Bürgertum im Bauernland
der politischer Leistung im 19. Jahrhundert kontrastiert, zeigt sich etwa
am Umstand, dass das Bürgertum weder einen eigenen Eintrag im Histo-
rischen Lexikon des Fürstentums Liechtenstein erhalten hat wie der
«Adel» noch in anderen Artikeln so ausführlich gewürdigt wird wie die
Bauern in «Landwirtschaft» und die Arbeiter in «Arbeit». Nur in einzel-
nen kulturhistorischen Einträgen ist das Bürgertum am Rand erwähnt:
«Das Musikleben des im 19. Jh. ansatzweise in Beamten-, Arzt- und Leh-
rerfamilien entstehenden Bürgertums zeichnet sich vage ab», ist im Arti-
kel «Musik» zu lesen,” und der Artikel «Architektur» konstatiert, dass
sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein gesellschaftlicher Aufbruch unter
anderem «im (ansatzweisen) Entstehen eines Bürgertums (Beamte, Ärzte,
Lehrer, Fabrikanten)» gezeigt habe.* Dass gerade Kultur- und Architek-
turhistoriker explizit auf die Existenz eines «zu Reichtum gelangte[n],
aufstrebende[n] Bürgertum[s] in Vaduz» hinwiesen,” dirfte kein Zufall
sein, ist dieses doch in seinen überlieferten kulturellen Leistungen und in
den erhaltenen bürgerlichen Bauten am einfachsten zu fassen.
Ein Gesamtbild dieses Bürgertums im bäuerlichen Kleinstaat zu
skizzieren, wäre ein reizvolles Unterfangen. Der Anspruch dieses Bei-
trags ist jedoch weitaus geringer. Er beschränkt sich auf einige einfüh-
rende Bemerkungen zur Auflösung der ständischen Gesellschaftsord-
nung, auf einen kurzen Streifzug durch die Geschichte des Bürgerbe-
griffs in Liechtenstein und, schwergewichtig, auf eine Eingrenzung der
liechtensteinischen «Bürgerlichen» als sozialer Schicht anhand der Kate-
gorien «Ausbildung» und «Beruf». Zwei kurze Abschnitte widmen sich
den im Ausland tätigen liechtensteinischen Bürgern und der Situation
der Bürgerinnen. Schliesslich wird mit der Frage nach der Einkommens-
verteilung und einer Einschätzung des bürgerlichen Bevölkerungsanteils
eine Annäherung an die Bevölkerungsstruktur und -schichtung ver-
sucht.
Ebenso kennzeichnend wie die Ausbildung und die berufliche Stel-
lung waren für das Bürgertum dessen spezifische Werthaltungen, ein
eigener Lebensstil und bestimmte kulturelle Ausdrucks- und Repräsen-
tationsformen, durch welche es sich von anderen Bevölkerungsteilen
7 Josef Frommelt, «Musik», in: HLFL, S. 632-635, hier S. 633.
8 Michael Pattyn, «Architektur», in: HLFL, S. 29.
9 Herrmann, Kunstdenkmaler, Bd. I, S. 41. Siehe auch Dittmar (Hrsg), Lyrik, S. 18.
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