Wie aber noch zu zeigen sein wird, begründet die vorläufige Anwendung „eine sehr
viel stärkere Verpflichtung für die Vertragsparteien als Art. 18 WVK.“*% Eine
Anwendung des Art. 18 WVK auf vorläufig angewendete Verträge bedürfte also einer
Modifikation, denn nicht nur das Vereiteln des Ziel und Zwecks des Vertrages
begründet die Staatenverantwortlichkeit, sondern auch jeder andere Verstoss gegen
die Bestimmungen des angewendeten Vertrages, „da es sich um einen Bruch einer
bindenden Vereinbarung handelt???
Art. 19 WVK
Ebenfalls eine wichtige Frage stellt die Kompatibilität von WVorbehalten ?9 zu
völkerrechtlichen Verträgen und der Konstruktion der vorläufigen Anwendung dar, da
Vorbehalte in der Praxis häufig sind. Art. 19 der Wiener Vertragsrechtskonvention
regelt das Anbringen von Vorbehalten zu völkerrechtlichen Verträgen im Kontext der
WVK. Dieser liesst sich wie folgt:
Art. 19
Anbringen von Vorbehalten
Ein Staat kann bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines
Vertrags oder beim Beitritt einen Vorbehalt anbringen, sofern nicht
a) der Vertrag den Vorbehalt verbietet;
b) der Vertrag vorsieht, dass nur bestimmte Vorbehalte gemacht werden dürfen, zu
denen der betreffende Vorbehalt nicht gehört, oder
c) in den unter Bst. a oder b nicht bezeichneten Fällen der Vorbehalt mit Ziel und Zweck
des Vertrags unvereinbar ist.
Vorbehalte können demnach zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, Ratifikation,
Annahme oder Genehmigung des Vertrages angebracht werden. Aus Art. 19 WVK
ist also grundsátzlich nichts zur Frage der Anbringung von Vorbehalten bei einer
294 Montag, vorl. Anwendung, 1986, S. 68.
?9$ ygl. Montag, vorl. Anwendung, 1986, S. 68. Siehe zu dieser Thematik auch ausführlich Gómez-Robledo,
Third report, 2015, S. 11f.
2% Eine Legaldefinition des Vorbehaltes im Kontext der WVK findet sich in Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK der da lautet:
„Im Sinne dieses Übereinkommens bedeutet "Vorbehalt" eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete,
von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei
dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die
Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschliessen oder zu
ändern;“. Aufgrund der Komplexität der Vorbehaltsthematik wird hier auf eine ausführliche Besprechung der
Vorbehaltsregeln zu völkerrechtlichen Verträgen verzichtet. Zur Frage der Vorbehaltsregelung bei
völkerrechtlichen Vertrágen siehe P. Hilpold, Das Vorbehaltsregime der Wiener Vertragskonvention -
Notwendigkeit und Ansatzpunkt möglicher Reformen unter besonderer Berücksichtigung der
Vorbehaltsproblematik bei menschenrechtlichen Verträgen", in: Archiv des Völkerrechts 4/1996, S. 376-425.
58