Käthe Kollwitz (1867-1945)
Vergewaltigte Bauernfrau im Krautgarten liegend, 1907
2
Bleistift und Kohle
43,6 X 61 cm
Bez. u. r.: Kollwitz, o. 1.: Oberer Teil muss etwas kleinf[er] 50
Nagel/Timm 417
LSK 94.06
Die Zeichnung ist als Entwurf zum zweiten Blatt der Radierfol-
ge Bauernkrieg entstanden, die Käthe Kollwitz zwischen 1903
und 1908 beschäftigt hat. Sie schuf zahlreiche Vorzeichnungen
zu den einzelnen Platten, die zum Teil exakte Naturstudien der
Pflanzenwelt enthalten. Wichtig aber waren ihr vor allem Skiz-
zen zu den Hauptfiguren und Szenen. So sind zur Vergewaltigten
Bauernfrau neben zahlreichen Pflanzenstudien drei Vorzeich-
aungen bekannt,' von denen nebenstehendes Blatt der Radie-
rung am nächsten kommt. Bis auf die veränderte Armhaltung ist
die Position der Liegenden genau übernommen. Doch wirkt die
Zeichnung ungleich dramatischer und direkter als die radierte
Fassung — was übrigens bei den meisten Vorzeichnungen zu
diesem Zyklus der Fall ist. Man vergleiche nur die Studie zur
Schwarzen Anna, die als Zeichnung den Titel Losbruch trägt. In
die Zeichnung hat die Künstlerin ihre Leidenschaft übertragen
können, die sie dem Bildgegenstand gegenüber empfand. Die
Radierung bremst gewissermassen ihren dynamischen Duktus.
Dieser Duktus erhebt die Vergewaltigte Bauernfrau zum Mei-
sterwerk. Mit schwarzer Kohle ist der Frauenkörper gezeichnet,
singebettet in die mit zartem Bleistiftstrich skizzierte Pflanzen-
welt. Der Gewaltakt wird gerade an dieser unterschiedlichen Be-
handlung deutlich. Schwarz, trauervoll hebt sich der geschände-
ie Körper von der nur angedeuteten — heilen — Natur ab. Quer
ım Bildzentrum durchschneidet der Körper mit gespreizten Bei-
nen die Fläche. Durch die nur im Ansatz markierten Beine (im
Gegensatz zur ausgeführten Radierung) konzentriert sich der
Blick ganz auf den Körper. Die verschränkten Arme über dem
Kopf verdecken die Augen, aber der vor Qual schreiende Mund
ist sichtbar. Inmitten ihres Gartens liegt die Frau auf ihrem
Stückchen Erde, beinahe schon tot und eins mit ihm. Aber der
geöffnete Mund, aus dem man den verzweifelten Schrei zu
hören meint, zeigt uns an, dass sie lebt, Hier liegt das Moment
stärkster Expressivität. Um den verzweifelten Schrei legen sich
die Arme als dunkle Umrahmung. Dies ist der schwärzeste Teil
der Zeichnung, das tiefe Dunkel wird Ausdruck der Trauer.
Käthe Kollwitz hat ihre Vorzeichnungen vehement ausgeführt.
Der Strich vibriert unter der Angespanntheit des Gefühls. Die
mpulsive Linie, die Herausarbeitung der Kontraste — die Qual
der geschändeten Frau im schweren Duktus des Kohlestiftes und
die überaus zarte Strichführung der unschuldigen, angesichts
des Verbrechens zugleich ohnmächtigen Natur — übermitteln
uns das persönliche Engagement, das Käthe Kollwitz in ihre
Arbeit einbrachte,
Der Zyklus Bauernkrieg verzichtet auf jegliche symbolistische
3ildsprache, die unter dem Einfluss von Max Klinger manchmal
m Werk der Künstlerin um die Jahrhundertwende spürbar ist.
Die Darstellung ist überzeugend realistisch, sowohl was die
zentrale Bildfigur betrifft wie das Ambiente des Gartens und das
durch Sonnenblumen starrende Kind, das als Zeuge verständnis-
los dem Akt beigewohnt hat. Begonnen hatte Käthe Kollwitz
den Zyklus unter dem Eindruck der Geschichte des grossen
deutschen Bauernkrieges von W. Zimmermann, die 1844 er-
schienen war. Aber wie immer, wenn sie von einem historischen
Inhalt ausgeht, aktualisiert sie die Geschichte und setzt sie
gleichnishaft in die Gegenwart, um auf die trostlosen sozialen
Zustände aufmerksam zu machen. So geschah es beim Weber-
aufstand, den sie 1898 als ersten bedeutenden Radierzyklus
veröffentlichte, und so nimmt sie sich auch des Bauernkrieges
an, dessen dramatische Szenen sie — angeregt durch den litera-
äischen Text — zeichnerisch umsetzt. Symbole waren ihr für
diese Form der direkten Darstellung nicht ausreichend. Sie woll-
ie bewegen durch die packende, sichtbare, naturalistische Schil-
derung. Edvard Munchs Schrei ist das Symbol eines Schreies,
bei dem die ganze Landschaft in diesen Schrei mitaufgenom-
men ist. Käthe Kollwitz’ Schrei soll gehört werden. E.B.
Käthe Kollwitz. Die Handzeichnungen. Hrsg. Otto Nagel. 2, Aufl. Stuttgart, 1988,
Nın. 417-419. Die Künstlerin versah die Zeichnungen häufig mit Bleistiftnotizen,
zebrauchte sie also als Arbeitsunterlagen. Ebenso wie unsere Zeichnung eine
Arbeitsnotiz enthält, ist auch Nr. 419 beschriftet: «Frau liegt zu nah dem Hause,
Zrau noch zu gr0Ss.»