Gesellschaftliche Funktion der Geschichte
eigenen Gefingnisses sind. Das Aufsprengen der Alpenfestung scheint
noch immer nicht gegliickt zu sein, obwohl es an der Zeit wire — und hier
erweist sich meines Erachtens eine besondere Verantwortung von Histo-
rikerinnen und Historikern —, sich einzusetzen und darum besorgt zu
sein, dass sich das nationale Koordinatensystem gelegentlich wieder in
Richtung Offenheit verschiebt oder (besser) zu ihr zurückfindet.
Im zweiten Beispielfall ist — wie bei den meisten vergleichbaren
Historikerkommissionen — zu berücksichtigen, dass es auch in der
Liechtensteiner UHK keineswegs um die Erarbeitung einer «Prozess-
wahrheit» im Sinne eines Rechtsprechungsverfahrens gehen konnte,
sondern lediglich um die Annäherung an eine nachvollziehbare Form
historischer «Wahrheit», und dies im vollen Bewusstsein, dass es «die»
Wahrheit ebenso wenig geben kann wie ein Recht des Historikers auf
Richterschaft. Wenn die Arbeiten der UHK und ihre Resultate, vielleicht
entgegen manchen Erwartungen, als Summe von Teilwahrheiten auf den
verschiedenen Feldern ihres Untersuchungsauftrags kaum spektakulär
waren, so ergab sich doch ein vielseitigeres und differenzierteres Bild
von Liechtenstein gegenüber dem Nationalsozialismus und im Zweiten
Weltkrieg, als es vorher bestand. Dies gilt — wie gezeigt — insbesondere
für den Finanzbereich und bezüglich der Rolle des Fürsten.
In einem weiteren Sinn geht es in diesem Beispielfall und in vielen
ähnlichen Fällen aber auch um einen «höheren» Auftrag, um etwas, was
mit dem Gewissen der Historikerinnen und Historiker und ihrem
Rechts- und vor allem Unrechtsbewusstsein zu tun hat, nämlich darum,
Unrecht aller Art, Regelverstösse, Menschenrechtsverstösse, Völker-
mord sowie Autoritarismen, Faschismen, Totalitarismen, Rassismen zu
benennen. Auf diese Weise konnten sie im reduzierten Rahmen dessen,
was einem Einzelnen und nicht viel besser einem Kollektiv moglich ist
(weil letztlich alle nur beschränkte Zugriffe auf Unmassen von Materia-
lien und stets begrenzte Mittel haben), für eine bessere Welt besorgt sein.
Und dies, ohne sich als Rechthaber zu erweisen, was Historikerinnen
und Historiker gern sind, weil die Geschichte bekanntlich vergangen ist
und sich nicht mehr wehren kann. Schon allein deshalb ist jede Form
von Arroganz und Besserwisserei unbedingt verpönt.
Hier lige — wie mir scheint — die schönste Aufgabe für Historike-
rinnen und Historiker, und in diesem Sinn hat «Geschichte» in der Tat
nicht nur eine gesellschaftliche Funktion, sondern eine ganz besondere
Verantwortung.
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