Europäischer Gerichtshof und EFTA-Gerichtshof
heisst es übereinstimmend in mehreren Entscheidungen des Staatsge-
richtshofes,55 dass er materiell einen «verfassungsändernden und -ergän-
zenden Charakter» habe.
Der Staatsgerichtshof anerkennt das Staatsvertragsrecht, wie dies
beim EWR-Abkommen der Fall ist, als «materielles Verfassungs-
recht». Er wendet demnach das EWR-Recht wie Verfassungsrecht
bzw. «materielles» Verfassungsrecht an und prüft innerstaatliches Recht
am Massstab des EWR-Rechts.57 Eine EWR-Rechtswidrigkeit stellt so
gesehen auch eine «Verfassungswidrigkeit» dar.548
4. EWR-Recht als «verfassungsmässig gewährleistetes Recht»
Das EWR-Recht zählt zu den verfassungsmässig gewährleisteten Rech-
ten. Es können, wie der Staatsgerichtshof judiziert, auch andere Grund-
rechte, die auf Staatsvertragsrecht beruhen, direkt als verfassungsmässige
Rechte im Sinne von Art. 15 Abs. 1 SSGHG vor dem Staatsgerichtshof
geltend gemacht werden, auch wenn die EWR-Grundfreiheiten nicht
wie die EMRK-Grundrechte explizit im Katalog staatsvertraglich ver-
ankerter Individualrechte gemäss Art. 15 Abs. 2 StGHG aufgeführt
werden.549
545 StGH 1996/34, Urteil vom 24. April 1997, LES 3/1998, S. 74 (80) und StGH 1998/3,
Urteil vom 19. Juni 1998, LES 3/1999, S. 169 ff. (171); SEGH 2000/33, Entscheidung
vom 5. Dezember 2000, nicht veröffentlicht, S. 23.
546 Der Staatsgerichtshof vertritt ein materielles Verfassungsverständnis, das sich nicht
nur auf das formelle, in der Verfassungsurkunde kodifizierte Verfassungsrecht
beschränkt. Siehe SIGH 1995/21, Urteil vom 23. Mai 1966, LES 1/1997, S. 18 (28)
und StGH 1998/45, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 1/2000, S. 1 (6); vgl. auch
Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 218 f. und Tobias Michael Wille, Verfassungs-
prozessrecht, S. 69.
547 Vgl. StGH 2003/16, Urteil vom 3. Mai 2004, nicht veröffentlicht, 5. 4 ff.
548 Vgl. StGH 1998/3, Urteil vom 19. Juni 1998, LES 3/1999, S. 169 (171 f.); vgl. auch
StGH 2003/16, Urteil vom 3. Mai 2004, nicht veröffentlicht, 5. 4.
549 StGH 2005/89, Urteil vom 1. September 2006, Erw. 4, in dem der Staatsgerichtshof
auf SIGH 2004/45, Erw. 2.1 verweist (im Internet abrufbar unter: <www.gerichts
entscheide.li>). Zur Kritik an dieser Zuständigkeitserweiterung ohne verfassungs-
bzw. einfachgesetzliche Positivierung in Art. 23 SSGHG 1925 (neu: in Art. 15 Abs. 2
StGHG, LGBl. 2004 Nr. 32) siehe Andreas Kley, Staatsgerichtshof und übrige ein-
zelstaatliche Rechtsprechungsorgane, S. 56.
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