Volltext: Bestandeskatalog

Pablo Picasso (1881-1973) 
Oedipe, 1926 
Pinsel in Tusche, laviert 
38 X 29,2 cm 
Bez. 0. r. (Feder in Tusche): Picasso 26 
LSK 89.01 
Als Picasso im Jahre 1917 Italien besuchte — er war Mitarbeiter 
bei Sergej Diaghilews russischem Ballett Parade —, wurde er 
in den Museen auch mit der antiken Vasenmalerei bekannt. Dar- 
über hinaus interessierte er sich nun verstärkt für die literarische 
berlieferung der griechischen Sagenwelt und deren Protagoni- 
sten, wie Theseus, Ariadne, den Minotaurus, die Kentauren — 
vor allem für die dionysische Seite des klassischen Altertums. 
Obwohl seine mythologischen Szenen oftmals ein Bild des vol- 
‚en und glücklichen Lebens widerspiegeln, sind sie nicht nur 
leidenschaftliche Übertreibungen, Ausdruck seines Glücks oder 
zimple Bejahungen dessen, was ihm wertvoll schien. Picasso 
<reierte mit seinen mythologischen Fabelwesen vielmehr Meta- 
»hern für seine eigene Vorstellungswelt. Die Figuren werden zu 
Repräsentanten einer Art von poetischem Exhibitionismus. Die- 
ser gestattet Picasso die Sichtbarmachung seiner persönlichen 
Geisteshaltung wie seiner Gemütsbewegungen. Was den thema- 
+ischen Inhalt dieser Werke so spannend macht, ist seine betrof- 
fen machende Nachvollziehbarkeit: Picasso modelliert diese Fi- 
guren aus der Absicht, ihnen die Seele seiner Zeit zu geben, 
visualisiert an seinem eigenen Ich. Doch das Glück konstituiert 
sich durch sein Gegenteil. Die Zeichnung Oedipe zeigt einen 
Teil der tragischen, schmerzvollen Kehrseite des menschlichen 
"‚ebens. Die Geschichte des Sohnes, der unwissentlich seinen 
Vater tötet und mit der eigenen Mutter den Beischlaf vollzieht, 
ergibt den Stoff jener Tragödie, die Picasso in der vorliegenden 
Zeichnung bildnerisch umsetzt. Mit Tuschfeder und -pinsel ent- 
steht eine Zeichnung von expressivster Eindrücklichkeit. Die in- 
tensive, satte Schwärze der Tusche und das Weiss des Papiers 
argeben eine schroffe Polarität der Töne. Die Szene lässt gemäss 
Picassos freier, motivischer Adaption ein Zusammentreffen 
der beiden Figuren nach den schrecklichen Ereignissen anneh- 
men. Mutter und Sohn wirken in sich geknickt, ihre Nähe, trotz 
Berührung, verweist auf Distanz. Die zugewandten Gesichter, 
die Picasso beseelt darstellt, sind bis zur Unkenntlichkeit hinter 
dunklen Schatten verborgen, eingehüllt und vernebelt durch ein 
gespenstisches, gewittriges Wetterleuchten. Oedipe wird so zum 
Nachtstück — Menschen und Dinge werden in nervöser Strich- 
führung deformiert. 
Die Zeichnung legt Zeugnis ab für Picassos paramythologisches 
Variieren, angesiedelt im Umkreis seiner Illustrationen zu den 
Metamorphosen des Ovid oder zur Lysistrata des Aristophanes. 
Im Unterschied zu den Letztgenannten gelingt es Picasso mit 
Oedipe, historisierende Stilmittel nicht einfach zu übernehmen, 
sondern die eigene Formensprache mit neuen bildnerischen Mit- 
teln zu erweitern. 
Mit dieser Arbeit löst er die ungebrochene Kontur seiner übli- 
chen klassischen Zeichnungen weitgehend auf, ohne aber jene 
biomorpheii Formverzerrungen anzusprechen, wie er sie in den 
zeitlich parallel entstandenen, surrealen Kunstwerken in den 
Vordergrund stellt (beispielsweise mit seinen Variationen über 
das Thema Anatomie im Carnet Dinard). S.A.
	        

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