Volltext: Fünf Jahrhunderte italienische Kunst aus den Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein

Kat. Nr. 56 
FRANCOIS DUQUESNOY (1597-1643) 
«MERKUR» (Rom, Modell: 1629-30, Guß: 1630-40) 
Bronze, hellbraune Patina, Reste braunen Lacks 
Höhe 63 cm 
Figur und Baumstrunk bzw. Plinthe mit Schrauben und Stiften montiert 
Inv. Nr. S611 
Erworben: vor 1658 vermutlich durch Fürst Karl Eusebius 
Die jugendliche, nackte Göttergestalt stützt sich mit der Rech- 
ten auf den Ast eines Baumstrunks und blickt zum Boden, wo 
sich ursprünglich ein Cupido befand, der dem Götterboten Flü- 
gel am rechten Fußgelenk anlegte. In seiner leicht erhobenen 
Linken hielt der Jüngling den nicht erhaltenen Caduceus. 
Das Aussehen der vollständigen Gruppe überliefert eine Abbil- 
dung in der 1635-36 in Rom erschienenen «Galleria Giusti- 
nlani», einem Stichwerk der berühmten Antikensammlung des 
Marchese Vincenzo Giustiniani. Auf dem von Claude Mellan 
gestochenen Blatt ist Duquesnoy als Schöpfer der Skulptur ver- 
merkt. Außerdem gibt es einige Repliken, die zwar nicht die 
hohe Qualität der liechtensteinischen Bronze aufweisen, je- 
doch vollständig sind (z.B. in der Sammlung Thyssen-Borne- 
nisza, Radcliffe 1992, Nr. 28). Laut Inventar der liechtensteini- 
schen Bronzensammlung von 1658 war der Cupido damals noch 
vorhanden: «Item ein Mercurius, der an einen Baum lainet 
undt unter ihm ein kleiner Knab sitzet, mehr des Mercurius 
einen Stab in der Handt haltet, woran zwei Schlangen und zwei 
Flügl seindt.» 
Über die Entstehung des Merkur berichtet der Duquesnoy-Bio- 
graph Bellori. Als Pendant für eine antike Herkulesfigur aus 
Bronze, die sich in der Sammlung Giustiniani befand (heute in 
der Villa Albani in Rom), hatte Duquesnoy einen Merkur eben- 
falls aus Bronze geschaffen, der wohl nicht mehr erhalten ist. 
Später fertigte der Bildhauer dann, Bellori zufolge, als Gegen- 
stück zum Merkur einen Apoll, von dem sich ebenfalls ein Bron- 
zeguß in der Sammlung Liechtenstein befindet (Kat. Nr. 57). 
1618 war der aus Flandern stammende Künstler nach Rom 
gekommen, wo er «Il Fiammingo» genannt wurde. Er traf dort 
wesensverwandte Künstler mit der gleichen Leidenschaft für die 
Antike, wie Algardi, Domenichino und besonders Nicolas Pous- 
sin, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband. Neben Ber- 
aini und Algardi gehört Duquesnoy zu den Hauptmeistern der 
römischen Barockskulptur, doch ist das Schaffen des jung ver- 
storbenen Flamen weniger umfangreich als das seiner berühm- 
;eren Zeitgenossen. Im ersten Jahrzehnt seines Rom-Aufent- 
nalts verdiente er seinen Lebensunterhalt vorrangig mit der 
Herstellung kleinplastischer Arbeiten und der Restaurierung 
ozw. Ergänzung antiker Bildwerke. Seine Hauptwerke in 
Rom sind die Monumentalfigur des Hl. Andreas in St. Peter 
1627-40) und die Statue der Hl. Susanna in S. Maria di Loreto 
‘1633 vollendet). 
Bellori berichtet, daß Duquesnoy gemeinsam mit Poussin die 
berühmten Bildwerke der Antike studiert habe und erwähnt spe- 
ziell den sogenannten Antinous vom Belvedere, den die beiden 
Künstler zusammen vermessen hatten (Leithe-Jasper 1991, 
Abb. 91). Im Anschluß an Belloris Poussin-Vita ist die antike 
Statue in zwei Ansichten wiedergegeben, ergänzt durch detail- 
lierte Maßangaben. Duquesnoy hatte die Figur auch in Ton 
nachgebildet und dabei die fragmentierten Arme des Marmor- 
vorbildes einfühlsam ergänzt. Der Antinous scheint sowohl für 
Poussin als auch für Duquesnoy mustergültig gewesen zu sein 
Duquesnoys Schüler Orfeo Boselli führte die Statue in seinen 
«Beobachtungen zur antiken Skulptur» als Exemplum für die 
Darstellung von «giovani dilicati» an. Der elegante Kontrapost 
des Antinous bildete den Prototyp für Duquesnoys geschmeidig 
"hythmisierte Jünglingsfiguren. 
Beim Merkur scheint sich Duquesnoy jedoch auch mit einer 
wenige Jahrzehnte älteren Komposition auseinandergesetzt 
zu haben: einer Pietro Francavilla zugeschriebenen Bronzefigur 
des Meleager, die sich in der Dresdner Skulpturensammlung 
»efindet, bzw. deren Variante als Apoll, die lediglich durch 
Abbildungen überliefert ist (auf einem Gemälde von E. van 
Miieris im Kunsthistorischen Museum in Wien und als kleinere 
Version in Bronze, ehemals in der Sammlung Figdor, dann 
Skulpturensammlung Berlin, verschollen, Tietze-Conrat 1917. 
Abb. 37). Duquesnoys Merkur und Francavillas Bronzen kenn 
zeichnen ein ähnlicher Aufbau und Bewegungsrhythmus, die 
in Raffaels gemalter Nischenfigur, Apollo darstellend, in dem 
Fresko der Schule von Athen ihren Prototyp haben dürften. (Die 
kompositionelle Verwandtschaft des Merkur zu Francavillas 
Meleager wurde auch von Martin Raumschüssel beobachtet, der 
seine Ergebnisse demnächst publizieren wird. Auf ihn geht auch 
die Zuschreibung an Francavilla zurück). 
Auch was das ikonographisch ungewöhnliche Thema der 
Gruppe betrifft, dürfte sich Duquesnoy an einer nur wenige 
Jahre zuvor entstandenen Komposition orientiert haben, deı 
monumentalen Bekrönungsfigur des Merkur-Brunnens von 
Adrian de Fries in Augsburg, bei der Cupido ebenfalls beim 
Befestigen von Flügeln gezeigt wird. Durch graphische Darstel- 
lungen fand diese Gruppe Verbreitung. 
In der Entwicklung der männlichen Aktfigur nehmen Duques- 
10ys Jünglingsgestalten einen prominenten Platz ein. Sie setzen 
sich deutlich sowohl von antiken als auch neuzeitlichen Formu- 
‚jerungen dieses zentralen Themas der Bildhauerei ab. Auf krea- 
tive Weise verarbeitet der Künstler Quellen unterschiedlicher 
Art und gelangt so zu einer Synthese klassischen Ranges, wie 
sie in der Malerei durch Raffael oder Poussin verwirklicht 
wurde. Duquesnoys Biograph Passeri bezeichnete sie als «ma- 
niera greca»: Merkur erscheint zeitlos in idealer Nacktheit. Kon- 
sequenterweise verzichtet Duquesnoy auf die sonst übliche 
Kopfbedeckung des Götterboten, den Petasos. So entsteht eine 
monumental gesehene Komposition voller Schönheit in harmo- 
nischen Formen. Es ist anzunehmen, daß Duquesnoys Schüler 
Boselli, als er die «maniera grande» in seinem oben genannten 
Traktat definierte, Werke seines Lehrers vor Augen hatte: «Der 
große Stil und der erlesene Geschmack bestehen also darin, den 
Werken Süßigkeit und Zartheit zu geben. Das geschieht 
dadurch, daß man Knochen, Nerven, Adern und Muskeln ver: 
oirgt und das Auge auf dem Ganzen hat, nicht auf dem Detail.» 
V.K 
Ausstellungen und Literatur: Seite 160
	        

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