigen Advokaten, Nationalrats und langjäh-
rigen Buchser Gemeindeammanns Dr. Johann Ja-
kob Schwendener (1888-1972), des Revierförsters
und langjährigen sozialdemokratischen National-
und Kantonsrats Jakob Fenk (1879-1968) aus
Sennwald, des katholisch-konservativen Kantons-
rats, Gamser Gemeindeammanns und Bauern Josef
Kramer (1895-1966), aber auch etwa des Mundart-
dichters, Lehrers und «germanophilen Heimat-
kundlers» Jakob Kuratli (1899-1981), Azmoos, und
insbesondere des Nationalsozialisten und Azmoo-
ser Pfarrers Werner Wirth (1886-1961).
Als etablierte Parteien waren im Bezirk Werden-
berg - wie im Kanton und im Bund - drei Parteien
stark und durchgehend prägend, die «Freisinnig-
demokratische Partei», die «Sozialdemokratische
Partei» und die «Konservative Volkspartei» (heute
CVP), die letztere fast auschliesslich im katholi-
schen Gams. Die drei Parteien standen zwar in
ausgeprägter ideologischer Gegnerschaft zueinan-
der - Freisinnige und Konservative auch in Fortset-
zung des Kulturkampfs - , doch wussten sich alle
drei einig in der Erhaltung der pluralistischen De-
mokratie und in der Abwehr des Nationalsozialis-
mus. Die drei Parteien dominierten durchgehend
überall im Bezirk die Gemeindebehörden, ebenso
stellten sie jeweils die Mehrheit der Kantonsräte
aus dem Bezirk. Vereinzelte Sympathien Richtung
Frontismus fanden sich im Werdenbergischen, wie
anderswo, während des «Frontenfrühlings» von
1933 bei den Freisinnigen und etwas länger bis
1935 bei den Konservativen. Als resistent nach
rechts erwiesen sich vorab die Sozialdemokraten.
Hinzu kamen in den 1930er Jahren neue, zum
grösseren Teil kurzlebige Parteien und Bewegun-
gen, nämlich die kleine «Evangelische Volkspar-
tei», die sich im Werdenbergischen 1935 wieder
auflöste; die bis 1937 bestehende «Bauern- und
Mittelstandspartei», analog der schweizerischen
«Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei» (BGB, Vor-
läuferin der heutigen SVP); die Freiwirtschaftsbe-
wegung, mit wieder eigenen Gruppierungen unter
Bezeichnungen wie «Freiwirtschaftsbund», «Bund
Sonntag den 22. März 1936, nachmittags 1.30 Uhr,
im Saale zum Bahnhot
Herr Nationalrai! Duttweiler, Zürich
spricht über:
„Die UiiederDeieDungs iYiögijGtiüeiten der uniiair
Bürger aller Parteien, auch Frauen und Töchter,
sind zu diesem Vortrage herzlich eingeladen. 1625
Die ,.Unabhängigen"
Ankündigung eines Vor-
trags von Gottlieb Duttwei-
ler, 1936
Kantonsrat und Gemeinde-
ammann Josef Kramer aus
Gams
209
freier Demokraten» sowie «Internationaler Befrei-
ungsbund»; die sich länger haltenden «Jungbau-
ern» als Teil der schweizerischen «Bauernheimat-
bewegung»; der den Krieg überdauernde «Landes-
ring der Unabhängigen»; schliesslich als Frontis-
tenpartei die «Nationale Front».
Nur die Jungbauern, die Demokraten und der
Landesring rangen bei Wahlen im Bezirk den Alt-
parteien zum Teil beträchtliche Stimmenanteile ab.
Parteiübergreifend verstand sich schliesslich die
«Richtlinienbewegung für den wirtschaftlichen
Wiederaufbau und die Sicherung der Demokratie»,
welche 1936 bis 1939 gesamtschweizerisch und
kurzzeitig auch im Werdenbergischen aktiv war,
unter anderem mit einer grossen Kundgebung im
Juni 1937 auf dem «Schneggen» bei Buchs, welche
2000 oder mehr Personen anzog. Die Richtlinien-
bewegung fand bei Sozialdemokraten und links-
bürgerlichen Kreisen Anklang.
Ganz nationalsozialistisch ausgerichtet war die
erwähnte «Nationale Front». Programmatische Be-
Sonntag den 15. Mai 1938, nachmittags 2.30 Uhr
im Hotel „Bahnhof", Buchs
Referat von
Herrn Regierungsrat Dr. Koäelf, 81. Gallen
über das Thema:
„Landesverteidigung und
aktuelle Wirtschatts!ragen".
Jedermann ist zu diesem zeitgemiissen Vortrag-
freundlich eingeladen.
Die freisinnig-demokratische Partei Werdenberg.
Die iung-liberaie Bewegung. 2866
Ankündigung eines Vor-
trags von Regierungsrat
Karl Kobelt, 1938
rührungspunkte mit den Fronten und Sympathien
für einzelne NS-Postulate fanden sich in den frühen
1930er Jahren bei verschiedenen Parteien, am
häufigsten bei den Jungbauern, aber selbst dort
nicht systematisch, sondern bei einzelnen Anhän-
gern. Hagmann überprüft Äusserungen und Wer-
tungen über NS-Nähe oder -Distanz der einzelnen
Parteien sorgfältig auf der Basis der Quellen. Dabei
zeigt sich, dass manche pauschal publizierte und
kolportierte Aussage der Differenzierung bedurfte
und dass der Historiker auch Widersprüche gele-
gentlich nebeneinander stehen lassen muss.
Wenn Hagmann schliesslich die Kommunisten
und die Frontisten unter der Kategorie «Politische
Randgruppen» führt, so tut er dies, weil sie im Be-
zirk Werdenberg tatsächlich fast nicht Fuss gefasst
haben, was besonders bezüglich der Frontisten,
welche im Grenzgebiet leicht faschistische und na-
tionalsozialistische Einflüsse aufnehmen konnten,
erstaunt. Die Kommunistische Partei der Schweiz
(KPS, 1940 verboten, 1944 als Partei der Arbeit,
PdA, wieder gegründet) fand im Werdenbergischen
nur wenige Anhänger, etwa aus dem notleidenden
Lohnstickermilieu und unter Bahnarbeitern, und
vereinzelte Aktivisten, so den Grabser Burkhard
Gantenbein, der 1934 im Rahmen einer internatio-
nalen Kommunistendelegation einige Wochen in
Moskau weilte. Kurzzeitig bestand eine von Gan-
tenbein geleitete «Sektion Buchs-Grabs» der Kom-
munistischen Partei. Die Sektion löste sich indes
1935 auf, man wolle, wie Gantenbein resümierte,
nicht «Hampelmänner der Moskauer Drahtzieher»
sein. Und flugs wechselte Gantenbein 1935 zu den
Frontisten.
FRONTISMUS IM R E Z I R K
Den Befund, dass die Frontisten im Werdenbergi-
schen wenig Zulauf erhielten, führt Hagmann vor
allem darauf zurück, dass gerade die oben erwähn-
ten neuen Parteien und Bewegungen - so die Frei-
wirtschafter, die Bauern- und Mittelstandspartei
oder die Jungbauern, aber auch der Landesring -
viel Protestpotential aufsogen, indem sie zahlreiche
210
REZENSIONEN / «IN SCHICKSALSSCHWERER ZEIT
GELANGEN DIE PARTEIEN A N EUCH ...»
Unzufriedene, welche an sich für frontistisches Ge-
dankengut anfällig gewesen wären, banden, wie
übrigens auch schon die bestehenden etablierten
Parteien. Die «Nationale Front», die gesamtschwei-
zerisch von 1930 bis 1940 bestand, suchte von
1934 an auch im Werdenbergischen Fuss zu fas-
sen. Dies gelang nicht nachhaltig. Sie organisierte
am 17. Februar 1934 einen geschlossenen Vor-
tragsabend in der Buchser «Traube», am 24. Mai
1934 eine öffentliche Kundgebung im Hotel «Bahn-
hof» in Buchs, an welcher Eduard Rüeggsegger vor
etwa 150 Personen sprach; nur die Minderheit da-
von waren «Fröntier», davon viele von auswärts,
die Mehrheit aber sozialdemokratische und freisin-
nige Gegner; entsprechend verlief die Diskussion
dann «zeitweise sehr erregt» und knapp an der
Grenze zu Tätlichkeiten. An jener Versammlung
nahmen offenbar auch Mitglieder des «Liechten-
steiner Heimatdienstes», nämlich Carl von Vogel-
sang, Rudolf Schädler und Peter Rheinberger, teil,
Gegner riefen ihnen beim Verlassen des Saales in
Buchs «Rottermörder» nach (vgl. Geiger, Krisenzeit
Band 1, S. 386). Der 1933 bis 1935 bestehende
Liechtensteiner Heimatdienst wäre im schweizeri-
schen Kontext als «frontistisch» einzuordnen.
Im Werdenbergischen entstand schliesslich 1935
eine Ortsgruppe der Nationalen Front. Die Fronti-
sten veranstalteten zum Auftakt am 16. Juni 1935
eine öffentliche Kundgebung in Grabs und in
Buchs, indem sie mit ihrer Fahne - welche das
langschenklige Schweizerkreuz zeigte - durch bei-
de Dörfer marschierten, unter Beteiligung von gut
zwei Dutzend einheimischer Anhänger. Die im
Sommer 1935 gegründete «Ortsgruppe Oberrhein-
tal» der Nationalen Front mit einem «Stützpunkt
Werdenberg» kam aber 1935 über zwei Versamm-
lungen nicht hinaus, und schon 1936 zerfiel sie,
der Entwicklung der Partei im Kanton und in der
Schweiz folgend. Auch gesamtschweizerische fron-
tistische Nachfolgeorganisationen wie der «Bund
treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltan-
schauung», die «Nationale Opposition» oder die
«Eidgenössische Sammlung» - sukzessive vom
Bundesrat verboten - suchten im Werdenberg An-
hänger zu gewinnen, ohne merkbaren Erfolg. Dass
sich doch in manchen Köpfen Elemente der natio-
nalsozialistischen Ideologie einnisten mochten,
schliesst Hagmann, bestärkt durch manche Zeit-
zeugenaussage, nicht aus. Ein solcher Kopf, jener
von Pfarrer Wirth, war übervoll davon.
Kundgebung der «Natio-
nalen Front» in Grabs,
1935
211
NATIONALSOZIALISMUS: DER F A L L
P F A R R E R WIRTH
Hagmanns Buch enthält nicht viel Episodisches
und Personenbezogenes. Eine bedeutende Ausnah-
me bildet der Fall Wirth, der im Kapitel über den
Frontismus eine rund 20 Seiten umfassende, de-
taillierte und spannende Fallstudie darstellt. Von
1932 bis zur Suspendierung 1940 wirkte Werner
Wirth als reformierter Pfarrer in Azmoos, zugleich
war er Nationalsozialist. Sein Fall erregte Aufsehen
weit über den Bezirk hinaus. Wirth war ein uner-
müdlicher, ehrgeiziger Aktivist. Er kam vom an-
dern Ende des politischen Spektrums. Ende des Er-
sten Weltkrieges war er als junger Pfarrer im Aar-
gau als sozialdemokratischer Agitator hervorgetre-
ten, danach Armeninspektor in Zürich geworden.
Dort wurde er als SP-Vertreter in den Gemeinde-
und Kantonsrat gewählt. Er wechselte zu den Kom-
munisten und war in Zürich eine Zeitlang deren
Wortführer, zusammen mit Fritz Platten, dem Le-
nin-Freund. Wirth vertrat 1921 die Kommunisti-
sche Partei der Schweiz an Kongressen in Moskau,
er weilte einige Monate in der Sowjetunion. Die
dortigen Erfahrungen bewogen ihn zur Abkehr.
Für einige Jahre wandte er sich evangelischer Pu-
blizistik zu. Wohl davon beeindruckt, wählte ihn
1932 die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde
Azmoos zum Pfarrer. Zu diesem Zeitpunkt war
Werner Wirth, reformier-
ter Pfarrer von Azmoos,
1936
Wirth bereits Frontist mit Beziehungen zur Neuen
Front und zur Nationalen Front, er bewunderte
schon den deutschen Nationalsozialismus vorbe-
haltlos und sprach sich in Zeitschriftenbeiträgen
für eine faschistische «Erneuerung» der Schweiz
und Europas aus. In der Gemeinde hielt sich Pfar-
rer Wirth politisch zurück. Informierte erkannten
gleichwohl in seinen Predigten und 1. August-Re-
den Anleihen aus dem Reichs-Wortschatz.
Ab dem Kriegsausbruch trat die Pro-Hitler-Hal-
tung Wirths und seiner Frau deutlicher zutage. Das
Pfarrerehepaar spaltete die Bevölkerung der Ge-
meinde. 1940 trat der Trübbacher Landjäger Rodu-
ner protestierend aus der Kirchgemeinde aus, und
ein Azmooser verweigerte die Kirchensteuer, so-
lange Wirth Pfarrer sei. Wirths häufige Reisen nach
Feldkirch und Liechtenstein fielen nun auf. In Va-
duz unterrichtete er wöchentlich die evangelischen
Kinder. Dort traf er sich aber auch mit Peter Rhein-
berger, Mitglied der einheimischen «Volksdeut-
schen Bewegung». Die St. Galler Kantonspolizei
und die Armee verdächtigten Pfarrer Wirth und
seine Frau der Spionage.
Das Pfarrerehepaar wurde im Sommer 1940 un-
ter polizeiliche Aufsicht gestellt, die Pässe wurden
eingezogen. Im Dezember 1940 und im Januar
1941 förderten Hausdurchsuchungen bei Pfarrer
Wirth in Azmoos aber keine direkten Beweise für
Spionage zutage, wenn auch der Verdacht blieb,
zumal ein chiffrierter Zettel gefunden wurde. Dafür
kamen klare Belege für die nationalsozialistische
Gesinnung zum Vorschein, in von Wirth verfassten
Manuskripten. Er wollte die Schweiz «als altes
deutsches Reichsgebiet ... wieder dem Grossdeut-
schen Reich eingegliedert» sehen, aufgelöst werden
sollten in der Schweiz nicht nur alle Parteien, son-
dern auch die kantonalen Parlamente und Regie-
rungen, «Juden und Ausländer» wären aus allen
öffentlichen Stellen auszuscheiden, Pressefreiheit
wäre aufzuheben. Der Führer Deutschlands sei von
Gott gesandt, vollbringe Gottes Werk, kämpfe und
siege gegen die «grosse rote Flut». Aus etlichen In-
dizien schliesst Hagmann, dass Wirth wohl auch ei-
nen Umsturzplan für die Schweiz mit einschlägigen
Gesprächspartnern besprach.
212
REZENSIONEN / «IN SCHICKSALSSCHWERER ZEIT
GELANGEN DIE PARTEIEN AN EUCH ...»
Wirth stand in weitreichenden Verbindungen zu
Frontisten und Nationalsozialisten in der Schweiz,
ebenso zu Nationalsozialisten der «Volksdeutschen
Bewegung in Liechtenstein», so zu Rudolf Schädler,
Peter Rheinberger und Martin Hilti, dem Schriftlei-
ter des ab Oktober 1940 erscheinenden Hetzblattes
<Der Umbruch). Wirth erhielt von Hilti den (Um-
bruch» regelmässig zugestellt. Weitere verschwöre-
rische Verbindungen des politischen Pfarrers reich-
ten zu deutschen Konsular- und Gesandtschaftsbe-
amten in der Schweiz sowie zum Chef der Grenz-
polizei in Feldkirch, Karl Kriener. Wirth war durch
Rudolf Schädler in Vaduz anlässlich der Fürsten-
huldigungsfeier vom 29. Mai 1939 auch mit Klaus
Huegel bekannt gemacht worden. Huegel war beim
deutschen Sicherheitsdienst (SD) der SS von Stutt-
gart aus für politischen Nachrichtendienst aus der
Schweiz zuständig und auch an Liechtenstein in-
teressiert.
Ende Dezember 1940 wurde Wirth als Pfarrer in
Azmoos suspendiert, im Januar 1941 verhaftet,
bald wieder freigelassen. Er beteuerte seine Un-
schuld in Zeitungseinsendungen. Im Sommer 1941
kam Wirth einer Amtsenthebung zuvor und ver-
zichtete auf die Pfarrer stelle, gegen eine Abfin-
dung. Das Bezirksgericht Werdenberg in Buchs
sprach Wirth dann im Dezember 1941 zwar von
der Anklage staatsgefährlicher Umtriebe frei, auf-
erlegte ihm aber alle Verfahrenskosten. Das Beru-
fungsverfahren der Bundesanwaltschaft und der
St. Galler Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch
- dieser wurde vom St. Galler Kantonsgericht dann
bestätigt - wartete Wirth nicht ab: Er floh im Fe-
bruar 1942 nach Deutschland, «wohin ihn sein
Herz schon lange zog», wie der <W&0> berichtete.
In Deutschland entfaltete Wirth bis zum Kriegs-
ende - wie später erst ans Licht kam - rastlose
Wühlarbeit gegen die Schweiz. Er wirkte in Stutt-
gart für den «Volksbund für das Deutschtum im
Ausland», gelangte im Frühjahr 1944 mit einem
Plan an Himmler zur «Machtergreifung der Natio-
nalsozialisten in der Schweiz», leitete ab dem Som-
mer 1944 in Radolfzell das «Oberdeutsche Arbeits-
büro», wo er umfangreiche Karteien über Schwei-
zer anlegte, darunter vermutlich auch Liquidati-
onslisten. Wenige Tage vor dem Waffenstillstand
wurde Wirth beim Übertritt nach Kreuzungen ver-
haftet. 1947 wurde er zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt, 1951 nach Verbüssung von zwei Dritteln
der Strafe regulär freigelassen.
E X K U R S : R L I C K E ÜRER DIE G R E N Z E
Vom Liechtenstein aus gesehen liegt der Bezirk
Werdenberg ennet dem Rhein, der Länge nach ge-
nau gegenüber dem Fürstentum. Hagmanns Werk
zur Werdenberger Zeitgeschichte der Dreissiger-
und der Kriegsjahre beschränkt sich indes auf die
Schweizer Seite, er schaut selten ins Liechtenstei-
nische oder Vorarlbergische hinüber. Immerhin lie-
gen bereits grössere wissenschaftliche Untersu-
chungen zur Krisenzeit, teils auch zur Kriegszeit,
vor, sowohl für Vorarlberg (Gerhard Wanner, Har-
ald Walser, Meinrad Pichler u. a.) als auch für
Liechtenstein (Peter Geiger) wie übrigens auch für
den Bezirk Sargans (Claudio Stucky). Hier ist es
nun doch reizvoll, den Blick über die Grenze hin-
weg schweifen zu lassen und einige von Hagmanns
Werdenberger Ergebnissen in den Vergleich zu set-
zen. Dabei fallen etliche Ähnlichkeiten und manche
Unterschiede der gleichzeitigen, aber nicht gleich-
artigen Entwicklung ins Auge.
Wirtschaftliche Not und Arbeitslosigkeit in der
Krisenzeit trafen Liechtenstein noch stärker als
Werdenberg, aber Vorarlberg nochmals stärker als
beide. Zur Abhilfe war der Bezirk Werdenberg, an-
ders als Liechtenstein, nicht auf sich allein gestellt,
indem Kanton und Bund gesetzgeberisch wie mate-
riell helfen konnten. In Vorarlberg wäre die öster-
reichische Regierung in Wien eine ähnliche Hilfs-
plattform gewesen, aber die andern Bundesländer
litten noch schlimmer als Vorarlberg. Während Ar-
beitslose im Werdenberg wie in Vorarlberg, hier
freilich minim, versichert waren, fehlte in Liech-
tenstein jede Arbeitslosenversicherung, hier war
der Erwerbslose auf sporadische Unterstützungs-
zahlung angewiesen, von der Regierung oder der
Gemeinde oder auch dem fernen Fürsten in jedem
Einzelfall beschlossen.
213
Die Notstandsarbeiten, wie Hagmann sie für das
Werdenbergische nachweist, gleichen durchwegs
jenen in Liechtenstein wie auch jenen in Vorarl-
berg. Für Liechtenstein fällt auf, dass neben dem
Grossprojekt des Binnenkanalbaus und neben vie-
len Strassen, Entwässerungs- und Rüfearbeiten er-
staunlich zahlreiche kirchliche und schulische Bau-
ten Arbeit brachten. Hier wirkten auch spezifisch
liechtensteinische Finanzierungsquellen, welche in
den beiden Nachbargebieten nicht sprudelten, näm-
lich Einnahmen aus Briefmarken, Gesellschaftswe-
sen und Einbürgerungen.
Die von Hagmann minutiös untersuchte politi-
sche Landschaft im Bezirk Werdenberg unter-
schied sich stark von jener in Liechtenstein und in
Vorarlberg, schon wegen der Einbindung in Kanton
und Eidgenossenschaft auf der einen Seite und in
die Republik Österreich auf der andern Seite. Den-
noch sind auch politische Zeittrends vergleichbar.
Die Parteienlandschaft kam überall in Bewegung,
am stärksten in Österreich. In Liechtenstein gab es
keine sozialdemokratische Partei. Die zwei liech-
tensteinischen Parteien - Fortschrittliche Bürger-
partei und Christlich-soziale Volkspartei, ab 1936
Vaterländische Union - , beide katholisch, waren,
sehr vereinfacht gesagt, den Konservativen auf der
Schweizer Seite - die VU allerdings mit einem fron-
tistischen Heimatdienst-Flügel - beziehungsweise
den Christlichsozialen auf der Österreicher Seite zu
vergleichen. Der Parteienkampf war in Vorarlberg
wie in Liechtenstein ein Zwei-Lager-Kampfund viel
heftiger als im Werdenberg. In Vorarlberg wurde
der Lagerkampf teils auch gewalttätig ausgetragen,
erst zwischen Christlichsozialen und Sozialisten,
dann zwischen Christlichsozialen und den illegalen
Nationalsozialisten. Neue Parteien waren hier wie
dort entstanden. Der kurzlebige Versuch, in Liech-
tenstein die Freiwirtschaft einzuführen - mittels
Professor Ude - , hing direkt mit gleichen Bestre-
bungen in Gams und Haag zusammen. Faschismus
und Nationalsozialismus wiederum wirkten, wenn
auch unterschiedlich, auf die Schweizer Fronten,
auf den Liechtensteiner Heimatdienst, auf die
Österreicher Christlichsozialen, dann integral auf
die bis 1938 illegale NSDAP in Österreich und auf
die 1938 entstehende «Volksdeutsche Bewegung in
Liechtenstein». In Vorarlberg beziehungsweise Ös-
terreich kam rasch, schon 1934, der ständische,
«austrofaschistische» Einparteistaat. In Liechten-
stein hielt die 1938 entstehende Regierungskoaliti-
on die Nationalsozialisten von der Macht fern. Im
Werdenbergischen taten gleiches die traditionellen
Parteien, die pluralistische Demokratie bewah-
rend.
Der österreichische Anschluss 1938 und dann
der Kriegsausbruch 1939 rissen alles Vergleichba-
re von Vorarlberg weg. Vorarlberg einerseits sowie
Liechtenstein und Werdenberg andererseits erleb-
ten nun die Jahre bis 1945 - und lange darüber
hinaus - ganz verschieden. Liechtenstein überdau-
erte die Kriegszeit an der Seite der Schweiz, in de-
ren Versorgung vielfältig eingebunden, wenn auch
mit weniger Pflichten, da ohne Militärdienst.
Die Verhältnisse, wie sie jeden einzelnen Men-
schen in der Dreiländernachbarschaft während der
Krisen- und Kriegszeit betrafen, sind der Vorstel-
lung unmittelbar zugänglich: Lebte eine Person -
Kind, Frau oder Mann - zum Beispiel in Sennwald,
eine andere in Schellenberg, eine dritte in Nofels,
so lagen ihre Lebensorte so nahe beisammen. Und
doch mochten ihre Lebenswege so unterschiedlich
verlaufen, als hätten sie nichts Gemeinsames, als
lägen sie weltweit auseinander.
Hagmanns Werk, wissenschaftlich sorgfältig, sys-
tematisch, dicht und zugleich sehr lesbar, ist als
Band 1 der Begleitpublikationen des Werdenberger
Jahrbuches bei BuchsDruck sowie Chronos, Zü-
rich, erschienen. Eine weitere Lücke der Zeitge-
schichte schliessend, ist es wertvoll nicht allein für
die wirtschaftliche, soziale und politische Geschich-
te des Bezirks, der Gemeinden wie auch des Kan-
tons St. Gallen und der Schweiz, sondern zugleich
eine Fundgrube für die grenzübergreifende Regio-
nalgeschichte. Es erlaubt den detaillierten Ver-
gleich mit den angrenzenden Gebieten und Län-
dern. Gerade durch Kenntnis des Nahen und An-
dern tritt das Eigene schärfer ins Licht.
214
REZENSIONEN / ENDE DES NATIONALSOZIALISMUS
UND DEMOKRATISCHER WIEDERAUFBAU
Ende des Nationalsozialismus und
demokratischer Wiederaufbau im
Bezirk Feldkirch
KLAUS BIEDERMANN
Ähnlich wie für Liechtenstein liegt für das benach-
barte Land Vorarlberg noch keine umfassende Dar-
stellung der Ereignisse während des Zweiten Welt-
krieges in gedruckter Form vor. Hier wie dort sind
hingegen die Jahre 1938 und 1945 als Anfangs-
und Endpunkt einer besonders grauenvollen Zeit-
epoche recht gut dokumentiert. In Liechtenstein ist
gegenwärtig der im Fürstentum aufgewachsene Hi-
storiker Peter Geiger damit beschäftigt, die Ge-
schichte Liechtensteins zur Zeit des Nationalismus
aufarbeiten. In Vorarlberg hingegen hat sich bisher
noch niemand der Aufgabe angenommen, eine um-
fassende Darstellung der Landesgeschichte in die-
ser dunklen Zeitepoche zu erarbeiten.
Wohl zu lange bequemte man sich, das Bild von
Vorarlberg, ja von ganz Österreich zu pflegen, wo-
nach das Land lediglich Opfer des Nationalsozialis-
mus gewesen sei. Damit wurde die eigene Mitver-
antwortung an den Geschehnissen nicht so recht
wahrgenommen und schon gar nicht reflektiert.
Zudem kam es 1945 nach der Wiederherstellung
des 1939 aufgelösten Bundeslandes Vorarlberg zu
einer «erfolgreichen Restaurierung der katholisch-
konservativen Machteliten» (S. 34). Die im Nach-
kriegs-Vorarlberg dominierende Österreichische
Volkspartei als Nachfolgepartei der Christlichsozia-
len ging gesamthaft gesehen milde um mit führen-
den Industriellen, welche die nationalsozialistische
Politik befürwortet hatten: «Von diesen waren rund
70 Prozent als ehemalige Nationalsozialisten bezie-
hungsweise als Förderer der NS-Bewegung bela-
stet, nur rund vier Prozent wurde jedoch die Lei-
tung ihres Betriebs entzogen» (S. 40).
Geschichte Vorarlberg* .
Wolfgang Weber
Nationalsozialismus -
Lage- und Stimmungsberichte
aus den Vorarlberger
Gemeinden des Bezirks
Feldkirch im Jahre 1945
Wolfgang Weber: National-
sozialismus - Demokrati-
scher Wiederaufbau. Lage-
und Stimmungsberichte
aus den Vorarlberger Ge-
meinden des Bezirks Feld-
kirch im Jahre 1945. Quel-
len zur Geschichte Vorarl-
bergs 3. Herausgegeben
vom Vorarlberger Landes-
archiv.
Roderer Verlag, Regens-
burg, 2001. 388 Seiten.
Preis: CHF 45.-.
ISBN 3-89783-270-4
H A L B H E R Z I G E ENTNAZIFIZIERUNG
N A C H 1945
Noch im Jahr 1947 wurden allein im Bezirk Feld-
kirch 55 von 79 Industriebetrieben von ehemaligen
Nationalsozialisten geführt. Gemäss dem damals in
Österreich verabschiedeten Wirtschaftssäuberungs-
gesetz hätten diese Betriebe «entnazifiziert» wer-
den müssen, was faktisch zu einem Berufsverbot
für diese Industriellen geführt hätte. Vor einer sol-
215
chen Massnahme schreckten nicht nur die lokalen
Behörden in Vorarlberg, sondern auch die franzö-
sischen Besatzungstruppen zurück. Der Gerechtig-
keit muss gesagt werden, dass anderes, ideologisch
«sauberes» Personal, das zudem über das nötige
Fachwissen verfügte, zur Übernahme dieser Be-
triebe meist nicht zur Verfügung stand. Und es
wurde schon im Dezember 1945 in Dornbirn die
Beobachtung gemacht, dass «die ehemals über-
zeugten Nazis, soweit sie auch früher auf ihre Ne-
benmenschen noch etwas hielten, von einem Fa-
schismus nichts mehr wissen wollen und es gera-
dezu bereuen, jemals der Nazipropaganda erlegen
zu sein» (S. 192). Ob indes alle einstigen Sympathi-
santen des Nationalsozialismus über diese Lern-
fähigkeit verfügten, sei dahingestellt. Jedenfalls
heisst es in einen anderen Bericht aus Dornbirn,
ebenfalls verfasst im Dezember 1945, die ehemali-
gen Nationalsozialisten seien «äusserst zurückge-
zogen und [bewiesen] jeden Tag aufs Neue, dass sie
nicht von jener Tapferkeit erfüllt [waren], die sie
seinerzeit immer vorgegeben [hatten]» (S. 181 f.).
Die vier alliierten Besatzungsmächte richteten
im Frühjahr 1945 im Zuge der Befreiung Öster-
reichs vom Hitler-Regime an mehreren Orten Inter-
nierungslager ein, in denen besonders belastete
Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen
Zwangsarbeit verrichten mussten. Diese Bemühun-
gen wurden von der provisorischen österreichi-
schen Regierung unter Bundeskanzler Karl Renner
unterstützt. Derartige Internierungslager gab es in
Vorarlberg in den Ortschaften Lochau bei Bregenz,
Bredens bei Rankweil sowie in Rungellin bei Blu-
denz. Diese Lager bestanden bis 1947 beziehungs-
weise 1948. Die Regierung Renner hatte zudem im
Oktober 1945 ein Verfassungsgesetz beschlossen,
welches Kriminelle und ehemalige aktive Partei-
gänger/innen des Nationalsozialismus vom Wahl-
recht ausschloss. In Vorarlberg waren 15 156 Per-
sonen, gut 16 Prozent der Bevölkerung, davon be-
troffen (vgl. S. 381).
Dass Industrielle bisweilen aber doch für ihre
Vergangenheit büssen mussten, zeigt ein Beispiel
aus Schlins: Dort arbeitete die Firma «Eisen- und
Metallwerk Hubers Erben» nach Kriegsende nur
noch in beschränktem Umfang, nachdem Betriebs-
führer und Ingenieure der Fabrik in Flaft gesetzt
worden waren (vgl. S. 315). Dennoch wurden ehe-
malige Mitglieder der Nationalsozialisten wohl
mehrheitlich geschont, gerade wenn sie in privile-
gierten Stellungen waren. So heisst es auch in ei-
nem Bericht aus Satteins vom Dezember 1945:
«Die Bevölkerung kritisiert, dass von einer Säube-
rung in den Behörden und Ämtern nicht viel getan
wird» (S. 306).
STIMMUNGSBERICHTE AUS DEN GEMEINDEN
Wolfgang Weber stellt in diesem Buch Lage- und
Stimmungsberichte aus den Vorarlberger Gemein-
den des Bezirks Feldkirch im Jahre 1945 vor. Ad-
ministrativ zu Feldkirch gehörten damals auch die
Gemeinden des heutigen Bezirks Dornbirn. Zu die-
sem Verwaltungsbezirk gehörten folglich ausser
den Städten Feldkirch und Dornbirn noch die
nachstehenden politischen Gemeinden (in alphabe-
tischer Reihenfolge): Altach, Düns, Dünserberg,
Frastanz, Fraxern, Göfis, Götzis, Hohenems, Klaus,
Koblach, Laterns, Lustenau, Mäder, Meiningen,
Rankweil, Rons, Röthis, Satteins, Schlins, Schnifis,
Sulz, Übersaxen, Viktorsberg, Weiler und Zwi-
schenwasser.
Sehr wertvoll ist die von Wolfgang Weber verfass-
te Einleitung, welche der Quellentext-Edition vor-
angestellt ist (S. 17-62). Darin wird ein Überblick
zur Vorarlberger Landesgeschichte im Jahr 1945
gegeben, der wesentlich zum Verständnis der nach-
folgenden Quellentexte beiträgt. Diese Quellen be-
finden sich vollständig im Vorarlberger Landesar-
chiv in Bregenz, und zwar unter den angeführten
Angaben VLA, BH Feldkirch VI-306/1945 bezie-
hungsweise Feldkirch ZI. 510/1945. Bei der für das
vorliegende Buch erfolgten Transkription der Texte
wurde die authentische Schreibweise gewahrt, dies
unter Beibehaltung von grammatikalischen und or-
thographischen Fehlern.
Teil 1 der Quellenedition (S. 65-136) enthält einlei-
tend sechs Rundschreiben des Gauleiters bezie-
216
REZENSIONEN / ENDE DES NATIONALSOZIALISMUS
UND DEMOKRATISCHER WIEDERAUFBAU
hungsweise des Reichsstatthalters und des Landra-
tes von Feldkirch. Darin wurden Anweisungen ge-
geben, wann und wie die Stimmungsberichte zu
Händen der Behörden abzufassen sind. Es solle da-
bei «aber gar nicht über die Stimmung in der Be-
völkerung, sondern über deren Haltung berichtet
werden» (S. 77). Daran anschliessend folgen insge-
samt fünfzehn solche Berichte der einzelnen Gen-
darmerieposten des Kreises Feldkirch aus den
Märztagen des Jahres 1945, welche aufschlussrei-
che Einblicke in die Zeit unmittelbar vor dem Zu-
sammenbruch von Hitler-Deutschland gewähren.
Natürlich sind diese Berichte im Sinne des Na-
tionalsozialismus eingefärbt. So wird zwar die
wachsende Kriegsmüdigkeit nicht mehr katego-
risch geleugnet, aber es wird betont, dass die «Op-
ferbereitschaft» der Bevölkerung noch «keinesfalls
nachgelassen» habe (S. 82). Die Bevölkerung wür-
de Abscheu und Hass «gegen die alliierten Greuel-
taten» empfinden, der Glaube an den Sieg sei «den-
noch ungebrochen» (S. 117). Besonders anmas-
send ist ein Hinweis aus Schlins, wonach «beson-
ders die politisch ungeschulten Personen ... nicht
mehr an einen Sieg der deutschen Führung [glaub-
ten]» (S. 125). Eine gewisse Aufrichtigkeit schim-
mert hingegen in einem Bericht aus Satteins durch,
in dem es heisst, die Stimmung sei «sehr gedrückt»
und «das Schwinden jeder Hoffnung ... vorherr-
schend» (S. 122 f.). Es finden sich in diesen Texten
auch zahlreiche Flinweise auf die Knappheit an Le-
bensmitteln, ebenso auf fehlende Rohstoffe und Ar-
beitskräfte (vgl. beispielsweise S. 92, 102, 106 f.).
Berichte aus Lustenau und aus Weiler weisen hin-
gegen darauf hin, dass durch Nachbarschaftshilfe
sowie durch zahlreichen Einsatz von Arbeiterinnen
und Arbeitern aus Osteuropa landwirtschaftliche
Tätigkeiten wie die anstehende Feldbestellung eini-
germassen gewährleistet seien (vgl. S. 114 f. sowie
S. 134). Dennoch belegt ein Bericht aus Hohenems,
dass viele Landwirte «mit Besorgnis der Anbauzeit
entgegen [sehen], da infolge der vielen Einberufun-
gen und des auswärtigen Einsatzes von Arbeits-
kräften grosser Mangel an landwirtschaftlichen Ar-
beitern für die Feldbestellung zu befürchten ist.
Diese wird durch die im Rahmen des Anbauplanes
verfügte Ausweitung des Gemüseanbaues noch ver-
stärkt» (S. 107).
Trotz augenfälliger «Linientreue» dieser Berich-
te werden die schlechten Lebensbedingungen der
Bevölkerung keinesfalls geleugnet. Hoffnung auf
ein Kriegsende kommt wiederholt zum Ausdruck.
Zudem würden die «politischen Gegner» auf eine
Wiedererrichtung des österreichischen Staates hof-
fen (S. 126).
Teil 2 der Quellenedition (S. 137-350) beinhaltet
die wöchentlichen Lageberichte der Bezirkshaupt-
mannschaft Feldkirch sowie der ihr unterstellten
Gendarmerieposten. Diese Berichte wurden in den
Monaten November und Dezember 1945 abgefasst.
Der Krieg war nun zu Ende gegangen mit der Kapi-
tulation von Hitler-Deutschland und des mit ihm
verbündeten Kaiserreichs Japan. Der österreichi-
sche Staat wurde wieder hergestellt, das Land
stand aber, wie eingangs erwähnt, vorübergehend
unter alliierter Besatzung. Da Vorarlberg Ende
April und anfangs Mai 1945 von Einheiten der
1. Französischen Armee vom Nationalsozialismus
befreit wurde, erhielt das Land eine französische
Besatzungsmacht. Ingesamt rund 25 000 Soldaten
aus Frankreich und der französischen Kolonie Ma-
rokko waren in Österreich stationiert.
Bis zum Antritt der ersten demokratisch gewähl-
ten Vorarlberger Landesregierung nahm von Mai
bis Dezember 1945 ein überparteilicher Landes-
ausschuss die zivile Verwaltung wahr. Dieser Lan-
desausschuss war allerdings der französischen
Militärregierung unterstellt. Die französische Mi -
litärregierung für Tirol und Vorarlberg zählte im
Frühjahr 1946 insgesamt 1059 Mitarbeiter, zehn
Generaldirektionen mit rund 50 Diensten und Sek-
tionen. Mit dem zweiten Kontrollabkommen der A l -
liierten vom 28. Juni 1946 erhielt der österreichi-
sche Staat seine Souveränität weitgehend zurück.
In der Folge wurde die Militärregierung auf einen
Kontrollrat reduziert, der in Vorarlberg als «Kon-
trollabteilung» in Bregenz residierte.
Der umfangreiche zweite Teil der vorliegenden
Quellenedition befasst sich mit der ebenfalls
schwierigen Zeit der Normalisierung des gesell-
217
schaftlichen und politischen Verhältnisse in Vorarl-
berg. Immer wieder kommt dabei auch das Ver-
hältnis zwischen der französischen Besatzungs-
macht und der einheimischen Bevölkerung zur
Sprache. Diese zwei Aspekte - die sich langsam an-
bahnende Normalisierung der verschiedenen Le-
bensbereiche sowie das Auskommen der Bevölke-
rung mit der französischen Besatzungsmacht - sol-
len nachfolgend noch in der gebotenen Kürze er-
läutert und veranschaulicht werden.
Der im Anschluss an die Quellentext-Edition fol-
gende Anhang beginnt mit einer geographischen
Übersichtskarte von Vorarlberg. Die Gemeinden
des im Buch behandelten Bezirks Feldkirch sind
darin besonders hervorgehoben. Anschliessend
werden die Ergebnisse der Nationalrats- sowie der
Landtagswahlen von 1945 in den einzelnen Ge-
meinden des genannten Bezirks in Listenform dar-
gestellt. Besonders informativ und wertvoll sind die
darauf folgenden Erläuterungen zu ausgewählten
Begriffen, die in den Quellentexten vorkommen
(S. 357-383). Ein Personen- und Firmenindex so-
wie ein Ortsverzeichnis runden die Publikation ab.
Ankunft der französischen
Besatzungsmacht 1945 in
Vorarlberg: Kinder begrüs-
sen die Soldaten mit einer
unbefangenen Neugier und
Freundlichkeit, wie hier in
Feldkirch-Altenstadt.
«ICI L ' A U T R I C H E , PAYS D ' A M I »
Am Grenzübergang Hörbranz-Unterhochsteg wur-
de im Mai 1945 der Hinweis angebracht: «Ici l 'Au-
triche, pays d'ami», was auf deutsch bedeutet, dass
Reisende hier Österreich, ein befreundetes Land
betreten. Da wird auch die Absicht erkennbar, dass
man Österreich - anders als Deutschland - nicht
als feindliches Land betrachten wollte.
Zum Teil fehlende Französisch-Kenntnisse der
Vorarlberger Bevölkerung erschwerten anfangs
Kontakte zwischen den Besatzern und den Einhei-
mischen, doch die Beziehungen entwickelten sich
dennoch rasch und mündeten oftmals sogar in
Freundschaften. Auf der höheren Ebene verstan-
den sich die lokalen Behörden gut mit der Militär-
regierung, wobei ein gemeinsamer Antikommunis-
mus sowie der «Wunsch nach einer konservativen
Restaurierung ... das Fundament dieser Beziehung
[bildeten]» (S. 41). Und: den Freundschaften der
Politiker und der Militärs folgte teilweise die Bevöl-
kerung. Es kam zu ersten Beziehungen von franzö-
sischen und marokkanischen Soldaten der Besat-
zungsarmee mit vorarlbergischen Frauen, wobei
vor allem die exotischen Farbigen «das Objekt ei-
ner gewissen Vorliebe» gewesen sein sollen (S. 42).
In den Quellentexten wird das Verhältnis zwi-
schen den Besatzungstruppen und der einheimi-
schen Bevölkerung allerdings eher nüchtern be-
trachtet. Es gibt auch Hinweise auf zunehmende
Schwierigkeiten im Umgang miteinander. Diese
Schwierigkeiten sind vornehmlich begründet durch
die wirtschaftlichen Nöte der Vorarlberger Nach-
kriegsgesellschaft. Zudem hatte Vorarlberg in den
Jahren von 1935 bis 1945 ein 20-prozentiges Be-
völkerungswachstum, bedingt durch die provisori-
sche Aufnahme von 12 000 Flüchtlingen sowie von
10 000 Zwangsarbeiter/innen aus Osteuropa, aber
auch durch die definitive Einwanderung von rund
11 000 Aussiedlern aus dem Südtirol. Es kam folg-
lich zu einer Knappheit an Wohnraum. Dieses Pro-
blem wurde massiv verschärft im Jahr 1945 durch
Beschlagnahmung zahlreicher Wohnungen, in de-
nen die französischen Truppen sowie teilweise
auch ihre Angehörigen untergebracht wurden. Ex-
218
REZENSIONEN / ENDE DES NATIONALSOZIALISMUS
UND DEMOKRATISCHER WIEDERAUFBAU
emplarisch zitiert sei nachfolgend aus einem Be-
richt über die Beschlagnahmung des Gasthauses
«Krone» in Feldkirch-Nofels:
«Wenn auch von der Bevölkerung Verständnis
für die Bedürfnisse der Besatzungstruppen aufge-
bracht wird, so wird andererseits doch als Härte
empfunden und nicht verstanden, daß zur Deckung
dieser Bedürfnisse so schonungslos verfahren wird
und ausgerechnet jene Familien die größten Opfer
dabei bringen müssen, die dem Nationalsozialis-
mus stets ferne standen und sowohl politisch wie
moralisch in jeder Hinsicht einwandfrei und an-
ständig sind, wie dies gerade bei der genannten
Familie [Wirtefamilie Büchel, Anm. d. Verf.] zu-
trifft» (S. 162 f.).
Zudem gingen mehrere Kleindiebstähle auf das
Konto von französischen und marokkanischen Sol-
daten. Die Quellen berichten beispielsweise von ei-
nem Wäschediebstahl (S. 206), von der Entwen-
dung eines «Kleinkraftrades» (S. 241) oder vom
Diebstahl von Hühnern und Kaninchen. Letzterer
wurde von französischen Soldaten, welche über
keine Lebensmittelkarten verfügten, begangen (vgl.
S. 344). Weitaus schlimmer wog aber zum Beispiel
die versuchte Vergewaltigung eines 18-jährigen Mäd-
chens durch einen französischen Soldaten. Eher
episodenhaft wirkt hingegen der Vorfall mit der
Tochter des französischen Oberst Bruneiii, die in
Feldkirch «durch Anrempelung auf der Strasse tät-
lich beleidigt wurde». Täterinnen waren zwei 14-
jährige Feldkircher Mädchen. Ein diesbezüglicher
Bericht hält dazu fest: «Immerhin ist der Fall geeig-
net, die Zusammenarbeit zwischen den Besat-
zungsbehörden und den österreichischen Stellen
zu stören» (S. 203).
Gesamthaft gesehen war das Verhältnis zwi-
schen den Franzosen und den Einheimischen aber
besser als etwa die Beziehungen zwischen den Vor-
arlbergern und den 1945 noch ansässigen Zwangs-
arbeitern aus Osteuropa (vgl. S. 232). Der Wunsch,
dass diese Leute das Land möglichst bald verlies-
sen, wurde dann aber auch auf die Franzosen und
Marokkaner ausgedehnt. Diese Haltung ist primär
in der prekären wirtschaftlichen Situation begrün-
det: «Das Verhältnis zu den Besatzungstruppen ist
im allgemeinen nicht ungünstig, jedoch wäre deren
Abzug mit Rücksicht auf die Ernährungslage er-
wünscht» (S. 296). Dieser Wunsch ging dann in den
späten 1940er und frühen 1950er Jahren im Zuge
der sukzessiven Aufhebung der französischen Mi-
litärverwaltung weitgehend in Erfüllung.
E N T B E H R U N G E N UND L A N G S A M E B
W I E D E R A U F S C H W U N G
Die französischen Besatzungstruppen hatten im-
mer wieder Personenausweiskontrollen in Vorarl-
berg durchgeführt. Es war den Einheimischen aber
«kaum möglich, die Lichtbilder zu den Ausweisen
zu beschaffen, weil die Fotographen sozusagen
kein Material haben» (S. 291). Bereits dieser Hin-
weis illustriert, wie sehr in Vorarlberg nach Kriegs-
ende noch eine Mangelwirtschaft herrschte. «Sorge
bereitet vielen Familien die Versorgung mit Kartof-
feln und Fett in den kommenden Monaten», heisst
es etwa an anderer Stelle in einem Bericht vom De-
zember 1945 (vgl. S. 152). Die Industrie erhielt
Die Soldaten der Besät- belegt. Es herrschte grosse
zungsarmee wurden gross- Erleichterung über das
teils freundlich empfan- eingetretene Kriegsende,
gen, wie dieses 1945 in
Bludenz entstandene Bild
219
zwar bisweilen Aufträge von den Besatzungstrup-
pen, wie ein Bericht aus Lustenau belegt (S. 267),
doch waren Ende 1945 noch viele Betriebe auf-
grund fehlender Rohstoffe, aber auch infolge Man-
gels an Heizmaterial lahmgelegt (S. 158). Das
Fehlen von Batterien für die Taschenlampen er-
schwerte beispielsweise auch den Nachtdienst der
Gendarmerie (S. 163). Ebenfalls waren viele Gast-
häuser infolge Beschlagnahmung durch die Besat-
zungsmacht oder auch «wegen Mangel an Geträn-
ken» geschlossen (S. 277). Die öffentliche Verwal-
tung kämpfte ihrerseits mit einem Mangel an
Schreibpapier (S. 296).
Gemäss Gesetz vom 31. Juli 1945 durften von
der nationalsozialistischen Vergangenheit unbela-
stete Vereine ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen.
Sportvereinigungen wurden als erste wieder ge-
gründet, doch auch auf kulturellem Gebiet regte
sich neues Leben: Orchester, Theater und Kinos
formierten sich in den Jahren 1945 und 1946 neu
oder nahmen ihre Vorkriegstätigkeit wieder auf.
Trotz manchen Härten und Entbehrungen stand
Vorarlberg doch vergleichsweise gut da: «Es ist der
Bevölkerung wohl klar, daß die Lebensbedingun-
gen in anderen Gebeten Österreichs viel härter sind
wie hier» (S. 197).
lieh wirtschaftlich besser da standen. Die französi-
sche Militärregierung war ihrerseits bemüht, die
Kontakte zwischen Vorarlberg und der Schweiz
baldmöglichst wieder aufzunehmen. So billigte sie
im Herbst 1945 ein (völkerrechtswidriges) Abkom-
men zwischen beiden Ländern, welches die Ein-
fuhr von Rohstoffen für die Vorarlberger Industrie
ermöglichte. Zudem luden Ostschweizer Gemein-
den 1946 Vorarlberger Kinder zu einem Erho-
lungstag in ihre Ortschaften ein (vgl. S. 46). Auch
dies ist ein Beleg dafür, wie die regionale Zusam-
menarbeit wieder gesucht und dabei die gegensei-
tige Freundschaft zwischen benachbarten Regio-
nen erneut gepflegt wurde. In diesem Sinn ist das
vorliegende Buch auch für uns in Liechtenstein von
Interesse; unsere Geschichte ist ja nie völlig los-
gelöst vom regionalen Umfeld, im Gegenteil: Wir
sind mit der österreichischen und der schweizeri-
schen Nachbarschaft auf vielfältige Art verbunden.
Ein Blick in die unmittelbare Nachbarschaft schärft
nicht zuletzt auch das Auge für nationale und loka-
le Geschichten und Ereignisse.
FAZIT
Die vorliegende Quellenedition liefert ein buntes
und lebendiges Bild zur Geschichte Vorarlbergs un-
mittelbar nach Kriegsende. Die Leserinnen und Le-
ser erhalten hier interessante Einblicke in die Ver-
hältnisse und Lebensbedingungen der lokalen Be-
völkerung im Jahr 1945. Wolfgang Weber als Autor
und das Vorarlberger Landesarchiv als Herausge-
ber leisteten mit der Edition dieser Texte zudem
wichtige Grundlagenarbeit zur weiteren Erfor-
schung der Vorarlberger Landesgeschichte im 20.
Jahrhundert.
Die Verhältnisse in Vorarlberg im Jahr 1945
sind indes nur bedingt vergleichbar mit der Situati-
on in Liechtenstein oder in der Ostschweiz, da letz-
tere Gebiete vom Krieg verschont blieben und folg-
220
REZENSIONEN
VOLKSTHEATER
Volkstheater
PIO SCHURTI
Ein beachtlicher und beachtenswerter, aber mögli-
cherweise etwas (zu) wenig beachteter Band er-
schien im Jahr 2000 im Zürcher Offizin Verlag:
Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum
Liechtenstein, herausgegeben von Ernst Halter und
Buschi Luginbühl, fotografiert und gestaltet von
Ernst Scagnet. Beachtenswert ist das Buch nicht
zuletzt wegen seiner zahlreichen opulenten doku-
mentarischen Schwarzweiss-Fotografien. Beacht-
lich respektive lesenswert machen das Buch auch
eine Reihe von Texten zu einem populären kultu-
rellen Phänomen, das wegen seiner gesellschaftli-
chen Bedeutung eigentlich schon lange eine gewis-
se kritische und ästhetische Aufmerksamkeit ver-
dient hätte. Das Volks- respektive Laientheater ist ein
Kapitel der Kulturgeschichte, das nicht überblättert
werden sollte. Hiermit ist nun ein Bildband erhält-
lich, der sowohl kulturhistorisch oder theoretisch In-
teressierte wie auch den Praktiker, den aktiven
Freund des Volkstheaters anzusprechen vermag.
Dank der Unterstützung von 16 Donatoren (staat-
lichen wie auch privaten, darunter die liechtenstei-
nische Regierung und die im Fürstentum domizi-
lierte Karl Mayer-Stiftung) war es dem Offizin-Ver-
lag möglich, eine Fülle von Informationen aus der
ganzen Schweiz und aus Liechtenstein zusammen
zu tragen. 16 Autoren reflektieren über die Defini-
tion und die gesellschaftliche Funktion des Lai-
entheaters oder beschreiben die verschiedenen
Ausprägungen des zeitgenössischen Volkstheaters
in den verschiedenen Regionen: Theaterautoren,
darunter Thomas Hürlimann, berichten über ihr
spezielles Stücke-Schreiber-Metier, andere betrach-
ten das Amateurtheater aus linguistischer, volks-
kundlicher und soziologischer Sicht. Im histori-
schen Rückblick wird versucht, die Lust am Spiel
zu definieren. Eine Reihe von Texten befassen sich
mit den kantonalen beziehungsweise regionalen
Spielarten des Volkstheaters von der Westschweiz
bis in den Tessin und nach Liechtenstein.
In einem Gespräch zwischen Louis Naef, Regis-
seur, und Ernst Halter, Schriftsteller und Publizist,
am Anfang des Buches werden die charakteristi-
schen Elemente des Laientheaters erörtert. Was
meist als Volkstheater, hierzulande auch als «Feu-
Ernst Halter und Buschi
Luginbühl (Hrsg.): Volks-
theater in der Schweiz und
im Fürstentum Liechten-
stein.
Offizin Zürich Verlags-AG,
Zürich, 2000. 224 Seiten.
CHF 78.-.
ISBN 3-907496-05-1
221
Aufführung des Kabaretts
Kaktus im Jahr 1964:
Szene mit Susanna Kranz
und Hansrudi Sele, beide
aus Vaduz. Die Mitglieder
des Kabaretts Kaktus, des
ersten politischen Kaba-
retts in Liechtenstein,
waren durchwegs Laien-
schauspieler/innen.
erwehrtheater» bekannt ist, wird wohl am tref-
fendsten als Laientheater bezeichnet. Naef sagt,
Laientheater finde statt, «wo immer Leute auf der
Bühne ihre eigene Geschichte erzählen». Er ver-
wehrt sich aber gegen die allzu einfache Analyse,
die aufgeführten Stücke quasi als Abbildungen ei-
ner gesellschaftlichen Realität zu verstehen. Selbst
dem unkritischen Betrachter und Theatergeniesser
fällt ja auf, dass die häufig gespielten Bauern-
schwänke meist gar nichts (mehr) mit der Realität
zu tun haben. Naef räumt ein, dass das «Laienthea-
ter ganz allgemein bedächtiger (sei) als das Be-
rufstheater, im gestischen Vokabular, in der Ent-
wicklung und Stoffwahl, weniger interessiert an
wechselnden Moden». Es falle auf, dass in den ka-
tholischen Gegenden, in denen man den «symbo-
lisch-realen Ritus der Messe» noch gewohnt sei,
das Laientheater viel «intensiver und selbstver-
ständlicher tradiert» werde. Das Bezeichnende, die
Identität, wenn man so will, liegt also nicht in den
überholten Stoffen und oft täppischen Bauern-Lie-
besgeschichten (in einem Land wie Liechtenstein
mit weniger als einem Prozent Bauern in der Be-
völkerung), sondern in der Aufführung. Während
der Berufsschauspieler übersetze, so Naef, so blei-
be der Laienschauspieler im Spiel eher «bei sich
selbst», «er bringt und behält seine Authentizität».
Tatsächlich dürfte es einen Grossteil der Gaudi aus-
machen, im Gemeindesaal zum Beispiel den Remi-
gius (oder wie der Darsteller auch heissen mag) auf
der Bühne zu sehen. Im Gespräch mit älteren Ver-
wandten hat sich schon öfter herausgestellt, dass
man oder frau sich nicht nur an einzelne Auf-
führungen, die Jahrzehnte zurückliegen, erinnern
kann, sondern dass von einzelnen Akteuren be-
hauptet wird, der Ehni sei früher ganz ähnlich auf
der Bühne gestanden, respektive gegangen, oder
die Mutter habe die Figuren auch immer so über-
zeichnet. Die Identität in der Gestik und in den
«Manierismen» über Generationen hinweg (wie-
der) erkennen zu können, das dürfte eine Eigenheit
des Dorftheaters sein und auch zumindest einen
Teil seiner Attraktivität erklären.
Hier ist sicher auch die Bedeutung des Dialekts
zu erwähnen. Identität und Ausdruck, Sprache wie
Gestus wurzeln ja in der Muttersprache, hebt DRS-
222
REZENSIONEN
VOLKSTHEATER
1 -Redakteur Christian Schmid in einem Beitrag zur
«Brauchbarkeit des Dialekts» hervor. Naef betont
weiter die Bedeutung der Probenarbeiten. Sie sind
«entscheidender als die Aufführung» für das Erle-
ben der Gemeinschaft.
Spezielle Kapitel sind der Seniorenbühne, den
Aufführungen in der Landschaft und den Freilicht-
spielen gewidmet. Thomas Hürlimann berichtet
von der Inszenierung des «Einsiedler Weltthea-
ters» auf dem Klosterplatz. Opulente Festspiele im
Freien werden von der Kulturpolitik gerne als
«identitätstiftend» gefördert. In Liechtenstein hat
es aus Anlass grosser historischer Jubiläen immer
wieder Festspiele gegeben, zum letzten Mal 1999
in Bendern, als Liechtenstein das 300-jährige Be-
stehen des Unterlandes feierte. Während frühere
Freilichtspiele die Gelegenheit boten, «in histori-
scher Kostümierung malerische und moralische
Überhöhung eines jeweils aktuell geforderten Zu-
sammenrückens der Liechtensteinerinnen für Gott,
Fürst und Vaterland» zu inszenieren, verliess Ma-
thias Ospelt 1999 mit seinem Stück «Der Ritter vom
Eschnerberg» die «theatralische Pathetisierung ei-
ner gemeinsamen Geschichte» (Jürgen Schremser).
Mathias Ospelt hatte einen Text geschrieben, der
liechtensteinische Verhältnisse und das Publikum
sehr wohl ansprach, aber auf die plumpe Herstel-
lung einer Identität verzichtete. Die Aufführung sel-
ber kann aber wohl ein Stück weit auch im oben
geschilderten Sinne als gemeinschaftsfördernd be-
zeichnet werden: Die Inszenierung wurde im Som-
mer 1999 mit einer grossen Zahl von Laien- und
Berufsschauspielern erarbeitet. Es gelang damals,
das Freilichtspiel wieder fruchtbar zu machen.
Schön wäre es, wenn die Pläne, die «Unterländer
Festspiele» zu gründen, umgesetzt würden (ähn-
lich wie die Lancierung der Werdenberger Spiele).
Jürgen Schremser, der zwischen Vaduz und
Wien pendelnde Philosoph und Historiker, geht in
seinen Exkursen zum Volkstheater in Liechtenstein
der Frage nach: «Was wird hier gespielt?» Er kon-
zentriert sich dabei auf die Anfänge des Theater-
spielens in Liechtenstein (es begann 1862, als sich
in Triesen eine Gruppe von Arbeitern und Hand-
werkern zu einer Theatergesellschaft formierte)
und auf das Jungmannschaftstheater in Schellen-
berg, aus dem sich - etwas verkürzt gesagt -
schliesslich das erste Liechtensteiner Kabarett, das
Kabarett Kaktus, und schliesslich 1970 das Theater
am Kirchplatz entwickelte.
Schremsers Text ist präzise und der wohl dichte-
ste im ganzen Band. Zum ersten Mal wird ein be-
deutendes Kapitel der Kulturgeschichte Liechten-
steins aufgearbeitet. Besonders eindrücklich - ei-
gentlich ein Lehrstück - ist hier die Geschichte
des Schellenberger Jungmannschaftstheaters. Zwi-
schen 1948 und 1968 entstand aus dem geistlichen
Dorftheater, in dem unter der Leitung der Dorfleh-
rer die «moralisch-erzieherische Qualität der Stü-
cke» betont wurde, ein Experimentierfeld, auf dem
schliesslich zu professionellem Theatermachen an-
gestiftet wurde. Das «gemeinschaftsbildende» Ver-
einstheater der Jungmannschaft wuchs über sich
hinaus und wurde «kulturbildend». Fast etwas
wehmütig könnte man werden, wenn man aus
Schremsers Schilderungen heraus spürt, mit wel-
chem Selbstbewusstsein damals Kultur selber ge-
schaffen wurde, während die Erben der Nach-
kriegsgeneration sich ihre Kultur vorzugsweise an-
derweitig zu kaufen. Darin widerspiegelt sich nicht
zuletzt etwas Wesentliches des Volkstheaters: We-
niger entscheidend ist, was man sich leisten kann
oder wie professionell und international renom-
miert das Erstandene ist. Wirklich Freude (und
meines Erachtens auch Kultur) macht, was man
selber zustande bringt.
223
Beiträge zur liechtensteinischen
Identität
JÜRGEN SCHREMSER
Norbert Jansen (HrsgJ:
Beiträge zur liechtensteini-
schen Identität. 50 Jahre
Liechtensteinische Akade-
mische Gesellschaft.
Verlag der Liechtensteini-
schen Akademischen
Gesellschaft, Vaduz, 2001.
(Liechtenstein. Politische
Schriften Band 34.)
171 Seiten, CHF 65.-.
ISBN 3-7211-1051-X
LIECHTENSTEIN
POLITISCHE SCHRIFTEN
Beiträge zur
liechtensteinischen Identität
F R A G W Ü R D I G E « L I E C H T E N S T E I N I S C H E
I D E N T I T Ä T »
Die Gründer der Liechtensteinischen Akademi-
schen Gesellschaft (LAG) - so lesen wir im Vorwort
des vorliegenden Bandes der Politischen Schriften
- hatten sich im Liechtenstein des Jahres 1951
«das Studium kultureller, staatspolitischer, sozialer,
philosophischer und religiöser Fragen», aber auch
die «Pflege des liechtensteinischen Volkstums» zum
Ziel gesetzt. Damals ein vielleicht enthusiastisches
Vorhaben, wäre die thematische Aufreihung der
genannten Fragen heute höchst erklärungsbedürf-
tig, jedenfalls aber der Pflegling «Volkstum». Die
Gründer der LAG waren sich des positiven Be-
stands einer «liechtensteinischen Identität» eben
noch sicherer als es die Mehrzahl der Autoren und
Autorinnen in dem zur Rede stehenden Jubiläums-
band sind. Dieser ist anlässlich des 50-jährigen Be-
stehens der Vereinigung in deren Eigenverlag er-
schienen. Die zwei Jubiläumsdaten der LAG - 1951
und 2001 - bezeichnen einen Zeitraum, in dem
sich nicht nur die materielle und ökonomische
Lage des Landes Liechtenstein expansiv verändert
hat. Verändert hat sich - und dies rückt in den
letzten Jahren konfliktträchtig ins allgemeine Be-
wusstsein - auch die Möglichkeit, für den «fett» ge-
wordenen Kleinstaat am Alpenrhein noch eine
symbolische, mentale und politische (Ver-)Fassung
zu finden, in der so etwas wie eine Zusammen-
gehörigkeit, ein Verbindendes der Landesbewoh-
nerschaft plausibel würde.
V E R L O R E N E S E L B S T V E R S T Ä N D L I C H K E I T
Vieles im Band ist ein Abschiednehmen von jenen
Identifikationsträgern, welche für die Kriegs- und
Nachkriegsgenerationen der Liechtensteinerinnen
ein hinlängliches Wir-Bewusstsein umschreiben
mochten: das Ineinander von Staatskatholizismus,
Fürstenhaus, Dialekt(en) und ländlich-katholi-
schem Brauchtum. Ironischerweise setzt ein Titel
wie «Beiträge zur liechtensteinischen Identität»
noch immer ein Etwas als gegeben voraus, welches
224
REZENSIONEN / BEITRÄGE ZUR LIECHTEN-
STEINISCHEN IDENTITÄT
in 50 Jahren seine Selbstverständlichkeit und pa-
triotische Unschuld verloren hat.
Es ist allerdings erfreulich, wie grundsätzlich
und kontrovers die in dieser Publikation versam-
melten Autorinnen die «unbekümmerte Vorausset-
zung» (Rainer Nägele, S. 79) im Buchtitel in einen
veritablen Diskussionsgegenstand verwandeln. Die
liechtensteinische Lebenswirklichkeit ist wohl sel-
ten in derart vielseitiger, kompakter und pointierter
Form, ohne akademischen Ballast, doch mit Sach-
verstand und Beobachtungsgabe, auf zahlreiche
identitätsneuralgische Punkte abgeklopft worden.
Auffällig ist, dass nationale «Identitätsreflexe», die
gewissenhafte Bestätigung oder verbissene Ableh-
nung dessen, was als tradierte Gemeinschaftssym-
bolik (oder -geschichte) Anerkennung fordert, bei
nachdenklichen Liechtensteinerinnen nicht (mehr)
abrufbar sind. Es hat sich dort herumgesprochen,
dass das, was eine Generation zuvor noch als «We-
sen» des Staatlichen, Wirtschaftlichen etc. voraus-
setzen konnte, mittlerweile als gesellschaftliches
Konstrukt, als gemeinschaftsstiftende Erzählung
(«Mythos») zur Disposition steht. Indem wir sie zu
Teilen eines «Konstruktes» erklären, lösen sich
aber weder Staatlichkeit noch Fürstentum noch
Herkunftsgeschichte von selber auf: sie werden
mehr denn je Gegenstand theoretischer Deutungen
und praktisch-politischer Auseinandersetzungen.
«Das Wissen um das eigene Herkommen», so der
Flistoriker Klaus Biedermann, «verleiht Identität
und Selbstvertrauen» (S. 30). Allein, welches Her-
kommen wollen wir uns denn bewusst und zu ei-
gen machen? Der praktische Zugewinn eines kon-
struktiv-«postmetaphysischen» (Habermas) Be-
wusstseins vom Nationalen sind Einsichten in die
Zufälligkeit des Geburtsortes und die Verhandel-
barkeit jener Beziehungen, in denen man sich als
Teil eines nicht nur tradierten, sondern selbst an-
geeigneten «wir» verstehen möchte.
Sogar der derzeitige Regierungschef Otmar Has-
ler schreibt in seinem Beitrag vom «Artifiziellen»
des territorialen Nationalstaates und vom Vorgang
seiner Neudefinition in einer von Globalisierung
geprägten Welt (S. 42). Haslers Überlegungen ver-
bleiben allerdings im Rahmen eines neoliberal auf-
gepeppten, diplomatisch unverbindlichen Optimis-
mus, für den die Frage nach einer liechtensteini-
schen Identität sich ernsthaft gar nicht zu stellen
braucht. Sie bleibt gewissermassen immer schon
durch die Identität «Liechtensteins», eines nach
wie vor garantierten Völkerrechtssubjekts, einge-
klammert. Doch das, was hier der eine Beitrag aus-
blendet, wird durch andere zur Diskussion gestellt.
Die aussenpolitisch notwendige Repräsentations-
fiktion einer funktionierenden Aktionseinheit der
Liechtensteinerinnen wird bereits im politischen
Innenverhältnis brüchig und vieldeutig (Stichwort
«Verfassungsstreit»). Mehrere Beiträge machen die
historischen und gegenwärtigen Bedingungen der
Herstellung eines liechtensteinischen Gemeinwe-
sens deutlich. Zur Debatte stehen dabei sowohl die
Etappen eines nationalen «Landesbewusstseins»
als auch Inhalte wie Infrastruktur der gesellschaft-
lichen Kommunikation.
« U N F Ä H I G K E I T Z U J E D E R S E L R S T K R I T I K » 1
Der Journalist Joachim Batliner und der Autor Ste-
fan Sprenger thematisieren explizit jene Medien
und Erzählweisen, welche für die Selbstbeschrei-
bung eines Kollektivs relevant wären und so erst
die Voraussetzung für eine verallgemeinerbare
Wahrnehmung des geteilten Lebensraums schaf-
fen. Wenn es denn hier ein liechtensteinisches Cha-
rakteristikum gäbe, so wäre es vor allem ein Man-
gel: Die liechtensteinische Unfähigkeit zur (journa-
listisch) professionellen, (demokratisch) freien und
(historisch) aufarbeitungsbereiten Auseinanderset-
zung mit zentralen Fragen des Zusammenlebens.
Stefan Sprenger macht dies am «kollektiven Nicht-
Wissen-WoIIen» (S. 156) über den Finanzplatz ex-
emplarisch deutlich. Dieser wurde erst dank aus-
ländischer Berichterstattung und massiven aussen-
politischen Drucks unter der liechtensteinischen
«Kommunikations-Glocke» diskussionsfähig. Alicia
1) Zitat aus dem Beitrag von Rainer Nägele, abgedruckt auf
S. 78-88, hier S. 85.
225
Längle markiert Bruchstellen in der Entwicklung
eines sozialintegrativen liechtensteinischen Natio-
nalbewusstseins. Bemerkenswert ist die Umkehrung
der populären Identifikationsrichtung zwischen
den 1840er und 1940er Jahren. Im Revolutionsjahr
1848 scheint das wachsende Selbstbewusstsein ei-
ner gegen die fürstliche Obrigkeit opponierenden
Bauernschaft die Losungsworte für ein «liechten-
steinisches» Gemeinschaftsverständnis gegeben zu
haben; hundert Jahre später wurde gerade die
Identifikation mit jener Obrigkeit, dem behütenden
«Landesvater» der Weltkriegsjahre, zur emotiona-
len Basis eines laut Längle bis heute wirkenden
«Mythos der Unverletzbarkeit» (S. 60). Zu diskutie-
ren wäre diesbezüglich die These von Karin Frick,
dass von aussen zugeschriebene «Eigenarten» wie
etwa «Fürst» und «Bischof» vor allem vom Reiz ih-
rer «Retro-Exotik» lebten und als «Quelle der kul-
turellen Identität» längst «erschöpft» seien (S. 38 f.).
Erschöpft für wen? Das Eigenartige an Figuren wie
Bischof und Fürst scheint vielmehr, dass ihre «Re-
tro-Exotik» von den betreffenden Rollen-Inhabern
- trotz «Vielfalt und Flexibilität» (Frick) der Gesell-
schaft - mit Nachdruck und erheblicher Besetzung
der Gemüter in Liechtenstein in Anspruch genom-
men wird.
«ICH» UND «WIR» - IDENTITÄT IM SPRECHEN
Im staatstragenden liechtensteinischen «wir» wa-
ren bis 1984 Frauen nicht mitgemeint. Dieser Aus-
schliessung geht Isolde Marxer in ihrem Film «Die
andere Hälfte» und dem dazu im Band abgedruck-
ten Interview mit der Rechtsanwältin Dr. Ursula
Wächter nach. Die Ein- und Ausschlüsse eines als
liechtensteinisch ausgegebenen «wir» sind für Rai-
ner Nägele Grund genug, Identitätsbehauptungen,
so sie auf Gemeinschaft aus sind, überhaupt kri-
tisch zu distanzieren. Anlass dazu gibt dem Litera-
turwissenschaftler Nägele ausgerechnet seine
schriftliche Einladung zur Mitarbeit am vorliegen-
den Band durch den Flerausgeber. In Handschrift
hätte dieser ihn, Nägele, persönlich angeredet, um
ihn dann in Druckschrift unverwandt in das «wir»
der um die liechtensteinische Identität Besorgten
einzureihen - Jansen an Nägele: «Wissen wir noch
wer und was wir sind oder haben uns Wohlstand
von innen und Anfeindungen von aussen in eine
Identitätskrise gestürzt?» (S. 79). Die selbstver-
ständliche Ersetzung eines ansprechbaren Indivi-
duums durch ein unmajestätisch-kommunes «wir»
oder ein Quasisubjekt «Liechtenstein» findet sich
auch in den Beiträgen der Politiker-Autoren Otmar
Hasler und Josef Biedermann (S. 15 f.). Wo denn
sonst, wenn nicht in einem derartigen Sprachge-
brauch, könnten «wir» identisch bleiben?
Einem sprachkritischen Ansatz bleiben manche
der hellsichtigsten und gespürigsten Beiträge des
Bandes verpflichtet. In ihnen werden Identitätsfra-
gen über die Reflexion von lebensgeschichtlichen
Prägungen, südalemannischen Alltagsgewohnhei-
ten und -sprachspielen «von unten» aufgerollt. Sie
lösen eine rhetorisch aufgeblasene Identität auf
und machen sie als kommunikatives Ritual oder
Zuordnungswunsch der Gruppe fassbar. Diese
Wahrnehmungsverschiebung ist beachtlich: wäh-
rend der Regierungschef in seinem Beitrag stereo-
typ wiederholt, dass der Kleinstaat seine «Stärke
aus seiner Übersichtlichkeit und Erlebbarkeit»
(S. 49) beziehe, weist Pio Schurti darauf hin, dass
die Rede von «kurzen Amtswegen» vor allem etwas
ist, dass «wir» uns gerne erzählen (S. 144), ein
Landes-«Mythos» neben anderen. Die Suche nach
der liechtensteinischen Identität hat sich in Schur-
tis (und der des Rezensenten) Generation verkehrt
in die Frage was denn noch am Eigenen «liechten-
steinisch» zu nennen wäre. Die Ökonomin Karin
Frick bringt es relativ unsentimental auf den Punkt,
wenn sie konstatiert, dass die Bindungskraft kol-
lektiver Herkunftsidentitäten eben zugunsten indi-
vidueller Identifikationsangebote schwindet: «Das
Besondere, das uns von anderen unterscheidet,
wird wichtiger als das Gemeinsame, das uns durch
die Flerkunft vereint» (S. 37).
226
REZENSIONEN / BEITRÄGE ZUR LIECHTEN-
STEINISCHEN IDENTITÄT
W I E D E R A N N Ä H E R U N G E N
Sprechen in anderen Sprachen als den lokalen Dia-
lekten wird auch von Mathias Ospelt (S. 107 f.) als
Emanzipationsgeschichte erzählt und als Möglich-
keit, sich dem Angestammten von einem eigenen
(nichtidentischen) Standpunkt zu nähern. Neben
einer sprachlichen Annäherung scheinen mir noch
zwei andere Wiederannäherungen an die Herkunft
im vorliegenden Band beachtenswert. Zum einen
Hansjörg Quaderers Entwurf einer von der Natur,
nämlich von der Quelle des Rheinstroms her, zu
schreibenden Formgebung und «Identität des Tals»
(S. 119). Zum anderen die «Zuggedanken» zu Bau-
und Lebensweisen im städtischen Paris und ländli-
chen Liechtenstein der Innenarchitektin Sabine
Kranz. Der Künstler Quaderer plädiert für eine Auf-
merksamkeitsverschiebung, welche vom «zwang-
haft» Nationalen befreit. Der Artikulation (Strömun-
gen und Kiesel) des Flusses soll, als einer unverfüg-
bar prähistorischen Lebensspur des Rheintales,
Raum gegeben und dieser physisch, durch einen
«Contrat fluvial» (!) der rheinangrenzenden Staa-
ten, gesichert werden.
Sabine Kranz umkreist anreisend, sachkundig
und beobachtend jene Orte, an denen sich liechten-
steinische Gewohnheiten ablagern und Mentalitä-
ten entlarven: Eigenheim und -garten. Kranz be-
schreibt deren sauberes Erscheinungsbild, die be-
vorzugte Massivbauweise und die holzfreudige Ver-
wertung einer solcherart «intakten, wenn auch
gebändigten Natur» (S. 55). Die soliden Aussen-
und Innenräume in Liechtenstein werden nicht nur
den rissigen Wänden in Paris gegenübergestellt,
dem französischen Vorzug des Filigranen und
Kostbaren vor dem Soliden und Schlichten. Nein,
das liechtensteinische Eigenheim hält auch die ei-
genen Lebensmöglichkeiten in einer Beschrän-
kung, welche seelen- und landschaftsprägend eine
Art «liechtensteinische Identität» stiftet: «Vielleicht
verbaut man sich einfach die Möglichkeit zu Ände-
rungen und Ausschweifungen, wonach die schon
fast barocke Landschaft verlangen würde» (S. 57).
227
La musica e finita?
DER BILDBAND «LICHT UND SCHATTEN» STELLT
LAND UND LEUTE IN LIECHTENSTEIN VOR
GEROLF HAUSER
Liechtenstein - Licht und
Schatten. Fotografien
Nikolaus Walter. Texte
Gernot Kiermayr.
GMG Verlag, Schaan, und
Werd Verlag, Zürich, 2001.
204 Seiten, CHF 98.-.
ISBN 3.906264-23-8
ISBN 3-85932-373-3
Nein, «Licht und Schatten» ist keine vordergründig-
platte Übersetzung des Namens Liechtenstein; so
einfach haben es sich der Fotograf Nikolaus Walter
und der Texter Gernot Kiermayr bei diesem unge-
wöhnlich ansprechenden Bildband über das Für-
stentum Liechtenstein, im GMG Verlag in Schaan so-
wie im Werd Verlag in Zürich erschienen, nicht ge-
macht. Und doch zeigen die Schwarz/Weiss-Bilder
und aufschlussreichen Texte auf 200 Seiten in bis-
her nicht vorgestellter Tief- und Hintergründigkeit
die Schönheiten des Landes - und seine Wider-
sprüche und Unerklärlichkeiten.
Geschönte Hochglanz-Selbstdarstellungen, die
sich an die immer weniger auftauchenden Touri-
sten wenden, und deren Informationswert sich
konsequenterweise auf immer niedrigerem Niveau
bewegt, gibt es in Liechtenstein mehr als genug,
auf Papier, im Video und neuerdings auch im Inter-
net - man ist ja zeitgemäss. Verlagsleiter Arthur
Gassner schreibt im Vorwort zu «Licht und Schat-
ten»: «Es wurde immer wieder versucht, Dinge
prachtvoller, grösser oder farbenprächtiger, als sie
sich im wirklichen Leben darstellen, zu zeigen.
Dies sollte im vorliegenden Bildband vermieden
werden.» Es wurde vermieden und zugleich ge-
zeigt, dass Schwarz/Weiss-Fotografien ungleich
farbigere und liebevollere Möglichkeiten bieten,
Stärken und Schwächen Liechtensteins darzustel-
len. Kann man bei einem Bildband von «kritisch»
und zugleich «objektiv» sprechen? Sind das nicht
Widersprüche? Der Bildband «Licht und Schatten»
vereint diesen Widerspruch. Damit sind dem Ver-
lag, dem Fotografen, dem Texter und der Grafike-
rin Silvia Ruppen sozusagen die Quadratur des
Kreises gelungen.
Manch eine/r beginnt ein Buch von hinten auf-
zublättern; eine andere Möglichkeit ist, die ersten
Seiten zu betrachten, um dann nach dem Ab-
schluss zu suchen. «Licht und Schatten» beginnt
auf fünf doppelseitigen Bildern sozusagen mit
Kernaussagen: Liechtenstein, das Bergland am
Rand der Rheinebene, voller Sonne und Nebel;
Liechtenstein, das Märchen-Fürsten-Land, dessen
Schloss millionenfach von Touristen fotografiert ist;
Liechtenstein mit seiner geliebten Berg-Silhouette,
228
REZENSIONEN
LA MUSICA E FINITA?
der Fotograf Walter die nicht immer geliebten
Höhen und Tiefen einer Aktienbewegungs-Silhou-
ette gegenüberstellt und Liechtenstein, innerhalb
weniger Jahrzehnte hinauf- (oder weg-) katapul-
tiert zu einem der reichsten Länder Europas, dar-
gestellt mit der Idylle einer anscheinend intakten
Natur, in der Abmessungspfosten die sich immer
schneller präsentierende Vergänglichkeit des Ur-
sprünglichen zeigen. Menschen gibt es bei diesen
ersten fünf Bildern kaum zu sehen, abgesehen von
anonymen Touristen und den (fast) anonymen
«Geldmachern». Und wie endet das Buch? Mit Ein-
heimischen, besser: mit Menschen. «La musica e fi-
nita», das Fest ist vorbei, die Tuba geschultert
geht's wohin ... quo vadis Liechtenstein? Vor die-
sem letzten Bild eine Sechser-Serie kleiner Bilder:
Der Vater stülpt dem Sohnemann seinen Hut über,
zieht ihn an der Hand weg. Wohin? Vorwärts? Nur
Dieser fünfteilige Bilderzyk-
lus am Buchanfang offen-
bart kontrastreiche Kern-
aussagen zum Land Liech-
tenstein an der Schwelle
zum 21. Jahrhundert.
Wm
229
das Söhnchen blickt zurück. Wird es ihm gelingen,
Althergebrachtes, dort, wo es Sinn macht, mit Neu-
em zu verbinden? Wird er ein Gleichgewicht schaf-
fen können zwischen dem, was auf den davor lie-
genden Seiten gezeigt wird: dem Funkensonntag
und dem Weihnachtsbaum und der unglaublichen
Metallpalme im Garten oder der Gartenzwerg-In-
vasion?
Das ist Kunst, Fragezeichen zu setzen, ohne
platte, allgemeingültige Antworten zu geben. «Licht
und Schatten» ist ein Buch voll herrlicher Fragezei-
chen, ein Tanz der Fragezeichen. Wie sieht da wohl
die Mitte aus? Ist es an den Haaren herbei gezogen,
als Symbol zu sehen, dass genau dort, dass die Mit-
te besetzt ist mit Fronleichnamsprozession, Aller-
heiligen und Erstkommunion? Eingeleitet durch
das Kehren vor der eigenen Haustüre mit dem
Handbesen und - das ist grandios gemacht - zwei
Bildern, die ein Parkerlaubnisschild zeigen mit
dem Zusatz «Nur Friedhof. Dauerparken verboten»
und dem Stoppschild vor einem Kruzifix! Doch es
wäre nicht «Licht und Schatten», stünden da nicht
neben der offiziellen Festlichkeit weitere Fotos: die
abgelegten Musikinstrumente (schon wieder «La
musica e finita?») und die Eltern, die, bewaffnet
mit Fotoapparaten, das Erstkommunionsgesche-
hen ablichten - darf man dieses Wort auch im
übertragenen Sinn lesen?
Und zwischen Anfang und Mitte, zwischen Mitte
und Ende? Zur liebevollen Betrachtung, und davon
ist das Buch übervoll, gehört auch Kritik, Selbstkri-
tik. Das aber ist in Liechtenstein eher selten. «Da-
bei», so schreibt Arthur Gassner, «spielt die Tatsa-
che, dass der Fotograf nicht in Liechtenstein aufge-
wachsen ist, sicher eine wichtige Rolle. Er sah viele
Dinge, die wir Einheimischen entweder wirklich
nicht mehr sehen oder nicht sehen wollen». Keines
der gezeigten Fotos wurde speziell arrangiert, es
wurden keine besonderen Audienzen oder Fototer-
mine vereinbart. Damit zeigt Nikolaus Walter das
liebevolle und widersprüchliche Liechtenstein so,
wie es für jeden, der sich etwas Zeit nimmt, zu-
gänglich und nachvollziehbar ist - wenn wir die
Augen aufmachen.
Sei es das Bild mit der fast gelangweilt ausse-
henden Teilnahme der Offiziellen des Landes, in-
klusive Fürstenpaar, beim Gottesdienst auf der
Schlosswiese, an das sich fünf Bilder anschliessen,
die zeigen, wie die Feuerschrift «Für Gott, Fürst
und Vaterland» beim Staatsfeiertag ins Nichts ver-
glüht; das Reinigen des Zugangsweges zum Regie-
rungsgebäude mit einem Staubsauger (an Lehars
«Land des Lächelns» erinnernd, wo es heisst:
«Doch wies da drin aussieht, geht niemand was
an»); das grosse Hinweisschild inmitten einer Bau-
stelle, hinweisend auf die Ausstellung «Götter wan-
delten einst» (im nach jahrzehntelangem und pein-
lichem Kleinbürgergezänk endlich gebauten Kunst-
museum), dem gegenübergestellt die Grenze zu
Österreich, auf der die Götter von heute wandeln,
mit «Hindernissen» aus Verkehrs- und Hinweis-
schildern; wir sehen die Einsamkeit auf leeren
230
REZENSIONEN
LA MUSICA E FINITA?
Strassen zwischen Prachtbauten in Vaduz nach Ge-
schäftsschluss ebenso wie die Einsamkeit des
«Small-Talk» bei Vernissagen; dem gegenüber las-
sen Bilder das reale dörfliche Leben lebendig wer-
den: der Unterländer Viehmarkt, Menschen, die im
Garten arbeiten, ihre Teppiche klopfen, Äpfel ern-
ten oder Hühner füttern. «Licht und Schatten» ist
eine Fundgrube, jedes Durchblättern lässt Neues
entdecken. Al l dies beschreiben, nicht polemisie-
rend, sondern sehr klar und informativ mit vielen
Geschichtshinweisen, die Texte von Gernot Kier-
mayr. Ein Dank geht an den Verlag, nur äusserst
knappe Bildunterschriften zugefügt zu haben, die
sich auf Ortsangaben beschränken; dadurch wird
die bewundernswert starke und aussagekräftige
Bildsprache von Nikolaus Walter zwar informativ
unterstützt, aber in keiner Weise gestört.
Lassen wir zum Schluss noch einmal Verlagslei-
ter Arthur Gassner zu Wort kommen: «Wenn ein
Land sich in so kurzer Zeit von einem der ärmsten
Länder Europas zu einem der reichsten Länder der
Welt wandelt, können damit vielleicht Statistiken
problemlos mithalten, der Mensch jedoch braucht
dazu einfach seine Zeit. Diese Zeit wurde den Men-
schen in Liechtenstein nicht gegeben, oder sie woll-
ten sich diese ganz einfach nicht nehmen. Die da-
mit verbundenen Gegensätze zeigen eben jene
Licht- und Schattenseiten, die im vorliegenden
Bildband auf eindrückliche Weise in mehr als zwei-
jähriger Arbeit von Nikolaus Walter festgehalten
wurden».
231
BILDNACHWEIS
S. 196: Das Dekanat Liech-
tenstein. Eine Chronik des
kirchlichen Lebens 1970
bis 1997. Vaduz, 2000,
S. 67. Foto: Henning Karl
Freiherr von Vogelsang,
Gamprin
S. 200, 202 und 203:
Angola. Mission, Salettiner
und liechtensteinische
Entwicklungsarbeit im
südlichen Afrika. Vaduz,
2001, S. 115, 127, 155,
172, 242 und 255
S. 207: Gustav Farner,
Sevelen
S. 208: Fotoarchiv Ruedi
Rohrer, Buchs
S. 209 oben: Werdenber-
ger & Obertoggenburger
<W&0>, Buchs, 18. März
1936
S. 209 unten: Privatarchiv
Hans Kramer-Schöb,
Gams
S. 210: Werdenberger &
Obertoggenburger <W8iO>,
Buchs, 11. Mai 1938
S. 211: Privatarchiv Wer-
ner Hagmann, Sevelen
S. 212: Werner Hagmann,
Kriegs- und Krisenjahre
im Werdenberg. Buchs,
Zürich, 2001, S. 252.
S. 218 und 219: ECPA,
Fort d'Ivry, F-94205 Ivry
S. 222: Liechtensteinisches
Landesarchiv, Vaduz
S. 229, 230 und 231:
Liechtenstein - Licht und
Schatten. Fotografien
Nikolaus Walter. Texte
Gernot Kiermayr.
Schaan, Zürich, 2001,
S. 12-21, 102 f. und 199
ANSCHRIFT DER AUTO-
REN UND DER AUTORIN
Dr. phil. Rupert Quaderer
Fürst-Johannes-Strasse 26
FL-9494 Schaan
lic. phil. Fabian Frommelt
Unterfeld 36
FL-9495 Triesen
Beatrice Sutter Sablonier
Rothusweg 14
CH-6300 Zug
lic. phil. Klaus Biedermann
St. Josefsgasse 3
FL-9490 Vaduz
PD Dr. Peter Geiger
Im obera Gamander 18
FL-9494 Schaan
Pio Schurti, M.A.
Feldstrasse 100
FL-9495 Triesen
Mag. Jürgen Schremser
Bangarten 13
FL-9490 Vaduz
Gerolf Hauser
Tröxlegass 17
FL-9494 Schaan
232
JAHRESBERICHT
DES HISTORISCHEN
VEREINS FÜR DAS
FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Inhalt
235 Tä t igke i t sbe r ich t des Vereins pro 2001
243 Jahresrechnung des Vereins pro 2001
249 Liechtensteiner Namenbuch, Tät igkei ts -
bericht 2001
251 Liechtensteinisches Urkundenbuch,
Tä t igke i t sber ich t 2001
253 Projekt « K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s
Liech tens te in» , Tä t igke i t sbe r i ch t 2001
256 Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des
F ü r s t e n t u m s Liechtenstein, Tät igkei ts -
bericht 2001
234
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Tätigkeitsbericht des Vereins
pro 2001
J U B I L Ä U M S V E R S A M M L U N G
« 1 0 0 J A H R E HISTORISCHER V E R E I N »
Im Vaduzer Rathaussaal versammelten sich am
17. Februar 2001 zahlreiche Mitglieder sowie Freun-
dinnen und Freunde des Historischen Vereins zur
J u b i l ä u m s v e r s a m m l u n g « 1 0 0 Jahre Historischer
Verein». Nach einem Aper i t i f e r ö f f n e t e der Vereins-
vorsitzende Rupert Quaderer u m 17 Uhr die sehr
gut besuchte Festversammlung. In seiner kurzen
B e g r ü s s u n g s a n s p r a c h e hob Rupert Quaderer die
wichtigsten Leistungen und Verdienste des nun-
mehr 100 - j äh r igen Vereins hervor, dankte dabei
aber auch dem Land Liechtenstein, den liechten-
steinischen Gemeinden sowie den zahlreichen
G ö n n e r i n n e n und G ö n n e r n f ü r ihre stetige Unter-
s tü tzung , die sie dem Verein i m Laufe seines bishe-
rigen Wirkens g e w ä h r t haben. Regierungschef M a -
rio Fr ick ü b e r b r a c h t e anschliessend ein Grusswort
der Regierung und unterstrich damit die Bedeu-
tung des Vereins fü r das Land Liechtenstein und
fü r dessen kulturelles Leben. Mathias Ospelt nahm
daraufhin in einer humorist ischen Ansprache Be-
zug auf die G r ü n d u n g s z e i t des Historischen Vereins
sowie auf die anfangs beschlossenen Zielsetzungen
der neu ins Leben gerufenen Vereinigung. Anschlies-
send folgte der Festvortrag von Professor Hans-
J ö r g Rheinberger, der die Verdienste des Histor i -
schen Vereins f ü r die geschichtliche Erforschung
Liechtensteins nochmals a u s d r ü c k l i c h hervorhob
und w ü r d i g t e . E r stellte dabei auch fest, dass der
Historische Verein auch i n Zukunft eine bedeuten-
de Vorreiterfunktion fü r die Kulturgeschichte Liech-
tensteins einnehmen k ö n n e . Die Ansprachen wie
auch die gesamte Festversammlung fanden ein gu-
tes Echo bei den Besucherinnen und Besuchern,
aber auch in der einheimischen Presse. Sämt l i che
Referate sind i m Jahrbuch des Historischen Ver-
eins Band 100 auf den Seiten 1 bis 26 i m Wortlaut
abgedruckt.
J A H R E S V E R S A M M L U N G 2001
Die 100. ordentliche Jahresversammlung fand am
9. Jun i 2001 in der A u l a der Primarschule in M a u -
ren statt. Der Vereinsvorsitzende e rö f fne t e die Jah-
resversammlung i n Anwesenhei t von rund 80 Ver-
einsmitgliedern. E r b e g r ü s s t e insbesondere die
Vertreter der Regierung, H e r r n Regierungsrat Dr.
Alois Ospelt und Flerrn Regierungsrat H a n s j ö r g
Fr ick, verschiedene Ehrenmitgl ieder sowie Gäs te
aus der ö s t e r r e i c h i s c h e n und schweizerischen
Nachbarschaft .
Nach der B e g r ü s s u n g durch den Vereinsvorsit-
zenden verlas Vorstandsmitglied Veronika Marxer
in Vertretung des entschuldigten S c h r i f t f ü h r e r s
Helmut Konrad das Protokoll der 99. Jahresver-
sammlung vom 25. M ä r z 2000 in Triesen. Das Pro-
tokoll wurde sodann einst immig genehmigt. Der
Jahresbericht des Vereinsvorstandes sowie die Be-
richte der verschiedenen vom Verein getragenen
Projekte waren den Mitgl iedern bereits vor der Ver-
sammlung schrif t l ich zugestellt worden. Der Ver-
einsvorsitzende Rupert Quaderer blickte deshalb
nur kurz auf ein paar Schwerpunkte i m Berichts-
jahr 2000 zurück . E r nutzte aber die Gelegenheit,
u m einen Ausbl ick auf Bevorstehendes zu geben:
- Verschiedene Projekte, die aus Anlass des 100-
J a h r - J u b i l ä u m s initiiert worden waren, wurden
weiter verfolgt. So s ind die Produktionsarbeiten an
der C D - R O M , welche sämt l i che bisher erschiene-
nen J a h r b ü c h e r beinhalten soll, in vollem Gang. A n
der Erneuerung und Professionalisierung der Ho-
mepage w i r d ebenfalls gearbeitet. Nach Möglich-
keit sollen diese Projekte noch i m J u b i l ä u m s j a h r
2001 abgeschlossen werden.
- Der Vereinsvorstand traf sich zu drei Klausurta-
gungen, 1 an denen eine Standortbestimmung vor-
genommen wurde. Dabei wurde der Wunsch
g e ä u s s e r t , dass sich der Historische Verein i m Be-
reich Denkmalschutz v e r s t ä r k t engagieren sollte.
Die Vorstandsmitglieder waren sich dabei einig,
dass der Verein in diesen Fragen sensibilisierend
1) 11. November 2000, 9. Dezember 2000 und am 7. Apr i l 2001.
235
Zur 100. Jahresversamm-
lung in Mauren konnte der
Vereinsvorsitzende Rupert
Quaderer zahlreiche Mit-
glieder sowie Gäste aus
dem In- und Ausland be-
grüssen.
wi rken sollte und auch vermehrt und entschiede-
ner Stellung zu beziehen habe. Bezügl ich der Über -
nahme von T r ä g e r s c h a f t e n k a m der Vorstand zur
Auffassung, dass aufgrund mangelnder personeller
K a p a z i t ä t e n vor läuf ig keine neuen Projekte ü b e r -
nommen werden k ö n n e n . Dem Vereinsvorstand ist
es zudem ein Anl iegen, auf die V e r j ü n g u n g der Mit-
gliedschaft sowie auf die E r h ö h u n g des Frauenan-
teils h inzuwirken . Weitere Themen dieser Klausur-
tagungen betrafen unter anderem F o r m und Inhalt
des Jahrbuches.
Anschl iessend sprach der Vorsitzende den Vor-
standsmitgliedern und dem G e s c h ä f t s f ü h r e r seinen
Dank aus f ü r die geleistete Arbei t . E r bedankte sich
auch bei seiner F rau sowie den Vereinsmitgliedern
f ü r das Interesse und f ü r die U n t e r s t ü t z u n g der
vom Historischen Verein verfolgten Akt ivi tä ten . E i n
weiterer Dank ging an die Sponsoren und Donato-
ren, deren Grosszügigke i t als Ausdruck der Wert-
s c h ä t z u n g des Historischen Vereins und von dessen
Tät igke i ten empfunden w i r d .
Nach diesen A u s f ü h r u n g e n stellte der Vorsi tzen-
de den Jahresbericht zur Diskussion. Diese Mög-
lichkeit zur Diskussion wurde jedoch nicht genutzt,
und der Jahresbericht konnte in dieser F o r m ein-
s t immig verabschiedet werden.
Die Jahresrechnung 2000 wurde den Vereins-
mitgliedern ebenfalls bereits vor der Jahresver-
sammlung zugestellt. G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus Bie-
dermann verlas deshalb nur die wichtigsten Po-
sten. Das V e r e i n s v e r m ö g e n belief sich per Ende
236
2000 auf 314 314.62 Franken. Es wurden E innah-
men in Höhe von 304 694.94 Franken verbucht.
Ausgaben wurden in H ö h e von 329 372.74 Fran-
ken getät igt . Nach Verlesen des Berichts der K o n -
trollstelle wurde die Jahresrechnung 2000 einstim-
mig genehmigt. Ebenfalls gutgeheissen wurden die
Rechnungen der Fonds « F o r s c h u n g und Publikatio-
n e n » sowie «Nach Amer ika !» , die per 31. Dezem-
ber 2000 einen V e r m ö g e n s s t a n d von 130 333.90
Franken respektive 10 379.70 Franken aufwiesen.
Da die Gelegenheit zur freien Aussprache von Sei-
ten der Versammlung nicht ergriffen wurde, bat
der Vereinsvorsitzende den Verantwort l ichen der
Fachstelle Archäo log ie , H a n s j ö r g Frommelt , u m
Berichterstattung ü b e r deren Tät igkei t . H a n s j ö r g
Frommelt f ü h r t e aus, dass man g e g e n w ä r t i g dabei
sei, die aus dem alamannischen Gräbe r f e ld i n
Eschen zutage g e f ö r d e r t e n Metallfunde zu inventa-
risieren. Im Bereich der Feldforschung gebe es zur
Zeit keine aktuelle Grabung, geplant seien jedoch
Grabungen i m A r e a l «Höfle» in Balzers. Im Bereich
des Denkmalschutzes bedauerte H a n s j ö r g F r o m -
melt, dass der Gutshof « G a m a n d e r » in Schaan der
Spekulation ausgeliefert se i . 2 H a n s j ö r g Frommel t
regte ein Rekursrecht des Historischen Vereins bei
R e g i e r u n g s b e s c h l ü s s e n i m Bereich Denkmalschutz
an - analog dem Einspracherecht der Natur- und
U m w e l t v e r b ä n d e .
Der statutarische Teil der Jahresversammlung
wurde anschliessend vom Vereinsvorsitzenden mit
einem herzl ichen Dank an die Gemeinde Mauren
fü r die Z u r v e r f ü g u n g s t e l l u n g der Räuml i chke i t en
und die Offerierung des Aperi t i fs geschlossen.
ÖFFENTLICHER V O R T R A G
Der öffent l iche Vortrag wurde von G e s c h ä f t s f ü h r e r
Klaus Biedermann bestritten. E r Hess die 100-
j ä h r i g e Geschichte des Historischen Vereins an-
hand einer kurzen P o r t r ä t i e r u n g herausragender
2) Zum Gutshof «Gamander» vgl. auch Ausführungen an anderer
Stelle in diesem Bericht.
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Die Jahresversammlung
vom 9. Juni 2001 in Mau-
ren bot manche Gelegen-
heit zur Diskussion und
zum Meinungsaustausch.
Auf dem oberen Bild sind
von links nach rechts die
Ehrenmitglieder Gerard
Batliner, Karl Hartmann
und Adulf Peter Goop im
Gespräch versammelt. Das
untere Bild zeigt von links
nach rechts die Vorstands-
mitglieder Norbert W. Has-
ler, Vereinspräsident
Rupert Quaderer sowie
Volker Rheinberger.
237
Persön l ichke i t en wie der V e r e i n s p r ä s i d e n t e n und
Ehrenmitglieder lebendig werden und gab mittels
a u s g e w ä h l t e r Themen einen Einbl ick in die ver-
schiedenen Tä t igke i t sbe re i che des Vereins. Beson-
dere Aufmerksamkei t widmete er dabei dem Be-
reich Denkmalschutz, wo er sich f ü r ein v e r s t ä r k t e s
Engagement des Vereins aussprach. 3
VORSTAND
Der Vereinsvorstand traf sich i m Berichtsjahr 2001
zu sieben Sitzungen, u m die laufenden Geschä f t e
zu behandeln. G e s p r ä c h e und Besch lüsse zu den
vom Verein getragenen Projekten, zur dritten K l a u -
surtagung sowie zur Jahresversammlung standen
i m Zentrum der Sitzungen. Gegen Ende des Be-
richtsjahres galt es, die Weichen fü r das bevorste-
hende Wahljahr zu stellen: Im Jahr 2002 stehen
Neuwahlen f ü r den Vereinsvorstand sowie f ü r das
A m t des Rechnungsrevisors an.
A N L I E G E N D E S D E N K M A L S C H U T Z E S
Der Vereinsvorstand diskutierte in seinen Sitzun-
gen aber auch Anliegen des Denkmalschutzes, so
i m Falle des Gutshofs « G a m a n d e r » in Schaan, des
«Oberen Möliholz» in Vaduz sowie des Areals
«Höfle» i n Balzers. Die anfangs Februar 2001 er-
folgte Z e r s t ö r u n g der Balzner H ä u s e r g r u p p e «Im
Höfle» in Balzers wurde vom Vereinsvorstand als
grosser Verlust f ü r Liechtenstein bezeichnet. In Be-
zug auf die Arbeitersiedlung i m « O b e r e n Möliholz»
setzte sich der Vereinsvorstand fü r einen Erwerb
der H ä u s e r sowie des Umlandes durch die öffentl i-
che Hand aus; nur so k ö n n e die drohende Über-
bauung des Areals verhindert werden.
Eine erfreuliche Wende gab es i m Fa l l des Guts-
hofs « G a m a n d e r » . Zur Er innerung: Der Historische
Verein hatte an seiner Jahresversammlung 1998
eine Resolution verabschiedet, der zufolge die Ver-
antwortlichen in Staat und Gesellschaft aufgefor-
dert wurden, alles zu unternehmen, damit der
Gutshof « G a m a n d e r » i n den Besitz der öf fent l ichen
Hand komme. Zuerst schien es aber, dass diese
B e m ü h u n g e n nicht erfolgreich waren, da Kaufver-
handlungen mit Privatinteressenten konkrete For-
men annahmen. Schliesslich konnte die Regierung
doch noch mit den bisherigen Besitzern ein
Kaufangebot aushandeln und dieses dem Landtag
unterbreiten. Der Landtag stimmte schliesslich an
seiner Sitzung vom 14. November 2001 mit grosser
Mehrhei t dem Kauf des Gutshofs « G a m a n d e r »
durch das Land Liechtenstein zu. Regierung und
Landtag haben mit ih rem Kaufentscheid einen we-
sentlichen Beitrag dazu geleistet, dass dieses be-
deutsame und historisch einmalige Zeugnis f ü r die
Geschichte unseres Landes f ü r kommende Genera-
tionen erhalten werden kann.
GESCHÄFTSSTELLE
Die Vereinsadministrat ion sowie die Jahrbuch-Re-
daktion lagen auch i m Berichtsjahr 2001 in den
H ä n d e n von G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus Biedermann,
dessen Arbei tspensum weiterhin 50 Prozent be-
trug. Zur Abdeckung des administrat iven Mehrauf-
wands bei der Vorbereitung der J u b i l ä u m s v e r -
sammlung wurde Klaus Biedermann durch F rau
Tanja Büchel , S e k r e t ä r i n be im Liechtensteinischen
Landesmuseum, un t e r s tü t z t . F ü r ihren Einsatz sei
ihr an dieser Stelle herz l ich gedankt.
Zusätz l ich zur Leitung der Geschäf t s s te l l e nahm
Klaus Biedermann i m Berichtsjahr die Aufgabe
wahr, i m Rahmen eines Werkvertrags eine umfas-
sende Vereinsgeschichte zu erstellen. Diese Arbei t
erschien i m Jahrbuch Band 100, welches am
26. Oktober 2001 der Öffent l ichkei t vorgestellt wur-
de. Erste zusammenfassende Ergebnisse seiner Re-
cherchen konnte Klaus Biedermann i m Rahmen ei-
nes Referats an läs s l i ch der 100. Jahresversamm-
lung des Vereins am 9. Juni 2001 in Mauren p r ä -
sentieren. Eine v e r k ü r z t e Fassung dieses Referats
konnte Klaus Biedermann zudem an läss l i ch einer
Versammlung des Rotary-Clubs Eschnerberg a m
24. August 2001 i n Nendeln vorstellen.
G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus Biedermann nahm als
Vertreter des Historischen Vereins am 24. Oktober
238
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
2001 an einer Besichtigung des Betriebs Orell
Füssli in Zür ich teil. Die F i r m a Orell Füssl i erstellt
jeweils die druckfertigen Vorlagen f ü r den Sprach-
atlas fü r Vorarlberg und Liechtenstein. Der Sprach-
atlas - siehe dazu den gesonderten Jahresbericht -
ist ein wissenschaftliches Projekt, welches von bei-
den L ä n d e r n gemeinsam getragen w i r d . Die
F ü h r u n g in Zür ich fand i m Rahmen einer kleinen
Feierstunde statt, zu der die F i r m a Orell Füssl i aus
Anlass der Fertigstellung von Band IV des Sprach-
atlasses eingeladen hatte. Eingeladen waren zahl-
reiche, an der Entstehung des Sprachatlasses be-
teiligte Personen - nebst dem Autor, Professor E u -
gen Gabriel , auch Professor A r n o Ruoff, der wis-
senschaftliche Begutachter, sowie weitere in das
Projekt involvierte Personen. Dieser Anlass stellte
eine gute Gelegenheit dar zur Pflege der nachbar-
schaftlichen Kontakte.
J A H R B U C H RAND 100
Das Jahrbuch Band 100 wurde i m Rahmen einer
Feierstunde und Pressekonferenz a m 26. Oktober
2001 i m Restaurant «Adler» in Vaduz vorgestellt.
Das Wirtshaus «Adler» wurde auch deswegen als
P r ä s e n t a t i o n s o r t gewäh l t , wei l in unmittelbarer
Nähe , i m heute nicht mehr existierenden Gasthaus
«Ki rch tha le r» vor 100 Jahren der Historische Ver-
ein g e g r ü n d e t worden war. Schwerpunkt dieses
100. Jahrbuches bildete die Geschichte des Histori-
schen Vereins; zusä tz l ich zu der von Klaus Bieder-
mann verfassten Vereinschronik setzten sich ande-
re Autoren mit spezifischen Aspekten der bisheri-
gen 1 0 0 - j ä h r i g e n Vere ins tä t igkei t auseinander. Re-
gierungsrat Alois Ospelt skizzierte Leben und
Wirken der verstorbenen Vereinsvorsitzenden.
Professor H a n s - J ö r g Rheinberger befasste sich mit
den naturhistorischen Aufsä t zen , die in f r ü h e n
J a h r b ü c h e r n publiziert worden waren, w ä h r e n d -
dem Kar l -Heinz Burmeister die Zusammenarbei t
des Historischen Vereins mit dem Vorarlberger
Landesarchiv beleuchtete. Norbert W. Hasler liefer-
te eine Geschichte der Sammel t ä t i gke i t des Histor i -
schen Vereins, welche das Fundament f ü r das s p ä -
tere Landesmuseum bildet. E i n Interview mit den
Vorstandsmitgliedern sowie mit dem G e s c h ä f t s f ü h -
rer, d u r c h g e f ü h r t von Isolde Marxer und Mathias
Ospelt, thematisierte g r u n d s ä t z l i c h e Fragen zum
Wi rken des Historischen Vereins i n Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft .
3) Das Referat von Klaus Biedermann ist - inhaltlich wesentlich
erweitert - im Jahrbuch Band 100 auf S. 27-158 abgedruckt. Die
verstorbenen Vereinsvorsitzenden werden im selben Jahrbuch von
Alois Ospelt vorgestellt; vgl. ebenda, S. 159-204.
Anlässlich der Präsentation
des Jahrbuches Band 100
stellten sich mehrere Auto-
ren sowie der Vereinsvor-
sitzende dem Pressefoto-
grafen. Zu sehen sind von
links nach rechts die Auto-
ren Karl Heinz Burmeister
und Norbert W. Hasler, der
Vereinsvorsitzende Rupert
Quaderer sowie Klaus Bie-
dermann, Autor und Jahr-
buch-Redaktor.
239
F U E R S T E N T U M
L IECHTENSTEIN
Die von Ehrenmitglied Ge-
org Malin gestalteten Brief-
marken zum 100. Geburts-
tag des Historischen Vereins
zeigen wertvolle Fundgegen-
stände, welche bei Ausgra-
bungen in Balzers (oben) so-
wie in Bendern (unten) ans
Tageslicht befördert wur-
den.
Der Historische Verein hatte
während rund 90 Jahren
die Verantwortung für die
archäologische Erforschung
Liechtensteins inne. In die-
ser Zeit konnten wesentli-
che neue Erkenntnisse und
Zeugnisse zur Vor- und Früh-
geschichte, aber auch zur
mittelalterlichen Geschichte
unseres Landes entdeckt
und gesichert werden.
B R I E F M A R K E N Z U M 1 0 0 - J A H R - J U B I L Ä U M
Aus Anlass des 100. Geburtstags des Historischen
Vereins erschienen i m Berichtsjahr zwei J u b i l ä u m s -
Br ie fmarken . Die von Dr. Georg M a l i n , Ehrenmit-
glied des Historischen Vereins, gestalteten Motive
konnten am 5. Jun i 2001 in Wertzeichenform p r ä -
sentiert werden. Zu sehen ist auf der einen Brief-
marke die 1932 in Balzers aufgefundene 2400-
j ä h r i g e Bronzestatuette des « M a r s von G u t e n b e r g » ,
w ä h r e n d d e m das andere Wertzeichen mit einer
1977 auf dem Ki rchhüge l in Bendern aufgefunde-
nen karolingischen Kreuzf ibe l aus der Zeit u m 800
nach Christus g e s c h m ü c k t ist.
Mit der Herausgabe dieser J u b i l ä u m s - B r i e f m a r -
ken w ü r d i g t e die Regierung des Landes Liechten-
stein das nunmehr 1 0 0 - j ä h r i g e Engagement des
Historischen Vereins f ü r die Erforschung der liech-
tensteinischen Geschichte, f ü r den A u f b a u einer his-
torischen Sammlung sowie f ü r den Erhal t von wich-
tigem Kulturgut.
EXKURSION
A m 17. November 2001 bot der Historische Verein
eine g e f ü h r t e Besichtigung des Art i l ler ie-Forts
«Magle t sch» bei Oberschan (SG) an. Diese mil i tär i -
sche Befestigung wurde w ä h r e n d des Zweiten
Weltkriegs erbaut und bildet den nö rd l i chs t en Eck-
pfeiler der Festung Sargans. P r i m ä r e Aufgabe des
«Magle t sch» w a r die Abdeckung der R ä u m e rhein-
a u f w ä r t s sowie in Richtung Wildhaus und in Rich-
tung Feldkirch . Die mi l i t ä r i sche Nutzung des «Mag-
le tsch» endete in den 1990er Jahren. Dank Ini-
tiative eines privaten T r ä g e r v e r e i n s konnten die
riesigen Befestigungsanlagen mittlerweile der Öf-
fentlichkeit zugäng l i ch gemacht werden. Das Ange-
bot des Historischen Vereins stiess auf grosses In-
teresse - rund 60 Personen nahmen an dieser
Herbs t -Exkurs ion teil. Zuerst leiteten Vertreter des
T r ä g e r v e r e i n s des Art i l ler ie-Forts «Magle t sch» die
I n n e n f ü h r u n g . Anschliessend folgte eine Aussenbe-
gehung des F e s t u n g s h ü g e l s mit E r l ä u t e r u n g e n von
Dr. Peter Geiger, der g e g e n w ä r t i g i m Rahmen eines
240
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Forschungsauftrags die Geschichte des Zweiten
Weltkriegs - mit Schwerpunkt Liechtenstein - i n -
tensiv beleuchtet.
MITGLIEDER
Seit der letzten Mitgl iederversammlung sind nach-
folgende 23 Personen Mitglieder des Historischen
Vereins geworden:
Einzelmitglieder:
- Dr. Peter Prast, F ü r s t - J o h a n n e s - S t r a s s e 14,
9490 Vaduz
- Alfons Schädler , Jonaboda 363,
9497 Triesenberg
- Gunnar Steger, Austrasse 13, 9490 Vaduz
- Mar t in Wedeking, Geschenweg 76/E 216,
D-48161 Müns t e r i n Westfalen
Partnermitglieder: Genannt werden hier nur die
neu dem Verein beigetretenen Mitglieder. Ist der
(Ehe)-Partner/die (Ehe)-Partnerin bisher schon Mit-
glied gewesen, so w i r d er/sie nicht nochmals ge-
nannt.
- Rosmarie Beusch, Felbaweg 2, 9494 Schaan
- Peter und Ursula Biedermann, Unterdorf-
strasse 503, 9491 Ruggell
- Petra Brunhart-Eichele, Tanzplatz 29,
9494 Schaan
- Irene Dünser , Tröx legass 31, 9494 Schaan
- Hedi Bühler, Egga 651, 9497 Triesenberg
- Susanne Falk, Landstrasse 16, 9495 Triesen
- Roswitha Feger, Hofstrasse 64, 8032 Zür ich
- Elfriede Frommelt , A m Bach 5, 9495 Triesen
- Dorothea Goop, Hintergass 14, 9490 Vaduz
- Elisabeth Huber, Unterfeld 24, 9495 Triesen
- M a r i n a Kieber, Binzastrasse 72, 9493 Mauren
- Harald Link, Herrengasse 17,
D-80539 M ü n c h e n
- Philipp Meier, Im Rietle 25, 9494 Schaan
- Anna-Mar ie Ospelt, Holdergasse 2, 9490 Vaduz
- Evelyne Ospelt, Gapetschstrasse 53a,
9494 Schaan
- Ruth Ospelt, Meierhofstrasse 45, 9490 Vaduz
- Elsa Vögeli, Kurhaus Malbun , 9497 Triesenberg
- Marl ies Zeller, Fehraweg 45, 9496 Balzers
Seit der letzten Jahresversammlung mussten wi r
den Tod folgender 9 Vereinsmitglieder zur Kennt-
nis nehmen:
- Johann Büchel , Oberwiler 14, 9491 Ruggell
- Dolly Gross Kindle , Oberfeld 96, 9495 Triesen
- Hehnuth Münd le , Lachenstrasse 307,
9493 Mauren
- Eduard Münz , Max Born Strasse 63,
D-97080 W ü r z b u r g
- Kanonikus Ernst Nigg, Egerta 35, 9490 Vaduz
- Hermann Nigg, Meierhofstrasse 25, 9490 Vaduz
- Dr. Rene Ritter, Weiherstrasse 13, 9495 Triesen
- Szi lard Toth, W i d u m 212a, 9488 Schellenberg
- Werner Verl ing, F ö r s t e r w e g 7, 9490 Vaduz
16 Mitglieder sind aus dem Verein ausgetreten.
Mitte Februar 2002 zäh l t der Flistorische Verein
865 Mitglieder.
P R O J E K T E
Über die Akt iv i tä ten der einzelnen Projekte infor-
mieren separate Berichte i m Anschluss an die Jah-
resrechnung.
Triesen, 15. Februar 2002
Dr. Rupert Quaderer
Vorsitzender des Historischen Vereins
Klaus Biedermann
G e s c h ä f t s f ü h r e r des Historischen Vereins
241
BILDNACHWEIS
S. 236 und 237: Sven
Beham, V. COM AG, Vaduz
S. 239: Daniel Ospelt,
Liechtensteiner Vaterland,
Vaduz
S. 240: Amt für Briefmar-
kengestaltung, Vaduz;
Fotos: Heinz Preute, Vaduz
ANSCHRIFT
Historischer Verein
für das Fürstentum
Liechtenstein (HVFL)
Messinastrasse 5
Postfach 626
FL-9495 Triesen
Telefon 00423/392 17 47
Telefax 00423/39217 05
E-Mail hvfl@hvfüi
Homepage www.hvfl.li
242
AUSGABEN
JAHRBÜGHER in CHF in CHF
Band 100
- Jahresbericht 2000 (Vorabdruck) 2 188.30
- Satz, Lithos, Druck, Buchbinder, Gestaltung und Produktionsleitung 108 917.—
- Aufwand Redaktion 3 076.—
- Aufwand für zusätzliches Lektorat 1 800.—
- Versand (Arbeitsaufwand) 2 523.20
- Versand (inklusive Begleitschreiben) 5 835.50
- Diverse Spesen 379.96
Total Aufwand Jahrbücher 124 719.96
GESCHÄFTSSTELLE
- Personalkosten
- Papeterie /allgemeiner Bedarf
- Kopiergerät/Kopien
- Drucksachen
- Briefmarken/Versandspesen
- Telefon und Telefax (inkl. Anschaffung neuer Geräte)
- Internet/EDV
- Buchhaltung
Total Aufwand Geschäftsstelle
53 222.10
1 163.60
1 040.10
1 569.90
3 627.10
2 710.30
1 663.05
3 500.—
68 496.15
HONORARE
- Entschädigung für den Vereinsvorsitzenden 28 145.40
- für diverse Gutachten, Führungen und Referate 950.—
Total Aufwand für Honorare 29 095.40
AUFWAND VEREINSJUBILÄUM
- Honorare für Beiträge Jahrbuch Band 100
- Überarbeitung Homepage (Teilzahlung)
- Spesen Festversammlung
- Rückstellungen: Spenden für das Vereinsjubiläum
- Teilauflösung Rückstellungen
Total Aufwand Vereüisjubiläum
36 000.—
2 280.—
13 063.32
160 000.—
./. 51 343.32
160 000 —
244
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
ÜBRIGE AUFWENDUNGEN
- Abonnemente und Mitgliedschaften
- Ankäufe für die Vereinsbibliothek
- Weiterer Buchankauf
- Diverse Spesen
- Bank- und Postcheck-Spesen
- Abschreibungen
in CHF
2 263.55
4 742.40
600.—
4 808.25
626.42
2 220.92
in CHF
15 261.54
TOTAL AUSGABEN 2001 397 573.05
UBERSICHT in CHF
VEREINSVERMÖGEN per 31.12. 2001 363 135.78
Liechtensteinische Landesbank, Kontokorrent
Liechtensteinische Landesbank, D-Konto
Liechtensteinische Landesbank, Sparkonto
Liechtensteinische Landesbank, Callgeld-Anlage
Postscheck-Konto
Kassa
Debitoren
Kreditoren
Transitorische Passiven
Rückstellungen
572.—
12 329.40
193 308.50
426 000.—
56 808.31
308.05
1 121.—
./. 10 576.80
./. 1 402.—
./. 315 332.68
EINNAHMEN- UND AUSGABENRECHNUNG
Total Einnahmen 2001
Total Ausgaben 2001
Vermögenszunahme 2001
+ Vereinsvermögen 1,1.2001
in CHF
446 394.21
397 573.05
48 821.16
314 314.62
VEREINSVERMÖGEN per 31.12. 2001 363 135.78
245
FONDS «FORSCHUNG UND PUBLIKATIONEN»
Vermögensstand per 31. 12. 2001
Banksaldo 31. 12. 2001
Vermögensstand per 1.1. 2001
Banksaldo 1.1. 2001
Einnahmen:
- Spende der Hilti Famiüenstiftung, Schaan, zweckgebunden für das Pro-
jekt «Neubearbeitung der Kunstdenkmäler im Fürstentum Liechtenstein»
- Teilerlös aus dem Verkauf der Publikation «Elisabeth Castellani:
Schloss Vaduz» 2001
- Weiterer Erlös aus dem Verkauf der Publikation «Elisabeth Castellani:
Schloss Vaduz» (Überweisung 2002)
- Gutschrift durch Auflösung des Fonds «Nach Amerika!»
- Weitere Gutschrift durch Auflösung des Fonds «Nach Amerika!»
(Überweisung 2002)
- Einnahmen aus dem Verkauf der Publikation «Nach Amerika!»
(Überweisung 2002)
- Zinsen
Total Einnahmen
EINNAHMENRECHNUNG:
Vermögenszunahme 2001
+ Fondsvermögen 1.1. 2001
FONDSVERMÖGEN per 31. 12. 2001
246
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
FONDS «NACH AMERIKA!» in CHF in CHF
Vermögensstand per 31. 12. 2001
Banksaldo 31. 12. 2001
Vermögensstand per 1.1. 2001
Banksaldo 1.1. 2001
10 379.70
12 174.70
Einnahmen:
- Buchverkauf
- Zinsen
Total Einnahmen
Ausgaben:
- Nachdruck englische Zusammenfassung
- Überweisung an Landeskasse
- Auflösung Fonds (1 -. Überweisung)
- Auflösung Fonds (2. Überweisung; im Jahr 2002)
Total Ausgaben
143.24
131.80
221.40
1 459.—
8 269.34
705.—
275.04
10 654.74
EINNAHMEN- UND AUSGABENRECHNÜNG
Total Einnahmen 2001
Total Ausgaben 2001
Vermögensabnahme 2001
275.04
+ Fondsvermögen 1.1. 2001
10 654.74
./. 10 379.40
10 379.40
FONDSVERMÖGEN per 31. 12. 2001
247
P R Ü F U N G S B E R I C H T
A u f t r a g s g e m ä s s habe ich die V e r m ö g e n s r e c h n u n g
per 31. Dezember 2001 sowie die Rechnung ü b e r
die Einnahmen und Ausgaben vom 1. Januar 2001
bis 31. Dezember 2001 Ihres Vereins und die
Fondsrechnung « F o r s c h u n g und Pub l ika t ionen»
geprü f t . Der Fonds «Nach Amer ika !» (Endsaldo
C H F 8974.34) wurde i m Berichtsjahr au fge lös t
und auf den Fonds « F o r s c h u n g und Pub l ika t ionen»
ü b e r t r a g e n .
Ich stelle fest,
- dass die V e r m ö g e n s r e c h n u n g per 31. Dezember
2001, die Rechnung ü b e r die Einnahmen und
Ausgaben vom 1. Januar bis zum 31. Dezember
2001 sowie die Fondsrechnung « F o r s c h u n g und
Pub l ika t ionen» mit der Buchhaltung ü b e r e i n -
stimmen,
- dass die Buchhaltung sauber und ordnungs-
g e m ä s s g e f ü h r t ist,
- dass das V e r e i n s v e r m ö g e n (CHF 363 135.78)
und das F o n d s v e r m ö g e n « F o r s c h u n g und Publi-
k a t i o n e n » (CHF 152 148.10) nachgewiesen sind.
Aufgrund des Ergebnisses der P r ü f u n g beantrage
ich, dem verantwortl ichen Kassier A l f r ed Goop so-
wie dem R e c h n u n g s f ü h r e r Klaus Biedermann f ü r
die ausgezeichnet ge füh r t e Jahresrechnung zu dan-
ken, ihnen Entlastung zu erteilen sowie die Jahres-
rechnung und die Fondsrechnung zu genehmigen.
Mauren, 22. Februar 2002
gez. Georg Kieber, Revisor
248
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Liechtensteiner Namenbuch
TÄTIGKEITSBERICHT 2001
P E R S O N E L L E S
Im Jahr 2001 hatten Herbert H ü b e und lic. phi l .
Toni Banzer ein Arbei tspensum von je 50 Prozent
fü r das Liechtensteiner Namenbuch zu e r fü l l en .
Der Germanistikstudent Markus Burgmeier aus
Balzers stand w ä h r e n d eines grossen Teils seiner
Semesterferien f ü r diverse vorbereitende Arbei ten
zur Ver fügung .
ARREITSSTAND PER ENDE 2001
Toni Banzer machte eine umfassende Nacherhe-
bung in Triesen aufgrund und mit Hilfe des neu er-
schienenen Triesner Familienbuches. Zusammen
mit dem Praktikanten Markus Burgmeier erstellte
er eine Mater ia lsammlung zu den Ü b e r k a m e n und
Sippschaftsnamen in Balzers. Mar-k-us^4£u*g«©ier
erarbeitete die Mater ia lsammlung zu den Über-
und Sippschaftsnamen i n Gampr in , Mauren und
Schellenberg. F ü r die Gemeinde Gampr in muss al-
lerdings i m Jahr 2002 noch eine Nacherhebung ge-
leistet werden. fett4&a^besorgte Markus Burgmeier
die Bearbeitung aller belegten, das heisst der noch
lebenden und auch der historischen erfassbaren
Famil iennamen.
Herbert H ü b e bewerkstelligte die Mater ia l -
sammlung in den Gemeinden Triesenberg, Ruggell,
Schaan, Vaduz und Eschen. Zudem war er mit der
gesamten Aufberei tung des Materials und der Zu-
s a m m e n f ü h r u n g der Dateien beschäf t ig t .
SONSTIGE T Ä T I G K E I T E N
Toni Banzer erledigte ausserdem noch folgende ne-
benbei anfallenden Arbei ten: Verwaltung allgemein
(Finanzen, Verwaltung des Kopierers, Schriftver-
kehr usw.), Zusammenarbei t mit der Gemeinde bei
der Strassennamengebung in Eschen. Ausserdem
regte er eine neue Strassennamengebung i n Schel-
lenberg an.
AUSRLICK A U F 2002
G e m ä s s Arbei tsp lan und Verpfl ichtungskredit muss
das Personennamenbuch bis zum 31. Dezember
2002 fertiggestellt sein. Das bedeutet, dass zu die-
sem Zeitpunkt das druckfertige Manuskr ip t vorlie-
gen muss. U m dieses Ziel zu erreichen, w i r d fol-
gendes Vorgehen gewäh l t :
P E R S O N E L L E S
Toni Banzer w i r d aufgrund seiner noch bestehen-
den Verpfl ichtungen i m ersten Halbjahr 2002 zu 50
Prozent f ü r das Personennamenbuch tä t ig sein.
Herbert LIilbe w i r d w ä h r e n d der ersten sechs M o -
nate des Jahres 2002 zu 100 Prozent f ü r das Perso-
nennamenbuch arbeiten.
Durch diese Aufte i lung des Jahres i n zwei Teile
soll eine mögl ichs t hohe Flexibil i tät f ü r den perso-
nellen Einsatz erreicht werden, damit der Arbeits-
plan (vgl. dazu die folgenden A u s f ü h r u n g e n ) mög-
lichst eingehalten und Mitte des Jahres 2002 allen-
falls auf den Arbeitsstand reagiert werden kann.
A R B E I T S P L A N
Das Personennamenbuch w i r d aus folgenden Tei-
len bestehen:
- Sammlung und E r k l ä r u n g der Über- und Sipp-
schaftsnamen des Landes nach Gemeinden;
- Sammlung und E r k l ä r u n g aller historisch fass-
baren und heute noch lebenden Fami l iennamen
des Landes (alphabetisch);
- E r k l ä r u n g der Vornamen und Sammlung ihrer
mundart l ichen Formen, Kurz - und Koseformen
aufgrund der Über- und Sippschaftsnamen (al-
phabetisch).
Bis zum 30. Juni 2002 w i r d Toni Banzer die Fami -
l iennamen bearbeiten, w ä h r e n d d e m Herbert Hübe
die Sammlung der Über- und Sippschaftsnamen
fertigstellen und aus diesem Korpus die Vornamen
und Vornamenformen herausarbeiten wi rd .
249
Diese Tä t igke i ten sollten bis Ende des ersten
Halbjahres abgeschlossen sein; dies e rmögl i ch t es
fü r das zweite Halbjahr, die W e r k s e i n f ü h r u n g und
-handhabung sowie die wissenschaftl ichen Texte
und E r k l ä r u n g e n allgemeiner Ar t (etwa zur Na-
menbildung und zur Systematik der Über- und
Sippschaftsnamen) zu verfassen und das M a n u -
skript z u m Druck vorzubereiten. Das so entstehen-
de Manuskript des Personennamenbuchs w i r d in
zwei oder mög l i che rwe i se in drei B ä n d e n erschei-
nen k ö n n e n .
B U D G E T 2002
Aufgrund des von beiden Projektmitarbeitern i m
Jahr 2001 auf 50 Prozent reduzierten Aufwandes
stehen f ü r das Jahr 2002 noch g e n ü g e n d Mit te l zur
Verfügung, u m den oben beschriebenen Arbeits-
plan zu finanzieren. Insgesamt stehen noch 325 0 0 0 -
Franken zur Ver fügung . Bei den voraussichtlichen
Personalkosten von etwa 250 000 - Franken sind
f ü r die anfallenden Kosten, den Studenten Markus
Burgmeier sowie Unvorhergesehenes genügend Mit-
tel vorhanden, die vermutl ich nicht a u s g e s c h ö p f t
werden.
DANK
Unser Dank gilt all denen, die uns i m Berichtsjahr
in unserer Arbei t u n t e r s t ü t z t haben, der Regierung
und dem Historischen Verein f ü r das F ü r s t e n t u m
Liechtenstein, namentl ich seinem P r ä s i d e n t e n Dr.
Rupert Quaderer und dem G e s c h ä f t s f ü h r e r Klaus
Biedermann f ü r die unkomplizierte Zusammenar-
beit und das Vertrauen.
Triesen, 3. Januar 2002
L I E C H T E N S T E I N E R N A M E N B U C H
lic. phi l . Toni Banzer
Herbert Hübe
ANSCHRIFT
Liechtensteiner
Namenbuch
Messinastrasse 5
Postfach 415
FL-9495 Triesen
Telefon 00423/236 75 70
Telefax 00423/236 75 58
250
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Liechtensteinisches
Urkundenbuch
TÄTIGKEITSBERICHT 2001
A L L G E M E I N E S
Im Rahmen des fü r die Fortsetzung des Liechten-
steinischen Urkundenbuches gesprochenen Ver-
pflichtungskredites konnten die Arbei ten an die-
sem fü r die Erforschung der mittelalterlichen Lan-
desgeschichte grundlegenden Quellenwerk mit ei-
nem 50-Prozent betragenden Pensum f o r t g e f ü h r t
werden. Mit dem ersten Band des zweiten Teils des
Liechtensteinischen Urkundenbuches (LUB II/ l)
steht nun die Bearbeitung und Edi t ion des vorhan-
denen Quellenbestandes zur Herrschaftszeit der
Herren von Brandis (1417-1510) an. Nachdem die
Sammlung der schrif t l ichen Zeugnisse dieses knap-
pen Jahrhunderts brandisischer M a c h t a u s ü b u n g i n
der Grafschaft Vaduz und in den Herrschaften
Schellenberg, Blumenegg und Maienfe ld (ab 1437)
weit vorangetrieben werden konnte, schien es
z w e c k m ä s s i g und ratsam, sich auf die Transkr ipt i -
ons- und Edit ionsarbeiten der in den liechtensteini-
schen Arch iven liegenden Urkunden zu konzentrie-
ren. Dies auch im Hinbl ick darauf, die ü b e r n o m m e -
ne Verpfl ichtung der Edi t ion der in den in- und
a u s l ä n d i s c h e n Arch iven u r s p r ü n g l i c h g e s c h ä t z t e n
Anzah l von z i rka 250 Urkunden zu e r fü l len .
A R B E I T S S T A N D
Aufgrund der e r w ä h n t e n Pr io r i t ä tense tzung ' e r h ö h -
ten sich die in der Quellen-Datenbank verzeichne-
ten Schriftzeugnisse zur Herrschaftszeit der Her ren
von Brandis nur mehr leicht auf 1069 D a t e n s ä t z e .
Die aus diesem gesammelten Datenmaterial aufbe-
reitete Regestensammlung wurde e r g ä n z t und
kann Interessierten nun auch auf dem Internet
ü b e r die Homepage des Liechtensteinischen Lan-
desarchivs http://www.landesarchiv.li zur Verfü-
gung gestellt werden.
Der weitaus g röss te Teil der Arbeitszeit i m ver-
gangenen Jahr wurde zur Bearbeitung des liech-
tensteinischen Urkundenmaterials aufgewendet.
So konnten die Transkript ionsarbeiten f ü r rund
150 Urkunden weitestgehend beendet werden. Die
damit verbundenen Editionsarbeiten (diplomati-
scher Apparat , Sachanmerkungsapparat , Register)
wurden teilweise ebenfalls in Angr i f f genommen,
k ö n n e n jedoch aus arbeitstechnischen G r ü n d e n
erst s p ä t e r abgeschlossen werden.
Die Arbei ten am L U B I I / l gehen somit - soweit
ü b e r b l i c k b a r - p l a n m ä s s i g voran. Es ist allerdings
an die i m Jahresbericht 2000 gemachten grund-
sä tz l i chen Ü b e r l e g u n g e n zu erinnern, wonach eine
exakte Terminplanung bei der Erarbei tung eines
Urkundenbuches auf erhebliche Schwierigkeiten
s töss t . Insbesondere i m Fa l l des L U B II, wo der
schliesslich zu edierende Quellenbestand erst nach
Abschluss der Quellensammlung endgül t ig festste-
hen w i rd .
SONSTIGE T Ä T I G K E I T E N
Eine 50-Prozent betragende Arbeitsstelle verlangt
notgedrungen einen h a u s h ä l t e r i s c h e n Umgang mit
der zur V e r f ü g u n g stehenden Arbeitszeit . So konn-
ten die P l äne zur g e w ü n s c h t e n Öffen t l ichke i t sa rbe i t
leider noch nicht realisiert werden, sollten aber i m
kommenden Jahr hoffentl ich zur A u s f ü h r u n g ge-
langen.
A u f Betreiben des stellvertretenden Landesar-
chivars l ic. ph i l . Paul Vogt wurde die Regestsamm-
lung des L U B I I / l « I n t e r n e t t augl ich» aufbereitet
und kann nun ü b e r die o b e r w ä h n t e Internetadres-
se eingesehen werden.
Im Rahmen seiner U r k u n d e n b u c h t ä t i g k e i t durfte
der Bearbeiter schliesslich manche Arbei ten mit
Quellen- und Literaturhinweisen u n t e r s t ü t z e n .
Im Hinbl ick auf eine anzustrebende Neuregelung
der T r ä g e r s c h a f t des L U B , insbesondere hinsicht-
l ich einer l änge r f r i s t i gen f inanziel len Sicherung des
L U B , wurde vom Historischen Verein f ü r das Für -
stentum Liechtenstein i m Berichtsjahr ein a u s f ü h r -
l ich b e g r ü n d e t e r Ant rag zur Angl iederung des L U B
an das Liechtensteinische Landesarchiv an die Re-
gierung gestellt. Obwohl der Ant rag von der Regie-
rung mit « In t e r e s se zur Kenntnis genommen und
g e p r ü f t » wurde, konnte das Begehren vorerst nicht
be rücks ich t ig t werden. Die dem L U B versicherte
251
grundsä t z l i che U n t e r s t ü t z u n g b e s t ä r k t jedoch die
derzeitige T r ä g e r s c h a f t in ihrer Zuversicht, den A n -
trag i m kommenden Jahr 2002 erneut einreichen
zu d ü r f e n .
A U S B L I C K
Im Jahre 2002 werden die Transkriptionsarbeiten
s c h w e r p u n k t m ä s s i g w e i t e r g e f ü h r t . Dabei werden
nebst den i n liechtensteinischen Arch iven liegen-
den Urkunden auch solche aus Arch iven des be-
nachbarten Auslandes zur Bearbeitung gelangen.
D a r ü b e r hinaus sollen die Editionsarbeiten intensi-
viert, insbesondere die A b k l ä r u n g e n zum Sachan-
merkungsapparat vorangetrieben werden.
Schliesslich besteht die Absicht, die schon seit
l ä n g e r e r Zeit gehegten P läne , das Liechtensteini-
sche Urkundenbuch einer interessierten Öffentl ich-
keit vorzustellen, in die Tat umzusetzen.
D A N K
Als Bearbeiter des L U B II m ö c h t e i ch der T räge r -
schaft des Urkundenbuch-Projektes, dem Histor i -
schen Verein und seinem Vorstand, insbesondere
dem P r ä s i d e n t e n Dr. Rupert Quaderer und dem Ge-
s c h ä f t s f ü h r e r lic. phi l . Klaus Biedermann f ü r das
entgegengebrachte Vertrauen und die Unters tü t -
zung danken. Dank g e b ü h r t auch dem Liechten-
steinischen Landesarchiv, wo das L U B eine He im-
s tä t te gefunden hat, namentl ich dem stellvertreten-
den Landesarchivar lic. ph i l . Paul Vogt und den A r -
chivbetreuerinnen Olga A n r i g , Nicole Hanselmann,
Edi th LIilti, Mar ianne K a u f m a n n und Rita Tobler,
von denen ich stets die bes tmög l i che Hilfe erfahren
durfte. Schliesslich m ö c h t e ich mich bei allen Kolle-
ginnen und Kollegen bedanken, die durch ihre
Quellen- und Literaturhinweise zur Mater ia l fü l le
des L U B II beigetragen haben.
Vaduz, am 28. Januar 2002
L I E C H T E N S T E I N I S C H E S U R K U N D E N B U C H
Claudius Gurt
ANSCHRIFT
Liechtensteinisches
Urkundenbuch
c/o Liechtensteinisches
Landesarchiv
zu Händen von
Claudius Gurt
Städtle 51
FL-9490 Vaduz
252
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
Projekt «Kunstdenkmäler des
Fürstentums Liechtenstein»
TÄTIGKEITSBERICHT 2001
A L L G E M E I N E S
Das Projekt zur Neubearbeitung der Publikation
« K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s Liech tens te in»
steht unter der T r ä g e r s c h a f t des Historischen Ver-
eins f ü r das F ü r s t e n t u m Liechtenstein. Es wurde
i m Berichtsjahr wie seit Beginn der Arbei ten i m
Oktober 1999 auf der Basis eines auf fünf Jahre
ausgerichteten Werkvertrages von der Kunsthisto-
r iker in Dr. Cornelia Her rmann betreut.
FACHKOMMISSION
Zur Begleitung und Herausgabe des Buches hat der
Historische Verein i m Jahr 2000 die Fachkommis-
sion « K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s Liechten-
s te in» eingesetzt (siehe Jahresbericht 2000). Die
Hauptaufgabe der Fachkommiss ion bestand in der
wissenschaftl ichen Beratung der Autor in , der Mit -
beurteilung der Manuskripte sowie der fachl ichen
U n t e r s t ü t z u n g der T r ä g e r s c h a f t i n den von der P r ä -
sidentin der Fachkommiss ion l ic. phi l . Eva Pepic
einberufenen Sitzungen.
Im Berichtsjahr fanden zwei Sitzungen der Fach-
kommission in Anwesenheit von Dr. Rupert Quade-
rer, H V F L , dem G e s c h ä f t s f ü h r e r l ic. phi l . Klaus Bie-
dermann sowie der Auto r in statt. Im Zentrum der
Sitzung vom 30. M a i 2001 stand die Besprechung
des Probemanuskriptes « G e m e i n d e S c h a a n » sowie
die Zeit- und Detailplanung der folgenden Kapitel .
Anlässl ich der dritten Sitzung am 3. September
2001 konnte Dr. Isabelle Rucki b e g r ü s s t werden,
die neu als Vertreterin der Gesellschaft f ü r Schwei-
zerische Kunstgeschichte (GSK) Einsi tz in die K o m -
mission nahm.
A R B E I T D E B A U T O B I N
Das i m Jahr 2000 abgeschlossene und mit 126
Druckseiten (inklusive 100 Abbildungen) deutlich
umfangreicher als geplant ausgefallene Probema-
nuskript « G e m e i n d e S c h a a n » wurde im Berichts-
jahr als substantiell gut und fundiert bewertet. Der
von der GSK beauftragte Begutachter, Dr. Alphons
Raimann, A m t f ü r Denkmalpflege und Inventarisa-
tion, Frauenfeld, selbst l a n g j ä h r i g e r Autor der
K u n s t d e n k m ä l e r b ä n d e in der Schweiz, beurteilte
das Manuskr ip t in seinem Gutachten vom 28. M a i
2001 positiv. A u c h die GSK b e g l ü c k w ü n s c h t e mit
Schreiben vom 27. Jun i 2001 die umfassende und
sich durch eine gut v e r s t ä n d l i c h e Sprache aus-
zeichnende Arbei t .
Im Zentrum der Arbei ten des Berichtsjahres
2001 stand die Bearbeitung des Manuskriptes «Ge-
meinde E s c h e n » mit Fertigstellung im Oktober
2001. Die Umfangsberechnung wurde auf rund 90
Druckseiten mit 80 Abbi ldungen ausgelegt. E i n
s t ä n d i g e r Arbeitsplatz stand i m Gemeindearchiv
Eschen zur V e r f ü g u n g und die Betreuung durch
E r i c h Al lgäuer in Arch iv und Dokumentationsstelle
waren von besonderem Interesse und Engagement
gekennzeichnet. Die Depots der Gemeinde sind
eine Fundgrube zur Dorfgeschichte, mit Einzelob-
jekten, die leider noch keinen dauerhaften Ausstel-
lungsort, nun jedoch in Teilen Aufnahme in den
K u n s t d e n k m ä l e r b a n d gefunden haben. Das Pfarr-
haus mit Resten des Pfarrarchivs und sakralen
A u s s t a t t u n g s s t ü c k e n aus der neuen Pfarrkirche vor
der Restauration von 1977 bis 1979 stand ebenso
auf dem Programm wie das Liechtensteinische
Landesarchiv. Dort wurden insbesondere Baube-
wil l igungen f ü r Eschner Profanbauten seit 1885,
Quellen aus dem Pfarrarchiv Eschen sowie Urkun-
den und schriftl iche Quellen aus dem Stiftsarchiv
P fä fe r s bearbeitet. Im Liechtensteinischen Landes-
museum standen eine umfangreiche Inventar-Kar-
tei sowie etliche Originalobjekte zur Ve r fügung und
das Hochbauamt mit Archäo log ie und Denkmal-
pflege g e w ä h r t e Einsicht in die betreffenden Akten.
Begonnen wurde Ende des Jahres mit den Re-
cherchen zu den K u n s t d e n k m ä l e r n in der Gemein-
253
de Triesen, die bis zum Sommer 2002 andauern
werden. Die Arbei ten i n den Gemeinden Eschen
und Triesen erfolgten beziehungsweise erfolgen
hinsichtl ich des Umfangs sowie des Zeitplanes
g e m ä s s der Berechnung eines z w e i b ä n d i g e n Wer-
kes und befinden sich dahingehend i m Sollplan.
Im September 2001 referierte die Autor in in
Kempten i m Allgäu z u m Thema «Holz oder Stein.
Alpine Kur- und B e r g h ä u s e r Liechtensteins z w i -
schen Tradit ion und M o d e r n e » an läss l ich des K o n -
gresses «Sachku l tu r i n den alpinen Gese l l schaf ten»
der « I n t e r n a t i o n a l e n Gesellschaft f ü r historische
A l p e n f o r s c h u n g » . Eine Publikation der Kongress-
be i t r äge w i r d i m Jahr 2002 erscheinen. Die Auto-
r in nahm ausserdem teil an der j ä h r l i c h e n Zusam-
menkunft der Geschäf t s l e i tung der GSK mit den
Autoren und Autor innen der K u n s t d e n k m ä l e r - und
der INSA-Reihe. Sie fand am 2. und 3. November
2001 in Zür ich statt, wo ausserdem die Autorenkol-
leginnen Regine Abegg und Christine Barraud-Wie-
ner kompetent durch die Altstadt zum Thema «Die
Stadt an der L i m m a t » f ü h r t e n .
AUSBLICK
Durch die Bearbeitung der K u n s t d e n k m ä l e r in der
Gemeinde Schaan mit den thematischen Schwer-
punkten Topographie, Archäologie , Geschichte und
Kirchengeschichte, Verkehr und Erschliessung,
Siedlungsgeschichte, Sakralbauten, Bildstöcke und
Wegkreuze, Profanbauten, Denkmäle r , Brunnen
und Verkehrstechnische Bauten erhielt das Projekt
eine erste Basis zur Begutachtung und weiteren
Planung. Erst der G e s a m t ü b e r b l i c k ü b e r das Inven-
tarisationsgebiet Schaan hat e röf fne t , wie umfang-
reich und ergiebig das Material an Baudenk-
m ä l e r n , beweglichen Kul tu rgü te rn und den damit
in Zusammenhang stehenden Quellen i m F ü r s t e n -
tum Liechtenstein ist.
Eine Zunahme der Bautä t igke i t seit Beginn des
20. Jahrhunderts f ü h r t e zur z a h l e n m ä s s i g e n Zu-
nahme der zu bearbeitenden Objekte. Zudem ka-
men neue Arbeitsschwerpunkte wie beispielsweise
Siedlungsentwicklung und Profanbauten, Brunnen
und D e n k m ä l e r h inzu . Der Umfang des Quellenma-
terials bei j ü n g e r e n D e n k m ä l e r n ist ebenso gestie-
gen wie eine seit den 1950er Jahren vervielfachte
Forschungsliteratur. Umfangreiche Restaurierun-
gen, Umbaumassnahmen und begleitende Baufor-
schungen kennzeichnen die Entwicklung i m Für -
stentum Liechtenstein. A l l diese Faktoren haben zu
einer Zunahme des Stoffumfangs und zur Er -
h ö h u n g des Aufwands g e f ü h r t , der zu dessen Bear-
beitung und Darstellung erforderl ich ist.
In der Folge der Ergebnisse des Manuskriptes
« G e m e i n d e S c h a a n » wurde die W e i t e r f ü h r u n g des
Projektes als m e h r b ä n d i g e Version sowohl von der
Fachkommiss ion , dem Vorstand des H V F L als auch
von der GSK, Bern , gep rü f t . Nach gemeinsamer A b -
sprache wurde vom Vorstand des H V F L eine
zwe ibänd ige Version b e f ü r w o r t e t , un te r s tü t z t durch
eine Zusage seitens der GSK. Die G S K e rk l ä r t e sich
zur Herausgabe eines zweiten Bandes mit redaktio-
neller Begleitung und Druck ohne zusä tz l i che Mi t f i -
nanzierung durch das F ü r s t e n t u m Liechtenstein be-
reit. Lliermit bietet sich eine einmalige Chance zur
weitsichtigen ganzheitl ichen Darstellung des archi-
tektonischen Erbes ohne fragmentierende Entstel-
lung, zu einer k o h ä r e n t e n Darstellung der Siedlun-
gen und G e b ä u d e , die heute das gebaute Liechten-
stein ausmachen.
Das Anliegen wurde i m Berichtsjahr als Ant rag
auf inhaltl iche und zeitliche Erwei terung des Pro-
jektes auf zwei B ä n d e und einem Ende des Projek-
tes i m Jahr 2009 Liechtenstein zusammen mit neu-
en zeitl ichen und f inanziel len Berechnungen an die
Regierung des F ü r s t e n t u m s weitergeleitet. Getra-
gen wurde der Ant rag vom Vorstand des H V F L , der
Fachkommiss ion , dem Begutachter und der GSK.
Im Jahr 2002 w i r d nach erfolgter Stellungnah-
me der Gemeinden eine Behandlung durch Regie-
rung und Landtag stattfinden k ö n n e n . Die Ent-
scheidung ü b e r eine Erwei terung und Ver länge-
rung ist f ü r die W e i t e r f ü h r u n g des Gesamtprojektes
von grundlegender Bedeutung. Somit hoffe auch
ich als Auto r in auf die Weitsicht aller politisch Ver-
antwortl ichen.
254
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
DANK
Als Auto r in der « K u n s t d e n k m ä l e r des F ü r s t e n t u m s
Liechtens te in» m ö c h t e ich der T r ä g e r s c h a f t des
Projektes, dem Historischen Verein und seinem
Vorstand, insbesondere dem P r ä s i d e n t e n Dr. Ru-
pert Quaderer fü r das entgegengebrachte Vertrau-
en, das besondere Interesse und Engagement dan-
ken. Ebenfalls gedankt sei lic. phi l . Klaus Bieder-
mann als wichtige Ansprechperson in Fragen
Buchhaltung und P r o t o k o l l f ü h r u n g sowie als zen-
trale Schaltstelle des H V F L f ü r die stets effektive
und speditive Zusammenarbeit .
Dank g e b ü h r t vor al lem all denen, die i m Be-
richtsjahr die Grundlagenforschung mit G e s p r ä -
chen, Informationen und Mater ia l u n t e r s t ü t z t ha-
ben. Hie rzu g e h ö r t insbesondere E r i c h Al lgäuer von
der Dokumentationsstelle der Gemeinde Eschen.
Von i h m w i r d auch das dortige Gemeindearchiv be-
treut. Zudem bereichert er die Mi t te i lungsblä t te r
der Gemeinde Eschen mit historisch interessanten
Zentralthemen. Mi t fundier tem Wissen ü b e r Ge-
meindegeschichte, H i n t e r g r ü n d e und Aktua l i t ä ten
lieferte er wichtige Informationen. E r begleitete die
Autor in i n die Depots der Gemeinde sowie in das
Pfarrhaus, wo von Pfarrer Paul Deplazes Einbl ick in
Teile des Pfarrarchivs und das Inventar g e w ä h r t
wurden.
Das Team des Liechtensteinischen Landesarchi-
ves mit dem Archivlei ter lic. phi l . Paul Vogt und
den Archivbetreuerinnen Olga A n r i g , Nicole Han-
selmann, Edi th Hi l t i , Mar ianne K a u f m a n n und Rita
Tobler e rmögl ich te ein effizientes Arbei ten in kon-
struktiver A t m o s p h ä r e . A u c h dem Hochbauamt mit
Denkmalpflege und Archäo log ie , namentlich lic.
phi l . Patrik Birrer, J ü r g e n F r ä n z e r beziehungswei-
se H a n s j ö r g F r ö m m e l t und Mag. Ulr ike Mayr, wie
auch dem Liechtensteinischen Landesmuseum un-
ter der Leitung von lic. phi l . Norbert W. Hasler sei
fü r die kooperative Zusammenarbei t gedankt. E i n
D a n k e s c h ö n ist ebenso an die Kollegen des Histori-
schen Lexikons f ü r das F ü r s t e n t u m Liechtenstein
zu richten, namentlich lic. phi l . Fab ian Frommelt
und J ü r g e n Schindler, die mit wichtigen Informa-
tionen zur Mater ia l fü l le beigetragen haben.
Das auf mehrere Jahre angelegte Projekt, das
der kulturellen Weitsicht und des langfristigen
Wohlwollens bedarf, ist auf die W e r t s c h ä t z u n g so-
wie die materielle U n t e r s t ü t z u n g seitens der öffent-
l ichen Hand wie auch privater Sponsoren angewie-
sen. Neben der F inanzierung durch die Regierung
und die Gemeinden des Landes sei die F ö r d e r u n g
durch die Hil t i Familienstiftung, Schaan, und die
K a r l Danzer Stiftung, Vaduz, hervorgehoben und
beiden Stiftungen ein besonderer Dank ausgespro-
chen.
Triesen, 4. Februar 2002
P R O J E K T « K U N S T D E N K M Ä L E R D E S
F Ü R S T E N T U M S L I E C H T E N S T E I N »
Dr. Cornel ia He r rmann
ANSCHRIFT
Kunstdenkmäler des Für-
stentums Liechtenstein
c/o HVFL
Messinastrasse 5
Postfach 626
FL-9495 Triesen
Telefon 00423/236 75 38
Telefax 00423/236 75 48
E-Mail cherrmann@hvfl.li
255
Vorarlberger Sprachatlas
mit Einschluss des Fürstentums
Liechtenstein
TÄTIGKEITSBERICHT 2001
Im Anschluss an die D u r c h f ü h r u n g der Korrektu-
ren an der sechsten und letzten Lieferung von Band
IV begann die Ausarbei tung der zweiten Lieferung
fü r Band III zu den Themen Konsonantismus und
Morphologie. Diese zweite Lieferung konnte i m
A p r i l 2001 abgeschlossen und das druckfertige M a -
terial zur F i r m a Orell Füss l i nach Zür ich gebracht
werden.
Damit wurde Thema Konsonantismus abschlies-
send dargestellt. Für Liechtenstein besonders
wichtig sind dabei die Entsprechungen der Konso-
nanten «t» und «d» in ihrer althochdeutschen
Form. Auffäll ig sind die zahlreichen Fortisierungen
des althochdeutschen «d» i m Anlaut , zum Beispiel
in törr « d ü r r » , träät «Drah t» , teggi «Decke», oder
tengga « d e n k e n » . Im Liechtensteiner Oberland
konnte hingegen die Lenisierung von (ich) dua «ich
tue» festgestellt werden. Bemerkenswert ist der be-
sonders i m Liechtensteiner Unterland beobachtete
Schwund des «d», so zum Beispiel i n waal «Wald»,
fäll «Feld», wann « W a n d » , kinn «Kind», usw. Zum
Teil war dieser Schwund indes auch i m Oberland
feststellbar. Bei der Entsprechung des anlautenden
«k» bildet die Gemeinde Triesenberg wiederum
eine Sprachinsel, belegt etwa durch chua «Kuh»,
chasta «Kas ten» und chübel «Kübel» . Im Inlaut gilt
i m Rheintal das romanische «gg» fü r «ck», so zum
Beispiel in Bogg «Bock», Sagg «Sack», schegga
«schicken» , Agger «Acker» . Aber einzig i n Liech-
tenstein gibt es die « h y p e r k o r r e k t e n » Lautungen
kchmachat « g e m a c h t » , kchnoo « g e n o m m e n » und
beispielsweise kchlogga «Glocke». Zu einzelnen
Fragestellungen wurden a u s f ü h r l i c h e Kommentare
verfasst, in denen versucht w i r d , die L a u t p h ä -
nomene zu e rk l ä r en .
A b Ende A p r i l 2001 erfolgte die Ausarbei tung
der ersten Lieferung f ü r Band V, welcher den zwei-
ten Wortschatzband darstellt. Grundlage f ü r diese
Ausarbei tung war das Manuskr ip t von Dr. Hubert
Klausmann, welches zu p r ü f e n und in vielen Punk-
ten zu e r g ä n z e n war. Wichtige E r g ä n z u n g e n be-
standen in der Einarbei tung von zusä t z l i chem
Spontanmaterial. Bereits vorliegende Kommentare
wurden zum Teil wesentlich erweitert. Dabei habe
ich die lautlichen Probleme und die sachlichen H i n -
t e r g r ü n d e genauer e r l äu t e r t . Letztere wurden
durch die W e i t e r f ü h r u n g des Abbildungsbandes
anschaulich gemacht. Die Druckvorlage f ü r die 14.
Lieferung dieses Abbildungsbandes konnte ebenso
noch i m Berichtsjahr bereinigt und abgeschlossen
werden.
Die erste Lieferung von Band V e n t h ä l t nun den
deutschen Wortschatz, wobei auch f ü r Liechten-
stein viele Bezeichnungen dokumentiert wurden,
die die j ü n g e r e Generation nicht mehr kennt, so
zum Beispiel jene der Gabeldeichsel «Lande» , der
Eidechse (im Oberland «Gigochs» oder «Eggesle»,
im Unterland «Eggeiss») , das knallende Ende der
Peitschenschnur («Zwigg»), f ü r das « F a n g e n s p i e -
len» {Faahetis machen, Fangis machen; in Triesen-
berg: fängeren), doch W ö r t e r wie gääch «steil»
oder Ziischtig «Diens tag» d ü r f t e n noch allgemein
bekannt sein, sicher auch noch «Küfer» oder «ver-
schwel len» (Holzgeschirre dicht machen). Es sind
aber Begriffe, die infolge der technischen Entwick-
lung heute nicht mehr lebendig sind. - Zu dieser
Lieferung g e h ö r t auch die Kartengruppe «Axt», be-
inhaltend die Begriffe Axt, Bei l und Deichsel.
Al le 32 Kar ten dieser ersten Lieferung von
Band V wurden, e r g ä n z t durch die Kommentare,
am 17. September 2001 zur weiteren Bearbeitung
der F i r m a Orell Füssl i in Zür ich ü b e r g e b e n . Es folg-
te daraufhin ein P r ü f u n g s - und Korrekturdurch-
gang, der Mitte Dezember 2001 abgeschlossen
werden konnte. Wie schon in den vergangenen
Jahren verfasste ich die Reinschrif t der Kommenta-
re und ich bewerkstelligte auch die Herstellung der
Codierungslisten.
Wangen, 15. Dezember 2001
V O R A R L B E R G E R S P R A C H A T L A S M I T
E I N S C H L U S S D E S F Ü R S T E N T U M S
L I E C H T E N S T E I N
Professor Dr. Eugen Gabriel
256
HISTORISCHER VEREIN FÜR DAS FÜRSTENTUM
LIECHTENSTEIN 2001
ANSCHRIFT
Vorarlberger Sprachatlas
mit Einschluss des Fürsten-
tums Liechtenstein
Flandernstrasse 13/1
D-88239 Wangen im
Allgäu
Tel. 0049/7522/809 11
Fax 0049/7522/293 01
257
LIECHTEN-
STEINISCHES
LANDESMUSEUM
2001
Geschichte beginnt jeden Tag neu.
Die Zukunft auch.
Schweizerisches Landesmuseum Zürich, 2001
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Jahresbericht 2001
STIFTUNGSRAT
Der Stiftungsrat des Liechtensteinischen Landes-
museums hat in vier Sitzungen über die Geschicke
des Landesmuseums mitbestimmt und künftige be-
triebliche und personelle Strukturen diskutiert. In
jeder Sitzung wurde der Stiftungsrat detailliert
über den Stand des Bau- und Ausstellungsprojek-
tes, teils unter Beizug der Architekten und des für
die Ausstellungsgestaltung verantwortlichen Teams,
bestehend aus Hanspeter Gassner und Sabine Kranz,
informiert. Der Stiftungsrat ist zudem durch die
Präsidentin, Frau lic. phil. Eva Pepic, in den ent-
scheidenden Gremien wie der Baukommission und
der Arbeitsgruppe Ausstellungsgestaltung vertre-
ten. Einzelne Mitglieder des Stiftungsrates haben
zudem mehrere zusätzliche Termine wahrgenom-
men. Am 24. März 2001 fand eine Informations-
veranstaltung im Schulungsraum des Regierungs-
gebäudes in Vaduz über das Bauprojekt Landes-
museum mit anschliessender Begehung der Bau-
stelle statt. Am 23. Oktober 2001 nahmen Mitglieder
des Stiftungsrates die Wachssammlung Hubert Büh-
ler, Eschen, in Augenschein, die voraussichtlich für
die Museumssammlungen erworben wird. Am 9. No-
vember 2001 fand bei der Orgelbaufirma Kuhn AG
in Männedorf ZH ein Werkstattkonzert nach erfolg-
ter Restaurierung des Bodenseeorgelpositivs aus
den Museumssammlungen statt. Ebenso nahm der
Stiftungsrat an der Besichtigung der Baustelle in
Vaduz und an der anschliessenden Aufrichtfeier des
Erweiterungsbaus des Landesmuseums vom 30. No-
vember 2001 teil.
MUSEUMSKOMMISSION
Die Museumskommission hatte an drei Sitzungen
neben der Wahrnehmung der statutarischen Ge-
schäfte vor allem über zahlreiche Neuerwerbun-
gen, Schenkungen und ganze Sammlungskomplexe
zu befinden. Grundsätzlich wurde die Sammlungs-
strategie des Liechtensteinischen Landesmuseums
diskutiert und dabei einhellig beschlossen, an der
bisherigen Sammlungspolitik festzuhalten, aber
ebenso wurde befürwortet, Spezialbereiche und
Spezialsammlungen gezielt auf- und auszubauen.
Der in Aussicht gestellte Erwerb der kulturhisto-
risch bedeutsamen Wachssammlung Hubert Büh-
ler, Eschen, durch die Regierung wurde sowohl
vom Stiftungsrat wie von der Museumskommission
begrüsst. Die Mitglieder der Museumskommission
waren ebenso zu den eingangs erwähnten Anläs-
sen eingeladen, an denen sie auch teilnahmen.
MUSEUMS V E R W A L T U N G
Die Museumsleitung war auch im Berichtsjahr
durch eine laufend zunehmende administrative
und organisatorische Arbeit gefordert. Zahlreichen
Publikationen und Forschungsarbeiten stand das
Museumsteam mit Rat und Tat zur Seite. Das Lan-
desmuseum ist dank seiner umfangreichen Samm-
lungen und Dokumentationen zu einer erstrangi-
gen Anlaufstelle Liechtensteins in allen Belangen
der historischen, kunst- und kulturhistorischen For-
schung sowohl von privater Seite wie von öffentli-
chen Institutionen geworden. Mehrere Arbeiten
der Museumsmitarbeiter lic. phil. Arthur Brunhart
und lic. phil. Norbert W. Hasler wurden im vergan-
genen Jahr publiziert, u.a. auch im Zusammen-
hang mit dem 100-Jahr-Jubiläum des Historischen
Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1901-
2001). Der Museumsleiter war überdies mehrfach
beratend tätig im Zusammenhang mit Planung und
Konzepterarbeitung der künftigen Ortsmuseen Rug-
gell und Eschen, sowie in der Projektgruppe «Er-
halt und Reaktivierung der Mühle und Schmiede
Triesenberg».
Durch konsequente Wahrnehmung seiner zen-
tralen Aufgaben im Bereich der Erhaltung unseres
kulturellen Erbes leistet das Liechtensteinische
Landesmuseum seit Jahren aktive und weitrei-
chende Beiträge in Denkmalschutz und Denkmal-
pflege, ein Faktum, das in der Öffentlichkeit nur all-
zu gerne übersehen wird. Durch Pflege und Ausbau
seiner eigenen Sammlungen, durch fachliche Bera-
tung von öffentlichen Stellen wie von privaten
Sammlern, durch Publikationen und Fachbeiträge
261
Impressionen von der Aus-
stellung zum 100. Todes-
tag von Josef Gabriel
Rheinberger, durchgeführt
im Herbst 2001 im Rat-
haussaal in Vaduz. Konzi-
piert und realisiert wurde
die Ausstellung vom Ate-
lier Silvia Ruppen, Vaduz.
Unten: der Museumsleiter
Norbert W. Hasler bei der
Einrichtung einer Vitrine
für die Sonderausstellung
262
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
trägt das Museum auch wesentlich zur Sensibilisie-
rung in denkmalpflegerischen Belangen bei.
Das Liechtensteinische Landesmuseum war im
Berichtsjahr massgebend in Planung, Aufbau und
Durchführung der Ausstellung «Josef Gabriel
Rheinberger-Einblicke in sein musikalisches Schaf-
fen», die vom 28. September bis 21. Oktober 2001
im Rathaussaal in Vaduz stattgefunden hat, invol-
viert.
Die gute Zusammenarbeit mit dem Amt für
Briefmarkengestaltung hat in den vergangenen
Jahren zu verschiedenen Briefmarkenausgaben
mit Motiven aus den Sammlungen des Liechtenstei-
nischen Landesmuseums geführt. Im Berichtsjahr
sind dies gleich drei Briefmarkenserien: die Ausga-
be zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Historischen
Vereins mit dem grossen Krieger von Gutenberg
und der karolingischen Kreuzfibel, die Briefmarken
mit den Votivtafeln in der Septemberausgabe sowie
die Weihnachtsserie mit drei barocken Medaillons
aus dem fünfzehnteiligen Rosenkranzzyklus aus
den Museumssammlungen.
Museums- und Ausstellungsbesuche galten der
Orientierung im Hinblick auf die Neugestaltung des
künftigen Liechtensteinischen Landesmuseums. Ne-
ben der aktiven Mitarbeit in mehreren Fachgremi-
en wurden die Projekte Bau und Ausstellung Lan-
desmuseum in vielen Sitzungen und Arbeitstagun-
gen in Fachkommissionen konkretisiert und in die
Phase der Detail- und Ausführungsplanung ge-
führt. Am 30. Oktober 2001 wurden durch das
Ausstellungsgestaltungs-Team Hanspeter Gassner
und Sabine Kranz die Projektpläne der künftigen
Dauerausstellungen vorgelegt. Mit dem Richtfest
vom 30. November 2001 fand in würdigem Rah-
men die erste Bauetappe, die mit dem Spatenstich
am 20. September 1999 begonnen hatte, ihren Ab-
schluss: die Rohbauarbeiten des Erweiterungsbaus
sind termingerecht beendet worden. Im kommen-
den Jahr sollen die gesamten Bau- und Renovati-
onsarbeiten abgeschlossen werden, so dass auf
Mitte 2003 mit der Neueröffnung des Liechtenstei-
nischen Landesmuseums gerechnet werden kann.
Museumsintern konnten verschiedene seit lan-
gem anstehende Projekte einer Lösung zugeführt
Drei Briefmarkenausgaben
des Jahres 2001 sind ge-
schmückt mit Motiven aus
den Sammlungen des
Liechtensteinischen Lan-
desmuseums.
263
Der Palmesel aus den
Sammlungen des Liechten
steinischen Landesmu-
seums war im Frühjahr
2001 zu Gast an der Son-
derausstellung «Tiere in
der Bibel - Gefährten und
Feinde», welche im Na-
turmuseum in Chur durch-
geführt wurde.
werden. Die Bibliothek des Landesmuseums wurde
in Zusammenarbeit mit der Leitung der Liechten-
steinischen Landesbibliothek neu geordnet und im
Aleph-System der Landesbibliothek erfasst. Das
Projekt kann bis Frühjahr 2002 abgeschlossen und
inskünftig museumsintern weitergeführt werden.
Ebenso wurden sämtliche Eingangsmeldungen der
Sammlungsbestände seit 1975 überarbeitet. Sie lie-
gen nun gebunden in 13 Bänden vor. Das im Jahr
2000 eingeführte EDV-Programm MuseumPlus hat
sich zwischenzeitlich sehr gut bewährt; das bishe-
rige Karteikarteninventar wird laufend in die EDV-
Sammlungsverwaltung übertragen und ergänzt.
Nicht nur die fachgerechte Betreuung und Verwal-
tung des bestehenden Sammlungsbestandes, son-
dern auch die gezielte Umsetzung der Sammlungs-
politik und Sammlungserweiterung ist für jedes
Museum von zentraler Bedeutung. Hinzu kommt
auch die Bearbeitung verschiedener Leihgesuche
anderer Museen. Unter anderem war der Palmesel
aus den Sammlungen des Landesmuseums glanz-
volles Exponat in der vielbeachteten Sonderausstel-
lung «Tiere in der Bibel - Gefährten und Feinde»,
die vom 17. Januar bis 17. Apri l 2001 im Bündner
Naturmuseum in Chur stattgefunden hat.
Im Restaurierungsbereich wurden neben der
laufenden konservatorischen Wartung der Samm-
lungen zahlreiche Objekte für die künftigen Aus-
stellungen untersucht und gepflegt. Mit dem Werk-
stattkonzert in der Orgelbaufirma Kuhn AG in Män-
nedorf vom 9. November 2001 waren die Restau-
rierungsarbeiten am Bodenseepositiv aus dem
17. Jahrhundert abgeschlossen. Der Rücktransport
erfolgte am 5. Dezember 2001.
264
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Paul Frick, langjähriger
Museumstechniker und
-fotograf, trat im Berichts-
jahr 2001 in den verdien-
ten Ruhestand.
M U S E U M S P E R S O N A L , T A G U N G E N ,
P R O J E K T E
Mit der Erreichung des 64. Altersjahrs am 21. Ja-
nuar 2001 trat Paul Frick nach über dreissigjähri-
ger Tätigkeit beim Liechtensteinischen Landesmu-
seum in den wohlverdienten Ruhestand. In einer
würdigen Feier wurde Herr Frick am 1. Februar
2001 durch den Stiftungsrat, die Museumskommis-
sion und die Museumsleitung vom Museumsdienst
verabschiedet. Im Zuge der Neustrukturierung der
Personalsituation beim Landesmuseum konnte die
neuformulierte vakante Stelle im Dezember 2001
zur Neubesetzung ausgeschrieben werden. Stif-
tungsrat und Museumsleitung gelangten am
13. Juli 2001 mit einem Gesamtdossier betreffend
der künftigen Personal- und Betriebssituation des
Landesmuseums an die Regierung. Die Lösung der
darin angesprochenen Probleme ist für die Jahre
2002 und 2003 in Aussicht gestellt.
Die 1999 wiederbesetzte Sekretariatsstelle konn-
te von 50 Prozent auf ein 80 Prozent-Pensum er-
höht werden. Vom 1. Oktober 2001 bis 31. März
2002 ist zudem Frau Anita Schädler, Triesenberg,
aushilfsweise in der Museumsverwaltung tätig.
In das Berichtsjahr fallen zwei Dienstjubiläen:
am 1. April 2001 war der Museumsleiter lic. phil.
Norbert W. Hasler zwanzig Jahre beim Landesmu-
seum tätig, am 1. November 2001 konnte Thomas
Müssner, Museumsrestaurator, sein zehnjähriges
Dienstjubiläum begehen.
Neben den wöchentlichen Teamsitzungen nah-
men die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lan-
desmuseums an unterschiedlichen Tagungs- und
Weiterbildungsprogrammen im In- und Ausland
teil. Zusammen mit dem Ausstellungsgestalter-
Team besuchte der Museumsleiter am 21. Juni die
4. Internationale Fachmesse für Museumswesen,
Sammlungen, Restaurierung und Ausstellungstech-
nik MUTEC 2001 in München. Thomas Müssner
nahm an der im Rahmen der Mutec organisierten
Restauratorentagung «Schimmel - Gefahr für
Mensch und Kulturgut durch Mikroorganismen»
vom 21. bis 24. Juni teil. Arthur Brunhart begann
den zweiten Teil der berufsbegleitenden Ausbil-
dung in Museologie an der Universität Basel. Der
Abschluss dieses Nachdiplomstudiums erfolgt im
Juni 2002. Zudem wurde Arthur Brunhart in die
Unabhängige Historikerkommission «Liechtenstein
im Zweiten Weltkrieg», die unter dem Vorsitz von
PD Dr. Peter Geiger, Schaan, steht, berufen. Arthur
Brunhart war vor allem in der Konzepterarbeitung
für verschiedene museumsrelevante Belange sowie
im Ausstellungsmanagement des Liechtensteini-
schen Landesmuseums tätig.
Mit den Vorarbeiten der seit längerem geplanten
Edition der Heibert Chronik wurde ebenfalls im
Laufe des Jahres begonnen. Zudem konnte das in-
teressante Dokument aus der Zeit der Franzosen-
kriege, 1799 von Johann Georg Heibert geschrie-
ben, in kleiner Auflage faksimiliert werden. Dem
Rheinberger Familienarchiv, in dem sich das Origi-
265
Das Landesmuseum vor
dem Neubeginn: Architekt
Frank Brunhart führte an-
lässlich der Richtfeier im
November 2001 die ge-
ladenen Gäste durch die
Baustelle.
nal befindet, sei an dieser Stelle für die wohlwol-
lende Zusammenarbeit herzlich gedankt.
P R O J E K T RENOVATION UND E R W E I T E R U N G
L A N D E S M U S E U M
In verschiedenen Gremien und Fachkommissionen
wurde mit grossem Engagement am Bau- und Aus-
stellungsprojekt des künftigen Liechtensteinischen
Landesmuseums weitergearbeitet. Allen Beteiligten
sei an dieser Stelle für die gute und zielführende
Mitarbeit gedankt. Mit der Richtfeier vom 30. No-
vember 2001 wurde ein erstes grosses Etappenziel
erreicht. In Anwesenheit von Regierungschef Ot-
mar Hasler, Landtagspräsident Klaus Wanger und
zahlreicher geladener Gäste konnte vor Ort ein Au-
genschein über das bisher Erreichte genommen
werden. Architekt Frank Brunhart führte durch die
Baustelle und erläuterte die komplexen Sachver-
halte bezüglich Renovation der Altbauten sowie Er-
richtung des hangseitigen Erweiterungsbaus. Die
zu diesem Anlass zusammengefassten Ausführun-
gen der Architektengemeinschaft Brunhart, Brun-
ner, Kranz finden sich im Anhang dieses Jahresbe-
richtes.
W O H N M U S E U M HAUS NR. 12
IN S C H E L L E N R E R G
Das Haus Biedermann, eine Aussensteile des
Liechtensteinischen Landesmuseums, wurde im
Berichtsjahr von mehr als Tausend Besucherinnen
und Besuchern besichtigt, darunter erfreulich viele
Gruppen und Schulklassen. Die Betreuung lag wie-
derum in den bewährten Händen von Frau Rose-
marie Biedermann, Mauren, und Frau Brigitte
Büchel, Schaan, die leider aus persönlichen Grün-
den für 2002 die Kündigung einreichen musste.
Einmal mehr war das Wohnmuseum Schellenberg
am Europa-Tag des Denkmals, der am 22. Septem-
ber 2001 durchgeführt wurde und unter dem Mot-
to «Wohnen im Baudenkmal» stand, im Mittel-
punkt des Interesses. Das Wohnmuseum hat zwi-
schenzeitlich seinen festen Platz in der Liechten-
steiner Museumslandschaft wie auch im Ortsbild
von Schellenberg gefunden.
S A M M L U N G E N
Ausbau und stetige Betreuung seiner Sammlungen
zählen zu den Hauptaufgaben eines jeden Mu-
seums. Dies ist bei einem Vielspartenmuseum, wie
es das Liechtensteinische Landesmuseum ist, eine
besonders anspruchsvolle Aufgabe. Wie Archive
und Bibliotheken sind Museen Orte der gemeinsa-
men Erinnerung. Sind es vor allem schriftliche Do-
kumente und Quellen, welche die Bestände von Ar-
chiven und Bibliotheken bilden, so sind es ganz an-
dere materielle Zeugnisse des menschlichen Tuns
und Handelns, welche die Sammlungen eines Mu-
seums ausmachen und das kulturhistorische Bild
eines Landes, einer Region, des Kulturraumes über
die Landesgrenzen hinaus dokumentieren. Museen
gehen unter allen Kultureinrichtungen als einzige
vom Grundsatz aus, dass die Auswahl und Erhal-
tung von authentischen Objekten und Materialien
der gesamten Wirklichkeit für die Menschen der
Gegenwart und der Zukunft von Bedeutung ist.
Ohne Sammlungen gibt es kein Museum. Sie sind
266
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
die unabdingbare Voraussetzung für seinen Da-
seinszweck, die Vermittlung ihrer Aussagen im hi-
storischen Kontext und Umfeld an die Öffentlichkeit
(vgl. Friedrich Waidacher: Handbuch der Allgemei-
nen Museologie, Wien, 1993, S. 190 ff.).
Oft sind es kleine, unscheinbare Dinge, die im
Leben unserer Vorfahren aber von grosser Bedeu-
tung waren und die - in den entsprechenden Sach-
verhalt gestellt - Zeugen einer historischen Ent-
wicklung werden. Durch Schenkungen und Ankäu-
fe, die sich vor allem auf die kommenden Ausstel-
lungen des Liechtensteinischen Landesmuseums
ausrichten, konnten interessante und wertvolle Ob-
jekte, darunter auch Unikate und gesuchte Raritä-
ten verzeichnet werden, nicht nur im graphischen,
kartographischen oder numismatischen Bereich,
sondern auch aus der Zeit der Industrialisierung,
aus Gewerbetätigkeit und Alltag, u.a. die Curta Re-
chenmaschine Typ I, die Fotokamera Reflekta der
Firma Contina Mauren sowie zwei Carena Filmka-
meras derselben Liechtensteiner Firma. Von den
weit mehr als hundert Eingängen sind zahlreiche
Objekte gezielt für die künftigen Dauerausstellun-
gen erworben worden. Besonders erwähnt sei der
Rückkauf von rund 150 Münzen aus dem Bestand
des Schellenberger Münzfundes, die damals,
1930/31, in Vorarlberger Privatbesitz gelangten.
In der grafischen Sammlung konnte die Serie
von Liechtenstein-Veduten (lithographische An-
sichten der steirischen Städte, Märkte und Schlös-
ser) in der Ansichtenfolge der sogenannten «alten
Kaiser'schen Suite», Graz 1825/35 um vier Blätter
ergänzt werden: Zwei Ansichten «Schloss und
Markt Riegersburg», eine Ansicht «Schloss Lim-
berg bei Schwanberg» und eine Ansicht «Schloss
Frauenthal bei Deutschlandsberg». Ein ganz aus-
serordentlicher Zugang ist mit fünf gouachierten
Aquarellen von Johanna Isser von Gaudenten-
thurn, geborene Grossrubatscher (1802-1880) zu
verzeichnen. Es handelt sich um die Ansichten der
Felsenschlossruine Wechenstein bei Oberriet (1843
sowie 1834/59), der Schlossruine Blatten bei Ober-
riet (1844/45), von Schloss Forsteck bei Salez
(1842/45), und des St. Valentinsberges bei Rüthi SG
(1848/59). In der graphischen Sammlung befinden
sich seit langem vier gouachierte Aquarelle mit den
Ansichten von Schloss Gutenberg, Schloss Vaduz
sowie den Ruinen Schalun und Schellenberg. Bis-
lang war die Autorschaft dieser Ansichten unbe-
kannt. Dank der Aquarelle mit Motiven aus dem
benachbarten St. Galler Rheintal konnten diese
erstmals und eindeutig der aus Innsbruck stam-
menden Zeichnerin und Malerin Johanna Isser von
Gaudententhurn zugewiesen werden.
Für die seit langem im Aufbau befindliche
Sammlung von Werken Liechtensteiner Kunst-
schaffender konnten neben einem aussergewöhnli-
chen Werk des aus Planken stammenden Malers
Hans Gantner «Erntebild» auch acht Arbeiten von
Professor Ferdinand Nigg erworben werden, dar-
unter mehrere Stoffdrucke aus seiner Hand. Als
Geschenk durfte das Landesmuseum einen hand-
gewobenen Bildteppich «Profile / Januskopf» des in
Liechtenstein nicht unbekannten, aus Wien stam-
menden Künstlers Peter Proksch (* 1935) entgegen-
nehmen. Im kartographischen Bereich sei beson-
ders der Zugang der grossformatigen grenzkolo-
rierten Kupferstichkarte «Helvetia, Rhaetia, Valesia
etc.» mit 52 Ortsansichten in der Kartenumran-
dung von Heinrich Ludwig Muoss, Zug 1698, er-
wähnt. Auch auf numismatischem Gebiet konnten
verschiedene Lücken geschlossen werden. Über
diese und weitere Neuzugänge gibt das nachfolgen-
de Auswahlverzeichnis Aufschluss.
Nur wer die Vergangenheit wirklich kennt, wird
sich bemühen, für die Zukunft aus unserer Gegen-
wart eine gute Vergangenheit zu machen.
Mag. Gerd Bieget
Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums
Hannover
267
DANK STIFTUNGSRAT
Die Museumsleitung dankt der Regierung, dem
Landtag, dem Stiftungsrat, namentlich der Präsi-
dentin Frau lic. phil. Eva Pepic, den Mitgliedern der
Museumskommission sowie dem Museumsteam
für jede Art der Unterstützung und die zielführende
Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt allen
am Bau- und Ausstellungsprojekt Beteiligten für
Hilfestellung, Einsatz und Engagement.
Ebenso ist das Landesmuseum folgenden Donato-
ren zu grossem Dank verpflichtet:
- Fürstl. Rat Robert Allgäuer, Vaduz
- Frieda Bargetze, Triesen
- Elmar Batliner, Eschen
- Antoinette Beck, Schaan
- Albert Bicker, Grabs
- Klaus Biedermann, Vaduz
- Herbert Fritsch, Feldkirch
- Erika Hautmann, Vaduz
- Lorenz Hilty, Schaan
- Arnold Kaiser, Schaanwald
- Hansjörg Kaufmann, Schaan
- Thomas Müssner, Bendern
- Rosa Negele, Triesen
- Dr. Edwin Oberhauser, Götzis
- Arthur Reutimann, Buchs
- Prof. Dr. Elmar Vonbank, Bregenz
- Manfred Wanger, Planken
- Joseph Wohlwend, Vaduz
Vaduz, im Januar 2002
lic. phil. Norbert W. Hasler,
Leiter des Liechtensteinischen Landesmuseums
Der Jahresbericht 2001 wurde vom Stiftungsrat
des Liechtensteinischen Landesmuseums in seiner
Sitzung vom 18. Februar 2002 in vorliegender Aus-
führung genehmigt.
- Mag. Edmund Banzer, Hohenems
- Trudy Bricci-Marok, Mauren
- Ulrike Brunhart, Balzers
- lic. phil. Roland Hilti, Ruggell
- Maria Marxer, Gamprin
- lic. phil. Eva Pepic, Triesen (Präsidentin)
- Dr. Thomas Wilhelm, Vaduz
MUSEUMSKOMMISSION
- lic. phil. Norbert W. Hasler, Schaan (Vorsitz)
- Johann Otto Oehry, Triesen
- Univ. Prof. Dr. Elmar Vonbank, Bregenz
- Manfred Wanger, Planken
MUSEUMSPERSONAL
- Tanja Büchel-Felder, Balzers, Sekretärin,
(80-Prozent-Stelle)
- lic. phil. Arthur Brunhart, Balzers, Wissen-
schaftlicher Mitarbeiter
- Gertrud Frick, Schaan, Teilzeitmitarbeiterin
(50-Prozent-Stelle), seit März 2001 unfallbe-
dingt ausgefallen
- Paul Frick, Sachbearbeitung Fotografie,
bis 31. Januar 2001
- Thomas Müssner, Bendern, Restaurator
- Anita Schädler, Triesenberg, Teilzeitmitarbei-
terin im Sekretariat (70 Prozent, seit 1. Oktober
2001)
- lic. phil. Norbert W. Hasler, Schaan,
Museumsleiter
- Rosemarie Biedermann, Mauren, Aufsicht
Wohnmuseum Schellenberg
- Brigitte Büchel, Schaan, Aufsicht Wohnmuseum
Schellenberg, bis 31. Oktober 2001
268
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Verzeichnis der wichtigsten
Erwerbungen und Schenkungen
G R A P H I K UND K A R T O G R A P H I E
Schloss und Markt Riegersburg von der Südseite.
Federlithographie, hrsg. von Joseph Franz Kaiser,
Lithographische Anstalt, Graz 1825/35. Erschie-
nen in der Folge: Lithographische Ansichten der
Steyermärkischen Städte, Märkte und Schlösser.
9,4 x 15,1 cm. E 2001/1. Inv. Nr. LLM Gr. 859.
«Schloss Rigersdorf Sr. Durchlaucht dem Fürsten
von Lichtenstein gehörig in Judenbfurger] Kreis».
Federlithographie, hrsg. von Joseph Franz Kaiser,
Lithographische Anstalt, Graz 1825/35. Erschie-
nen in der Folge: Lithographische Ansichten der
Steyermärkischen Städte, Märkte und Schlösser.
9,4 x 15,4 cm. E 2000/2. Inv. Nr. LLM Gr. 860.
«Schloss Limberg im deutschen Boden des Mar-
burger Kreises». Federlithographie, hrsg. von
Joseph Franz Kaiser, Lithographische Anstalt,
Graz 1825/35. Erschienen in der Folge: Lithogra-
phische Ansichten der Steyermärkischen Städte,
Märkte und Schlösser.
9,4 x 15,1 cm. E 2001/3. Inv. Nr. LLM Gr. 861.
«Schloss Frauenthal im deutschen Boden des
Marburger Kreises». Federlithographie, hrsg. von
Joseph Franz Kaiser, Lithographische Anstalt Graz
1825/35. Erschienen in der Folge: Lithographische
Ansichten der Steyermärkischen Städte, Märkte
und Schlösser.
9,4 x 15,1 cm. E 2001/4. Inv. Nr. LLM Gr. 862.
«Felsenschlossruine Wechenstein bei Oberried».
Innenansicht mit Ausblick ins Rheintal.
Aquarell, gouachiert, von Johanna Isser von Gau-
dententhurn (1802-1880). Datiert: 2. November
1843- November 1843. Nr. 29.
33,3 x 21,6 cm. E 2001/24. Inv. Nr. LLM Gr. 868.
«Die Schlossruine Blatten bei Oberried». Mit der
Darstellung der Rheinfähre bei Meiningen. Aqua-
rell, gouachiert, von Johanna Isser von Gauden-
tenthurn (1802-1880). Datiert: 25. September
1844- Februar 1845. Nr. 57.
22 x 16,5 cm. E 2001/25. Inv. Nr. LLM Gr. 869.
Burgruine Wechenstein
bei Oberriet, gouachiertes
Aquarell von Johanna
Isser von Gaudententhurn,
1843
269
Burg Forsteck bei Salez,
gouachiertes Aquarell von
Johanna Isser von Gau-
dententhurn, 1842/1845
«Schloss Forsteck bei Saletz». Aquarell, goua-
chiert, von Johanna Isser von Gaudententhurn
(1802-1880). Datiert: 17. Juli 1842-Februar
1845. Nr. 58.
22 x 16,5 cm. E 2001/26. Inv. Nr. LLM Gr. 870.
«Felsenschlossruine Wechenstein bei Oberried».
Ansicht vom Gelände ausserhalb der Burg. Aqua-
rell, gouachiert, von Johanna Isser von Gauden-
tenthurn (1802-1880). Datiert: 12. August 1834 -
März 1859. Nr. 127.
25,2 x 19,2 cm. E 2001/27. Inv. Nr. LLM Gr. 871.
«St. Valentinsberg bei Reuti». Aquarell, gouachiert,
von Johanna Isser von Gaudententhurn
(1802-1880). Datiert: 31. Juli 1848 - März 1859.
Nr. 128.
25 x 19,4 cm. E 2001/28. Inv. Nr. LLM Gr. 872.
Fasane in Waldlichtung. Aquarell von Prinz Hans
von Liechtenstein. Links unten signiert: «H. Liech-
tenstein, 54».
32,4 x 23 cm. E 2001/8. Inv. Nr. LLM Gr. 863.
Eulen, Kauz und Nebelkrähe. Vogelstudie. Aqua-
rell von Prinz Hans von Liechtenstein. Rechts
unten signiert: «Hans Liechtenstein, Zürich 9.
XII. 55».
32,4 x 23 cm. E 2001/9. Inv. Nr. LLM Gr. 864.
Schnepfenpaar. Aquarell von Prinz Hans von
Liechtenstein. Links unten signiert: «H. Liechten-
stein, 52».
32,9 x 23,9 cm. E 2001/10. Inv. Nr. LLM Gr. 865.
Einladungskarte zum Festbankett anlässlich des
50-jährigen Regierungsjubiläums von Fürst Jo-
hann II. am 26. November 1908 in Seger's Gasthof
zum «Bierhaus» in Vaduz.
11,7 x 13 cm. E 2001/38.
Schenkung: Fürstlicher Rat Robert Allgäuer,
Vaduz.
270
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
iflr
Festbankett-Karte mit Menü anlässlich des 50-
jährigen Regierungsjubiläums von Fürst Johann IL,
gegeben in Seeger's Gasthof zum «Bierhaus»
in Vaduz am 26. November 1908.
17,7 x 11,4 cm. E 2001/39.
Schenkung: Fürstlicher Rat Robert Allgäuer,
Vaduz.
Kabinettsrat Kar l v. In der maur beehrt sieb,
Gerrit
zu dem anlässlich des sojäbrigen Reflierungsjubiläums
Seiner Durchlaucht des regierenden fürsten
Donnerstag den 26. Jfovember 1908,
nachmittags 1 Uhr,
in Seger's Qasthof z. „ ß i e r h a u s " , Vaduz
stattfindenden Testessen ergebenst einzuladen.
Jyür ben rfu[l brr '-yerbiiibennirt roirb ?lbiniie bis fbiiteiteno '21. *Jioi>.
erbeten.
Fasane in einer Waldlich-
tung und Schnepfenpaar,
Aquarelle von Prinz Hans
von Liechtenstein,
1954/1955
Einladung zum Festessen
aus Anlass des 50-jährigen
Regierungsjubiläums von
Fürst Johann II. in Vaduz
1908
271
Heinrich Ludwig Muoss
in Zug fertigte 1698 diese
Kupferstichkarte der
Schweiz an.
Helvetia, Rhaetia et Valesia. Grenzkol. Kupferstich-
karte von Heinrich Ludwig Muoss, Zug 1698.
Grosse Gesamtkarte der Schweiz und der angren-
zenden Gebiete mit 52 Ortsansichten in der Um-
randung sowie mehrere Kartuschen und Personi-
fizierungen. Auf Leinwand montiert.
87 x 102,5 cm. E 2001/71.
Bayern, Schwaben, Fürstentum Liechtenstein.
Kupferstichkarte auf 2 Blättern. Fol. XVIII und IX.
Mit Distanzskala. London, L. Stockdale, June 4th
1800.
61 x 71,5 cm. E 2001/74.
Relief-Karte der Schweiz von Ed. Beck in Bern,
1893.
Gerahmt, 59 x 78 cm. E 2001/7.
Schenkung: Joseph Wohlwend, Vaduz.
272
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Reliefkarte der Schweiz
K U N S T S C H A F F E N aus dem Jahre 1893
Evangelist St. Markus. Kohle- und Farbkreide-
zeichnung von Ferdinand Nigg (1865-1949). Mitte
unten signiert: «FN».
63 x 45 cm. E 2001/29.
Haupt eines Apostels. Kohle- und Farbkreidezeich-
nung von Ferdinand Nigg (1865-1949). Nicht
signiert.
30 x 19 cm. E 2001/30.
Adler des Evangelisten Johannes. Kohle- und
Farbkreidezeichnung von Ferdinand Nigg
(1865-1949). Mitte unten signiert: «FN».
34,3 x 20 cm. E 2001/31.
273
Doppelhausmotiv. Stoffdruck in Blau und Schwarz.
Linoldruck auf Textil. Ferdinand Nigg
(1865-1949).
124x47 cm. E 2001/32.
Drachenfries. Stoffdruck in Rot und Gold. Linol-
druck auf Textil. Ferdinand Nigg (1865-1949).
75 x 50 cm. E 2001/33.
Tiermotive. Stoffdruck in Grün und Gold. Linol-
druck auf Textil. Ferdinand Nigg (1865-1949).
56,5 x 49,5 cm. E 2001/34.
Geometrische Ornamente. Stoffdruck in Schwarz.
Linoldruck auf Rohleinwand. Ferdinand Nigg
(1865-1949).
43,5 x 48 cm. E 2001/35.
Geometrische Ornamente. Stoffdruck in Schwarz.
Linoldruck auf Rohleinwand. Ferdinand Nigg
(1865-1949).
43,5 x 48 cm. E 2001/36.
Erntebild. Öl auf Leinwand. Hans Gantner
(1853-1914). Rechts unten signiert: «H. Gantner».
34 x 50 cm. E 2001/19.
Porträt des Fürsten Franz Josef II. von Liechten-
stein. Öl auf Leinwand. Eugen Zotow (1881-1953).
Rechts unten signiert: Prof. E. Zotow. 1939.
124,5 x 100 cm. E 2001/15.
Profile / Januskopf. Bildteppich nach Entwurf von
Peter Proksch (* 1935 in Wien), gewoben von
Heide Proksch. 1993/94.
135 x 77 cm. E 2001/17.
Schenkung: Erika Hautmann, Vaduz.
Profile eines Januskopfes,
entworfen von Peter
Proksch, umgesetzt von
Heide Proksch in Teppich-
form, 1993/1994
274
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
MÜNZEN UND M E D A I L L E N
160 Münzen des Schellenberger Münzschatz-
fundes von 1930/31. Rückkauf aus Privatbesitz.
E 2001/75.
Frankenwährung um 1924. Umlaufwährung des
Schweizerfrankens zur Zeit des Inkrafttretens des
Währungsvertrags Schweiz - Liechtenstein 1924.
1 Rappen bis 100 Franken-Note.
E 2001/42 - E 2001/53.
Gedenkmedaille des Herzogtums Parma und Pia-
cenza zum Bau einer Brücke über die Trebbia,
1821, Silber. Die Inschrift auf der Rückseite erin-
nert an die drei Schlachten, die an der Trebbia
stattgefunden haben. Hannibal schlug im Jahre
216 vor Christus den römischen Konsul Tiberius
Sempronius Longus. Am 16. Juni 1746 siegte
Prinz Joseph Wenzel von Liechtenstein über die
französischen Truppen. Im Juni 1799 besiegte die
russisch-österreichische Armee unter den Gene-
rälen Suworow und Melas die Franzosen unter
General Macdonald.
0 41 mm. Gewicht: 30,07 gr. E 2001/41.
Taler von 1616 des Fürsten Carl von Liechtenstein,
Silber.
0 42 mm. Gewicht: 27,94 gr. E 2001/20.
Silbermedaille zum 40. Regierungsjubiläum des
Fürsten Franz Josef II. von Liechtenstein. Rück-
seitige Bezeichnung: Pater Patriae (Fürstenhut mit
Wappen).
Umschrift: Pro Deo cum Populo. XL Annos
regnans 1978.
0 32 mm. Gewicht: 12,75 gr. E 2001/72.
Gedenkmedaille in Bronze: 50 Jahre Stella
Matutina Feldkirch (1856-1906).
0 40 mm. Gewicht: 25,62 gr. E 2001/14.
Gedenkmedaille des
Herzogtums Parma und
Piacenza zum Bau einer
Brücke über die Trebbia,
1821
Taler von 1616 mit dem
Bildnis des Fürsten Karl
von Liechtenstein
275
Französische Taschenuhr
aus Silber, um 1800
Lederhelm des Liechten-
steinischen Militärkontin-
gents, 1859
V E R S C H I E D E N E S
Sammlung von 172 Postkarten, Chromolithos und
Original-Fotographien aus Liechtenstein, 1897 bis
zirka 1940.
E 2001/76.
Lederhelm des Liechtensteinischen Militärkontin-
gentes 1859. Bayerischer Jägerhelm.
Höhe 27,5 cm. E 2001/6.
Taschenuhr, französisch, um 1800. Silber. Email-
zifferblatt, im oberen Teil kleine Uhr, bemalt mit
Soldaten, Infanterie und Artillerie. Unter der Uhr
ein rundes Fenster, das Teil einer sich bewegen-
den Scheibe mit Infanteristen und angreifenden
Dragonern freigibt. Souvenir aus den napoleoni-
schen Kriegen. Der Automat zeigt Gefechte zwi-
schen Franzosen und Österreichern um
1795/1800. E 2001/23.
Reflekta-Fotokamera, Made in Liechtenstein, um
1960. Contina AG Mauren.
Länge: 15 cm, Höhe: 10,5 cm, Tiefe: 10 cm. Ge-
wicht: 912 gr. E 2001/18.
Schenkung: Manfred Wanger, Planken.
276
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Filmkamera Carena-
Zoomex Nr. 84981 mit
Zubehör
Filmkamera Auto Carena Nr. 53654. Made in
Liechtenstein. Contina AG Mauren. Objektiv: Cul-
minon Steinheil München 1:1,9/13 mm. E 2001/5.
Schenkung: Hansjörg Kaufmann, Schaan.
Filmkamera Auto Carena Nr. 57479. Made in
Liechtenstein. Contina AG Mauren. Sky-Objektiv.
Mit Fototasche.
E 2001/58.
Filmkamera Carena-Zoomex Nr. 84981. Camera
Made in Liechtenstein. Contina AG Mauren. Lens
Made in France. Angenieux-Zoom Type K2 Nr. 957
168. P. Angenieux, Paris.
Mit Lederfototasche, diversem Zubehör sowie
Gebrauchsanleitung.
E 2001/59.
Reflekta-Fotokamera,
um 1960
Curta-Rechenmaschine
in Originalverpackung mit
Gebrauchsanweisung
277
Schnapsbrennerei aus
dem Haus von Renaldo
Gassner, Garnis, Triesen,
die vom Ende des 19.
Jahrhunderts bis um 1990
in Gebrauch stand.
278
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Tafelwaage mit zwei
Messingschalen, um 1900
Curta-Rechenmaschine / Typ I. / Nr. 80315. Die
neue kleine Universalrechenmaschine. Grösse I,
8 x, 6 x, 11-stellig. Fabrikat der Firma Contina AG,
Vaduz. Liechtenstein. In Originalverpackung mit
Gebrauchsanweisung.
E 2001/57.
Zweischalenwaage, sogenannte Tafelwaage. Trag-
kraft 15 kg, mit zwei Messingschalen.
Länge: 64 cm, Breite: 24 cm, Höhe: 20 cm.
E 2001/11.
Schnapsbrennerei aus Triesen, bestehend aus
einem kupfernen Brennkessel und Kühlfass.
E 2001/77.
Bierflaschen: «Quaderer's Brauerei Schaan Lich-
tenstein». Braunes Glas mit Bügelverschluss.
E 2001/54.
Bierflasche: «B. Seger Mühleholz». Braunes Glas
mit Bügelverschluss.
E 2001/55.
Mineralwasserflasche mit Farb-Etikette von Eugen
Verling: «Liechtensteinisches ALPILA Erfrischungs-
getränk».
E 2001/56.
Bierflaschen aus der
Brauerei Quaderer in
Schaan, um 1900. In
Verwendung bis 1914
279
Akkordzither in Original-
karton, um 1900
Weisse Leinendecke mit blauer Stickerei: «Gott
bewahr' uns vor Wetter und Wind, und vor Gesel-
len die langweilig sind».
188 x 54,5 cm. E 2001/73.
Schenkung: Antoinette Beck, Schaan.
Hebammen-Instrumente von Frau Frieda
Bargetze, Hebamme in Triesen, tätig in den
1950er und 1960er Jahren.
E 2001/70.
Schenkung: Frieda Bargetze, Triesen.
Akkordzither in Originalkarton, um 1900.
Länge: 51 cm, Breite: 30 cm, Höhe: 8 cm.
E 2001/13.
Schenkung: Rosa Negele, Triesen.
Stereo-Möbel, Loewe Opta. 1960er Jahre.
Furnierter Möbelkorpus auf Massiv-Holzfüssen.
79 x 113 x 38 cm. E 2001/37.
Schenkung: Thomas Müssner, Bendern.
280
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
BILDNACHWEIS
S. 262 oben und Mitte:
Studio Heinz Preute,
Vaduz
S. 262 unten: Atelier Silvia
Ruppen, Vaduz
S. 264: Norbert W. Hasler,
Liechtensteinisches Lan-
desmuseum, Vaduz
S. 265: Hansjörg From-
melt, Archäologie FL,
Triesen
S. 266: Sven Beham,
V. COM AG, Vaduz
Übrige Abbildungen: Reto
Hasler, Bildarchiv des
Liechtensteinischen Lan-
desmusems
ANSCHRIFT DES
AUTORS
lic. phil. Norbert W. Hasler
Liechtensteinisches
Landesmuseum
FL-9490 Vaduz
281
Renovation und Erweiterung
des Liechtensteinischen Landes-
museums
BERICHT DER A R C H I T E K T E N -
G E M E I N S C H A F T
Die Aufgabenstellung des 1998 international aus-
geschriebenen Wettbewerbes hatte zum Ziel, eine
sowohl bauliche als auch organisatorische Lösung
für die Neuerrichtung des Liechtensteinischen Lan-
desmuseums zu erarbeiten. Der Baubeginn des erst-
rangierten Projektes «Reihenfolge» der Architek-
tengemeinschaft Brunhart, Brunner, Kranz AG aus
Balzers erfolgte im Herbst 1999. Nach der für 2003
vorgesehenen Wiedereröffnung wird das neue Lan-
desmuseum drei Gebäudeteile umfassen. Dabei
handelt es sich um die historisch bedeutsamen Alt-
bauten des ehemaligen «Landesmuseums» und des
«Verweserhauses» sowie um einen hangseitig neu
errichteten Erweiterungsbau. Die Altbauten konn-
ten, obwohl in ihrer Substanz stark beschädigt, sta-
tisch erfolgreich konsolidiert werden. Umbau und
Renovation erfolgen auf eine sanfte und bestands-
schonende Weise, welche die Aspekte der Denk-
malpflege in Einklang bringt mit den Anforderun-
gen eines modernen Museumsbetriebes. Der Er-
weiterungsbau ist dank des gewählten statisch-
konstruktiven .Systems in der Lage, den steilen
Hang abzustützen. Er stellt damit gleichzeitig einen
Schutz für die beiden alten Häuser dar. Versinn-
bildlicht wird diese Rolle durch eine Fassade aus
Bruchstein, der beim Ausheben der Baugrube an
Ort und Stelle gewonnen wurde. Im Kontrast zu
den beiden Altbauten, wo sich alles Neue behutsam
und zurückhaltend einfügt, ist das höhlenartige In-
nere des Erweiterungsbaues mit seinen grau ver-
putzten Wänden und Decken und einem ebenfalls
grauen Terrazzoboden bewusst modern und ab-
strakt konzipiert. Nebst Räumlichkeiten für den
Kulturgüterschutz sowie den Medien- und Schu-
lungsräumen beinhaltet das Raumprogramm des
Erweiterungsbaues eine naturkundliche Ausstel-
lung sowie einen Wechselausstellungsbereich. Zu-
sammengerechnet mit den landeskundlichen Dau-
erausstellungen in den beiden Altbauten werden
dem neuen Liechtensteinischen Landesmuseum ge-
samthaft 1700 Quadratmeter Ausstellungsfläche
zur Verfügung stehen.
ORT UND PROBLEMSTELLUNG
Das für die Erweiterung des Landesmuseums in
Vaduz vorgesehene Grundstück ist kein Bauplatz
im konventionellen Sinn. Es liegt eingezwängt zwi-
schen den Rückseiten der bestehenden Altbauten
von bisherigem Landesmuseum und ehemaligem
Verweserhaus und dem steil ansteigenden Hang
des Schlossbergs in erhöhter und abseitiger Lage.
Vor dem Bau war das Areal kaum zugänglich und
konsequenterweise recht verwahrlost.
Während weiter südlich in Richtung Pfarrkirche
der Hang von der Hauptstrasse mehr und mehr
nach Osten zurückweicht und Platz für eine mehr-
reihige Gebäudestruktur schafft, rückt der Hang-
fuss im Bereich von Landesmuseum und Englän-
derbau bis an das Trottoir der Hauptstrasse heran
und ist von dieser nur durch mehrere bestehende
Stützmauern lokal abgeschnitten. Die Bebauungs-
struktur ist hier einreihig, die Häuser stehen mit
ihren Fronten direkt an der Strasse und mit ihren
Rückseiten im Hang. Das direkte und dramatische
Zusammentreffen der eher wild und ungezähmt er-
scheinenden Natur des steilen, mit hochstämmigen
Buchen eng bestandenen Schlossbergs und der
Städtli-Strasse mit ihrem Urbanen Anspruch ist für
Vaduz prägend und bis heute in hohem Mass iden-
titätsstiftend. Diese städtebauliche Grundstruktur
erscheint auch im Blick auf die Zukunft als trag-
fähig und alles andere als obsolet.
PROJEKTSTRATEGIE
Anstatt das bestehende, für Vaduz historisch sehr
bedeutsame Gebäude-Ensemble durch ein neues
architektonisches Objekt in zweiter Reihe zu kon-
kurrenzieren und auf dem nicht plausibel erschei-
nenden Kraftakt einer städtebaulichen Umpolung
von «Vorne» und «Hinten» zu bestehen, versucht
das Projekt, den Charakteren der auf dem Grund-
stück vorgefundenen unterschiedlichen Orte im Ge-
genteil möglichst wenig Widerstand entgegenzuset-
zen und die bestehende und im Grundsatz als rich-
tig eingeschätzte, heute aber trotzdem eher unbe-
282
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Blick nach Westen durch
die Loggia des Erweite-
rungsbaus
friedigende Konstellation zwischen Hangsituation
und Altbauten durch die Neubaumassnahmen zu
klären und stärker herauszuarbeiten.
Die geologischen Verhältnisse und das grosse
Gefälle des Hangs machen ein direktes Aufeinan-
dertreffen zwischen den abrutschenden und in der
Folge auch schon rein optisch bedrohlichen Erd-
massen des Hangschutts und den sich im Hangbe-
reich befindlichen Gebäuden unweigerlich zum
Problem. Im rückwärtigen Bereich von Landesmu-
seum und Verweserhaus haben Stützmauern die
Baukörper praktisch freigestellt, wodurch diese
ihre Einbindung in den Hang verloren haben und
ihrer prinzipiellen Positionierung weitgehend ent-
fremdet wurden. Faktisch stellen diese Stützmau-
ern wohl einen Schutz für die Gebäude dar, sie
scheinen diese aber gleichzeitig auch zu bedrohen.
Der Neubauteil des Projektes begreift sich als
«Bauen im Berg» und artikuliert sich nach aussen
durch seine Zugehörigkeit zum System der parallel
zum Hang laufenden Stützmauern, wobei der Spa-
gat angestrebt wird zwischen dem faktischen und
dem psychologischen Schutzangebot für die alten
Häuser und deren unmittelbarer Einbindung in die
Topographie des Hanges. Einerseits scheinen die
am Hangfuss stehenden Gebäude und die sich wei-
ter oben befindlichen Stützmauern präzise aufein-
ander bezogen, andererseits fehlt der Projektkon-
stellation aber doch alles offenkundig Absichtsvol-
le. Die Zugehörigkeit der einzelnen Projektteile zu
vollkommen unterschiedlichen architektonischen
Zeiten und Welten gibt den Anschein des auf selbst-
verständliche Weise Gewordenen, des vermeintlich
ohne entwurfliche Strategie enstandenen Authenti-
schen. Es ist die Absicht des Projektes, dass sich
durch diese Art eines sowohl rücksichtsvollen als
auch distanzierten Nebeneinanders die Alt- und die
Neubauten wechselseitig in ihrem poetischen Po-
tential bestärken.
283
AUSSTELLUNGSFLÄCHEN
Mittelalter
Archäologie
17./18. Jahrhundert
19. Jahrhundert
20. Jahrhundert
Naturkunde
Wechselausstellung
Total Ausstellungsflächen
ANDERE FLÄCHEN
Räume für Kulturgüterschutz
Verwaltung/Archiv
Medienräume/Schulung
Restaurierung
Übrige Flächen
Total andere Flächen
Gesamtbaukosten in CHF
285 m 2
160 m 2
230 m 2
178 m 2
187 m 2
289 m 2
402 m 2
1731 m 2
398 m 2
468 m 2
219 m 2
113 m 2
1197 m 2
2395 m 2
28,6 Millionen
Grundriss mit den Altbau-
ten sowie mit dem hang-
seitigen Erweiterungsbau
Querschnitt durch den
Erweiterungsbau
ORGANISATION UND NUTZUNGSVERTEILUNG
Der Haupteingang zum Landesmuseum soll auch in
Zukunft an der Nordfassade des Altbaus liegen.
Das scheint speziell auch unter dem Aspekt sinn-
voll, dass sich mit dem Engländerbau, dem zukünf-
tigen fürstlichen Kunsthaus und dem Kunstmuse-
um für die staatlichen Sammlungen weitere Kunst-
und Ausstellungsnutzungen auf der Nordseite des
Landesmuseums ansammeln werden. Vom Haupt-
eingang aus erschlossen wird nicht nur der Altbau
des Landesmuseums, sondern auch das Verweser-
haus und der Neubautrakt.
Die Obergeschosse der beiden Altbauten neh-
men zusammen die Ausstellungsgüter der landes-
kundlichen Abteilung auf. Im Erdgeschoss des al-
ten Landesmuseums werden in Nachbarschaft zum
Haupteingang noch weitere Räume des gemein-
schaftlichen Bereichs untergebracht. Das Verwe-
serhaus beherbergt im Erdgeschoss die Ausstellun-
gen der Archäologie und im Dachgeschoss des al-
ten Landesmuseums befindet sich die Verwaltung.
Der zweigeschossige Trakt des Neubaus dient
zuoberst im zweiten Obergeschoss der Unterbrin-
gung der Wechselausstellung, darunter den Räum-
lichkeiten der Naturkundlichen Sammlung und der
Restauration, im Erdgeschoss der Aufnahme von
Medienräumen, Haustechnik und Anlieferung, und
im Kellergeschoss der Organisation der Räume des
Kulturgüterschutzes.
Lieferzufahrt und Eingang zu den über der An-
lieferung angeordneten Räumen des Restaurations-
bereiches liegen in der dreigeschossigen Front des
Neubaues, welche auf der Nordseite an das alte
Landesmuseum anschliesst. Diese Front ist formal
ausgebildet als eine Weiterführung der von der
nördlichen Nachbarzelle heranführenden Stütz-
mauer.
284
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
285
ALTBAUTEN UND DENKMALSCHUTZ
Die beiden Altbauten sollen sorgfältig und soweit
möglich bestandesschonend umgebaut und in Tei-
len gegebenenfalls auch restauriert werden. Auf ei-
ne didaktische Hervorhebung der neuen Eingriffe
wird speziell auch mit Blick auf die stark beschä-
digte Bausubstanz verzichtet. Das Neue soll sich im
Bereich der Altbauten eher nur auf den zweiten
Blick zu erkennen geben. Die Identität der Altbau-
ten wird jeweils durch eine eigenständige Treppen-
anlage gestärkt, gleichzeitig besteht aber in jedem
Geschoss über einen neu zu erstellenden Verbin-
dungsbaukörper die Möglichkeit eines behinder-
tengerechten Übergangs zwischen dem Altbau des
Landesmuseums und dem Verweserhaus.
ARCHITEKTUR DES NEUBAUTEILS
Die geometrische Struktur des Neubautraktes ent-
steht aus dem präzisen Studium des Terrains her-
aus fast von selbst. Das direkte Reagieren auf die
vorhandene Topographie bewirkt eine leichte Ver-
zerrung des ansonsten einfachen geometrischen
Aufbaus, was der Wegführung innerhalb des Neu-
baus eine erhöhte Prägnanz und den Räumlichkei-
ten eine begrenzte Expressivität verleiht, die dem
Besucher «im Inneren des Berges» eine ständige
Ahnung davon gibt, wo im Verhältnis zu seinem
Standpunkt sich ungefähr die Oberfläche des Ter-
rains befindet.
Da der Neubau nur ein Teil des gesamten Mu-
seumskomplexes ist, dessen programmatische
Struktur nicht durchgängig auf eine natürliche Be-
lichtung angewiesen ist, wird der zum grossen Teil
in den Berg eingegrabene Erweiterungsbau mit
Ausnahme des Restaurationsateliers ohne Fenster
oder Oberlichter ausgeführt, um die Glaubwürdig-
keit der neu erstellten vermeintlichen Stützmauern,
hinter denen sich in Wahrheit baukörperliche Volu-
metrien befinden, nicht vorschnell durch eine zu
starke Architektonisierung zu untergraben.
Am Ende des Weges, der den Besucher vom Ein-
gang im Altbau ins Innere des Berges und über
eine grosse, zweigeschossige Treppenanlage wie-
der näher an die Oberfläche geführt hat, befindet
sich eine in das Berginnere eingelassene, aber zum
Aussenklima gehörende zweigeschossige Halle, die
von Aussen her im ersten und zweiten Oberge-
schoss in die dahinter liegenden Ausstellungsräu-
me ein gedämpftes Licht eindringen lässt, primär
aber einen orientierenden Blick nach draussen -
speziell auf die Rückfassaden der Altbauten - er-
laubt. Während die übrigen Räumlichkeiten des
Neubautraktes in einem warmen Grauton verputzt
werden, erhält dieser Raum eine Auskleidung mit
Naturstein. Der Museumsbesucher kann im Rah-
286
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
Impressionen von der
Baustelle in den vergange-
nen zwei Jahren
men seines Rundganges diesen Hallenraum betre-
ten und bis zu den Pfeilern vortreten. Da der zwei-
te Fluchtweg durch diesen Bereich hindurchführt ,
erlauben die zwischen die Pfeiler gestellten filigra-
nen Gitter im Notfall ein Verlassen des Museums an
dieser Stelle.
Bei dieser Halle handelt es sich um einen reprä-
sentativen Raum, der sowohl beim Blick von innen
als auch in umgekehrter Richtung den Kulturan-
spruch des Neubaus verkörpert, der nicht ein blos-
ser, im Berg versteckter Zweckbau sein kann. Be-
sonders beim Betrachter von der Städtli-Strasse
aus, aber auch bei dem aus einem Fenster der Alt-
bauten blickenden, noch unwissenden Museums-
besucher wird die Neugier durch die portalhafte,
im klassischen Sinne dreigeteilte übergrosse Öff-
nung geweckt: Ihr nicht entzifferbares Alter lässt
im unklaren, ob es je einmal als Portal genutzt wur-
de. Es erscheint aber offensichtlich, dass in der Tie-
fe dieser Öffnung etwas Geheimnis- und Wertvolles
verborgen ist.
Das enttarnende Entdecken dessen, was hinter
der beschwörenden Suggestion einer vermeintlich
eindeutigen Normalität dann sozusagen tatsächlich
geschieht, soll die beim ersten Augenschein erlebte
Kraft nicht im nachhinein diskreditieren. Ganz im
Gegenteil soll das späte Entdecken dieser Ambiva-
lenz der Faszination des Projektes noch eine ganz
neue, zunächst unerwartete Komponente beifügen.
BAULICHE M A S S N A H M E N A M HISTORISCHEN
GEBÄUDE-ENSEMBLE
Das Landesmuseum und das Verweserhaus, die
beiden Altbauten des neuen Liechtensteinischen
Landesmuseums, liegen siedlungsgeschichtlich und
topographisch betrachtet an einer bedeutenden
Stelle Liechtensteins.
Das Landesmuseum ist das letzte spätmittelal-
terliche Gebäude des ehemaligen Amtsbezirkes,
des heutigen Regierungsviertels von Vaduz. Im
Jahr 1970 wurde es grundlegend umgebaut und
erweitert mit dem Ziel, eine Museumsnutzung zu
integrieren. Bauaktivitäten im näheren Umfeld in
den 1970er und 1990er Jahren hatten starke Riss-
bildungen im Mauergefüge und eine Absenkung
des Baugrundes zur Folge.
287
Folgende Sanierungs- und gestalterische Renovati-
onsmassnahmen sind vorgesehen:
- Einbau von Zugstangen (Trockenbohrung) in die
Hauptfassade zur statischen Konsolidierung des
Mauergefüges;
- Stopfen der statisch bedingten Risse und druck-
lose Injektionen;
- Reduktion des bestehenden Zementgrundputzes
der Fassade und Applikation eines Sumpfkalk-
Naturputzes. Neue Fassung der Fassade mit
Ecklisenen, Sockelpartie und Rabitzhohlkehle an
der Traufe und am Ortgang des bestehenden
Daches;
- Ersatz der Sandsteingewände und neue Fassung
der Öffnungen als feinsprossige Kastenfenster
unter Respektierung der bestehenden Fassaden-
struktur.
In direkter Nachbarschaft, baugeschichtlich eng
mit dem Landesmuseum verknüpft, liegt das Ver-
weserhaus, welches in der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts erbaut wurde. 1895 erfolgte ein Um-
bau mit kompletter Neugestaltung der Fassaden,
des Daches und des Innenausbaues im Stil der re-
präsentativen Neurenaissance. Das Denkmalpfle-
gekonzept umfasst folgende Instandsetzungs- re-
spektive Renovationsmassnahmen:
- Additive Verstärkung der Holzbalkendecken;
- Hintergiessen der losen Partien der plastischen
Gliederungen und der hohlen Grundputzpartien
mit hochhydraulischem Grenoble-Zement;
- Applikation eines hellen Naturdeckputzes in den
Flächenpartien, sowie Farbgestaltung der Bos-
sen, Lisenen und Gesimsgurte gemäss vorgefun-
dener Spolien;
- Reparatur sämtlicher Spenglerarbeiten mit Blei-
blech und Bleimennige-Anstrich. Ergänzung der
bestehenden Dacheindeckung;
- Instandsetzung und teilweise Ergänzung der
Kastenfenster und Rekonstruktion der zum Fens-
tersystem dazugehörenden Fenster-Innenläden.
Beigezogene Experten und Restauratoren:
- Oskar Emmenegger & Söhne AG, Zizers,
Restaurator;
- Josef Ineichen, Rupperswil, Steinrestaurator;
- Fontana & Fontana, Rapperswil-Jona,
Restaurative Malerarbeiten;
- Peter Albertin, Winterthur, Historische Baufor-
schung.
M M N
f T T T T1
288
LIECHTENSTEINISCHES
LANDESMUSEUM 2001
ZUSAMMENFASSUNG
Die Aufgabenstellung des im Frühjahr 1998 inter-
national ausgeschriebenen Wettbewerbs hatte zum
Ziel, aus dem Zusammenschluss von zwei histo-
risch bedeutsamen, denkmalgeschützten Altbauten
und einem hangseitig in den Schlossfelsen hinein-
zubauenden Erweiterungstrakt eine sowohl bauli-
che als auch organisatorische Lösung für die nach
mehrjähriger Schliessung geplante Neuerrichtung
eines Liechtensteinischen Landesmuseums zu er-
arbeiten. Wir haben versucht, die historisch ge-
prägte Identität der alten Häuser soweit als mög-
lich zu respektieren und die erforderliche Renovati-
on nicht zu einer völligen gestalterischen Überfor-
mung des Bestehenden werden zu lassen. Da an
dem für den Neubau vorgesehenen Ort im momen-
tan kaum zugänglichen, dicht bewaldeten Steil-
hang ein konventionelles architektonisches Gebäu-
de nur schwer vorstellbar erscheint, haben wir den
Körper des Erweiterungsbaues als «Bauen im
Berg» konzipiert, der - mehrheitlich ohne Fens-
teröffnungen ausgebildet - von aussen gesehen den
Anschein erweckt, zum System der heute bereits
existierenden, parallel zum Hang laufenden Stütz-
mauern aus Bruchsteinmauerwerk zu gehören.
289
BILDNACHWEIS
Architekturbüro Brunhart,
Brunner, Kranz, Balzers
ANSCHRIFT DER
AUTOREN
Brunhart, Brunner, Kranz
Architekten AG
Egerta 37
FL-9496 Balzers
290
VOTIVBILDER
AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
Inhalt
293 EINFÜHRUNG
298 Die ältesten Ex Voto-Bilder aus Liechtenstein
298 Votivtafel des Landammanns Johann
Christoph Walser aus Schaan, 1718
300 Ex Voto von 1727 aus der Dux-Kapelle in
Schaan
300 Ex Voto von 1733 aus der Dux-Kapelle in
Schaan
300 Votivtafel zu Ehren des heiligen Nepomuk,
1734
301 Votivtafel von 1796, ehemals in der Dux-
Kapelle in Schaan
302 Ex Votos aus Bendern
302 Ex Voto von 1802 aus der St. Georgs-Kapelle
in Schellenberg
304 Ex Voto von 1825, vermutlich aus der Maria-
hilf-Kapelle in Balzers
305 Bildwerke im Umfeld der Votivtafeln
309 Aufruf
309 INVENTAR
310 Ex Voto-Bilder
318 Bildwerke im Umfeld der Votivtafeln
292
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
Einführung
Die Ex Votos aus dem Raum Liechtenstein waren
noch nie Gegenstand wissenschaftlicher Untersu-
chungen.1 Das älteste stammt angeblich von 1657,
das jüngste in dieser Reihe aus dem Jahre 1825.
Insgesamt sind dreizehn Votivbilder fassbar. Dane-
ben gibt es eine stattliche Anzahl von Andachtsbil-
dern, die dem Umfeld der Votivbilder zuzurechnen
sind, die Grenzen dabei sind oft fliessend. Auch bei
diesen Bildwerken dürfte es sich in der Regel um
Stiftungen in Kapellen und Kirchen zur öffentlichen
und privaten Frömmigkeit handeln. Über Jahr-
zehnte zählten Ex Voto-Bilder zur selbstverständli-
chen Ausstattung von Kapellen und Kirchen auch
in unserem Lande. Im Zuge von Renovationen im
Laufe des 20. Jahrhunderts wurde jedoch alleror-
ten tatkräftig entrümpelt, dem Geschmack der Zeit
musste entsprochen werden. 2 Die in einer langen
Tradition stehenden Zeugnisse tiefverwurzelter
Volksfrömmigkeit verschwanden von der Bild-
fläche. So weiss man zum Beispiel, dass sich ehe-
mals auch in der Kapelle Mariahilf in Balzers meh-
rere Votivbilder befunden haben. Leider ist über
deren Verbleib bislang nichts bekannt.' Paul Vogt
schreibt in der 1989 erschienenen Festschrift über
die Mariahilf-Kapelle: «Bei den Bemühungen, den
schlichten Charakter der Kapelle hervorzuheben,
ging man mit der Entfernung der Votivbilder wohl
zu weit. Noch heute erinnern sich viele ältere Leute
daran, dass im hintern Teil der Kapelle Bilder (Ex
voto: Maria hilf - Maria hat geholfen) hingen, auch
Krücken sollen dort gehangen haben. ... Die Votiv-
bilder wurden vermutlich als wertloses altes Zeug>
angesehen und vernichtet. Gleich erging es den al-
1) Ein erster Beitrag dazu vgl. Norbert W. Hasler: Ex Votos aus
Liechtenstein. In: Terra Plana 4. 2001, S. 31-38.
2) Albert Ilauser: Die Heiligen im volkstümlichen Glauben und
Brauchtum. In: Bernhard Anderes, Alfred Hauser, Norbert Lehmann:
AllerHeiligen. Namens- und Kirchenpatrone, Schutzheilige, Nothel-
fer. Pfäffikon, 1998, S. 138: «Als unansehnlicher Plunder, als barba-
rische <Zeugnisse des Primitivglaubens> fielen diese Zeichen alten
religiösen Volksglaubens massenweise der Renovation oder Purifika-
tion zum Opfer». Vgl . auch Andreas Rudigier: Ex Voto - Votivbilder
aus dem Montafon. In: Jahrbuch Vorarlberger Landesmuseumsver-
ein, Freunde der Landeskunde, Bregenz. 2001, S. 105.
3) Vgl . Festschrift 75 Jahre «Fürst Johann-Jub i läumski rche» Pfarr-
kirche St. Nikolaus Balzers 1912-1987, Balzers (1987), S. 121:
«Frühe r waren in Mariahilf viele Votivtafeln und andere Zeichen für
erhaltene Hilfe in besonderen Anliegen.»
Südwestecke in der Kapel-
le Maria zum Trost auf
Dux in Schaan. Die sich
hier befindenden Votivbil-
der zählen zu den schön-
sten und besterhaltenen
Ex Voto-Darstellungen aus
Liechtenstein.
293
ten Kreuzwegstationen, die aus dem Jahre 1901
stammten. Dass bei der Renovation 1944 so achtlos
mit den Votivbildern und Kreuzwegstationen um-
gegangen wurde, mag mit den Zeitumständen ent-
schuldigt werden». 4 Emanuel Vogt hält fest: «Lei-
der sind die früher in Mariahilf an der Rückwand
und den Seitenwänden montierten Votivtafeln,
Krücken usw., die ich noch selbst gesehen habe,
nicht mehr vorhanden. Sie müssen bei der Renova-
tion 1945 abmontiert worden sein». 5 In der Zwi-
schenzeit hat ein deutlicher Gesinnungswandel
stattgefunden: «Objekte der religiösen Volkskunst
haben im Interesse von Sammlern und öffentlichen
Museen in den letzten Jahrzehnten eine hohe Be-
deutung erlangt. Was vor allem im 19. Jahrhundert
und bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts
vielfach als naiv oder als sentimentaler Kitsch be-
zeichnet und belächelt wurde, gilt heute wieder als
begehrtes Erwerbsobjekt. Museen, aber auch
Pfarrgemeinden und Ordensgemeinschaften ent-
decken den Wert ihrer eigenen Inventarstücke neu
und tragen durch aufwendige Restaurierungsmass-
nahmen zum Erhalt dieser wertvollen kultur- und
religionsgeschichtlichen Zeugnisse bei. In mehre-
ren grossen Sonderausstellungen wurden kostbare
Bestände einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt». 6
Am 3. September 2001 erschien in der Ausgabe
von Liechtensteiner Briefmarken unter anderem
ein Satz zu drei Marken, die dem Thema Ex Voto
gewidmet sind. Zwei der ausgewählten Motive
stammen aus der Kapelle Maria zum Trost auf Dux
in Schaan, die Vorlage der dritten Briefmarke be-
findet sich in der Kapelle St. Georg in Schellenberg.
Die Votivtafeln aus der Dux-Kapelle in Schaan
zählen zu den eindrücklichsten und besterhaltenen
Ex Voto-Bildern aus dem Fürstentum Liechten-
stein. Sie stammen aus der Zeitspanne zwischen
dem frühen 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.7
«Not lehrt beten!», sagt der Volksmund. In Zei-
ten der Bedrohung setzt der Mensch ein Zeichen,
so auch heute noch. Dies wurde wieder einmal -
weltweit - deutlich in jenen Tagen des Schreckens
im September 2001. Gemeinsames Schweigen,
brennende Kerzen, Blumen, Flaggen auf Halbmast,
Glockengeläute - alles Zeichen der Trauer und
Hoffnung zugleich in Zeiten der schieren Hoff-
nungslosigkeit. Es sind Zeichen der Bitte, des Dan-
kes, der Erinnerung und der Verbundenheit mit
den Mitmenschen, aber auch mit höheren Mäch-
ten. Nichts anderes als solche Zeichen sind Ex
Voto- oder Weihebilder in unzähligen Kirchen, Klö-
stern und Kapellen - oder «Werbung für den wah-
ren Glauben», wie es Werner-Konrad Jaggi, Kon-
servator am Schweizerischen Landesmuseum in
Zürich einmal nannte.
Nicht vom Künstlerischen oder Ästhetischen her
sollen diese auf Holz, Leinwand, Papier oder Hin-
terglas gemalten Werke betrachtet werden, son-
dern als Zeugnisse erfüllter Heilserwartung. Maria
Als Weihegabe dargebrach-
tes Eisenschwert aus der
Zeit um 200 vor Christus,
gefunden 1958 auf der
Alpe Matta, Gemeinde
Balzers
294
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
oder die angerufenen Heiligen, die sich in Krank-
heit, Unglück oder Naturkatastrophen erbarmten,
erhalten im Erfüllen des Gelübdes (ex voto) das
Bild: eine fromme Quittung sozusagen.8
Das Bedürfnis, sich in Situationen der Not und
Gefahr die höheren Mächte durch Wallfahrten und
Votivgaben günstig zu stimmen, ist fast so alt wie die
Menschheit und in allen Kulturen zu finden. Be-
richte von Wallfahrten sind schon aus vorchristli-
cher Zeit bekannt. Die Griechen pilgerten für Kran-
ke zum Tempel des Äsculap in Epidaurus und
brachten für deren Wiedergenesung Votivgaben
dar. Auch an Quellen, Flüssen oder Passübergängen
wurden Weihegeschenke als Dank für bestandene
Unbill oder als Bitte um Schutz und Beistand vor
neuen Gefahren niedergelegt. Beispiele aus vor-
christlicher Zeit sind auch auf dem Gebiet des Für-
stentums Liechtenstein zu finden. 1958 wurde auf
der Alpe Matta im hintersten Teil des Valorsch in ei-
ner Geröllhalde eines Ausläufers des Ochsenkopfes
ein rund 80 cm langes Eisenschwert mit Scheide aus
der Latene-Zeit, aus der Wende vom dritten zum
zweiten vorchristlichen Jahrhundert gefunden. Un-
weit der Fundstelle befindet sich das Fürkle, ein
Übergang, der das Valorsch mit dem anderen Sei-
tental des Saminatals, dem Malbun, verbindet. Man
ist heute der Auffassung, dass es sich bei derartigen
Höhenfunden um Weihegaben handelt, «die von
Offranden den Alpgottheiten als Bitt- und Dankes-
opfer und wohl auch als Fruchtbarkeitsopfer darge-
bracht worden sind, vielleicht in Erfüllung eines
Gelübdes nach abgewendetem Unheil oder überleb-
ter Naturkatastrophe. ... Nicht selten fanden sich die
Weihegaben unter einer Steinplatte, einem grossen
Felsen oder in einer Felsspalte versteckt, wie bei-
spielsweise die Speerspitze auf der Alp Gritsch, an-
dere wiederum lagen ungeschützt, Jahrtausende
4) Paul Vogt: Zur Baugeschichte. In: Die Mariahilf-Kapelle. Fest-
schrift anlässlich der 700-Jahrfeier 1989, Balzers, 1989, S. 31-32. In
einem Spendenaufruf von 1945 spricht der damalige Balzner Pfarrer
Leonhard Hollweck ebenfalls von «zahlreichen Ex Votos» in der
Marienkapelle; vgl. Franz Büchel: Die Geschichte der Pfarrei Balzers,
o.J., S. 97.
5) Emanuel Vogt: Mier z Balzers, Lebensart. Band III. Vaduz, 1998,
S. 237. Ein diesbezügliches Rundschreiben an die P fa r r ämte r
Liechtensteins sowie an die Vorsitzenden der Kulturkommissionen
aller Gemeinden des Landes vom 30. Oktober 2001 führ te zu keinen
positiven Rückmeldungen. Ebenso blieb ein Aufruf im Kirchenblatt
In Christo Nr. 24 vom 30. November 2001 leider ergebnislos. Es ist
daher anzunehmen, dass die einstmals vorhandenen Votivbilder
zwischenzeitlich verloren gegangen sind.
6) Maria Kapp: Religiöse Volkskunst. Die Sammlung Ansgar Füt terer
im Museum im Ritterhaus, Offenburg. In: Weltkunst, 71. Jahrgang,
15, 2001, S. 2394.
7) Harald Wanger: Die Pfarrei Schaan-Planken in Geschichte und
Gegenwart. Beiträge zur Pfarreigeschichte. Schaan, 1991,
S. 217-221. - Harald Wanger: Die Kirchen und Kapellen von Schaan.
DoMus-Schriftenreihe Heft 1. Schaan, 1998, S. 26-27.
8) Vgl. Lenz Rettenbeck: Heilige Gestalten im Votivbild. In: Kultur
und Volk. Beiträge zur Volkskunde aus Österreich, Bayern und der
Schweiz. Festschrift für Gustav Gugitz. Hg. von Leopold Schmidt.
Wien, 1954, S. 333-359.
In einer Felsspalte bei der
zu Schaan gehörenden
Alpe Gritsch wurde 1940
diese eiserne Speerspitze
gefunden. Auch hier han-
delt es sich um eine Wei-
hegabe, aus der Zeit um
100 vor Christus stam-
mend.
295
überdauernd, an der Oberfläche». 9 Votivfiguren
ganz besonderer Art sind die anthropomorphen
und zoomorphen Bronzestatuetten, die in den
1930er Jahren anlässlich von Grabungen am Ost-
hang des Gutenberges bei Balzers gefunden wur-
den. Bei den aus dem ersten vorchristlichen Jahr-
tausend stammenden Bronzestatuetten handelt es
sich eindeutig um Votiv- oder Weihegaben. «Da über
die Opferstätte oder den Tempel, woher die Frucht-
barkeitsvotive stammen, so gut wie nichts bekannt
ist, müssen die Fragen unbeantwortet bleiben, ob
diese Weihegeschenke in einem Heiligtum sichtbar
aufgestellt waren und als Gaben einzelner Fürbitten-
der zu betrachten sind, oder ob sie anlässlich jahres-
zeitbedingter Fruchtbarkeitsfeierlichkeiten darge-
bracht wurden» . 1 0 Ebenso dürfte es sich bei den
1887 oberhalb von Schaan auf Dux (aquaeductus)
geborgenen Römerhelmen - sie werden dem ersten
oder zweiten Viertel des 1. Jahrhunderts nach Chri-
stus zugeordnet - um sogenannte Weiheniederle-
gungen handeln. 1 1
Im Christentum ist der Votivkult schon für das
5. Jahrhundert in voller Blüte an Märtyrergräbern
belegt. Weihegaben und Weiheopfer aus unter-
schiedlichsten Materialien werden dargebracht.
Weite Verbreitung fanden seit dem 10. Jahrhundert
die sogenannten Wachsopfer.1 2 Angeblich soll es
auch in der Kapelle auf Masescha solche Wachs-
Votivtafeln in der Marien-
grotte von Bendern. Diese
Tafeln wurden von Gläubi-
gen gestiftet als Zeichen
des Dankes für die von der
Muttergottes in schwieri-
gen Lebenslagen geleistete
Hilfe.
296
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
votive gegeben haben. Prälat Engelbert Bucher,
Triesenberg, schreibt an den Verfasser: «David
Beck erzählte mir, dass früher auch Wachsfüsslein
in der Kapelle auf Masescha gewesen seien. Seit
meiner Pfarrertätigkeit, 1943 bis 1979, habe ich
aber nie solche gesehen. Wann und wie sie ver-
schwunden sind, weiss ich nicht». 1 3 Aus dem spä-
ten Mittelalter sind die frühesten Ex Voto-Bilder be-
kannt. «Votivbilder als Massenphänomen in Klein-
formaten gibt es in Italien seit dem 15./16. Jahr-
hundert, in Mitteleuropa seit dem 16. und 17. Jahr-
hundert» . 1 4 Diese Votivgaben im engeren Sinne
sind Bitt- und Dankzeichen, aber auch ausdrucks-
starke Weihegeschenke für Gott oder einen Heili-
gen an einem Wallfahrtsort oder Gnadenaltar, um
eine geistliche Verbindung zu dokumentieren. Sie
verdeutlichen sinnfällig einen Akt der Anheimstel-
lung, und sie tun zugleich erfahrene Gnadenerwei-
se öffentlich kund. 1 5
Die Bilderwelt der Votivtafeln, in der westlichen
Kirche seit dem Ende des 15. Jahrhunderts be-
kannt, auf Holz, Leinwand, Karton, Papier, Blech
oder hinter Glas gemalt, bezweckt nicht in erster
Linie, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen, son-
dern Einblick in eine besondere Form von Daseins-
bewältigung zu geben. Sie gehören ursprünglich in
die religiöse Rechtssphäre. «Sie sind nämlich die
öffentliche Kundgabe (Promulgation) eines rechts-
verbindlichen Versprechens (ex voto) zwischen den
beiden Partnern Gott und Mensch. Noch besser als
von Versprechen müsste man von Anverlöbnis
sprechen: Ein Mensch <verlobt> sich an eine Gna-
denstätte beziehungsweise an den dort verehrten
Heiligen, das heisst, er stellt sich ihm anheim und
verspricht, bei Erhörung der Bitte den Dank öffent-
lich zu bezeugen. ... Die Absicht der Votivtafel ist
also, im Bild und gelegentlich auch im Wort öffent-
lich einen Dank zu bezeugen, im Hinblick auf ein
gnadenhaft empfundenes Geschehen in kritischer
Situation. ... Das vollständige Votivbild umfasst den
Bittflehenden (den Votanten oder das Votationssub-
jekt), die angerufene Person (das Kultobjekt), den
äusseren Anlass zum Bittruf oder zur Dankbezeu-
gung (den Votationsgrund oder das Votationsmotiv)
und eine Inschrift». 1 6
Das Votivbrauchtum ist eng mit dem Wallfahrts-
wesen, insbesondere mit der Marienfrömmigkeit
und Marienverehrung 1 7 verbunden, und hat sich
bis in unsere Tage erhalten. Die Wallfahrt ist eine
aus religiösen Gründen vollzogene Reise an einen
geheiligten Ort. «Das Kultobjekt am Wallfahrtsort
(die bildliche Darstellung des dort verehrten Chri-
stusgeheimnisses oder des Heiligen) geniesst eine
besondere Verehrung: Es repräsentiert den un-
sichtbaren Heiligen und macht ihn gegenwärtig;
dadurch bringt man seine Bitten und seinen Dank
vor; es prägt sich der Vorstellung ein und taucht in
Augenblicken von Not und Gefahr leicht ins Be-
wusstsein und löst einen Hilferuf und ein Verspre-
chen, ein Anverlöbnis aus. Die Tafeln bedeckten oft
ganze Wände und wurden so zu einem Bestandteil
der Wallfahrtsarchitektur». 1 8 Aus jüngster Zeit fin-
den sich an Wallfahrtsstätten - so auch in der Mari-
engrotte in Bendern - schlichte Holz- oder Steinta-
feln meist mit dem Schriftzug «Maria hat gehol-
fen», einem Datum und dem Namen des Stifters.
Seit langem hat die Forschung die Votivbilder als
wertvolle kulturwissenschaftliche Quelle nicht nur
9) Rene Wyss: Höhenfunde aus dem Fürs ten tum Liechtenstein. In:
Helvetia archaeologica, 9/1978. Nr. 34/36. S. 143.
10) Rene Wyss: Fruchtbarkeits-, Bitt- und Dankopfer vom Gillen-
berg. In: Helvetia archaeologica. 9/1978. Nr. 34/36. S. 157.
11) Verdankenswerter Hinweis von Frau Mag. Ulrike Mayr, Fachstel-
le Archäologie in Liechtenstein. Triesen.
12) Charlotte Angeletti: Geformtes Wachs. Kerzen, Votive. Wachsfi-
guren. München. 1980, S. 35-50.
13) Prälat Engelbert Bucher in einem Schreiben an den Verfasser
vom 15. November 2001.
14) Wolfgang Brückner: Votive. Votivbilder. In: Lexikon der christli-
chen Ikonographie. Band 4. Rom. Freiburg, Basel, Wien. 1990.
Sp. 472-474. Vgl. auch Lenz Kriss-Rettenbeck: Ex Voto. Zeichen,
Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum. Zürich. 1974.
15) Wolfgang Brückner (wie Anmerkung 14), Sp. 472.
16) Vgl. Beitrag von Iso Baumer in: Rene Creux. Die Bilderwelt des
Volkes. Brauchtum und Glaube. Frauenfeld. 1980, S. 5-7.
17) Stefan Hirschlehner: Das Marienbild im Wandel der Zeit. In:
Marien-Lourdes-Grotte Bendern 1898-1998. Bendern, 1998,
S. 67-75.
18) Iso Baumer (wie Anmerkung 16), S. 9-10.
297
für religiöses Brauchtum und Wallfahrtswesen, son-
dern ebenso für Volksmedizin und Kostümkunde,
für Religionspsychologie und für die Kenntnis der
Ausstrahlung religiöser Zentren sowie für die Bau-
geschichte erkannt.1 9 1997 fand eine eindrückliche
Ausstellung unter dem Titel «Errette mich, oh Herr,
von allem Übel! Votivbilder aus der Wallfahrtskir-
che Heiligkreuz, aus dem Kloster Notkersegg und
der Kapelle Freienbach Kobelwald» im Histori-
schen Museum St. Gallen statt.20
Auf einige der im nachfolgenden Inventar aufge-
führten Ex Voto-Tafeln aus liechtensteinischen Ka-
pellen sowie auf einzelne Bildwerke aus dem Um-
feld der Votivbilder soll nachstehend näher einge-
gangen werden.
DIE ÄLTESTEN E X V O T O - B I L D E R
AUS L I E C H T E N S T E I N
Ein auf das Jahre 1657 datiertes Votivbild (Inven-
tar-Nr. 1) befindet sich heute in Privatbesitz in Rug-
gell. Es dürfte ursprünglich wohl aus der Duxkapel-
le in Schaan stammen. Das 53,5 x 36,5 cm grosse
Leinwandbild zeigt Maria und den heiligen Antoni-
us von Padua mit dem Jesuskind in den Armen,
von Wolken umhüllt. Am linken unteren Bildrand
ist eine Dorflandschaft mit Bergkulisse im Hinter-
grund erkennbar. Die Inschrift am unteren Bild-
rand lautet: «Gott dem Almechtigen, und Maria der
Himelkönigin, wie auch dem Hailigen Antonio von
PADOA, zu Ehren und danckbarkeit lies M: Roni
Tschetter von Schan diss bild machen wegen un-
derschidlichen Zuständen und Kranckeiten. 1657».
Für das 18. Jahrhundert ist ein Hieronymus (Roni)
Tschetter aus Schaan als Landammann der Graf-
schaft Vaduz (1713-1727) nachgewiesen. Die Jahr-
zahl 1657, die von anderer Hand stammen könnte,
darf auch auf Grund der Malweise, die viel mehr in
die Mitte des 18. Jahrhunderts deutet, in Frage ge-
stellt werden.
In die letzten Jahre des 17. Jahrhunderts gehen
zwei Andachtsbilder zurück, die sich in der Heilig-
kreuz-Kapelle auf Rofenberg in Eschen befinden.
Ein in Öl auf Leinwand gemaltes Ecce Homo Bild
(Inventar-Nr. 17), zirka 75 x 62 cm messend, mit
der Aufschrift: «Ach was Leide ich. Um deinet wil-
len stirbe ich», trägt die Jahrzahl 1697. Eine zwei-
te Tafel (Inventar-Nr. 18), Öl auf Holz gemalt, zeigt
eine Pietä und weist das Datum 1698 auf. Somit
reicht sie ebenfalls zurück auf das Ende der Hohen-
emsischen Herrschaft, eine der entbehrungsreich-
sten Zeiten in der Geschichte unserer Landschaft.
Die Inschrift besagt: «0 Ihr alle die da für über-
gehnd, secht ob auch ein Schmertz sey wie mein
Schmertz ist: Gott und Maria zu Höchster Lob und
ehr, hat der wohl vorgeachte Her Lantshaupt man
und alter Landtamen, Andreas Büchell: dass bild
hier machen lassen: Anno 1698». 2 1
Zu den frühesten Andachtsbildern der Kapelle
auf Dux zählt die Tafel (Inventar-Nr. 20) mit der
Jahrzahl 1707, gestiftet von «Catharina Haslerin».
Die Inschrift lautet: «Heillige Maria u. Heilliger Se-
bastijanuss, Heilige Cattarine; bidten für uns; Cat-
tarina, Haslerin. ihres alters: 24 Jahr: 1707». Das
63,5 x 45 cm grosse Leinwandbild zeigt das Gna-
denbild von Dux im Wolken- und Strahlenkranz mit
den Heiligen Sebastian und Catharina in vegetati-
onsreicher Landschaft mit Blick auf eine Gebäude-
gruppe im Hintergrund. Rechts von der hl. Kathari-
na ist die kniende und betende Stifterin, den Ro-
senkranz in den Händen haltend, dargestellt.
V O T I V T A F E L DES L A N D A M M A N N S
J O H A N N C H R I S T O P H WALSER AUS
S C H A A N , 1718
Das Votivbild (Inventar-Nr. 2) zeigt oben in der Mit-
te in einem Wolkenkranz die Himmelskönigin Ma-
ria zum Trost von Dux/Schaan, mit Krone und Zep-
ter, in rotem Gewand mit blauem Mantel. Sie wird
links begleitet vom Apostel Johannes mit einem
Kelch in der Linken, rechts vom hl. Christophorus
mit dem Baumstamm in der Rechten und dem Je-
susknaben auf der linken Schulter. Wie die Mutter-
gottes sind auch die Heiligen - beide Schutz- und
Namenspatrone des Stifters - durch ein Wolken-
band von der irdischen Welt abgehoben.
298
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
In der Bildmitte wird das Torkelgebäude - der
Unfallort - im umzäunten und ummauerten Wein-
berg gezeigt. An der Giebelseite des gemauerten
Torkelgebäudes ist das Wappen von Landammann
Walser dargestellt: eine (heraldisch) nach rechts
steigende Gemse, Gold auf blauem Grund. Das
Wappen ist durch eine Siegelurkunde aus dem Jah-
re 1695 bekannt. Walser war in den Jahren 1690,
1692, 1693 und 1695 Landammann der Grafschaft
Vaduz. Er dürfte gemäss den Stammtafeln der Bür-
gerfamilien von Schaan2 2 bis 1738 gelebt haben.
Vor dem Holzzaun, links des Torkelgebäudes,
kniet betend auf dem vorbeiführenden Weg der am
10. Oktober 1718 verunfallte Johann Christoph Wal-
ser. Eine grosse Rundbogenöffnung an der Längs-
seite des Torkelhauses zeigt den verhängnisvollen
Sturz vom Torkelbett mit dem am Boden liegenden
Verunfallten.
Eine siebenzeilige Inschrift auf einem beidseitig
gerollten Band schildert den Unfall und das Gelöb-
nis EX VOTO sowie den Dank des Verunglückten:
«Ano 1718 den 10 octb: hat herr Johan Chri-
stoph Walsser alter Landaman im dorff Schan
wohnhafft, in seinem aignen dorgel zue endt des
tot gunst, unversehent einen ab dem dorgelbeth
auf die sarg oder Kesij einer büte Stürtzhel getahn
und auf ein schulttren so hart gefallen, das ihme
das gebliet in die adren und Nerfen gefahren und
ein grausamen unleidentlich Schmerzen causiert
in diesem seines lebensgefahr, zue der ehr, und lob
Gottes und seiner wertisten Mueter der Himelskö-
nigin Maria ein taffei EX VOTO in die Capell auf
dux Maria zuem Trost genandt verlobt und zue di-
ser hosten ehr und lob zu einer ewigen gedechtnus
mallen und einhenchen lassen, warauff es sich
nach und nach gebesert, und (.-Gottlob:) keine Ver-
lezung hinderlassen».
Das vorliegende Ex Voto nimmt Bezug auf das Un-
glück eines Einzelnen. Auch dieses Beispiel bein-
haltet alle drei wesentlichen Elemente eines Votiv-
bildes:
Die angerufene überirdische Macht (hier Maria
mit den heiligen Christopherus und Johannes dem
Täufer als Schutzpatrone), den Stifter oder Votant
(Landammann Johann Christoph Walser aus Schaan)
und den Anlass zur Dankesbezeugung, den Votati-
onsgrund (die Heilung nach dem Unfall). Bildhaft
sind auch Ort und Hergang des unglücklichen Ge-
schehens dargestellt.
19) Hans von Matt. Votivkunst in Nidwaiden. Stans. 1976, S. 13.
20) Daniel Suter: Errette mich, oh Herr, von allem Übel! Exvotos,
Bilderund Zeichen katholischerVolksf 'römmigkeit . Museumsbrief
76. St. Gallen, 1997.
21) Unter den L a n d a m m ä n n e r n aus Hohenemsischer Zeit findet sich
in der Herrschaft Schellenberg für die Jahre 1669 und 1689 ein
Andreas Büchel aus Schellenberg, für die Grafschaft Vaduz ein A n -
dreas Büchel aus Balzers für die Jahre 1690 bis 1693. Um welchen
es sich bei dem Stifter der Votivtafel handelt, lässt sich nicht feststel-
len; vgl. Joseph Ospelt: Landammänner-Verze ichnis und Landam-
männer-Siegel . In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das
Fürs ten tum Liechtenstein. Band 40 (1940). S. 42.
22) Stammtafeln der Bürgerfamil ien von Schaan. Schaan, 1989.
S. 141.
Siegel des Landammanns
Johann Christoph Walser
aus Schaan, der 1718
nach vollständiger Gene-
sung von einem schlim-
men Sturz ein Votivbild
stiftete
299
E X V O T O VON 1727 AUS DER D U X - K A P E L L E
IN S C H A A N
Ebenfalls aus der Marienkapelle auf Dux in Schaan
stammt das Ex Voto-Bild (Inventar-Nr. 4) aus dem
Jahre 1727, das sich heute im Ortsmuseum DoMus
in Schaan befindet, ein Bild von vertrauensvoller
Hingabe und grosser Ausdruckskraft. Im oberen
Bildteil im Wolkenkranz sind Maria von Dux mit
dem Jesuskind und der heilige Josef mit dem Lili-
enzweig in der Linken dargestellt. Der Blick des Be-
trachters richtet sich in eine Schlafkammer mit ei-
nem Pfostenbett, in dem eine kranke oder sterben-
de Frau liegt, andächtig den Rosenkranz betend,
rechts davor befindet sich ein Tisch mit Kruzifix,
Zinnkrug und Teller und andere Gerätschaften,
vielleicht Teile einer Versehgarnitur. Links unten
befindet sich die Inschrift «EX VOTO», die Jahres-
zahl 1727 sowie die Initialen «j ~ j». Dabei handelt
es sich um das Monogramm des Malers oder der
Stifterin.
E X V O T O VON 1733 AUS DER D U X - K A P E L L E
IN S C H A A N
Die hier vorliegende Tafel (Inventar-Nr. 5) ent-
spricht einem weitverbreiteten Typus von anony-
men Ex-Voto-Bildern. Sie stammt aus der Marien-
kapelle auf Dux in Schaan. Das Original befindet
sich heute im Liechtensteinischen Landesmuseum.
Es zeigt im oberen linken Bildteil Maria als Him-
melskönigin mit dem Jesuskind in einem Wolken-
kranz vor goldenem Hintergrund.
Rechts unten kniet mit gefalteten Händen in ei-
ner hügeligen Landschaft mit Bergen im Hinter-
grund der Stifter des Ex Votos; auffallend ist die
vornehme Kleidung.
In einem farblich abgetrennten unteren Bild-
rand ist zu lesen: «EX UOTO 1733».
Der Grund für die Stiftung dieses Ex Voto-Bildes
(Krankheit, Unfall etc.) wird nicht erwähnt. «Das
Knien drückt die eigene Kleinheit und Niedrigkeit
vor der Grösse Gottes aus, aber auch das Bewusst-
sein der Sündhaftigkeit. Es passt daher ebenso zur
Anbetung Gottes wie zum Bittgebet. Es ist die übli-
che Haltung im privaten Gebet. Die Votivtafeln be-
ziehen sich nicht auf den gemeinschaftlichen Got-
tesdienst des Volkes, sondern auf die private An-
dacht des Einzelnen, allein oder im Familienver-
band» . 2 3
V O T I V T A F E L Z U E H R E N DES HEILIGEN
N E P O M U K , 1734
Eine recht eigentümliche Votivtafel (Inventar-Nr. 6)
- sie könnte aus der Kapelle St. Peter in Schaan
stammen2 4 - befindet sich in den Sammlungen des
Liechtensteinischen Landesmuseums. Das in Öl auf
Holz gemalte, 47 x 22 cm grosse Votivbild aus dem
Jahre 1734 ist dem hl. Johannes von Nepomuk ge-
widmet. Der Heilige ist stehend, im Priestergewand
gekleidet, Kreuz, Barett und Märtyrerpalme in bei-
den Händen haltend, dargestellt. Im Hintergrund
ist sein Märtyrertod in der Moldau bei Prag festge-
halten, mit Soldaten und König Wenzel zu Pferd im
Hintergrund der Szene. Fast gleich gross wie die
Malerei ist der Inschriftenteil mit unten abschlies-
sendem bekröntem Wappenschild. Die Inschrift
lautet:
«Es hat sich Hie her verlobt zue dem H: Johanes
von Nepomuckh, wegen einem atentzen (?) der
wohl edelueste Her, her hans Jacob Sturm, des
Schilt ried (ein Weiler bei Göfis in Vorarlberg25),
der Herschafft bludentz, wegen, Johanes Hilde
(Hilti) mesmer in Tschan (Schaan), peter und paul
(vermutlich Kapelle St. Peter in Schaan) welcher
den fresenten Krebs 4. Jahr lang Gehabt, an dem
underen maul gehabt im Jahr 1734. Hat mich der
Her Sturm, bey drit halb zol hin weg Geschniten,
Eürbit des Heiligen in 3. Tagen fölig guriert, gewe-
sen, in 10 Tagen hob ich wider Kirchen und Stru-
sen gehen künen, als ein 64 järiger man, Gott sey
danck Gesagt und der aller seligsten Himels küni-
gin Maria».
Das Wappen deutet ebenfalls nach Vorarlberg und
entspricht im Wesentlichen dem Wappen der See-
ger zu Sagburg von Bludenz oder Bürs . 2 6
300
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
V O T I V T A F E L VON 1796, E H E M A L S IN DER
D U X - K A P E L L E IN S C H A A N
Von einzigartigem historischem und dokumentari-
schem Wert ist das Votivbild (Inventar-Nr. 9) aus
dem Jahre 1796 des Malers Mathias Jehly aus Blu-
denz (1746-1809). Stifterin des Bildes - ebenfalls
in der Kapelle Maria zum Trost auf Dux - war ein-
mal mehr die Gemeinde Schaan. Anlass dazu wa-
ren in diesem Falle kriegerische Ereignisse, Aus-
wirkungen des Ersten Koalitionskrieges (1792-1797),
von denen das Land Liechtenstein und insbesonde-
re die Gemeinde Schaan speziell im Jahre 1796 di-
rekt betroffen waren. Auf das Ausmass des damals
herrschenden Elends deutet auch ein Hinweis von
Johann Baptist Büchel hin, der Bezug auf die To-
tenbücher der Pfarrei Schaan nimmt. Darin heisst
es: «1796 starben 109 Personen, darunter 86 Kin-
der aus der Pfarrei». 2 7
Das 81,5 x 105 cm grosse Ölbild zeigt Maria mit
dem Kind auf Wolken schwebend über der Kapelle
auf Dux und einem daneben aufgeschlagenen M i -
litärlager mit Zelten und Kanonen. Inhaltlich be-
zieht es sich auf ein Ereignis des Jahres 1796.
Die Inschrift besagt: «Im Jahr 1796 im brachmo-
nath (Juni) ist allhie ob gegenwerthiger Kapelle zur
zeit, da in dem damahligen unglickl. Krig mit
Frankreich Mann durchs bündinnerlande von de-
nen Französischen Trupen einen Einbruch in hies-
sige Reichsherrschaft befürchtet, ein Lager gestan-
den worinen das Kaijss. Kön: Regiment Breis Cam-
pirt hat. Gott sey uns gnädig und wende durch die
getreue Vorbitt Maria seiner Jungfreul. Mutter, die
da zumahlen, so auch inskünftig, und zu allen Zei-
ten von uns und unsern lieben Vatterlande alle
Krigs=Auftritte und unglücksei. Zeiten gnädigst
ab». Diese Bitte unserer Vorfahren vor zweihun-
dert Jahren hat auch in unseren Tagen ihren tiefe-
ren Sinn nicht verloren.
Ängste, Not und Schrecken hatten unser Land
erfasst. Es ist die Zeit des Ersten Koalitionskrieges:
Frankreich im Kampf gegen die Koalition von
Österreich, Preussen, Russland und England. Bei
Kriegsbeginn 1792 musste Liechtenstein ein Trup-
penkontingent zum Kampf gegen Frankreich stel-
len. Dieses bestand aus 15 Mann zu Fuss und zwei
Mann zu Pferd. Sie kosteten samt Bewaffnung und
Montur 2250 Gulden. Teuerung, Hunger und Not
setzten ein. Vom Jahre 1796 berichtet der Chronist
Johann Georg Heibert aus Eschen: «Im übrigen ist
hierlands alles bedrängt mit Auflagen, Teuerung
und Hunger. Aller Handel und Wandel ist gehemmt,
alle Pässe gesperrt. Das Militär haben wir immer
im Lande, abwechselnd bald Husaren, bald Fuss-
gänger. Viele Untertanen sind dadurch unglücklich
worden durch Säbelhieb und manche sind um Ross
und Wagen gekommen, als sie Konterband trieben,
auch hin und wieder um Korn und Vieh, da sie
doch mit den Soldaten abgeredet und ihnen Geld
gegeben. Zu Nendeln haben die Soldaten ein Stück
genommen. Die Fortschritte der Franzosen in Itali-
en haben hierlands grosse Bestürzung verursacht.
Denn am 16. Juni zog eine kaiserliche Armee in die
hiesige Herrschaft und lagerte ob Triesen anfangs
der Balzner Wiesen, aus Furcht, der Feind möchte
durch Bünden hierdurch in Österreich einfallen.
23) Iso Baumer (wie Anmerkung 16). S. 13.
24) In einem Schreiben vom 18. März 1792 des Schaaner Pfarrers
Joel Orsi von Reicheuberg an den Bischof von Chur heisst es: «Mit-
ten im Dorf befindet sich eine von Grund auf solid erbaute und mit
einem schönen, dauerhaften und feuersicheren Gewölbe versehene,
den hl. Aposteln Petrus und Paulus gewidmete Kirche, ...». Zitiert
nach Johann Baptist Büchel: Geschichte der Pfarrei Schaan. In:
Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs tentum Liechten-
stein. Band 27 (1927). S. 27.
25) Mitteilung von Herrn Dr. Karlheinz Albrecht. Stadtbibliothek
Feldkirch. Johann Jakob Sturm dürf te einer Chirurgenfamilie aus
Bludenz entstammen, war seit 1710 mit Agathe Schnellerin verhei-
ratet und ab 1715 in Bludenz ansässig. Mitteilung von Dr. Edwin
Oberhauser, Götzis.
26) Vgl . Die Bürger und Adelswappen Vorarlbergs und die Vorarl-
berger Siegelsammlung des Herrn Pfarrer Gebhard Wendelin Gunz
in Tisis sowie die Hauszeichensammlung des Herrn Alf. Leuprecht.
Stadtarchivar in Bludenz. o.O. o. J . . Teil 2. S. 46. - Vgl. Andreas
Ulmer: Die Burgen und Edelsitze Vorarlbergs und Liechtensteins.
Dornbirn. 1925, S. 873-875.
27) Johann Baptist Büchel: Geschichte der Pfarrei Schaan (wie
Anmerkung 24). S. 76. Schaan zählte für das Jahr 1789 insgesamt
133 Wohnhäuse r und 566 Einwohner. - Vgl. Alois Ospelt: Wirt-
schaftsgeschichte des Fürs ten tums Liechtenstein im 19. Jahrhun-
dert. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs tentum
Liechtenstein, Band 72 (1972). Anhang, S. 38.
301
Kurz darauf lagerte sich wieder ein Corps von 700
Mann auf Dux beim Kirchlein ob Schaan mit vieler-
lei Bagage, Ross und Wagen und etlichen Kanonen.
Wieder ein Corps zog in die Dörfer Schaan und Va-
duz. Täglich musste die armen Untertanen Bagage
hierher führen oder fort führen. ... ». 2 S
An diese Not- und Schreckenszeit, in der unsere
Vorfahren Schutz bei Maria zum Trost auf Dux
suchten, erinnert dieses Votivbild, 1796 von Ma-
thias Jehly aus Bludenz gemalt. Es zeigt das Zeltla-
ger, das vom österreichischen Regiment Breis am
16. Juni 1796 bei der Kapelle von Dux aufgeschla-
gen wurde, als man einen Einfall der Franzosen
von Graubünden her befürchtete. Gestiftet wurde
das Bild von der Gemeinde Schaan nach Abzug der
österreichischen Truppen.
Gleichzeitig ist dieses Votivbild die älteste Dar-
stellung der Duxkapelle mit dem erst 1789 errich-
teten Turm, hier auch noch mit dem alten hölzer-
nen Vorzeichen, das 1829 durch die heutige Vor-
halle ersetzt wurde.
EX VOTOS AUS B E N D E R N
Einige bemerkenswerte Votivbilder haben sich
auch aus Bendern 2 9 erhalten, unter anderem nur
dank der Umsichtigkeit des Mesmers Alexander
Kind, der sie vor unsachgemässer «Entsorgung»
vor einigen Jahren aus dem Bauschutt rettete. Die
Originalbilder befinden sich heute im Liechtenstei-
nischen Landesmuseum. Eines dieser Benderer Ex
Votos (Inventar-Nr. 7), 32,5 x 20 cm gross, Öl auf
Holz gemalt mit aufgesetztem Rahmen, zeigt Maria
mit Kind im Wolkenkranz, zu ihren Füssen der
kniende Stifter. Die Inschrift weist auf eine wunder-
same Errettung des Stifters hin: «Ich Johanes bati-
sta büchl Johanes Sohn, bekchene, des ich durch
die Mutter gottes zu benderen mittelst einem gro-
sen mirackhl aus äugen scheinlicher lebens gefahr
bin Erlediget warden. Den 20. Jener, anno 1761»,
und von anderer Hand: «geschehen zu Chur im
Hof».
Ein weiteres Ex Voto (Inventar-Nr. 8), auffallend
durch seine Bildgrösse, es misst 182,5 x 146 cm,
auf Leinwand gemalt, befindet sich heute im Kapi-
telsaal des Pfarrhauses in Bendern. Es zeigt Maria,
die Himmelskönigin, mit dem Jesusknaben auf der
Mondsichel stehend, von Wolken umhüllt und von
Engeln begleitet, Zepter und Lilienzweig in den
Händen haltend, zu Füssen zwei schwebende Put-
tenköpfchen. In goldener Schrift heisst es am obe-
ren Bildrand: «EX VOTO 1776». Ob es sich bei ei-
nem vergleichbaren Gemälde, angeblich aus St. Pe-
ter in Schaan stammend (Inventar-Nr. 19) - es misst
90,5 x 73 cm -, ebenfalls um ein EX VOTO, um eine
Altartafel oder schlicht um ein Andachtsbild han-
delt, ist ungewiss. Ungewöhnlich für eine Altartafel
sind jedoch die markanten Jahrzahlen 1790 und
1702 in den oberen Bildfeldern. Der Hinweis Ex
Voto fehlt. Dargestellt sind die Himmelskönigin Ma-
ria mit Kind als Mondsichelmadonna, begleitet von
der heiligen Magdalena mit dem Salbgefäss in den
Händen und dem heiligen Georg, den besiegten
Drachen zu Füssen.
Ein anderes Votivbild (Inventar-Nr. 10) aus Ben-
dern zeigt in naiver, ländlicher Malerei Maria mit
dem Kind auf grünem Felde stehend zwischen Bäu-
men und Sträuchern und einer weidenden Kuh,
seitlich von Wolken umrahmt, mit der Inschrift
«1802 EX FOTO», ebenfalls auf Holz gemalt, mit
aufgesetztem, blau-weiss marmoriertem Rahmen.
EX V O T O VON 1802 AUS DER ST. GEORGS-
K A P E L L E IN S C H E L L E N B E R G
«Anno 1802. Regiertt ein bösse sücht vnder Ross.
vnd fich: so hat ein Ehrsamme gemeindt shellen-
berg: Gott / vnd Maria die Mutter gottes vnd s: Ge-
org vnd s: Marti vnd s: Sebastian vnd s: Andony
vnd s: Wendelin vnd s: / Loy zum höchstem Lob=
vnd Ehr die daflen versprochen vnd machen las-
sen, vnd derzu, Alle son vnd feirdag Nach / dem
Rossen Kratz. Fünf vatter vnser bethen zum Höch-
stem Danckh das Gott durch die Fuhrbitt diesen
Heiligen Weitter behütten wolle Amen.» So lautet
die vierzeilige Inschrift am unteren Bildrand (In-
ventar-Nr. 11). 1802, in Zeiten von Not und gros-
sem Elend nimmt die Gemeinde Schellenberg Zu-
302
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
flucht zu den himmlischen Nothelfern und Schutzhei-
ligen und stiftet diese Tafel in die Kapelle St. Georg.
Johann Georg Heibert (1759-1813) schreibt in
seiner Chronik auf das Jahr 1802: «Es herrscht
jetzt auch ein pestilenzische Krankheit an Ross und
Vieh und zwar weit und breit im Land, in der
Schweiz dem Rhein nach sehr stark, auch in
Schwaben und Vorarlberg und in unserem ganzen
Land. Anfangs war kein Hilfsmittel vorhanden. Die
Rosse schwellen an Brust und Hals und krepieren
bald. Man nimmt die Zuflucht zum Gebet. Die Ben-
derer Pfarrei geht mit Prozession auf Appenzell
zum hl. Antonius; die Pfarrei Eschen geht alle Frei-
tag auf Nendeln (hier befand sich die den Pestheili-
gen St. Sebastian und Rochus geweihte Kapelle).
Dann wurde alles Vieh benediciert. Endlich nach
allem diesen wurde ein Hilfsmittel erfunden und
vieles Vieh gerettet. Die Leut= und Viehdökter ha-
ben sich schon anfänglich auf Verordnung der Ob-
rigkeit versammelt und Rat gehalten. Sie haben
sehr verschiedene Meinungen über Ursache und
Kur dieser Krankheit. Etliche sind der Meinung, die
Hitze und Dürre des Sommers sei die Ursache, an-
dere sagen, eine vergiftete Luft. Von Sargans wird
attestiert, es sei ein Biss einer vergifteten Fliege.
Und ich meine, es ist eine Strafe Gottes gewesen,
denn diese Krankheit ist gekommen, niemand
weiss die Ursache; sie ist wieder vergangen, nie-
mand weiss wie, und doch sind viele hundert Stück
Ross und Vieh krepiert». 3 0
Die Gestalten der Heiligen, die göttlichen Für-
sprecher, nehmen den grössten Teil des Bildes ein.
Sie sind abgegrenzt und abgehoben von der irdi-
schen Welt durch ein mächtiges Wolkenband, dro-
henden Gewitterwolken ähnlich. Zwischen diesem
Wolkenband und dem abschliessenden Textband
folgt der interessanteste Bildteil dieses Ex Votos. In
grüner hügeliger Wiesenlandschaft steht die Kapel-
le St. Georg in Schellenberg, umgeben von weiden-
den Pferden und Kühen, die früheste bekannte
Darstellung dieser Kapelle. Der lokale Bezug zum
konkreten Ort ist somit neben dem Text auch durch
den Bildinhalt gegeben. Grabungen und bauanaly-
tische Untersuchungen von 1980 haben gezeigt,
dass sich diese Darstellung der Kapelle «als eine
realistische Darstellung der ersten St. Georgs-Ka-
pelle, wie sie aufgrund der Ausgrabungen und der
Bauuntersuchungen im Sommer 1980 rekonstru-
iert worden ist», erwiesen hat.3 1
Auf dieselben Umstände der in besagtem Jahre
(1802) herrschenden Viehseuche nimmt eine wei-
tere Votivtafel (Inventar-Nr. 12) aus der Duxkapelle
in Schaan - sie befindet sich heute im Liechtenstei-
nischen Landesmuseum - Bezug. Das grossforma-
tige Leinwandbild, 120 x 84 cm, zeigt Maria mit
dem Kind sowie die heiligen Sebastian und Martin.
Die Inschrift am unteren Bildrand besagt: «Diese
Tafel hat Hiesige Gemeind (Schaan) verfertigen las-
sen aus Danckbarkeit gegen die Fürbitte Maria der
seligsten Jungfrau, und der H: H. Sebastiani, und
Martini, wegen Befreyung von der Leydigen Vieh-
seuche im Jahre 1802».
Schon 1722 stiftete die Gemeinde Schaan aus
demselben Grunde - es wütete auch damals eine
Viehseuche - eine Votivtafel (Inventar-Nr. 3) auf
Dux. Die Inschrift besagt: «Anno 1722 hat die
Ehrsame Gemain Schan zue Ehren der seligsten
Jungfrau Und Mutter Gottes Maria diese Opffer-Taf-
fel hie her Verlobt Und hat durch die Fürbitt der
Mutter Gottes, hl. Martin u. Ignatiy, die leidige Vieh
pest Gott sey dank Nach Gelassen».
28) Zitiert nach Johann Baptist Büchel: Auszug aus der Chronik des
Jakob Heibert. In: Jahrbuch des Historischen Vereins (ür das Für-
stentum Liechtenstein. Band 29 (1929). S. 97.
29) Vgl. Brigitte Hasler: Ex Votos. In: Marien-Lourdes-Grotte Ben-
dern. 1898-1998. Festschrift. Bendern. 1998, S. 63-66.
30) Zitiert nach Johann Baptist Büchel: Auszug aus der Chronik des
Jakob Heibert (wie Anmerkung 28), S. 116-117.
31) Georg Malin: Kapelle St. Georg in Schellenberg. In: Jahrbuch des
Historischen Vereins für das Fürs ten tum Liechtenstein. Band 80
(1980). S. 43.
303
Ausschnitt aus dem Ex
Voto-Bild von 1825 aus
Balzers; zu sehen ist der
Sturz eines Kindes aus
dem obersten Fenster von
Haus Nr. 21 im Ortsteil
«Höfle».
E X V O T O VON 1825, V E R M U T L I C H AUS DER
M A R I A H I L F - K A P E L L E IN B A L Z E R S
Ein in mehrfacher Hinsicht interessantes, aus-
druckstarkes Votivbild (Inventar-Nr. 13), das ur-
sprünglich aus der Mariahilf-Kapelle in Balzers
stammen dürfte, befindet sich heute in Privatbe-
sitz. Das grossformatige Bild - es misst in etwa 78 x
60 cm -, in naiver aber überaus expressiver Manier
gemalt, ist Maria gewidmet und geht auf das weit-
verbreitete Vorbild der Maria-Hilf-Darstellung von
Lukas Cranach dem Älteren aus der Domkirche St.
Jakob in Innsbruck aus dem Jahre 1517 zurück.
Der Votationsgrund ist ein Unglücksfall, der sich in
Balzers im Haus Nr. 21 im Höfle, ehemals Haus
Nr. 31, zugetragen hat und der in einem abgegrenz-
ten 27 x 24 cm grossen Bildfeld geschildert wird.
Ein Kind, in ein weisses knielanges Hemd geklei-
det, stürzt kopfüber aus dem obersten Fenster des
Hauses. Die markante Fassade mit dem Rechteck-
fenster unter dem Dachgiebel, aus dem der ver-
hängnisvolle Sturz erfolgte, dem seitlichen Rund-
fenster sowie dem Treppenaufgang, hat sich bis
heute erhalten. Bei dem Verunglückten könnte es
sich um Johann Baptist Julius Wolfmger (*1822;
t l908) handeln. 3 2 In einem anderen ausgesparten
304
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
Feld neben der Darstellung des Unglücksortes fin-
det sich die Inschrift: «H. Maria Hilff unss in Aller
Noth. EX VOTO ANO. 1825». Die Mariendarstel-
lung dieses Votivbildes muss in einem direkten Zu-
sammenhang mit einem Andachtsbild stehen, das
sich in den Sammlungen des Landesmuseums be-
findet. Auf diesen Sachverhalt wird an anderer
Stelle näher eingegangen.
B I L D W E R K E IM U M F E L D DER V O T I V T A F E L N
Zahlreiche Andachtsbilder bewegen sich im Um-
feld der Ex Votos. Da aber verschiedene typische
Elemente fehlen, gelten sie nicht im eigentlichen
Sinne als Votivbilder. Zu diesen zählen verschiede-
ne Mariendarstellungen - wie jene des eben er-
wähnten Votivbildes von 1825 - , die alle auf das
grosse Vorbild 3 3 des Lukas Cranach (1472-1553)3 4
aus dem frühen 16. Jahrhundert zurückgehen, das
in der Barockzeit und bis ins 19. Jahrhundert als
eigentliche Marien-Ikone eine ungeahnte Verbrei-
tung gefunden hat. Das Original wurde im 17. Jahr-
hundert von Passau nach Innsbruck überführt und
befindet sich seit 1650 in der dortigen Domkirche
St. Jakob. «Die 1683 gegründete Münchener Ma-
ria-Hilf-Bruderschaft, wie auch die von Innsbruck,
haben ohne Zweifel in hohem Masse dazu beigetra-
gen, dass sich dieses Maria-Hilf-Bild so tief in die
Volksvorstellung eingeprägt hat. Zahllose Votivta-
feln, Hinterglasbilder und Andachtsbilder, die in
ihrem flächenhaften, reduzierten Stil das Original
nachzuzeichnen versuchten, haben gerade durch
diese Mittel dem Bilde wieder einen stärkeren iko-
nenhaften Charakter verliehen». 3 5 Eine der unzäh-
ligen Kopien dieses Bildes findet sich als Altarblatt
im Hochaltar der Mariahilf-Kapelle in Balzers, ent-
standen um 1720. «Es w a r - w i e ältere Bildgrenzen
zeigen - bereits einem früheren Hochaltar einge-
fügt und wurde durch Vergrösserung dem jetzigen
32) Emanuel Vogt: Mior z Balzers. Lebensart. Band III, Vaduz. 1998.
S. 235 und Anra. 45, S. 497-498.
33) Vgl. Herbert Haag, Joe H. Kirchberger, Dorothee Solle und
Caroline iL Ebertshausen Maria. Kunst, Brauchtum und Religion in
Bild und Text, Freiburg, Basel, Wien, 1997. S. 217.
34) Dieter Koepplin. Tilman Falk: Lukas Cranach. Gemälde, Zeich-
nungen, Druckgraphik. 2 Bände. 2. Auflage. Basel, 1974 und 1976.
35) Torsten Gebhard: Die marianischen Gnadenbilder in Bayern.
Beobachtungen zur Chronologie und Typologie. In: Kultur und Volk.
Beiträge zur Volkskunde aus Österreich, Bayern und der Schweiz.
Festschrift für Gustav Gugitz. Hg. von Leopold Schmidt. Wien, 1954,
S. 106.
Der Hochaltar im Dom von
Innsbruck ist geschmückt
mit einem Bild von Lukas
Cranach, welches Maria
mit dem Jesuskind zeigt.
Das aus dem frühen 16.
Jahrhundert stammende
Gemälde war Vorbild für
zahlreiche spätere Mutter-
gottes-Darstellungen.
305
Aufsatz angepasst». 3 6 Ebenso ziert die Kopie des
Cranach-Gemäldes das Giebelbild des Hochaltars
der Marienkapelle in Triesen. Das in seiner Kom-
position wie im Aufbau ganz ausserordentliche A l -
tarwerk ist eine Stiftung des Grafen Franz Wilhelm
von Hohenems und seiner Gattin Eleonore Kathari-
na, Gräfin von Fürstenberg, aus dem Jahre 1654,
ein Werk des Malers Georg Wilhelm Grässner aus
Messkirch im Allgäu.-" Aber nicht nur in Altarwer-
ken, auch unter den beweglichen Bildern finden
sich zahlreiche Kopien nach Lukas Cranach. Eben-
falls aus der Marienkapelle in Triesen stammt ein
solches Marienbild aus dem Jahre 1664, das einer
näheren Betrachtung bedarf. Es zeigt neben den
Initialen «M. Z.» das Wappen «Zeller» 3 8 (Inventar-
Nr. 14). Wie eine Aufnahme Erwin Poeschels zeigt,
hing es um 1950 noch an der rechten Chorseite der
Marienkapelle in Triesen.
Das 77,5 x 58 cm grosse Leinwandbild zeigt im
Zentrum Maria mit dem Jesuskind - dem Vorbild
Lukas Cranachs folgend - in einem Kranz von 24
Rosenblüten, in den oberen Bildecken die Jahrzahl
1664, links unten das Wappen und rechts unten in
grosser Schrift die Initialen «M. Z.». Wappen und
Initialen könnten auf den 1610 geborenen Inns-
brucker Maler Maximilian Zeller hindeuten. 3 9
In der Sakristei der Duxkapelle von Schaan hing
bis zur Renovation in den 1990er Jahren ebenfalls
ein Maria-Hilf-Bild (Inventar-Nr. 26), das auf das
Innsbrucker Vorbild Bezug nimmt. Es befindet sich
heute in den Sammlungen des Liechtensteinischen
Landesmuseums.
Drei Bildwerke, das oben erwähnte Ex Voto aus
Balzers von 1825 (Inventar-Nr. 13), ein Marienbild
aus der Marienkapelle in Triesen von 1682 (Inven-
tar-Nr. 15) sowie ein Marienbild von 1684 (Inven-
tar-Nr. 16) aus den Sammlungen des Landesmu-
seums - alle drei nehmen Bezug auf die Inns-
brucker Cranach-Madonna - stehen in einem inter-
essanten Zusammenhang, auf den hier näher ein-
gegangen werden soll.
Ein 67 x 55 cm grosses Leinwandbild zeigt auf
bräunlichem Hintergrund in qualitätvoller Malerei
Maria, in ein blaues Gewand gekleidet und mit ro-
tem Mantel und feinem Schleier umhüllt, in den Ar-
men das nackte Jesuskind haltend, getreu dem
Cranach-Vorbild folgend. Auf einem zirka fünf cm
breiten hellen Bildstreifen am unteren Bildrand fin-
det sich die zweizeilige Inschrift: «Mit Deiner Flilff
sihe Uns an, Hunger und Pest Wende hein dan,
Vorm feindt beschütze Unss for dan In Todts noth
nimbt dich Unsser an. 1682». Ein Bild also, das
dem nahen Umfeld der eigentlichen Ex Votos oder
Votivbilder zugeordnet werden kann.
Im Altbestand der Sammlungen des Liechten-
steinischen Landesmuseums mit leider unbekann-
ter Herkunft befindet sich ein ebensolches Bild aus
dem Jahre 1684. Unwesentlich grösser im Format
als ersteres - es misst 66,5 x 61 cm - ebenfalls auf
Leinwand gemalt und von einem eigentümlichen
Rahmen gefasst. Ein oben abschliessender marmo-
rierter Zahnfries mit vorspringender profilierter
zehn Zentimeter starker Abdeckleiste lässt darauf
schliessen, dass das Bild aus einer Kapellennische
oder einem Bildstöckchen stammen könnte. Die In-
schrift, ebenfalls auf einem Bildstreifen am unteren
Bildrand angebracht, unterscheidet sich nur ge-
ringfügig von jener von 1682. Sie lautet wie folgt:
«Mit Deiner hilff sihe Uns an, Hunger und Pest
wende hindan, Vorm feindt Beschütze uns fordan,
zu Todes Noth nimb dich unser an. 1684».
Wie eine Aufnahme von 1983 zeigt, wurde die Bild-
zeile von anderer Hand ergänzt. Es wurde hinzuge-
fügt: «R. A. 1856» (das heisst «Renovatum Anno
1856»). 1983 wurde das Bild restauriert. Dabei
wurde festgestellt, dass es sich 1856 nicht um eine
Bildrestaurierung gehandelt hatte, sondern dass
das ursprüngliche Bild in naiver Malerei - zwar
wieder nach demselben Cranach-Motiv - neu über-
malt wurde. Hier nun zeigt sich die eklatante Nähe
zur Malerei des Balzner Ex Voto-Bildes von 1825,
das entweder als direktes Vorbild gedient hatte
oder aber es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass
diese beiden Bilder von ein und demselben Maler
stammen müssen. Anlässlich der Restaurierung
von 1983 wurde das darunterliegende ursprüngli-
che Bild von ganz anderer Qualität - es handelt
sich um das Bild von 1684 - wieder freigelegt; die-
ses steht nun wiederum in unmittelbarer Nähe zu
306
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
dem nur zwei Jahre älteren Bild aus Triesen. Es er-
gibt sich folgende Reihenfolge der Bilder: Als älte-
stes findet sich das Marienbild aus Triesen von
1682, es folgt die frühere und 1983 wieder freige-
legte Fassung von 1684 des Bildes aus der Mu-
seumssammlung; 1825 entstand das Votivbild aus
Balzers und 1856 folgte diesem die Übermalung
des Museumsbildes von 1684.
Ein weiteres Beispiel der Darstellung der Mut-
tergottes mit dem Jesuskind - frei nach dem Vor-
bild von Lukas Cranach - findet sich in der Pfarr-
kirche Eschen. Dieses Bild stammt aus dem Jahre
1747 (Inventar-Nr. 22).
Als letztes Bild im Umfeld der Votivbilder sei
hier das 1923 in Wien durch den Feldkircher Maler
und Restaurator Florus Scheel geschaffene Ölbild
(Inventar-Nr. 28) der Vierzehn Nothelfer angeführt.
Es wurde ebenfalls in die Duxkapelle in Schaan ge-
stiftet. Das rechts unten bezeichnete und datierte
Gemälde zeigt die Vierzehn Nothelfer um den
Thron Mariens versammelt. Es trägt die Inschrift:
«0 Ihr hlg. Nothelfer bittet für uns!»
Neben Kirchen und Kapellen sind auch die über
das ganze Land verstreuten Bildstöckchen, soge-
nannte «Kappile», Stätten der Andacht und priva-
ter Frömmigkeit. Mehr als sechzig solcher An-
dachtsstätten sind aus Liechtenstein bekannt. 4 0
36) Erwin Poeschet Die Kuns tdenkmäler des Fürs t en tums Liechten-
stein. Basel, 1950, S. 56.
37) Das Altarbild trägt Jahrzahl und Signatur: G. W. Gresner fecit
1654. Vgl. Otto Seger: Die Altarbilder der Kapelle Unserer Lieben
Frau zu Triesen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das
Fürs tentum Liechtenstein, Band 60 (1960), S. 166. - Ludwig Welti:
Georg Wilhelm Gressner aus Messkirch , der Maler des Hochaltar-
blattes in der Liebfrauenkapelle zu Triesen und das Schicksal seiner
Tochter Anna Katharina. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für
das Fürs tentum Liechtenstein, Band 62 (1962), S. 103-111.
38) Erwin Poeschel (wie Anmerkung 36), S. 135.
39) Vgl. Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike
bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker,
hrsg. von Hans Vollmer, Band 36. Leipzig, o.J., S. 451. - Konrad
Fischnaler: Innsbrucker Chronik, Innsbruck, 1934, Band V, S. 259.
40) Hansjörg Frommelt: Kappile in Liechtenstein. In: Eintracht 1,
1996, S. 9-16, und: Eintracht 2, 1996, S. 9-24.
Die zur Pfarrei Schaan zu-
gehörigen Einwohner und
Einwohnerinnen von Pro-
fatscheng stifteten im Jahr
1640 dieses Kappile, wel-
ches 1971 von seinem
ursprünglichen Standort im
Mühleholz an das «Für-
stenweglein» im Duxwald
oberhalb von Schaan ver-
setzt wurde. Die Stiftung
dieses Kappiles erfolgte aus
Furcht vor der Pest.
307
Bildstöcklein oberhalb von
Ruggell. Diese Andachts-
stätte reicht vermutlich bis
ins späte 18. Jahrhundert
zurück. Damals wurde das
Liechtensteiner Unterland
von einer schlimmen
Pferdekrankheit heimge-
sucht.
Viele von ihnen wurden ebenfalls «ex voto», auf
Grund eines Versprechens, eines Gelübdes, errich-
tet. Einzelne reichen bis ins 17. Jahrhundert
zurück, die jüngsten wurden erst in den letzten
Jahrzehnten erbaut. Vereinzelt sind auch in ihnen
Votivbilder anzutreffen, beispielsweise im soge-
nannten «Pestkappile» an der Fürstenstrasse in
Schaan. Im Jahre 1740 wütete im Rheintal wieder
einmal die Pest. Aus Furcht vor der Seuche errich-
teten Profatschenger (Ortsteil von Triesenberg)
Bauern, welche bis 1768 der Pfarrkirche Schaan
zugehörig waren, im Mühleholz (in Schaan) das
Pestkappile. Zu jener Zeit blieben sie nämlich, um
von der grausamen Pest verschont zu bleiben, den
Gottesdiensten im Zentrum von Schaan fern. «Das
bedeutende Kappile musste leider dem Strassen-
bau weichen. Im Jahre 1971 wurde es von seinem
markanten Standort im Mühleholz an die Fürsten-
strasse im Duxwald versetzt». 4 1 Das Kappile beher-
bergt heute die Kopie eines Bildes des Bludenzer
Malers Mathias Jehly von 1848 (Inventar-Num-
mer 27). 4 2 Es zeigt Maria über den Wolken thro-
nend und die drei Heiligen Martin, Antonius und
Sebastian in freier Landschaft stehend. Die In-
schrift lautet: «H. Martin, H. Anton, Sa. Sebastian
bittet für uns». Das 110 x 62 cm grosse Originalbild
befindet sich heute im Liechtensteinischen Landes-
museum.
Auf die Zeit der damals im Liechtensteiner Un-
terland grassierenden Pferdekrankheiten (1782)
könnte auch die Stiftung eines Bildstöckchens ober-
halb von Ruggell zurückreichen. Das Kappile ist
dem heiligen Wendelin, dem Patron der Hirten und
Herden, geweiht.4 3
Der eigentliche Wert der Votivbilder, deren Ma-
ler in der Regel unbekannt sind, liegt nicht in der
künstlerischen Qualität, sondern im ursprüngli-
chen Ausdruck echter tiefgläubiger Volksfrömmig-
keit. Sie sind somit von hoher kulturhistorischer
Bedeutung und Teil unseres kulturellen Erbes. Die
Wurzeln reichen in vorchristliche Zeit zurück, in
veränderter Form ist der ihnen immanente Grund-
gedanke aber auch heute noch in vielen Regionen
vorhanden und weit verbreitet.
308
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
Inventar
A U F R U F
Sollten Votivbilder aus ehemaligen Kirchen, Kapel-
len oder Bildstöckchen Liechtensteins in Privatbe-
sitz gelangt sein - was anzunehmen ist - sind die
heutigen Besitzerinnen und Besitzer gebeten, sich
zwecks Weiterführung des Inventars beim Liech-
tensteinischen Landesmuseum, Postfach 1216, 9490
Vaduz, oder Tel.: 00423/236 75 50, zu melden. Die
Besitzrechte werden nicht tangiert; die Besitzer
bleiben anonym.
Herzlichen Dank!
Das nachfolgende Inventar der sich in Liechtenstein
befindenden Votivtafeln ist chronologisch nach de-
ren Datum aufgebaut.
Massangaben: Höhe x Breite
41) Eintracht 2, 1996. S. 23.
42) Rechts unten bezeichnet: «Math. Jehly, pinxit 1848».
43) Eintracht 1, 1996. S. 11.
309
E X V O T O - B I L D E R INVENTAR-NUMMER 1
Datum 1657 (?)
Technik Öl auf Leinwand
Format 53,5 x 36,5 cm
Bildinhalt
Über Wolkenband sitzend Maria, davor knieend Antonius
von Padua mit dem Jesuskind. Am linken unteren Bild-
rand Dorflandschaft mit Bergkulisse
Inschrift
«Gott dem Almechtigen, und Maria der Himelkönigin, wie
auch dem Hailigen Antonio von PADOA, zu Ehren und
danckbarkeit lies M : Roni Tschetter von Schan diss bild
machen wegen underschidlichen Zuständen und Kranck-
eiten. 1657»
Herkunft
Vermutlich Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Privatbesitz Ruggell
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 33
310
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 2
Datum 1718
Technik Öl auf Leinwand
Format 66,5 x 54,5 cm
Bildinhalt
Das Votivbild zeigt oben in der Mitte in einem Wolken-
kranz die Himmelskönigin Maria zum Trost auf Dux in
Schaan, mit Krone und Zepter, in rotem Gewand mit blau-
em Mantel gekleidet. Sie wird links begleitet vom Apostel
Johannes mit einem Kelch in der Linken, rechts vom hl.
Christopherus mit dem Baumstamm in der Rechten und
dem Jesusknaben auf der linken Schulter. Wie die Mutter-
gottes sind auch die Heiligen - beide Schutz- und Namens-
patrone des Stifters - durch ein Wolkenband von der irdi-
schen Welt abgehoben. In der Bildmitte wird das Torkel-
gebäude - der Unfallort - im umzäunten und ummauerten
Weinberg gezeigt. An der Giebelseite des gemauerten Tor-
kelgebäudes ist das Wappen des Landammann Walser dar-
gestellt: eine (heraldisch) nach rechts steigende Gemse,
Gold auf blauem Grund. Vor dem Holzzaun, links des Tor-
kelgebäudes, kniet betend auf dem vorbeiführenden Weg
der am 10. Oktober 1718 verunfallte Johann Christoph
Walser. Eine grosse Rundbogenöffnung an der Längsseite
des Torkelhauses zeigt den verhängnisvollen Sturz vom
Torkelbett mit dem am Boden liegenden Verunfallten
Inschrift
Eine siebenzeilige Inschrift auf einem beidseitig gerollten
Band schildert den Unfall und das Gelöbnis EX VOTO so-
wie den Dank des Verunglückten: «Ano 1718 den 10 oetb:
hat herr Johan Christoph Walsser alter Landaman im
dorff Schan wohnhafft, in seinem aignen dorgel zue endt
des tot gunst, unversehnt einen ab dem dorgelbeth auf die
sarg oder Kesij einer büte Stürtzhel getahn und auf ein
schulttren so hart gefallen, das ihme das gebliet in die ad-
ren und Nerfen gefahren und ein grausamen unleident-
lich Schmerzen causiert in diesem seines lebensgefahr,
zue der ehr, und lob Gottes und seiner wertisten Mueter
der Himelskönigin Maria ein taffei EX VOTO in die Capell
auf dux Maria zuem Trost genandt verlobt und zue dieser
hosten ehr und lob zu einer ewigen gedechtnus mallen
und einhenchen lassen, warauff es sich nach und nach
gebesert, und (:Gottlob:) keine Verlezung hinderlassen»
Herkunft
Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 35; erwähnt bei Erwin Poeschel,
Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein. Basel,
1950 - im folgenden zitiert als: Poeschel, Kunstdenkmäler
(1950) -, S. 102; Briefmarkenausgabe in Liechtenstein
vom 3. September 2001
311
INVENTAR-NUMMER 3
Datum 1722
Technik Öl auf Holz
Format 88 x 60,5 cm
Bildinhalt
Über den Wolken thront die Himmelskönigin, umgeben
von den Heiligen und Engeln, einer Sacra Conversazione
gleich; darunter in hügeliger Landschaft weidendes Vieh
mit einem aufgeregt gestikulierenden Hirten, der auf die
im Bild rechts unten liegende - wohl verendete Kuh - hin-
deutet. Damit ist auch der eigentliche Grund dieses Ex Vo-
tos gegeben
Inschrift
«Anno 1722 hat die Ehrsame Gemain Schan zue Ehren
der seligsten Jungfrau Und Mutter Gottes Maria dise Opf-
fer-Taffel hie her Verlobt Und hat durch die Fürbitt der
Mutter Gottes, hl. Martin und Ignatiy, die leidige Vieh pest
Gott sey dank Nach Gelassen.»
Herkunft
Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 35
INVENTAR-NUMMER 4
Datum 1727, monogrammiert: j ~ j .
Technik Öl auf Leinwand
Format 43 x 37,5 cm
Bildinhalt
Im linken oberen Bildteil sind Maria von Dux mit dem Je-
suskind und der hl. Josef mit dem Lilienzweig in der Lin-
ken im Wolkenkranz dargestellt. Der Blick des Betrach-
ters richtet sich in eine Schlafkammer mit einem Pfosten-
bett, in dem eine kranke oder sterbende Frau liegt, an-
dächtig den Rosenkranz betend. Rechts davor befindet
sich ein Tisch mit Kruzifix, Zinnkrug, Teller und anderen
Gerätschaften, vielleicht Teile einer Versehgarnitur
Inschrift
«EX VOTO. 1727.
I lerkunft
Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Das Original ist ausgestellt im Ortsmuseum DoMus,
Schaan
Bemerkungen
keine
312
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
E X ULOTO 1 7 3 5
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INVENTAR-NUMMER 5
Datum 1733
Technik Öl auf Holz
Format 45 x 30 cm
Bildinhalt
Es zeigt im oberen linken Bildteil Maria als Himmelsköni-
gin mit dem Jesuskind in einem Wolkenkranz vor golde-
nem Hintergrund. Rechts unten kniet mit gefalteten Hän-
den in einer hügeligen Landschaft mit Bergen im Hinter-
grund der Stifter des Ex Votos; auffallend die vornehme
Kleidung
Inschrift
«EX UOTO. 1733»
Herkunft
Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 33; Briefmarkenausgabe in Liech-
tenstein vom 3. September 2001
INVENTAR-NUMMER 6
Datum 1734
Technik Öl auf Holz
Format 47 x 22 cm
Bildinhalt
Der hl. Nepomuk ist stehend, im Priestergewand geklei-
det, Kreuz, Barett und Märtyrerpalme in den Händen hal-
tend, dargestellt. Im Hintergrund ist sein Märtyrertod in
der Moldau bei Prag festgehalten, mit Soldaten und König
Wenzel zu Pferd im Hintergrund der Szene. Fast gleich
gross wie die Malerei ist der Inschriftenteil mit unten ab-
schliessendem bekröntem Wappenschild
Inschrift
«Es hat sich Hie her verlobt zue dem H: Johanes von
Nepomuckh, wegen einem ... atentzen (?) der wohl edelu-
este Her, her hans Jacob Sturm, des Schilt ried (ein Weiler
bei Göfis in Vorarlberg), der Herschafft bludentz, wegen,
Johanes Hilde (Hilti) mesmer in Tschan (Schaan), peter
und paul (vermutlich Kapelle St. Peter in Schaan) welcher
den fresenten Krebs 4. Jahr lang Gehabt, an dem underen
maul gehabt im Jahr 1734. Hat mich der Her Sturm, bey
drit halb zol hin weg Geschniten, Fürbit des Heiligen in 3.
Tagen fölig guriert, gewesen, in 10 Tagen hab ich wider
Kirchen und Strasen gehen künen, als ein 64 järiger man,
Gott sey danck Gesagt und der aller seligsten Himels küni-
gin Maria.»
Herkunft
Vermutlich aus St. Peter in Schaan
Heutiger Standort
Liechtensteinisches Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 33
313
INVENTAR-NUMMER 7 INVENTAR-NUMMER 8
Datum 1761
Technik Öl auf Holz mit aufgesetztem Rahmen
Format Mit Rahmen: 32,5 x 20 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind im Wolkenkranz, zu ihren Füssen der
kniende Stifter
Inschrift
«Ich Johanes batista büchl Johanes Sohn, bekchene, des
ich durch die Mutter gottes zu benderen mittelst einem
grosen mirackhl aus äugen scheinlicher lebens gefahr bin
Erlediget warden. Den 20. Jener, anno 1761», und von
anderer Hand: «geschehen zu Chur im Hof.»
Herkunft
Pfarrkirche Bendern
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 37
Datum 1776
Technik Öl auf Leinwand
Format 162,5 x 126 cm,
mit Rahmen: 182,5 x 146 cm
Bildinhalt
Das Bild zeigt Maria, die Himmelskönigin, mit dem Jesus-
knaben auf der Mondsichel stehend, von Wolken umhüllt
und von Engeln begleitet, Zepter und Lilienzweig in den
Händen haltend, zu Füssen zwei schwebende Puttenköpf-
chen
Inschrift
Am oberen Bildraum in goldener Schrift: «EX VOTO 1776.»
Herkunft
Pfarrkirche Bendern
Heutiger Standort
Kapitelsaal, Pfarrhaus Bendern
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 37; Erwähnt bei Poeschel, Kunst-
denkmäler (1950), S. 250, Anm. 1
314
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 9
Datum 1796
Technik Öl auf Leinwand
Format 81,5 x 105 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind, auf Wolken schwebend, über der Kapelle
von Dux, daneben aufgeschlagenes Militärlager mit Zel-
ten, Soldaten und Kanonen
Inschrift
«Im Jahr 1796 im brachmonath (Juni) ist allhie ob gegen-
werthiger Kapelle zur zeit, da in dem damahligen un-
glickl. Krig mit Frankreich Mann durchs bündinnerlande
von denen Französichen Trupen einen Einbruch in hiessi-
ge Reichsherrschaft befürchtet, ein Lager gestanden wor-
inen das Kaijss. Kön: Regiment Breis Campirt hat. Gott
sey uns gnädig und wende durch die getreue Vorbitt Ma-
ria seiner Jungfreul. Mutter, die da zumahlen, so auch ins-
künftig, und zu allen Zeiten von uns und unsern lieben
Vatterlande alle Krigs=Auftritte und unglücksei. Zeiten
gnädigst ab.»
Herkunft
Dux-Kapelle in Schaan. Kopie an der Südwand
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 36; Poeschel, Kunstdenkmäler
(1950), S. 102-103; die älteste Darstellung der Duxkapelle
in Schaan!
INVENTAR-NUMMER 10
Datum 1802
Technik Öl auf Holz mit aufgesetztem, blau-weiss
marmoriertem Rahmen
Format Mit Rahmen: 34 x 25 cm
Bildinhalt
Maria mit dem Kind auf grünem Feld stehend zwischen
Bäumen und Sträuchern und einer weidenden Kuh, seit-
lich von Wolken umrahmt
Inschrift
«1802. EX FOTO (sie!)»
Herkunft
Pfarrkirche Bendern
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
keine
315
INVENTAR-NUMMER 11
Datum 1802
Technik Öl auf Holz
Format 83 x 59 cm
Bildinhalt
Die Gestalten der Muttergottes mit Kind (auch hier eine
Kopie nach dem Maria-Hilf-Bild des Lukas Cranach), der
hll. Georg, Martin, Sebastian, Antonius, Wendelin und
Loy (= hl. Eligius), die göttlichen Fürsprecher, nehmen
den grössten Teil des Bildes ein. Sie sind abgegrenzt und
abgehoben von der irdischen Welt durch ein mächtiges
Wolkenband, drohenden Gewitterwolken ähnlich. Zwi-
schen diesem Wolkenband und dem abschliessenden
Textband folgt der interessanteste Bildteil dieses Ex Votos.
In grüner hügeliger Wiesenlandschaft steht die Kapelle St.
Georg in Schellenberg, umgeben von weidenden Pferden
und Kühen. Die früheste bekannte Darstellung dieser Ka-
pelle
Inschrift
«Anno 1802. Regiertt ein bösse sücht vnder Ross. vnd
fleh: so hat ein Ehrsamme gemeindt shellenberg: Gott /
vnd Maria die Mutter gottes vnd s: Georg vnd s: Marti
vnd s: Sebastian vnd s: Andony vnd s: Wendelin vnd s:
/Loy zum höchstem Lob= vnd Ehr die daflen versprochen
vnd machen lassen, vnd derzu, Alle son vnd feirdag Nach
/ dem Rossen Kratz. Fünf vatter vnser bethen zum Höch-
stem Danckh das Gott durch die Fuhrbitt diesen Heiligen
Weitter behütten wolle Amen.»
Herkunft
Schellenberg
Heutiger Standort
Kapelle St. Georg in Hinterschellenberg
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 34; erwähnt bei Poeschel, Kunst-
denkmäler (1950), S. 278; Georg Malin: Kapelle St. Georg
in Schellenberg. In: JBL 80 (1980), S. 41-43, Abb. 11-12;
Briefmarkenausgabe in Liechtenstein vom 3. September
2001
316
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 12
Datum 1802
Technik Öl auf Leinwand
Format 120 x 84 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind auf Wolken sitzend, zu Füssen die hll. Se-
bastian und Martin mit dem Bettler
Inschrift
«Diese Tafel hat Hiesige Gemeind (Schaan) verfertigen
lassen aus Danckbarkeit gegen die Fürbitte Maria der se-
ligsten Jungfrau, und der IL II. Sebastiani, und Martini,
wegen Befreyung von der Leydigen Viehseuche im Jahre
1802.»
Herkunft
Dux-Kapelle in Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001. S. 35
INVENTAR-NUMMER 13
Datum 1825
Technik Öl auf Leinwand
Format 78,3 x 59,5 cm
Bildinhalt
Im Zentrum des Bildes in naiver Malerei die Kopie des
Maria-Hilf-Bildes von Lukas Cranach aus Innsbruck. Im
rechten Bildfeld unten der Ort des Geschehens. Ein Knabe
stürzt aus dem oberen Fenster des Hauses Nr. 21 im Höfle
in Balzers. Im linken unteren Bildfeld der Votationstext
Inschrift
«H. Maria Hilff unss in Aller Noth. EX VOTO ANO 1825.»
Herkunft
Balzers, vermutlich Mariahilf-Kapelle
Heutiger Standort
Privatbesitz Balzers
Bemerkungen
Emanuel Vogt, Mier z Balzers, Band III, 1998, Abb. S. 234
und Anm. 45, S. 497-498; restauriert 1967 von Alfred
Gassner, Bludenz
317
B I L D W E R K E I M U M F E L D D E R V O T I V T A F E L N INVENTAR-NUMMER 14
Datum
Technik
Format
1664
Öl auf Leinwand
77,5 x 58 cm
Bildinhalt
Kopie des Maria-Hilf-Bildes von Lukas Cranach, umrahmt
von einem Kranz von 24 Rosenblüten; links unten das
Wappen Zeller und die Initialen «M. Z». Datiert links und
rechts oben «16 64»
Inschrift
keine
Herkunft
Marienkapelle Triesen
Heutiger Standort
Gemeinde Triesen
Bemerkungen
Vgl. Poeschel, Kunstdenkmäler (1950), S. 135; Wappen
und Initialen könnten auf den Innsbrucker Maler Maximi-
lian Zeller hindeuten (* 6. Oktober 1631, t vor 1675)
318
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 15
Datum 1682
Technik Öl auf Leinwand
Format 67 x 55 cm
Bildinhalt
Das Bild zeigt auf bräunlichem Hintergrund in qualitätvol-
ler Malerei Maria, in ein blaues Gewand gekleidet und mit
rotem Mantel und feinem Schleier umhüllt, in den Armen
das nackte Jesuskind haltend, getreu dem Cranach-Vor-
bild folgend
Inschrift
Auf einem zirka fünf cm breiten hellen Streifen am unte-
ren Bildrand findet sich in Schwarz die zweizeilige In-
schrift: «Mit Deiner Hilfi sihe Uns an, Hunger und Pest
Wende nein dan, Vorm feindt beschütze Unss for dan in
Todts noth nimbt dich Unsser an. 1682»
Herkunft
Marienkapelle Triesen
Heutiger Standort
Sammlung der Gemeinde Triesen
Bemerkungen
keine
INVENTAR-NUMMER 16
Datum 1684
Technik Öl auf Leinwand
Format 66,5 x 61 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind nach Lukas Cranach. Das Bild wurde
1856 übermalt. 1983 zurück restauriert auf die ursprüng-
liche Fassung von 1684
Inschrift
«Mit Deiner hilff sihe Uns an, Hunger und Pest wende hin-
dan, Vorm feindt Beschütze uns fordan, zu Todes Noth
nimb dich unser an. 1684»
Herkunft
unbekannt
Heutiger Standort
Liechtensteinisches Landesmuseum
Bemerkungen
Markanter Holzrahmen mit innenliegender Kehlleiste,
grün gefasst. Oben abschliessender, marmorierter Zahn-
fries mit vorspringender Abdeckleiste
319
INVENTAR-NUMMER 17
Datum 1697
Technik Öl auf Leinwand
Format mit Rahmen: zirka 75 x 62 cm
Bildinhalt
Christus als Schmerzensmann mit Dornenkrone, Schilf-
rohr in den gefesselten Händen, mit Purpurmantel beklei-
det, links Pontius Pilatus
Inschrift
Auf Schriftrolle: «ECCE HOMO.» Darunter: «16 Ach was
Leide ich. Um deinet willen stirbe ich 97»
Herkunft
keine Angabe
Heutiger Standort
Heiligkreuz-Kapelle auf Rofenberg in Eschen
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 33; erwähnt bei Poeschel, Kunst-
denkmäler (1950), S. 238
INVENTAR-NUMMER 18
Datum 1698
Technik Öl auf Holz
Format 96 x 62 cm
Bildinhalt
Pietä zentral vor dem Kreuz auf Golgotha mit den Marter-
werkzeugen, umgeben von Maria Magdalena und trau-
ernden Engeln
Inschrift
«0 Ihr aüe die da für übergehnd, secht ob auch ein
Schmertz sey wie mein Schmertz ist: Gott und Maria zu
Höchster Lob und ehr, hat der wohl vorgeachte Her Lants-
haupt man und alter Landtamen, Andreas Büchell: dass
bild hier machen lassen: Anno 1698.»
Herkunft
keine Angabe
Heutiger Standort
Heiligkreuz-Kapelle auf Rofenberg in Eschen
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 36; erwähnt bei Poeschel, Kunst-
denkmäler (1950), S. 238
320
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 19
Datum 1702/1790
Technik Öl auf Holz
Format 90,5 x 73 cm
Bildinhalt
Dargestellt sind die Himmelskönigin Maria mit Kind als
Mondsichelmadonna, begleitet von der hl. Magdalena mit
dem Salbgefäss in den Händen und dem hl. Georg, den
besiegten Drachen zu Füssen
Inschrift
Am oberen Bildrand: links: 1790, rechts: 1702.
Herkunft
Angeblich aus St. Peter in Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
keine
INVENTAR-NUMMER 20
Datum 1707
Technik Öl auf Leinwand
Format 63,5 x 45 cm
Bildinhalt
Gnadenbild von Dux im Wolken- und Strahlenkranz mit
den hll. Sebastian und Katharina in üppiger Landschaft
mit Blick auf eine Gebäudegruppe im Hintergrund. Rechts
der hl. Katharina die kniende und betende Stifterin Ka-
tharina Hasler, den Rosenkranz in Händen haltend
Inschrift
«Heillige Maria u. Heilliger Sabstijanuss, Heilige Cattari-
ne; bidten für uns; Cattarina, Haslerin. ihres alters: 24
Jahr: 1707.»
Herkunft
Dux-Kapelle Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 32; erwähnt bei Poeschel, Kunst-
denkmäler (1950), S. 102
321
INVENTAR-NUMMER 21
Datum 1747
Technik Öl auf Holz
Format mit Rahmen 40 x 31,5 cm;
Bildmass: zirka 30,5 x 22 cm
Bildinhalt
Christus an der Geisselsäule, in Ketten gelegt, unter
Arkadenbogen
Inschrift
zirka vier cm breites Schriftband: «die bey mir hülff su-
chen deinen bin Ich gnädig und theile mit alles guthe
1747» links oben: «0 Jesu Ich von der (dir) weis der so
voller gnaden is(t).»
Herkunft
keine Angabe
Heutiger Standort
Pfarrkirche Eschen, Seitenkapelle
Bemerkungen
Altbestand Eschen, ehemals Pfarrhaus
INVENTAR-NUMMER 22
Datum 1747
Technik Öl auf Holz
Format mit Rahmen: 43,5 x 34,5 cm;
Bildmass: zirka 35 x 26 cm
Bildinhalt
Maria mit Jesuskind, frei nach Lukas Cranach
Inschrift
zirka 3,5 cm breiter Schriftsstreifen: «S. MARIA HILF
UNS 1747»
Herkunft
keine Angabe
Heutiger Standort
Pfarrkirche Eschen, Seitenkapelle
Bemerkungen
Altbestand Eschen, ehemals Pfarrhaus
322
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
INVENTAR-NUMMER 23
Datum 1747
Technik Öl auf Holz
Format mit Rand: 40 x 31,5 cm;
Bildmass: zirka 34 x 25 cm
Bildinhalt
Hl. Antonius von Padua, Dreiviertel-Figur, Jesuskind und
Lilie in den Händen haltend, an einem Tisch mit roter
Decke stehend, darauf ein aufgeschlagenes Buch
Inschrift
zirka vier cm breiter Schriftstreifen: «S. Antoni von Padua
bit für uns ale zeit. 1747»
Herkunft
keine Angabe
Heutiger Standort
Pfarrkirche Eschen, Rückwand West
Bemerkungen
Altbestand Eschen, ehemals Pfarrhaus
INVENTAR-NUMMER 24
Datum 1760
Technik Öl auf Holz mit aufgesetztem Rahmen
Format 45,5 x 28 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind auf grünem Podest stehend
Inschrift
«Heilige Maria hilff unss alle Zeit A M M E N 1760»
Herkunft
Pfarrkirche Bendern
Heutiger Standort
Original im Landesmuseum
Bemerkungen
Nach Poeschel, Kunstdenkmäler (1950), S. 250, Anm. 1
dürfte dieses Ex Voto-Bild Bezug nehmen auf das Gnaden-
bild von Bendern, eine stehende holzgeschnitzte und ge-
fasste Mondsichelmadonna (Höhe 169 cm) aus dem ehe-
maligen Hochaltar von 1481, die sich in der Pfarrkirche
befindet
323
INVENTAR-NUMMER 25 INVENTAR-NUMMER 26
Datum 1762
Technik Öl auf Holz mit rot gefasstem Rahmen
Format Mit Rahmen: 41,0 x 33,5 cm
Bildinhalt
Auf Wolken stehende Madonna mit Jesuskind, Krone und
Zepter
Inschrift
«Wer Maria verehrt der wirt durch Jehre für bit er hört.»
1762
Herkunft
Pfarrkirche Bendern
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
keine
Datum 18. Jahrhundert
Technik Öl auf Leinwand
Format 68 x 45,5 cm
Bildinhalt
Maria mit Kind nach der Maria-Hilf-Darstellung von
kas Cranach in der Domkirche St. Jakob in Innsbruck
Inschrift
keine
Herkunft
Sakristei der Dux-Kapelle in Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Restauriert von Kurt Kihm, Winterthur, 1998
324
VOTIVBILDER AUS LIECHTENSTEIN
NORBERT W. HASLER
^ . ^ T n r U u . Ä . K n t o i t , ^ . Sebastian,
(nltel fiir uns •
INVENTAR-NUMMER 27
Datum Rechts unten signiert:
Math: Jehly pinxit 1848
Technik Öl auf Leinwand, auf Holz montiert
Format 110 x 62 cm,
mit oberem Rundbogenabschluss
Bildinhalt
Maria mit Zepter in der Rechten auf Wolke sitzend, über
ihr schwebt die Heiliggeist-Taube, links und rechts En-
gelsköpfchen, auf der Erde stehend links St. Martin in Bi-
schofsornat, in der Bildmitte der hl. Antonius von Padua,
das Jesuskind haltend, rechts an Baumstamm gefesselt
St. Sebastian, von drei Pfeilen durchbohrt
Inschrift
«H. Martin, H. Anton, H. Sebastian, bittet für uns.»
Herkunft
Bild aus dem Pestkappile in Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Terra Plana, 4, 2001, S. 38
INVENTAR-NUMMER 28
Datum 1923
Technik Öl auf Leinwand
Format 133 x 93 cm
Bildinhalt
Die Vierzehn Nothelfer, versammelt um den Thron Mari-
ens. Rechts unten bezeichnet:
«Fl. (Florus) Scheel 1923, Wien.»
Inschrift
«0 Ihr hlg. Nothelfer bittet für uns!»
I lerkunli
Ehemals Dux-Kapelle in Schaan
Heutiger Standort
Original im Liechtensteinischen Landesmuseum
Bemerkungen
Arbeit des Feldkircher Malers und Restaurators Florus
Scheel
325
B I L D N A C H W E I S
S. 294, 295, 299, 304 oben,
310, 312 links, 313 rechts,
314 links, 315 rechts, 317
rechts, 318, 319, 321 links,
322, 323, 324 links, 325:
Reto Hasler
S. 311, 312 rechts, 313 links,
315 links, 316, 317 links,
321 rechts, 324 rechts: Paul
Frick
S. 293, 296, 304 unten, 307,
308, 320: Norbert W. Hasler
S. 305,314 rechts: Bildarchiv
des Liechtensteinischen Lan-
desmuseums
A N S C H R I F T D E S
A U T O B S
lic. phil. Norbert W. Hasler
Liechtensteinisches
Landesmuseum
FL-9490 Vaduz
326