Andre Masson (1896-1987)
Le demon de l’incertitude, 1944
Schwarze Kreide und Pinsel in Tusche
38,1 X 56,2 cm
Bez. u. 1. (Feder in Tusche): AM. XLIV.
LSK 91.11
Andre Masson hat das Blatt während seines Aufenthaltes in den
USA geschaffen. Er hatte sich aus Spanien nach Frankreich ge-
rettet und floh dann vor dem nationalsozialistischen Terror. Sei-
ner Kunst ist die Vibration der Zeit eingeschrieben. In der kalli-
graphisch angelegten Zeichnung des Demon de l’incertitude
scheint sie mit Händen greifbar. Das Blatt steht im Kreis seineı
imaginären Porträts, die Anfang der vierziger Jahre entstanden.
Auch ein Gemälde entsteht zum vorliegenden Thema, 1945 da-
tiert.” Die Zeichnung hat ihm sicher als Vorlage gedient, doch
darf sie als eigenständiges Werk betrachtet werden. Sie ist ein
imponierendes Beispiel seines leidenschaftlichen Striches, deı
an asiatische Tuschzeichen erinnert. Die Arbeit scheint mehr ge-
schrieben als gezeichnet und ist ein Manifest seines automati-
schen Duktus, den er auch in der Malerei kennt, aber in der
Zeichnung wunderbar zum Schwingen bringt.
Masson hat sich immer wieder für mythologische Themen in-
teressiert, die er in eigener Version weiterbearbeitete und im
wahrsten Sinne neu erschuf. «Il n’y a pas de monde acheve»,‘
schrieb er im Hinblick auf seine Mythologien. So hat er die klas-
sischen Sagen in seiner Vorstellung zu Ende geschrieben und die
Schicksale von Osiris, Mithra, Orpheus und Minotaurus neu er
zählt. Unser Blatt gehört in diese Reihe der Neuschöpfungen an-
tiker Themenkreise, die aus einer Art persönlicher Meditation
entstehen. Die amerikanischen Jahre haben Masson zu einem
Höhepunkt geführt, der mit jenem von 1930 vergleichbar ist, als
er ein Meister der «&criture automatique», des automatischen
Hinschreibens, geworden war. Die Linien jubilieren über die
Bildfläche, fügen sich zu figürlichen Assoziationen und bewe-
gen sich wieder frei im Inneren der Komposition.
Gerade die Zeichnung der Liechtensteinischen Staatlichen
Kunstsammlung scheint Metapher zu sein für Andre Massons
innere Verfassung: Die Harmonie bricht explosionsartig auf.
Der Dämon Mensch hat zwei Gesichter und geht mit einem of-
fenen und einem geschlossenen Auge auf die Welt zu, in der er
doch zugleich auch befangen ist. E.B
Abb. in: Leiris, M.; Limbour, G.: Andre Masson et son univers. Geneve/Paris,
1947, 0. S.
? Ebd., S. 144.
* Zit. nach Leiris, wie Anm. 1, S. 130
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