Dessen ungeachtet kónnte die Grundrechtecharta ,,Ausstrahlungswirkung" — im Sinne eines
vom Staatsgerichtshof immer wieder verwendeten Terminus"? — auch auf dessen Rechtspre-
chung entfalten.‘ Dabei wird auch die Judikatur des EFTA-Gerichtshofs eine Rolle spielen.
c) andere vólkerrechtliche Instrumente auf europdischer Ebene
Als nationales Verfassungsgericht eines EWR-Mitgliedstaates hat sich der Staatsgerichtshof
keineswegs nur an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren. Auch die Judikatur des
EFTA-Gerichtshofes ist eine wesentliche Rechtsquelle.
Der Staatsgerichtshof judiziert in stándiger Rechtsprechung den Vorrang des EWR-Rechtes.®!
Dieser beinhaltet nicht nur den Vorrang des positiv normierten EWR-Rechtes, sondern auch
dessen Auslegung durch den EFTA-Gerichtshof.9^ Der Vorrang des EWR-Rechtes reicht al-
lerdings nach Auffassung des Staatsgerichtshofes nur so weit als dadurch nicht gegen
„Grundprinzipien und Kerngehalte der Grundrechte der Landesverfassung verstossen wird.“
Ein solcher Fall ist jedoch nur in krassen Ausnahmefällen denkbar, sodass die Verfassungs-
konformität einer Entscheidung des EFTA-Gerichtshofes oder einer EWR-Norm in der Praxis
nicht zu prüfen ist.“
Die EWR-Grundfreiheiten werden vom Staatsgerichtshof als verfassungsmässig gewährleiste-
te Rechte anerkannt.” In seiner Spruchpraxis orientiert sich der Staatsgerichtshof daher, wie
erwähnt, auch am EFTA-Gerichtshof, wie insbesondere in einer Reihe von Entscheidungen“
deutlich wurde, in denen die EWR-Konformitit der (neuen)? Regelungen der liechtensteini-
schen Zivilprozessordnung (ZPO) hinsichtlich der sogenannten ,,aktorischen Kaution" (insbe-
? Der Staatsgerichtshof verwendet diesen Begriff in Zusammenhang mit der Wirkung der Garantien der EMRK
auf die von Liechtenstein anlásslich seines Beitritts zur EMRK abgegebenen Vorbehalte (vgl. SEGH 2004/60,
www.gerichtsentscheide.li, Erw. 6).
$0 Vgl. auch Bussjáger, Beschwerde, S. 867.
9! Vgl. StGH 1996/34 - LES 1998, S. 74 (80); StGH 2004/45, Erw. 2.1.
8? StGH 2011/200, www.gerichtsentscheide.li, Erw. 3.2; gleichlautend StGH 2011/177, 2011/175, 2011/174,
2011/173, 2011/172, 2011/170, 2011/169, 2011/147, 2011/132, 2011/104, jeweils Erw. 3.2.
$$ StGH 2008/36, Erw. 2.1.
9! siehe die Ausführungen oben unter |. 1..
$5 StGH 2004/45, Erw. 2.1; StGH 2007/98, Erw. 6.1;
$6 Vgl. StGH 2011/200, www.gerichtsentscheide.li, Erw. 3.2
*/ Eine frühere Regelung war vom Staatsgerichtshof wegen EWR-Widrigkeit aufgehoben worden (vgl. StGH
2006/94, www.gerichtsentscheide.li, Erw. 3).