Volltext: Bestandeskatalog

Egon Schiele (1890-1918) 
Bildnis Paris von Gütersloh, 1918 
Lithographie 
37,2 X 34,4 cm 
Kallir 16 
LSK. 69.46 
in einem Brief vom Mai 1913 an Arthur Roessler, den Wiener 
Kunstkritiker und wichtigen Förderer von Egon Schiele und 
>arıs von Gütersloh, bekundet Franz Pfemfert Interesse an 
«eine[r] Gütersloh-Nummer der Aktion mit diesem Porträt, das 
zgon Schiele zeichnen müsste».' Der Begründer und Herausge- 
ber der in Berlin erscheinenden expressionistischen Zeitschrift 
deutet eine Wesensverwandtschaft an, die Schiele vorrangig be- 
ähigen soll, Güterslohs Persönlichkeit und «Gestalt mit den im 
Profil gemmenhaft scharfen Linien und der tiefschwarzen, kap- 
Jenartigen Römerfrisur» zu erfassen.? Die geplante Aktion- 
Nummer kommt nicht zustande — das Bildnis erst 1918. Von den 
JIrei das ganzfigurige Gemälde vorbereitenden Kreidezeichnun- 
gen kann eine als Vorlage für diese Lithographie gelten.? Sie ent- 
steht im Auftrag der «Gesellschaft für vervielfältigende Kunst» 
ınd ist für deren jährliches Portfolio bestimmt. Abgelehnt wird 
zie — ebenso wie die später geschaffene Lithographie Mädchen — 
mit der Begründung, sie sei kein adäquates «Beispiel für die 
Originalität und Stärke [von Schieles] Kunst». Die beiden Blät- 
ter bleiben die letzten druckgraphischen Arbeiten des Künstlers; 
ar stirbt im Oktober des gleichen Jahres. Es ist Roessler, der 
angesichts des ertragreichen Handels mit expressionistischer 
Druckgraphik in Deutschland den von Geldmangel stets be- 
jlrängten Schiele zu Versuchen mit druckgraphischen Techniken 
3rmutigt. Er finanziert das notwendige Material für die ersten 
»eiden der sechs Kaltnadelarbeiten von 1914.° Eines dieser Blät- 
er zeigt sein Porträt. Doch bleibt das druckgraphische (Euvre 
Schieles, das auch Holzschnitte und Gummistempel umfasst, 
nit 17 Werken relativ schmal. Schiele gibt der Zeichnung vor 
dem zeitaufwendigen Druckverfahren eindeutig den Vorzug. 
Jer drei Jahre jüngere Gütersloh ist seit den Tagen der «Neu- 
kunstgruppe» Weggefährte Schieles. 1909 tritt er als bildender 
<ünstler und Schriftsteller hervor. Sein als «Inkunabel expres- 
sionistischer Dichtung»° apostrophierter Roman Die tanzende 
Törin erscheint 1911, ebenso wie sein Essay, der sich als erster 
ausschliesslich dem Werk Schieles widmet.’ Im Jahr der Entste- 
ıung der Porträts gehört Gütersloh zum Organisationskomitee 
der für Schieles Durchbruch so wichtigen, im März eröffneten 
49. Ausstellung der Wiener Secession, für die Schiele das Plakat 
gestaltet und — als Nachfolger des im Februar verstorbenen 
<limt betrachtet — mit 48 Arbeiten den Hauptsaal belegen kann. 
Mit den zu dieser Zeit geschaffenen Zeichnungen und Lithogra- 
ohien gelingen Schiele in der Konzentration auf das Erfassen 
des irritierend intensiven Blicks — der, wie Photographien bele- 
zen, Gütersloh bis ins hohe Alter eigen bleibt — Bildnisse von 
aussergewöhnlich suggestiver Wirkung. Reich variierte Strich- 
stärken geben präzis die plastische Form und Modellierung der 
Iberfläche durch das Licht wieder. Der fast hermetisch ge- 
schlossene Kontur, die strenge Frontalität und Symmetrie zielen 
auf die Betonung des Blicks, der den Betrachter beinah hypnoti- 
ziert. Die starken Linien von Augenbrauen und Stirn fliessen im 
energetischen Punkt an der Nasenwurzel, zwischen den weit 
offenen Augen zusammen und setzen sich in der Nasenlinie fort, 
lie als Symmetrieachse die Vertikalität des schmalen Kopfes 
nachvollzieht und den angespannten Gesichtsausdruck akzentu- 
ert. Zu einem Komplex psychisch geladener Elemente verdich- 
et, wird das Bildnis zur Chiffre für die vitale Persönlichkeit 
ınd charismatische Ausstrahlung des späteren Wegbereiters der 
Wiener Schule des phantastischen Realismus. M.S. 
Pfemfert, Franz: Brief an Arthur Roessler vom 31. Mai 1913. Zit. nach: Allegorie 
und Eros. Texte von und über Albert Paris Gütersloh. Hrsg. Jeremy Adler. München 
1986, 5.77. 
Roessler, Arthur: Paris von Gütersloh. In: Die Aktion 4 (1914), Nr. 26, S. 561 
Zit. nach: Allegorie und Eros, wie Anm. 1, 5.78. 
Kallir, Jane: Egon Schiele. The Complete Works. Including a Biography and a 
Zatalogue Raisonne. New York/Milano, 1990, S. 634, Nr. 2447, aber auch 
Nrn. 2448 u. 2449 sowie S. 650, Nr. 16. 
Ebd., S. 650, Komm. zur Lithographie Nr. 16. 
Ebd., S. 646. 
Zit. nach Blei, Franz, in: Allegorie und Eros, wie Anm. 1, S. 13. 
Gütersloh, Albert Paris: Egon Schiele. Versuch einer Vorrede. Wien, 0. J. (1911). 
Wiederabdruck in: A, P. Gütersloh. Beispiele. Hrsg. Heribert Hutter. Wien/Mün- 
chen, 1977. S. 9-17
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.