Volltext: "Götter wandelten einst..."

Im hellen Licht der Sonne erscheint die vollendete Gestalt der Liebes- 
göttin. Sie schwebt, in weißes Tuch gehüllt, auf einem weichen Wolkenkis 
sen und lenkt den Blick ihres Sohnes auf den kunstvoll geschmiedeten 
Prunkschild, den ein Putto ihm entgegenhält. Ein zweiter geflügelter Knabe 
ist um den Helm bemüht. Rüstung und Schwert hängen am Stamm der Ei- 
che. Aeneas steht wie angewurzelt vor dem Oval des Schildes, auf welchem 
Vulkan, der Künstler, zehn Episoden aus der römischen Geschichte von den 
Anfängen bis zu Octavian (63 v. Chr.— 14. n. Chr.), dem späteren Kaiser Au- 
gustus, in feinstem Relief darlegt, weit in die Zukunft vorausgreifend. «Dort 
auf dem Schild hat der Italermacht und der Römer Triumphe — kannte er 
doch das Geschick, nicht fremd der kommenden Zeiten — abgebildet der 
Feuergott und den ganzen von Julus sprossenden Stamm und die Reihen 
durchfochtener Kriege.»* Julus, der Ahnherr des Julischen Geschlechtes, war 
kein anderer als Ascanius, der Sohn des Aeneas (siehe Nr. 38) und Enkel der 
Venus. Die Liebesgöttin selbst war somit die mythische Urmutter der «Gens 
Julia», zu welcher auch Augustus gehörte, jener römische Kaiser, dem Vergil 
durch sein religiös-politisches Epos Aeneis (entstanden zwischen 29 und 19 
v. Chr.) ein zeitgenössisches und persönliches Denkmal setzte. 
Venus, die herrliche und fürsorgliche Göttin, weiß um die künftigen 
Taten ihres Sohnes und seiner Nachfahren. Aeneas hingegen erscheinen die 
Bilder, über die seine Augen gleiten, rätselhaft. «Dieses Muttergeschenk auf 
dem Wunderschild des Vulkanus staunt er nun an, unkundig des Sinns, doch 
der Bilder sich freuend, und er hebt auf die Schultern den Ruhm und das 
Schicksal der Enkel.»* Enthalten die Worte des Dichters nicht den Hinweis, 
daß Venus’ eigentliches Geschenk an ihren Sohn die auf dem Schild durch 
Vulkan prophezeite glanzvolle Zukunft des römischen Volkes ist, die Aeneas 
«auf seine Schultern nimmt» ? 
43 Herkules am Scheideweg 
E60) 
Pompeo Girolamo Batoni 
(1708-1787) 
Herkules am Scheideweg 
(1748) 
Leinwand; 98,8 x 74 cm 
Bezeichnet unten rechts: E.B.1748. 
Inv. Nr. G 161 
Erworben: durch Fürst 
Joseph Wenzel 
Zum zuvor beschriebenen Gemälde bildet Batonis Herkules am Schei- 
deweg ein Pendant, das, streng ikonographisch betrachtet, jenem voransteht. 
Denn der tiefere Sinn des Aeneas-Bildes erschließt sich letztlich erst aus der 
Deutung des Entscheidungskonfliktes von Herkules (griech. Herakles), dem 
mythischen Heros und «Zivilisationsbegründer», der durch seine Leiden und 
Taten zur Identifikationsfigur weltlicher Herrscher wurde. 
In noch jugendlichem Alter sah Herkules sich eines Tages mit dem un- 
versöhnlichen Gegensatz zweier Lebenshaltungen konfrontiert — dem Laster 
und der Tugend. Beide erschienen ihm in Gestalt weiblicher Personen.‘ Die 
eine bot sich sogleich als Gefährtin an und versprach ihm einen bequemen 
Weg voller Lust und Vergnügen, mit «ständigem Genuß der Früchte frem 
den Fleißes». Die andere hingegen zeigte ihm einen schmalen und steinigen 
Weg, auf welchem er nicht nehmen könne, ohne auch zu geben, nicht ern- 
ten könne, ohne zu säen, nicht siegen könne, ohne zu kämpfen, an dessen 
Ende jedoch «ein hoher Lohn winke». Herkules entschied sich, nachdem die 
beiden Gestalten verschwunden waren, für den zweiten, den tugendhaften
	        

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