Notstandsverordnungs- bzw. Notverordnungsrecht
ven Massnahmen zu ergreifen und Entscheidungen anstelle anderer
Staatsorgane zu treffen oder deren Entscheidungen aufzuheben. Diese
Vollmachten tangieren das Gewaltenteilungsgefüge der Verfassung. Der
Fürst hat also das Recht, die gesamte Gewaltenteilung für eine Zeit von
sechs Monaten ausser Kraft zu setzen. Die Bedeutung dieser Notrechts-
kompetenz besteht nicht in seiner konkreten Anwendung in der Praxis,
sondern in der mittelbaren Wirkung auf das Verhältnis zu den anderen
Staatsorganen. Der Fürst als alleiniger Inhaber der Notstandsgewalt
erhält mit dieser Ermächtigung eine «Sondersouveränität».!% Eine derart
weitreichende Notrechtskompetenz entfaltet über den Ausnahmezu-
stand hinaus eine besondere Wirkung im «normalen» Verfassungsleben.
Die Befugnisse der anderen Staatsorgane stehen unter dem «diskretionä-
ren Suspendierungsvorbehalt» des Fürsten.!®
Aufgaben, die sonst dem (gemeinsamen) Gesetzgeber obliegen,
werden im Notstandsfall vom Landesfürsten allein wahrgenommen. Das
Notverordnungsrecht beinhaltet eine Kompetenzverlagerung im Bereich
der Legislative, innerhalb der Gesetzgebungsorgane, Fürst und Landtag
(Volk) bzw. eine Kompetenzverschiebung zugunsten des Fürsten.
Solche Notverordnungen des Fürsten können Gegenstand der
Normenkontrolle durch den Staatsgerichtshof sein oder sie können im
Wege des Individualantrags beim Staatsgerichtshof angefochten wer-
den,!% sofern die einschlägigen Bestimmungen bzw. das Gesetz vom
27. November 2003 über den Staatsgerichtshof im Rahmen der Not-
standsmassnahmen nicht ausser Kraft gesetzt worden sind. Insoweit
könnte der Staatsgerichtshof auch prüfen, ob der Grundsatz der Ver-
hältnismässigkeit eingehalten worden ist.!® Krasse Verstösse gegen den
Verhältnismässigkeitsgrundsatz verletzen nämlich das Willkürverbot.!%
102 Formulierung in Anlehnung an Markus C. Kerber, Ausnahmezustand, S. 545.
103 Vgl. Markus C. Kerber, Ausnahmezustand, S. 545. Dem Einwand von Günther
Winkler, Verfassungsreform, S. 204, 206 und 210, es gehe nur um eine Ermächtigung
für eine Ausnahmesituation und habe im Verfassungsalltag geringe Bedeutung,
widerspricht die Verfassungswirklichkeit. Siehe das «Fallbeispiel», das Gerard Bat-
liner, Aktuelle Fragen, S. 54 f. Rz. 103 f. erwähnt.
104 Vgl. SIGHG Art. 15 Abs. 3 und Art. 18 und 19; siehe dazu Tobias Michael Wille,
Verfassungsprozessrecht, S. 199 f.
105 Ernst Pappermann, Die Regierung des Fürstentums Liechtenstein, S. 134 bringt
diesbezüglich unter der alten Rechtslage (LGBl. 1925 Nr. 8) noch Zweifel an.
106 Vgl. Hugo Vogt, Das Willkürverbot und der Gleichheitsgrundsatz, S. 214.
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