Verrechtlichung der (Erb-)Monarchie
II. Konstitutionelle Verfassung von 1862
1. Entwicklungsgeschichte
Das Institut der Verfassungsstreitigkeit geht in seinen Anfängen auf die
erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und entwickelte sich auf ein-
zelstaatlicher Ebene, da eine effektive Bundesschiedsgerichtsbarkeit
fehlte. Der Streit zwischen Fürst bzw. seiner Regierung und Volksver-
tretung über die Auslegung der Verfassung bezeichnete man als Verfas-
sungsstreit. Er beinhaltete die Frage der Abgrenzung der verschiedenen
Kompetenzen und entpuppte sich in der Sache als «ein Konflikt zweier
letztlich miteinander unvereinbarer Souveränitätsansprüche».?®
2. Ungelöste Machtfrage
Das Problem, welches Staatsorgan letztverbindlich entscheidet, der
Fürst bzw. seine Regierung oder die Volksvertretung, blieb im monar-
chischen Konstitutionalismus ungelöst und umstritten. Inhaltliche Ver-
fassungsfragen verwandelten sich demzufolge in Kompetenzfragen.
«Kompetenz aber ist das rechtliche Wort für Macht.»2%
Unter der Konstitutionellen Verfassung von 1862 war die Ent-
scheidung von Verfassungsstreitigkeiten nichts anderes als eine politi-
sche Machtfrage, weil es noch keinen unabhängigen Gerichtshof für die
Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten gab.?! Jede Auslegungs-
frage hätte zu einem Streit um eine Verfassungsinterpretation zwischen
dem Fürsten und dem Landtag werden können. Einerseits war es noch
die Souveränität des Fürsten (monarchisches Prinzip), die unangreifbare
Stellung des Fürsten, die einer Verfassungsgerichtsbarkeit im Wege
stand,?? auch wenn er sich durch die Verfassung selbst beschränkt hatte.
Andererseits übernahm der Landtag ein Stück weit die Funktion der
Bewahrung der Rechte des Volkes. Er war das «gesetzmässige Organ der
289 Rainer Grote, Der Verfassungsstreit, S. 75.
290 Josef Isensee, Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen, S. 81.
291 Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 5. 247.
292 Vgl. Hinnerk Wissmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang, S. 191.
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