Alberto Giacometti (1901-1966)
Tete d’homme, um 1960
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Kugelschreiber
30,4 X 24,7 cm
LSK 75.21
Aphoristisch pointiert ortet Lichtenberg den interessantesten
Teil der Erdoberfläche im menschlichen Gesicht. Ähnlich scheint
Alberto Giacometti beim Anblick eines Gesichts zu empfinden,
wenn er emphatisch äussert: «Et l’aventure, la grande aventure,
»’est de voir surgir quelque chose d’inconnu chaque jour, dans le
neme visage, c’est plus grand que tous les voyages autour du
nonde.»' Das Unbekannte im stets gleichen Gesicht zu ergrün-
den, das Einmalige eines Gesichts zu ertasten, sich seiner Ähn-
lichkeit anzunähern oder das Blicken wiederzugeben — darin lie-
zen für Giacometti jahrzehntelang entscheidende Impulse zur
künstlerischen Arbeit.
Giacomettis Entschluss, sich dem Modellstudium zuzuwenden,
ührt 1935 zum Bruch mit den Surrealisten. Porträtbüsten seines
3ruders Diego bilden den unmittelbaren Anlass. Breton zeigt
sich empört: «Ein Kopf, jedermann weiss doch, was ein Kopf
st!» Seinerseits entrüstet über die Anmassung zitiert Giacometti
diesen Satz oft.? Denn ihm wird beim Versuch des Porträtierens
der Kopf «etwas vollständig Unbekanntes». Die Wichtigkeit,
die der Künstler nun der realen, beobachteten Wirklichkeit zu-
misst, ist mit dem Gestaltungsprozess der Surrealisten nicht
mehr vereinbar. Und die fortan immer wieder erlebte Unmög-
lichkeit, die Erscheinung der Wirklichkeit, das «Grunderlebnis
der Wahrnehmung des Anderen»* zu erfassen, bildet den Anreiz
ziner obsessiven Suche: «Ich weiss [...], dass es mir ganz un-
möglich ist, [...] einen Kopf zu modellieren, zu malen oder zu
zeichnen, so wie ich ihn sehe, und doch ist es das Einzige, was
ich zu tun versuche.»* Doch das vermeintlich stete «Fehlschla-
zen» wird für den Künstler «zu etwas Positivem».° Was sich
auch in der Zeichnung TEte d’homme dem Auge des Betrachters
darbietet, erscheint somit als Resultat eines äusserst produktiven
Zweifels. In der Schaffensperiode nach 1956, in die auch diese
Zeichnung gehört, erfährt Giacomettis Interesse für das
nenschliche Gesicht eine neue Entwicklung: «Im Auge erkennt
er die lebendige Wirklichkeit des Anderen.»’ Die Gestaltung des
Blickens über das Individuelle hinaus und das dieser Gestal-
tungsabsicht widersprechende Bemühen um Ausdruck der Indi-
vidualität angesichts des Gesichts des Japaners Isaku Yanaihara
ösen 1956 eine Schaffenskrise aus, die bis ans Lebensende des
Künstlers andauert.
Giacomettis Bemühen um gültige Formulierungen für Kopf,
Gesicht und Blick des Menschen äussert sich hier in der Kon-
zentration auf den gewichtigen Kopf. In sich mehrfach wieder-
holenden, rasch hin und her schwingenden Gesten umkreist der
Künstler das beinah vollkommene Oval des Kopfes, die hervor-
'retenden Backenknochen oder die Wölbung der Stirn. Die
Rundform wiederholt sich im Bereich der Augen: Augenbrauen,
‚wölbung und -höhle werden zu einem Oval zusammengefasst.
Kreisende, senkrechte und waagrechte weit ausfahrende Linien
und Striche vereinen sich links zur Iris und punktförmigen Pu-
nille. Rechts sind sie durch ein aufgelockerteres, doch nicht
minder verschlungenes Liniennetz markiert. Mit dem Verzicht
auf strenge Frontalität bleibt eine direkte Konfrontation mit dem
Betrachter aus. Leicht abgewandt und emporgehoben, scheint
der Blick des Mannes in eine unbestimmte Ferne gerichtet und
zugleich nach innen gekehrt.
Gerade der Kugelschreiber als Zeichenstift verstärkt die Präsenz
des Künstlers und macht den Gestaltungsvorgang unmittelbar
fassbar: Das-Einkreisen in schnellen Gesten, das Zögern, Präzi-
zieren, die Skepsis und der erneute Versuch bleiben als dynami-
scher. sich verdichtender Prozess im Porträt sichtbar. M.S.
Giacometti, Alberto zit. nach Pardinaud, Andre: Entretien avec Giacometti.
In: Alberto Giacometti. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 1962/63, S. 15.
Überliefert hat die Worte Andre Bretons und auch diejenigen Giacomettis de
Beauvoir, Simone: In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg, 1961, S. 416—419
Giacometti, Alberto: Brief an Pierre Matisse. 28. Februar 1948. In: Alberto
Siacometti. Ein Klassiker der Moderne 1901-1966, Ausst.-Kat. Bündner
Kunstmuseum, Chur, 1978, S. 57.
Hohl, Reinhold: Alberto Giacometti. 2. Aufl. Stuttgart, 1987, S. 107.
Alberto Giacometti im Gespräch mit Peter Selz. In: New Images of Man.
Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, 1959. Deutsch in: Transform.
BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert. Ausst.-Kat. Kunstmuseum und Kunsthalle
Basel, 1992, S. 109.
Siacometti, Alberto zit. nach Dumayet, Pierre: Über die Schwierigkeit, einen
Kopf zu machen: Giacometti, In: Aragon, Louis u. a.: Wege zu Giacometti.
München, 1987, S. 36.
Wie Anm. 4.8. 211