Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976)
Mädchen aus Kowno, 1918
Holzschnitt
50 X 39 cm
62,3 X 50,5 cm
Bez. u. r.: S. Rottluff
Schapire 209
LSK 74.22
Im Oktober 1916 wurde Karl Schmidt-Rottluff ins litauische
Kowno in die Presse-Abteilung des Stabes Ober-Ost abkom-
mandiert. Hier entstand im letzten Kriegsjahr der Holzschnitt
Mädchen aus Kowno. Von seiner Rekrutierung im Frühjahr 1915
bis zum Kriegsende verlagerte der Künstler sein Schaffen von
der Malerei auf die Holzbildhauerei und den Holzschnitt. Gin-
gen die Holzskulpturen im Zweiten Weltkrieg zum grossen Teil
verloren, so sind die Graphiken heute noch eindrückliche Zeug-
nisse formaler Anregungen durch die Kunst der Naturvölker. In
der 1918 datierten Christusmappe (Originaltitel: 9 Holzschnitte),'
seinem graphischen Hauptwerk, gelingt es Schmidt-Rottluff, die
in der Stammeskunst vorgefundene ursprüngliche Religiosität
auf Szenen der christlichen Glaubenslehre zu übertragen.
Gegenüber dem anklägerischen Ton der Christusmappe strahlt
das im gleichen Jahr entstandene Mädchen aus Kowno versöhn-
‚iche Eleganz aus: Auf hohem Hals sitzt der nach rechts geneig-
te Kopf mit dem längsovalen, schmalen Gesicht und der dunklen
Haartracht mit den seitlich fallenden Zöpfen, die zur linken
Hälfte hin das kompositionelle Gleichgewicht bildet. Vergleicht
man diesen Druck mit den im «Holzschnittjahr» 1909 geschaf
fenen Arbeiten, wird die stilistische Distanz besonders augenfäl-
lig: In jenen Werken bleibt der Stock als Untergrund spürbar, die
Maserung oft noch sichtbar. Indem der Künstler in den hellen
Partien zahlreiche Grate stehen lässt, erzeugt er, darin Nolde
ähnlich, beinahe malerische Tonwerte.* Im Blatt aus Kowno da-
gegen ist alles auf den Reiz des Schwarzweissdialogs angelegt.
Der Positiv-Negativ-Rapport des Zackenmusters am unteren
Rand bildet gleichsam das Motto für das formale Spiel der Grate
und Kerben am Kopf des Mädchens: Im Haar bilden weisse par-
allele Linienzüge, im Gesicht schwarze Kammstrukturen das li-
neare Gerüst.
Das Vorbild westafrikanischer Stammeskunst ist unverkennbar.
Die nach unten spitz zulaufende Kopfform, das konkave Zu-
rückweichen der oberen Gesichtshälfte, die markante Nase, die
Zöpfe und das nach hinten hochgenommene Haar sind Merk-
male, die das Mädchen aus Kowno mit kultischen Köpfen der
Ngumba aus Kamerun und der Fang aus Gabun teilt.? Schon vor
seiner Einberufung an die Ostfront liess sich Schmidt-Rottluff
von der Kunst der Naturvölker anregen, welcher er, wie seine
Künstlerfreunde der «Brücke», im Berliner Ethnographischen
Museum begegnet ist. In der Skulptur sind die 1912 geschaffe-
nen Messing-Reliefs der Evangelisten,* in der Malerei das
Mädchen vor dem Spiegel* von 1915 die wichtigsten Zeugen die-
ser Auseinandersetzung. Während der Kriegsjahre, als ihm Mu-
seumsbesuche nicht möglich waren, scheint Schmidt-Rottluff
von Carl Einsteins Negerplastik aus dem Jahre 1915 angeregt
worden zu sein, denn zahlreiche seiner Holzschnitte und Skulp-
turen erinnern an Illustrationen aus diesem Buch.‘ PM.
Schapire, Rosa (Hrsg.): Karl Schmidt-Rottluffs graphisches Werk bis 1923. Berlin,
1924,
Wietek, Gerhard: Karl Schmidt-Rottluff. Graphik. München, 1971, S. 41.
Gordon, Donald E.: German Expressionism. In: «Primitivism» in 20th Century Art,
Affinity of the Tribal and the Modern. Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art,
New York, 1984, Vol. II, S. 393 f., vgl. Abb. S. 395, 396, 436, 437, 439, 451, sowie
Vol.I, Abb. S. 290. Vgl. auch von Wiese, Stephan: Expressionistische Verkündigung
Bemerkungen zu Schmidt-Rottluffs religiösen Holzschnitten. In: Karl Schmidt-
Rottluff. Retrospektive. München, 1989, S. 46 u. Anm. 34. Von Wiese sieht im
Mädchen aus Kowno zudem einen Reflex gestickter Nowgoroder Tränentücher.
Brücke-Museum, Berlin. Siehe Farbtaf. in: Gordon, wie Anm. 3, S.384.
Nationalgalerie Berlin. Siehe Farbtaf. in: Karl Schmidt-Rottluff. Retrospektive,
wie Anm. 3, Taf. 62.
Gordon, wie Anm. 3, S. 392
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