Aarau
men».?? Dementsprechend ist der Vorsatz Kaisers, sich nicht mehr in die
Tagespolitik einzumischen, verständlich.”* Er wollte den Dingen ihren
Lauf lassen und nichts als seine Pflicht tun. Er sehe und denke nichts.
In den aus dieser Zeit erhaltenen Briefen jedoch nehmen die Bemerkun-
gen zur politischen Lage nicht wenig Raum ein. Die demagogische Verfol-
gung spuke wieder durch Europa, und die sogenannten europäischen
Staaten seien in der Klemme. Zynisch bemerkt er, dass alles in Gottes
Namen geschehe, und was «Gott thut, ist wohl gethan, und die Fürsten
sind von Gottes Gnaden». Angesichts der Zensur dürfe man selbst beim
Schreiben nicht mehr denken, wie man möchte; es werde also bald dahin
kommen, «dass man schreibt ohne zu denken aus purer Gewohnheit». Er
wünschte mehr Vertrauen und mehr Freiheit zur Selbstverantwortlich-
keit. Auch er selbst sei auf dem Weg, heilig zu werden, denn — so eine iro-
nische Bemerkung des Liechtensteiners — er sei «ein grosser Verehrer der
heiligen Allianz».3! Seine Anmerkungen zur Politik beziehen sich fast
immer nur auf den Raum des deutschen Bundes, zumal in der Schweiz
«der grossartige Anschein und Freiheitston» keine Pflege habe und alles
«den philiströsen Schneckengang» gehe.?? Die Schwingen seien ihm und
andern «heut zu Tage gelähmt», weil auch in der Schweiz die Freiheit der
Rede und Feder so «übel dran» sei wie in Deutschland.“®
Anfangs Oktober 1824 befand sich Kaiser in Aarau, das während der
nächsten zwölf Jahre sein Wirkungsort bleiben sollte. Er wirkte nun
erneut an einem für die politischen Ideen und Neuerungen der Zeit auf-
geschlossenen Ort. Aarau war damals ein Zentrum radikaler Bestrebun-
gen und ein Zufluchtsort politischer Flüchtlinge aus Deutschland, darun-
ter mancher ehemalige Burschenschafter. Die Schweiz insgesamt galt, wie
ein Wort des Staatstheoretikers und «Restaurators» Karl Ludwig
229. Brief Kaisers an Wurm, Aarau, 4. Januar
1824; Staats- und Universitätsbibliothek Ham-
burg Carl von Ossietzky, Nachlass Christian Fr.
Wurm 23.7, 34.
230. Kaiser an Wurm, Aarau, 3. Februar
1824; Staats- und Universitätsbibliothek Ham-
burg Carl von Ossietzky, Nachlass Christian Fr.
Wurm 23.7, 35.
231. Kaiser an Wurm, Aarau, 5. März 1824;
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
Carl von Ossietzky, Nachlass Christian Fr.
Wurm 23.7, 36.
232. Kaiser an Wurm, Aarau, 4. Januar 1824;
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
Carl von Ossietzky, Nachlass Christian Fr.
Wurm 23.7, 34.
233. Kaiser an Wurm, Aarau, 8. November
1824; Staats- und Universitätsbibliothek Ham-
burg Carl von Ossietzky, Nachlass Christian Fr.
Wurm 23.7, 41. — Vgl. Herbert REITER: Politi-
sches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen
polit. Flüchtlinge des Vormärz und der Revolu-
tion von 1848/49 in Europa und den USA. Ber-
lin 1992 (= Historische Forschungen 47).
234. Ein zeitgenössisches Bild von Kanton
\argau und Stadt Aarau gibt das Werk des Leh-
‚erkollegen Peter Kaisers, des Kantonsbiblio-
'hekars Franz Xaver BRONNER: Der Kanton
Aargau, historisch, geegraphisch, statistisch
zeschildert. (2 Bde.). St.Gallen 1844.
235. Heribert RAAB: Joseph Görres (1776—
;848). Leben und Werk im Urteil seiner Zeit
1776—1876. Paderborn 1985, 5. 203 ff., 212 ff.
236. In den Briefen an Christian Wurm,
Aarau, 5. und 24. März 1824, berichtet Kaiser
über die von Preussen verlangte Auslieferung
Follens. Dieser sei allerdings Professor und
Bürger im Kanton Aargau, deshalb habe die
«hiesige Regierung gegen solche Requisitio-
ı1en legaliter protestiert». Staats- und Universi-