Alberto Giacometti (1901-1966)
Bildnis des Schriftstellers Jacques Dupin, 1962
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Kugelschreiber
39,2 X 32,5 cm
Bez, verso 0. 1. (v. fremder Hand):
A. Giacometti (unleserlich) de Dupin, 1962
und roter Stempel mit fernöstl. Schriftzeichen, 15
LSK 91.21
Alberto Giacometti und Jacques Dupin begegnen sich erstmals
1954, Der junge Schriftsteller besucht den erfolgreichen Künst-
ler in dessen Pariser Atelier an der Rue Hippolyte-Maindron.' Es
zeht um einen Aufsatz für das bedeutende Pariser Forum zeit-
genössischer Kunst, die Zeitschrift Cahiers d’art, der unter dem
Titel Giacometti — Sculpteur & Peintre aus Anlass von zwei
wichtigen Ausstellungen erscheint:* Pierre Matisse stellt in sei-
ner New Yorker Galerie nach 19438 Giacomettis Werk erneut aus,
ebenso wie die Galerie Maeght in Paris, die es 1951 zum
ersten Mal präsentiert hatte. Der zu diesem Zeitpunkt begonnene
Dialog zwischen Giacometti und Dupin wird bis zum Lebens-
ende des Künstlers fortgeführt. An den beiden folgenden Aus-
stellungen bei Maeght 1957 und 1961 ist Dupin — inzwischen
Mitarbeiter der Galerie — beteiligt. Giacometti seinerseits steuert
für das 1956 erschienene Gedicht Dupins Art Poetique eine
Zeichnung und 1960 eine Radierung für den Gedichtband
L’epervier bei. Porträtieren wird er den Dichter mehrmals:
Neben Zeichnungen — die Liechtensteinische Staatliche Kunst-
sammlung besitzt deren drei — schafft Giacometti Gemälde und
druckgraphische Blätter.
Im Entstehungsjahr der vorliegenden Zeichnung publiziert
Dupin die erste Monographie über den Künstler. Wie Sartre oder
Genet stellt er das asketisch karge Menschenbild Giacomettis,
die Distanz fordernden, auf ihren Seinskern reduzierten Gestal-
;‚en der Nachkriegszeit, in den Kontext des Existentialismus. In
seiner poetisch evokativen Sprache betont er den archetypi-
schen, zeichenhaften Charakter der Figuren, die gleichsam als
Verkörperungen des in seiner Einsamkeit und Gefährdung aus-
gesetzten Menschen erscheinen.
Das ganzfigurige männliche Porträt (oder genauer: der stehende
Mann) taucht im Unterschied zum plastischen im malerischen
und zeichnerischen Werk Giacomettis selten auf. Im Gegensatz
zu der statisch geschlossenen Haltung der weiblichen Figur ist
der männlichen beinahe stets Bewegtheit eigen. Das ganzfiguri-
ge Bildnis Dupins strahlt eine ähnliche Kraft aus wie die 1959
<benfalls im Atelier ausgeführte Bildniszeichnung von Diego
Giacometti. Nicht zuletzt in der Direktheit des an den Betrach-
ter gerichteten Blicks erinnern beide an das frühe Gemälde
Diego in Stampa von 1921.
Giacometti lässt Dupin eine ungewöhnlich freie Position ein-
nehmen. Die ansonsten strenge Frontalität und reduzierte Ge-
stik, die er von seinem Modell fordert, fehlt diesem wie auch
dem folgenden Bildnis völlig. Die Körpersprache weist auf un-
zgezwungenes und selbstbewusstes Gebaren des Dargestellten
hin; in seiner Linken lässt sich eine Zigarette erahnen. Dupins
aufstrebende, gedehnte Gestalt beherrscht das Blatt, durchbricht
den Rahmen aus Vertikalen und Horizontalen, durch den Giaco-
metti — die kassettierte Wand seines Ateliers als Folie benutzend
- die von ihm Porträtierten in dieser Schaffensphase gleichsam
in den sie umgebenden Raum einzubinden sucht,
Giacometti strebt in der Zeichnung ebenso wie in der Malerei
und Plastik eine Reduktion im Stofflichen an: «Figuren waren
für mich nie eine kompakte Masse, sondern eher eine durch-
sichtige Konstruktion.»? Die skizzenhafte, den Umriss der Ge-
stalt bildende-teekere Schicht aus dünnen Linien ist von einer
seltenen Durchlässigkeit und Offenheit, sie begrenzt die Figur
hicht, eher löst sie sie auf.
Giacomettis Porträts bewegen sich an der Grenze des physio-
gnomisch Erkennbaren. Und doch stellt sich, wie Dupin selbst
arkennt, mit Giacomettis ersten Strichen auf Papier oder die
Leinwand das «ähnlich wirkende Porträt» ein.‘ Das gilt auch für
das nachfolgende Bildnis. M.S.
Die Angaben über das persönliche Verhältnis zu Giacometti sind der Verfasserin
von Jacques Dupin im Juni 1993 mündlich mitgeteilt worden.
Dupin, Jacques: Giacometti — Sculpteur & Peintre. in: Cahiers d’art, Paris (1954),
5.41-54.
Giacometti, Alberto: Brief an Pierre Matisse, 28. Februar 1948. In: Alberto
Siacometti. Ein Klassiker der Moderne 1901-1966. Ausst.-Kat. Bündner Kunst-
museum, Chur, 1978, S. 55.
Dupin, Jacques: Die unmögliche Wirklichkeit. In: Alberto Giacometti.
Ein Klassiker der Moderne 1901-1966. Ausst.-Kat., wie Anm. 3, 5. 38.
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