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Val Blenio.
Zum Schauplaße großer Naturereignisse prädestinirt , hat das von
Bia8ca bis Olivone sich erstreende Thal im Laufe der Jahrhunderte
mehrere Bergstürze und zahlreiche Ueberfluthungen erlebt. =- Und was
die Berge und das Wasser verschont haben , bleibt dem beständigen
Spiele der Lawinen ausgeseßt.
Ungeachtet dieser Proteste der Natur scheint bei den Ansiedlungen
im Thale, welche nicht über das zehnte Jahrhundert hinaufreichen und
als älteste Baudenkmäler einige Kirc<hthürme romanischer Bauart auf-
weisen, nicht die größte Vorsicht obgewaltet zu haben.
Am Ufer des raschen Tessins, am Fuße der Berge und der toben-
den Wildbäche, in halber Höhe und bis auf die Anhöhen ist das Thal
mit Ortschaften übersäet, deren manche durch stattliche Häuser den Be-
sucher überraschen. =- Jeder Fuß breit kulturfähigen Bodens wurde zu
Wiesen, Aer- oder Baumpflanzungen, worunter namentlich Kastanien-
und Nußbäume, verwendet ; auch die bei frühern Ueberfluthungen zer-
störte Thalsohle ist in den lezten Jahrzehnten zu fruchtbaren Feldern
und Weingärten umgewandelt worden, wo an hohen Spalieren die Rebe
und in leßter Zeit auch der Maulbeerbaum mit Erfolg gezogen wurde.
Gleichzeitig scheinen allerdings auch die unverständigen Abholzungen statt-
gefunden zu haben, welche die Berge bis zu halber Höhe fast gänzlich
entwaldet und, dadurch den Boden der steilen Bergwände gelo>ert haben.
Unbarmherzig pflegt die Natur ihre Rechte dem Menschen gegenüber
geltend zu machen und überraschte das sorglose Thal mit einem jener
Ereignisse, welche sich aller Berechnung entziehen und aller menschlichen
Kraft und Anstrengung spotten.
Nach mehrwöchentlichen starken Regengüssen entlud sich am 27. Sep-
tember jenes gewaltige Gewitter , welches uber die Lerge von Wallis
bi8 Graubünden zog und in der Gegend des Val Blenio seinen Cul-
minations8punkt erreicht zu haben-scheint. =- Nach Aussagen der Hirten
auf den Bergen soll der Regen nicht mehr in Tropfen, sondern in Form
eontinuirlicher Wassermassen gefallen sein und viele Leute wollen in der
Nacht vom 27/28. September Erderschütterungen verspürt haben.
E8 ist nicht Aufgabe dieser Kommission, die meteorologischen, elek-
tromagnetischen oder plutonischen Einflüsse zu erörtern, welche thätig sein
mochten , um die kolossalen Wirkungen , mit welchen wir es zu thun
haben , hervorzubringen. =- Es genügt , hier zu konstatiren, daß am
27. September, Abends 10 Uhr, urplößlich und unter heftigen Gewitter-
schlägen sich ungeheure Wassermassen aus den Thälern Compietto,
Campo und CGambra, aus Val Soglia und aus zahllosen
Wildbächen herabstürzten ; daß mit diesen Wassern zugleich eine Unmasse