Robert Rauschenberg (*1925)
Plakat für The Paris Review, 1965
7
Y
Offsetdruck
50,9 X 41,1 cm
53,8 X 53,8 cm
Bez. u. r. (Filzstift): RAUSCHENBERG 23/150 ‘65
LSK 74.18
In Rauschenbergs Arbeiten der sechziger Jahre gibt es keine
Hierarchie der Bildmotive. Die collageartigen Kompositionen
führen Gegenstände zusammen, die in der traditionellen Werte-
Skala auf verschiedenen Stufen stehen: Gewöhnliche Motive
wie ein Wasserglas oder ein Strassenschild treffen auf spekta-
kuläre Wiedergaben aus der Welt der Kriegsmaschinerie, der
Aviatik und der Raumfahrt oder stehen unvermittelt neben
Kunstreproduktionen, deren assoziativer Gehalt auf den höhe-
ren, spirituellen Bereich weist. Als weiteres gleichwertiges,
wenn auch ungegenständliches Bildelement tritt die Farbe
hinzu, sei es als monochrome Einfärbung der Photomotive oder
in Form spontan gemalter Flächen. Für das egalisierende Prinzip
ist eine Bemerkung aufschlussreich, die Rauschenberg 1961
einem Kunstkritiker gegenüber machte: «One of the great paint-
ings that left a mark on me is Leonardo’s Annunciation in Flo-
vence. In that canvas the tree, the rock, the Virgin are all of equal
importance. There is no gradation.»' Auf Rauschenbergs Kunst
übertragen bedeutet dies, dass eın Hauptmotiv oft kaum auszu-
machen ist und so belanglose Dinge wie ein Scheinwerfer, ein
Glas Wasser oder ein Briefumschlag, wie sie auf dem hier vor-
gestellten Pakat für The Paris Review zu erkennen sind, unter
Umständen eine Schlüsselrolle für den Bildsinn spielen können.
Die Gleichwertigkeit der disparaten Bildelemente paart sich mit
deren Gleichzeitigkeit, die durch den ständig erzwungenen
Blickwechsel paradoxerweise gerade den Faktor Zeit schafft,
wie er dem Hören eigen ist. «I had to make a surface which in-
vited a constant change of focus and an examination of detail
Listening happens in time — looking also has to happen in
time.»” Da die in den fünfziger Jahren praktizierte Technik der
Combine Paintings der Vielschichtigkeit seiner Bildvorstellun-
gen nicht mehr genügen konnte, ging Rauschenberg 1962 zu
einem neuen Verfahren über: Er wählte Illustrationen aus Zei-
tungen, Magazinen und Kunstbüchern und liess sie durch einen
»hotographischen Prozess auf Seide übertragen. Die einzelnen
Seidenstücke färbte er danach mit verschiedenen Tinten ein und
applizierte diese, die Farbe durchreibend, auf die Leinwand.
Rauschenberg übertrug damit das Prinzip des von der Druck-
graphik bekannten Siebdrucks auf ein neues Medium. Vom
Herbst 1962 bis Frühling 1964 schuf Rauschenberg 79 solcher
Silkscreen Paintings.*‘ Danach gab er diese Technik, die Unikate
ıervorbrachte, auf; hingegen entstand bis in die siebziger Jahre
eine Reihe von mit den Silkscreen Paintings formal eng ver-
wandten Offsetlithographien, darunter 1965 das hier gezeigte
Plakat für das Kulturmagazin 7he Paris Review.
Das Blatt ist ein typisches Beispiel für die in den Silkscreen
Paintings entwickelte Methode der Montage verschiedenster
Bildquellen. Besondere Attraktivität gewinnt es durch die Re-
aroduktion der Toilette der Venus von Rubens, deren Original
sich in den Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein befindet.
Das Motiv der in den Spiegel blickenden Liebesgöttin — wie es
auch die Rokeby-Venus von Veläzquez zeigt — hat Rauschenberg
zwischen 1962 und 1964 wiederholt verwendet.” Wenn er das
Spiegelmotiv zitiert, so nicht als Vanitassymbol, sondern als Al-
legorie auf die Kunst, welche die Welt widerspiegelt.* Eine in-
ieressante Interpretation, deren Erörterung hier zu weit führen
würde, schlägt-dagegen Roni Feinstein’ vor: Die Teilung der
Komposition in eine «weibliche» und eine «männliche» Zone
soll auf Das grosse Glas von Marcel Duchamp anspielen (Venus=
Braut, Soldaten =Junggesellen). Damit hätte Rauschenberg dem
geistigen Vater seine Reverenz erwiesen. P.M
Zit. nach Alloway, Lawrence: Rauschenberg’s development. In: Robert
Rauschenberg. Werke 1950-1980. Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Berlin (und
weitere Orte). Berlin, 1980, S. 49.
Ebd.,, S. 49.
Der Kontakt zum Graphikatelier von Tatyana Grosman (1962 fertigte Rauschenberg
aer seine erste Lithographie) mag den Künstler zum Experimentieren mit druck-
graphischen Techniken auf dem Felde der Malerei angeregt haben.
Feinstein, Roni: Robert Rauschenberg. The Silkscreen Paintings 1962-64.
Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York, 1990, S. 21.
Ebd., S. 85. Vgl. auch Lipman, Jean; Marshall, Richard: Art about Art. New York,
1978, S. 72. Der Künstler verwendete die «Screens» mehrmals als Schablonen,
Wie Anm, 1, S, 52.
Wie Anm. 4, S. 90.
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