Kat. Nr. 32
GIOVANNI GHISOLFI (1623-1683)
«RÖMISCHE RUINEN»
Leinwand; 48,9 X 66,2 cm
Inv. Nr. G219
Erworben: vor 1805
Im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion haben Ghisol-
fis Ruinenlandschaften häufig den Charakter eines «Capriccio»,
eines Phantasiestückes, in welchem der Wirklichkeit entspre-
chende Architekturzitate eine frei erfundene, neue Verbindung
eingehen. So konnten im zuvor beschriebenen Gemälde (Kat.
Nr. 31) die drei korinthischen Säulen als Überreste des römi-
schen Vespasian-Tempels identifiziert werden, ohne daß von
ziner im topographischen Sinne exakten Vedute gesprochen
werden müßte. Ob nun im gleich großen Gegenstück ein realer
Teil der antiken Ruinenwelt geschildert wird, ist schweı
ergründbar, zu unspezifisch und ausschnitthaft ist das im Bild
Sichtbare. Ganz nah hat der Maler Steinblöcke und Säulen her-
angerückt und mit ihnen den Raum verstellt. Nur am linken
Rand des Gemäldes fällt der Blick wie durch ein Nadelöhr hin-
aus zum weit entlegenen, aber offenen Horizont. Trotz ihreı
massiven Körperhaftigkeit und Schwere stehen die Ruinenteile
auf unsicherem Grund, der von Wasser umspült wird. Es sind
Menschen am Ort, und wenn auch einer von ihnen etwas auf
dem überschwemmten Boden zu suchen scheint und damit das
Interesse der anderen auf sich zieht, so bestimmt doch Müßig-
gang ihr Treiben. Warm fällt die Nachmittagssonne auf das
Geschehen und taucht alles in eine Atmosphäre ruhiger
Beschaulichkeit. Es ist die Poesie des Lichtes, die dem spröden
Stein, den Formen seiner Bearbeitung wie den Spuren seines
Verfalls, einen stillen Zauber entlockt. Und unscharf spiegeln
die Ruinen sich im Wasser, auf dessen Oberfläche vereinzelt
zartblaue Reflexe erscheinen.
Chisolfis Malerei legt hier kein archäologisches Zeugnis ab vom
Bestand römisch antiker Architekturrelikte. Auge und Pinsel
spüren vielmehr den Reizen und Stimmungen einer gleicher
maßen gesehenen und erfundenen Welt nach, die längst vergan-
gen ist und doch noch existiert.
Schon vor seinem Weggang aus Mailand im Jahre 1650 zeigt
sich Giovanni Ghisolfi vom Werk des Neapolitaners Salvator
Rosa beeinflußt, das er zunächst wohl durch druckgraphische
Reproduktionen kennengelernt haben wird. In Rom kam es auf
Grund gegenseitiger Wertschätzung zu einer engeren Begeg
ıung beider Maler. Es war insbesondere der figürliche Gestal-
ungsreichtum in Rosas Gemälden, der Eindruck auf Ghisolfi
machte. So konzentriert sich die Fähigkeit des Mailänders von
Anbeginn seiner künstlerischen Tätigkeit nicht allein auf die
Ruinenarchitektur, sondern ebenso auf menschliche Figuren,
die in keinem seiner Bilder fehlen und häufig als Akteure
mythologischer oder biblischer Erzählungen auftreten. Gerade
ıhre frische und vitale Präsenz verleiht der eher statisch veran-
lagten Ruinenmalerei ein wohltuend belebendes Moment.
Daß Ghisolfi nicht nur ein Meister kleiner oder mittelgroßer
Leinwandgemälde war, die sich vor allem bei privaten Samm-
lern besonderer Beliebtheit erfreuten, beweisen monumentale
Wand- und Gewölbefresken im Auftrag der Kirche, wie z.B. für
die Kapelle der «Presentazione al Tempio» auf dem «Sacro
Monte» oberhalb von Varese, die Kapelle des «San Benedetto»
bei der Certosa di Pavia oder die «Basilica di San Vittore» in
Varese. Aufträge führten Ghisolfi auch nach Vicenza und, mit
großer Wahrscheinlichkeit, nach Venedig. Schließlich kehrte eı
in seine Heimatstadt Mailand zurück, wo er 1683 starb.
Busiri Vici erwähnt das Gemälde in seiner Monographie nicht.
Es weist jedoch die gleichen Stilmerkmale auf wie das unteı
Kat. Nr. 31 erwähnte Pendant und ist daher, wie Schleier und
Arisi bestätigend hervorheben, ebenso der Hand Ghisolfis zuzu-
schreiben. U.W
Literatur: Seite 154