Zürger
von Vigens
Auf Dein schönes und freundschaftliches Schreiben vom 31. Mai folgt
erst jetzt, mein lieber Freund, eine Antwort. Ich muß meine Schuld nur
bekennen, daß ich mit zunehmendem Alter immer saumseliger im
Schreiben werde, woraus jedoch nicht geschlossen werden darf, ich habe
meine alten erprobten Freunde vergessen oder ich achte sie gering; im
Gegentheil denke ich oft an Dich und an die Zeiten, die wir zusammen
verlebt. Vieles erfreut und tröstet mich, anderes bereue ich und wünschte
2s zu verbessern, Die eigene Vergangenheit ist jedem ein Spiegel, der ihm
seine Handlungen, Worte und Werke zurückwirft und darin den eigenen
Werth oder Unwerth, den ganzen geistigen Gehalt kennen lehrt. Wohl
dem, der sich gerne darin beschaut und ohne Scham und Reue es kann.
Du bist ein milder Beurtheiler meiner geschichtlichen Arbeit: es freut
mich, daß Du sie durchgelesen. Was Du über Fahrländer sagst, bewegt
mich zu inniger Theilnahme: die Gesundheit istein großes, unschäzbares
Gut! Die andern Freunde, Lützelschwab und Baldingerwirst Du seltener
sehen, grüße sie alle herzlich von mir, sobald sich Dir der Anlaß bietet.
Das Leben sammelt, vereinigt, zerstreut und trennt befreundete Perso-
nen, aber das, was sie verband, ist immer gegenwärtig, immer nahe, und
wird, hört die zeitliche Erscheinung auf, fortbestehen.
Was Hrn. Egloff betrifft, den Du so treu empfiehlst, so habe ich Deinem
Wunsche gemäß gehandelt; ich habe Deine Schreiben Hrn. Schällibaum
und dem Präsidenten des Erziehungsrathes mitgetheilt und andern Mit-
gliedern der Behörde ihn empfohlen. Wie ich vernehme, haben sich zehn
zu der fraglichen Stelle gemeldet; aber in die Wahl kommen nur zwei Hr.
Egloff und ein Hr. Stiefel von Uster. Zwei Umstände kommen zur Spra-
che: der zu Wählende hat vorzugsweise in Geschichte (alte Geschichte
und Mittelalter) und in Geographie Unterricht zu ertheilen und sollte,
wie sein Vorgänger, reformirter Confession sein; doch ist da der letztere
Umstand nicht entscheidend, Der Geschichtsunterricht (ausgenommen
die alte Geschichte) ist confessionell getrennt an unserer Schule, Im Gan-
zen ist die Stimmung günstig für Hrn. Egloffund was ich dabeithun kann,
will ich gerne thun und thue es auch. Die definitive Wahl ist verschoben
bis auf den 10. Juli. So viel über diesen Gegenstand!
Noch muß ich Dir melden, daß mir die Gemeinde Vigens im Lugnez vor
einem Jahr das Gemeindebürgerrecht und der Große Rath das Kantons-
hürgerrecht geschenkt hat, und zwar mir ganz unerwartet, ohne irgend
mein Zuthun. Und nun lebe wohl und grüße Deine Frau von meiner Seite,
Kommet einmal wieder nach Graubünden! Gott erhalte Dich und Deine
Frau gesund!
Chur 6 Juli 1857
Semper tuus Ptr Kaiser