Volltext: EINTRACHT (2000) (Staatsfeiertag)

BEI EINTRACHT STAATSFEIERTAG 
2000 SAGEN Die verwunschenen Tränen Das Sasser Seelein Zu jener Zeit, als es noch Riesen und Zwerge, Nixen und Feen, Meer- und Drachenjungfrauen gab und allerlei Kobolde und Alraun- männchen des Waldes Moos- und Wurzelwelt belebten, hat auch oben auf Sass eine Drachenjungfrau ihr Leben gefristet. Eines Tages kam über den Steig ein Jäger, jung und von edlem Wuchs; auf einmal blieb er wie angewurzelt 
stehen. Zwischen den Arven lag eine holde Jungfrau Zwischen harzduftenden Arven lag, zur Hälfte von den grünen Ästen verdeckt, eine holde Jungfrau. Es war ein Bild wie er ein solches noch nie geschaut hatte. Goldblon- des Haar, vom Sonnenlicht umflos- sen, fiel aufgelöst über ihre schnee- weissen Schultern und hüllte ihre junge Brust in einen seidenglänzen- den Mantel. Aus dem Gesicht leuchteten zwei Sterne, in die das Blau des Him- mels gefallen war, träumerisch in den Äther hinein. Über die Wan- gen, auf die ein Hauch von taufri- schen Rosen gefallen sein musste, strich kosend der kühlende Firne- wind. Zwischen den in feinem Amor- bogen geschwungenen, gesund-ro- ten Lippen hielt sie spielerisch eine Alpenrose. Wie Alabaster schim- merten zwischendurch die 
Zähne. Der Jäger war wie verzaubert Der Jäger konnte sich von dem Bil- de nicht mehr losreissen. Wie ver- zaubert kniete er nieder und drück- te in auflodernder Liebe einen scheuen Kuss auf ihre Lippen. Da wachte die Jungfrau aus ihren Träumen auf und fuhr erschreckt in die Höhe. Jetzt erst gewahrte der Jä- ger, dass ihr elfenbeinener Leib inUnaufhörlich 
rannen ihre Tränen über die Felsen 
hinunter. einen Schuppenpanzer endete. Voll Weh schaute er auf die erbleichen- de Gestalt, die ihr Gesicht, tränen- überströmt, mit den Händen be- deckte. Auch in ihr Herz war beim Anblick des schmucken Jägers die Liebe mit aller Macht eingezogen.Die 
Jungfrau, die seinen Schmerz und Kummer gewahrte, flehte ihn an, er möge sie doch von der Qual ihres abnormen Daseins erlösen. Dabei rannen ihr unaufhörlich die Tränen über die Wangen, wie wenn zwei Quellen erschlossen worden wären. Sie rieselten über die Steine hinunter und sammelten sich in ei- ner Mulde unterhalb des 
Felsens. Ihr Weinen und Klagen erschütterte ihn Der Jäger wusste sich in seinem Schmerze keinen Rat. An ein Zu- sammenkommen war so nicht zu denken. Sollte er verzichtend in weite Fernen ziehen, um dort Ver- gessen zu suchen? Er brachte es nicht übers Herz. Die Liebe war zu gross. Ihr Weinen und Klagen er- schütterte ihn. Es gab nur eine Lö- sung - der Tod allein konnte ihre Seelen vereinen. Er kniete nieder zum letzten Gebet und empfahl ihre Seelen dem gros- sen Erbarmer über Leid und Not. Dann stand er auf und schaute nochmals auf seine Berge, deren Firne purpurn im Abendschein er- strahlten. Eng umschlungen stürzten sie sich hinunter ins Seelein Als er zur Tiefe blickte, glänzte im Flammenrot der sinkenden Sonne ein Wasserspiegel herauf, den er noch nie gesehen hatte. Es waren die Tränen der Jungfrau. Da wies er mit der Hand hinunter und sprach: «Nie sollt ihr versiegen, ihr Tränen der Liebe und des Leides, des Glückes und des Schmerzes; ewig sollt ihr meinen Bergen unsere Lie- be künden und unsere Treue über den Tod hinaus.» Dann nahm er die Jungfrau in die Arme und mit einem letzten lieben Blick in ihre seelenvollen Augen stürzten sie sich eng umschlungen in die Tiefe, hinunter ins Seelein. In ihren eigenen Tränen haben sie ihr Grab gefunden, umhüllt von den Fittichen der Ewigkeit.Hans Walsert Blühende 
Alpenrosen 22
	        

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